die geometrie in der modernen mathematik

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Die Geometrie in der modernen Mathematik Von Professor H. Freudenthal, Utrecht Professor Karl Strubecker zum 60. Geburtstag Der Geist der Mathematik fand seinen historisch ersten Ausdruck in der Geometrie der Griechen. Schon zwei oder drei Jahrtausende vor Euklid hatte man Mathematik getrieben, Algebra und Geometrie, aber Worte wie Lehrsatz, Voraussetzung, Behauptung, Beweis, Analyse, Theorie, Axiom, Postulat, Definition und all die Begriffe, die wir hinter diesen Worten su- chen, finden wir erst in der griechischen Mathematik. Die griechische Ma- thematik ist Geometrie, und die ganze Problematik, aus aer diese Mathe- matik erwachsen ist, war nur von der Geometrie her denkbar. An der Diagonale des Quadrats hatte man das Irrationale kennen gelernt; weil man nicht alle GroRen mit Zahlen erfassen konnte - schlofi man -, war die Algebra unzulanglich. Von Stoff wurde die Geometrie - Methode. Die Alge- bra wurde geometrisch eingekleidet und war auch nur soweit akzeptabel, wie sie geometrisch eingekleidet werden konnte. So schufen die griechischen Mathematiker jenes System der Mathematik, in dem das mathematische Leben fur zweitausend Jahre erstarrte. Die Reaktion kam von Descartes, fur den alle Tradition nutzloser Ballast war. Den Skrupeln der Griechen machte er einen kurzen ProzeR. Die Al- gebra, mit Vietas Symbolik, wurde eine selbstandige Disziplin. So wurde die Differential- und Integralrechnung vorbereitet, deren Methoden aller grie- chischen Normen von Strenge und Kritik spotteten. Die groRen Erfolge der Algebra und Analysis verfuhrten zum Pragmatismus, aber die griechische Geornetrie blieb immer ein Dorn im Fleische der Mathematik. Die Geometrie mit ihrer erhabenen Strenge blieb das Ideal kritischer Mathematiker; ,,more geometrico" und ,,exakt" sind ihnen synonym. Das anderte sich erst, als in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts Algebra und Analyse streng und unabhangig von der Geometrie fundiert wurden und sich herausstellte, dafi die althergebrachte Geometrie gar nicht so streng war und an Strenge mit der neu fundierten Analysis nicht wett- eifern konnte. Wahrend die Griechen meinten, die Algebra geometrisch rechtfertigen zu mussen, zweifelte man mit einem Male, ob man die Geo- metric uberhaupt unabhangig von der Algebra streng aufbauen konnte - ein Zweifel, der erst um die Jahrhundertwende rnit Hilberts Axiomatik der Geometrie behoben wurde. Von Vieta hatte man sich zwei Jahrhunderte lang trotz aller Hochachtung fur die Geometrie um ihre Weiterentwicklung kaum bekummert. Die Mathe- matiker waren rnit der neuen Analysis vie1 zu stark beschaftigt. Erst im 19. Jahrhundert erwachte das produktive Interesse an der Geometrie wieder. Nichteuklidische Geometrie, projektive Geometrie, algebraische Geometrie und die Grundlagenforschung in der Geometrie sind Fruchte der neuen Blute. Wie steht es nun heute mit der Geometrie innerhalb der Mathematik? Es scheint fast, als ob sie verschwunden sei. In Bourbakis*) System der Mathe- *) Vgl. K. Strubecker, Phys. B1. 17, 160 (1961) 352

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Page 1: Die Geometrie in der modernen Mathematik

Die Geometrie in der modernen Mathematik Von Professor H. Freudenthal, Utrecht

Professor Karl Strubecker zum 60. Geburtstag

Der Geist der Mathematik fand seinen historisch ersten Ausdruck in der Geometrie der Griechen. Schon zwei oder drei Jahrtausende vor Euklid hatte man Mathematik getrieben, Algebra und Geometrie, aber Worte wie Lehrsatz, Voraussetzung, Behauptung, Beweis, Analyse, Theorie, Axiom, Postulat, Definition und all die Begriffe, die wir hinter diesen Worten su- chen, finden wir erst in der griechischen Mathematik. Die griechische Ma- thematik ist Geometrie, und die ganze Problematik, aus aer diese Mathe- matik erwachsen ist, war nur von der Geometrie her denkbar. An der Diagonale des Quadrats hatte man das Irrationale kennen gelernt; weil man nicht alle GroRen mit Zahlen erfassen konnte - schlofi man -, war die Algebra unzulanglich. Von Stoff wurde die Geometrie - Methode. Die Alge- bra wurde geometrisch eingekleidet und war auch nur soweit akzeptabel, wie sie geometrisch eingekleidet werden konnte. So schufen die griechischen Mathematiker jenes System der Mathematik, in dem das mathematische Leben fur zweitausend Jahre erstarrte.

Die Reaktion kam von Descartes, fur den alle Tradition nutzloser Ballast war. Den Skrupeln der Griechen machte er einen kurzen ProzeR. Die Al- gebra, mit Vietas Symbolik, wurde eine selbstandige Disziplin. So wurde die Differential- und Integralrechnung vorbereitet, deren Methoden aller grie- chischen Normen von Strenge und Kritik spotteten. Die groRen Erfolge der Algebra und Analysis verfuhrten zum Pragmatismus, aber die griechische Geornetrie blieb immer ein Dorn im Fleische der Mathematik. Die Geometrie mit ihrer erhabenen Strenge blieb das Ideal kritischer Mathematiker; ,,more geometrico" und ,,exakt" sind ihnen synonym.

Das anderte sich erst, als in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts Algebra und Analyse streng und unabhangig von der Geometrie fundiert wurden und sich herausstellte, dafi die althergebrachte Geometrie gar nicht so streng war und an Strenge mit der neu fundierten Analysis nicht wett- eifern konnte. Wahrend die Griechen meinten, die Algebra geometrisch rechtfertigen zu mussen, zweifelte man mit einem Male, ob man die Geo- metric uberhaupt unabhangig von der Algebra streng aufbauen konnte - ein Zweifel, der erst um die Jahrhundertwende rnit Hilberts Axiomatik der Geometrie behoben wurde.

Von Vieta hatte man sich zwei Jahrhunderte lang trotz aller Hochachtung fur die Geometrie um ihre Weiterentwicklung kaum bekummert. Die Mathe- matiker waren rnit der neuen Analysis vie1 zu stark beschaftigt. Erst im 19. Jahrhundert erwachte das produktive Interesse an der Geometrie wieder. Nichteuklidische Geometrie, projektive Geometrie, algebraische Geometrie und die Grundlagenforschung in der Geometrie sind Fruchte der neuen Blute.

Wie steht es nun heute mit der Geometrie innerhalb der Mathematik? Es scheint fast, als ob sie verschwunden sei. In Bourbakis*) System der Mathe-

*) Vgl. K. Strubecker, Phys. B1. 17, 160 (1961)

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matik kommt sie nicht vor, in Referatenorganen fullt das, was sich als Geo- metrie vorstellt, etwa 5 O/U des Raumes, in Vorlesungsverzeichnissen wird sie gerade noch erwahnt, und Leute, die s,ich Geometer nennen konnten, tun es nicht, aus Furcht, fur altmodisch zu gelten. Sieht man aber genauer hinzu, SO verschiebt sich das Bild. Ich schlage eine beliebige Arbeit auf, die man nach ihrem Titel entschieden zur Analyse rechnen sollte, und pflucke aus einem Absatz die Worte ,,Hilbertscher Raum", ,,Vektorraum", ,,Dimension", ,,Eigenvektor", ,,Ahnlichkeitstransformation", ,,Abbildung", ,,konvex", ,,Spie- gelung", ,,Umgebung", Zahlengerade", ,,Mittelpunkt", ,,Wurfel", ,,linear", ,,Translation", ,,Hulle", ,,Projektion" - geometrische Anklange bei einem Thema, das oberflachlich kaum Geometrie erwarten laRt. Und dabei habe ich noch ein Wort weggelassen, das Wort ,,Axiom", das in seiner modernen Be- deutung zuerst bei Hilbert auftritt, und zwar bezeichnenderweise in seinen ,,Grundlagen der Geometrie".

Hinter Worten stecken Begriffe; die geometrische Terminologie in mo- derner Algebra und Analyse deutet auf eine Durchdringung der Mathematik mit Geometrie, die an Beispielen erlautert werden soll.

Ein solches Beispiel ist die sturmische Entwicklung der komplexen Funk- tionentheorie im 19. Jahrhundert, die ausgelost wurde durch einen Einbruch der Geometrie in die Analysis, namlich durch die GauRsche Darstellung der komplexen Zahlen als Punkte einer Ebene. Auf die Bedeutung der Glei- chung x n = 1 wurde der Algebraiker und Analytiker von der Geometrie her aufmerksam gemacht; in der Gaufischen Zahlenebene steht sie ja als Kreisteilungsgleichung in enger Beziehung zur Konstruktion der regelmaRi- gen Vielecke. Auch die doppelte Periodizitat der elliptischen Funktionen wurde erst vom Geometrischen her interessant und verstandlich. Zwar ge- lang der algebraisierenden Tendenz von Weierstrass im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Zuruckdrangung des Geometrisch-Anschaulichen in der Funktionentheorie, die endgiiltig schien; aber die gronen neuen Pro- bleme der Funktionentheorie, die um die Jahrhundertwende gelost wurden, kamen dann doch von Riemann her, von den geometrischen Ideen der Rie- mannschen Flache, der konformen Abbildung, der Uniformisierung, die an- fangs iiberhaupt nur geometrisch formuliert werden konnten und jedenfalls anschauliche Methoden erforderten.

Ein anderes Beispiel ist in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Neubelebung des Zahlbegriffs. Zahlen sind, als Anzahlen, Kardinalzah- len, anschaulichen Ursprungs; an den Fingern und mit Steinchen fing die Menschheit und fangt der Einzelmensch an zu addieren und zu multiplizieren. Aber schnell, und vor allem nach Erweiterungen des Zahlbereiches erstarrt der Zahlbegriff im formal Algorithmischen, in der Geschichte der Mensch- heit und in der Entwicklung des Einzelmenschen; nur in den rohsten An- wendungen spielt die Zahl als Anzahl noch eine bescheidene Rolle, und in der Mathematik spielt sie gar keine. Wenigstens bis G. Cantor, der sich als erster den anschaulichen Ausgangspunkt des Zahlbegriffs und den immer noch im Anschaulichen verlaufenden Abstraktionsprozefi zur Zahl hin be- wuBt macht, ihn aus dem Unbewufiten der Menschheits- und Menschge- scl'lichte ins Bewufitsein des Mathematikers hinaufholt. So kam Cantor ZU Mengen, Abbildungen von Mengen aufeinander, eindeutigen Abbildungen

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und zur Einteilung von Mengen in Klassen von eineindeutig auf einander abbildbaren Klassen, die dann schliefilich auch Machtigkeiten oder Kardinal- zahlen genannt werden.

In der Mengenlehre erreichte die Mathematik gronere Abstraktheit und grofiere Strenge, als sie jemals zuvor besessen hatte. Aber nirgendwo war dann auch das Geometrisch-Anschauliche so wichtig, so unentbehrlich als ordnendes Prinzip und als treibende Kraft, wie in der Mengenlehre, sollte diese Disziplin nicht im Algorithmischen erstarren. Schon bei Cantor findet man den von der Geometrie der Zahlengeraden abstrahierten Begriff der geordneten Menge, schon bei ihm findet man Punktmengenlehre, die ubri- gens neben dem Anzahlbegriff sein anderer Ausgangspunkt zur abstrakten Mengenlehre hin war. Eine andere Bereicherung der abstrakten Mengen- lehre (im Anfang dieses Jahrhunderts) ist die mit dem Manenbegriff, der vom geometrischen Inhaltsbegriff herkommt und eine revolutionare Revi- sion des im Formalen erstarrten Integralbegriffes verursachte. Aus der Punktmengenlehre entwickelte sich zur gleichen Zeit als eine neue geo- metrische Disziplin die Topologie; man erfafite die Gestalt von Gebilden, indem man anschauliche Vorstellungen von Zusammenhang und Zusammen- hangweisen prazisierte. Dabei entwickelten sich die heute machtigen alge- braischen Methoden der Topologie gerade beim Studium der geometrisch elementarsten Gebilde, wie sie sich L. E. J . Brouwer vornahm, den Poly- edern, wahrend bei der Konstruktion der den Aufienseiter pathologisch und unanschaulich anmutenden ,,Gegenbeispiele", von denen die ,,abstraktere" mengentheoretische Topologie voll ist, gerade die hochsten Anspruche an die Anschauung gestellt wurden. Topologische Methoden algebraischer und mengentheoretischer Art haben die moderne Algebra und Analysis stark beeinflufit. Dabei hat man den Eindruck, als ob die geometrische Anschauung aus der Topologie heutzutage fast ganz verschwunden ist. Aber das ist nur Schein. Wo aus dem Routine-Betrieb neue Ideen und Probleme auftauchten, sind sie meistens geometrisch bestimmt, und alte Probleme sind in den letzten Jahren haufig unter Umgehung des algebraischen Apparats, mit aus- gesprochen geometrischen Methoden, gelost worden.

Der naiv geometrische Raumbegriff erfuhr schon im vorigen Jahrhun- dert eine folgenreiche Ausweitung. Der Anstofi kam von der Algebra. In der analytischen Geometrie hatte man gelernt, Kurven in der Ebene und Fla- chen im Raume durch Gleichungen in zwei und drei Unbekannten zu be- schreiben, aber man konnte den Spiefi au& umkehren und algebraische Eigenschaften von Gleichungen geometrisch verstandlich machen, indem man sie als Eigenschaften von Kurven und Flachen auffafite. Sollte die Geometrie nicht auch beim Studium von Gleichungen in n. Unbekannten nutzlich sein konnen, wenn der Geometer sich nur anschickte, in n Dimen- sionen zu schauen und zu denken? Sollte man die n-dimensionalen Deter- minanten nicht besser verstehen, wenn man sie, wie fur n = 3, als Volumina auffafite? Um die Jahrhundertwende ist der n-dimensionale Raum fur den Geometer schon eine Selbstverstandlichkeit. Aber dieser Raum hat die Eier- schalen seines algebraischen Ursprungs noch nicht abgestreift; man baute ihn algebraisch, von den Koordinaten her, auf. Die Umwalzung kam in den zwanziger Jahren von den abstrakten Algebraikern her, die an dieser Stelle geometrischer dachten als die Geometer. Sie forderten, dafi die geometrischen

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Elemente, Punkte oder Vektoren, primar und die Koordinaten hochstens se- kundar seien. So burgerte sich der Begriff des linearen oder Vektorraumes ein, der heute Gemeingut aller Mathematiker ist.

Inzwischen war der Raumbegriff aber schon ins Unendlichdimensionale ausgeweitet worden. Das war von der Seite der Analytiker geschehen, die abstrakte Funktionenraume fur ihre neuen Methoden brauchten. Mit dem Wort ,,Raum" ubernahmen sie die ganze geometrische Terminologie, aber auch geometrische Denkweisen und geometrische Anschaulichkeit.

Dan Wort und Begriff ,,Axiomatik" von der Geometrie her die Mathe- matik erobert haben, wurde schon erwahnt. Die Geornetrie war lange ein philosophisches Problem gewesen. Wie kam es, daR man rein mit dem Ver- stande, sozusagen mit geschlossenen Augen, Aussagen uber die Wirklichkeit - denn dazu gehorte der Raum mit seinen Dreiecken, Parallelen, Kugeln u. s. w. doch - machen konnte, die sich, wenn man die Augen offnete, Ge- raden zeichnete, visierte und Winkel man, als wahr erwiesen, soweit die MeBgenauigkeit reichte? Im 19. Jahrhundert reifte allmahlich*) die Auffas- sung heran, mit der Hilbert in seinen Grundlagen der Geometrie die alte Frage beantwortete und die spater Einstein in markanten Satzen formu- lierte: ,,Insofern sich die Satze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher; und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit . . . . Der von der Axiomatik erzielte Fortschritt besteht ngmlich darin, daR durch sie das Logisch-Formale vom sachlichen oder an- xhaulichen Gehalt sauber getrennt wurde . . . Die Axiome sind freie Schop- fungen des menschlichen Geistes . . ."

Hilbert stellte an die Spitze seines Systems nicht wie Euklid Definitionen, sondern Axiome, Aussagen, in denen nicht-definierte Begriffe wie Punkt, Gerade, zwischen, kongruent vorkommen - was diese Worte bedeuten, wird nur implizit festgelegt, durch die Spielregeln, die sich in den Axiomen ausdrucken. Als Spielregeln sind die Axiome willkurlich, und nur insofern man das Axiomensystem anwenden will, hat man sie zweckmaRig zu wah- len. Nicht Wahrheit, sondern etwa Widerspruchslosigkeit ist eine logische Forderung, die man an das Axiomensystem stellen kann.

Mit den Begriffen Axiom und Axiomatik wurde der logische Status der Geometrie geklart. Ihre Explikation in Hilberts Grundlagen machte schnell Schule - nicht so sehr in der Elementargeometrie wie in der Topologie, W O Hausdorff den topologischen Raum axiomatisierte, und in der Algebra, die man von den grundlegenden Entitaten Gruppe, Ring, Korper usw. her axio- matisch aufbaute. Heute durchzieht die axiomatische Methode die ganze Mathematik. Erst in den dreiRiger Jahren besann man sich in der Geo- metrie wieder so recht auf die Freiheit des menschlichen Geistes, Axiome zu schaffen, eine Freiheit, die allerdings beschrankt wird durch das Takt- gefuhl des Geometers, der Geometer bleiben und sich von der geometrischen Anschauung fuhren lassen will - beschrankt auch durch die Forderung der Widerspruchslosigkeit des Systems. Die wird nun nach Hilberts Rezept je- weils erwiesen, indem man ein algebraisches System (analytische Geometrie) sucht, das den Axiomen genugt. Solch ein Versuch kann zu neuen algebrai-

1) Vgl. Math. Semesterberichte 7, 1 (1960)

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schen Systemen fuhren, und so entstand in den dreiljiger Jahren von der Geometrie her der neuartige Begriff des Alternativkorpers (eines Systems mit eingeschrankter Assoziativitat der Multiplikation), der sich dann auch in der Algebra als auljerst fruchtbar erwies.

Dies ist ein Beispiel aus vielen. In der Gruppentheorie mit ihren Ob- jekten, die fast so strukturlos sind wie die abstrakten Mengen, 1aBt man sich haufig von geometrischen Fragen den Weg nach interessanten Pro- blemen weisen. In der algebraischen Geometrie, die trotz geometrischer Terminologie kaum noch Geometrie, ja vielmehr Algebra ist, sind es. doch sehr haufig geometrische Fragen, die die Entwicklung mitbestimmen, und in der Zahlentheorie kennt man die geometrische Zahlentheorie, die in Pro- blemstellung und Methode durchaus Geornetrie ist.

Die Verwischung der Grenzen klassischer Gebiete ist charakteristisch fur die Evolution der modernen Mathematik. Als zusammenhangendes Feld ist die Geometrie kaum noch zu erkennen. Aber die geometrische Methode schieljt immer wieder auf. Warum bleibt die oft totgesagte geometrische Anschauung doch lebensfahig, sogar auf Gebieten, die nichts mit Geometrie zu tun zu haben scheinen? Offenbar weil sie uns unentbehrliche Hinweise gibt auf das, was wichtig, interessant und erreichbar sein konnte, so dalj wir nicht blindlings in der Fulle der Moglichkeiten, in der Wuste von Pro- blemen, Begriffen und Methoden zu suchen brauchen. Um Kants Wort zu variieren: Anschauungen ohne Begriffe sind leer, Begriffe ohne Anschau- ungen sind blind.

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