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Die Fabrik als touristische Attraktion Daniela Mysliwietz-Fleiß Entdeckung eines neuen Erlebnisraums im Übergang zur Moderne

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Die Fabrik als touristische Attraktion

Daniela Mysliwietz-Fleiß

Entdeckung eines neuen Erlebnisraums im Übergang zur Moderne

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TransKult: Studien zur transnationalen Kulturgeschichte, Band 2

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Daniela Mysliwietz-Fleiß

Die Fabrik als touristische Attraktion

Entdeckung eines neuen Erlebnisraums im

Übergang zur Moderne

Böhlau VErlag WiEn Köln WEiMar

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über https://www.dnb.de abrufbar.

© 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 KölnAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällenbedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Emil Limmer: Blockwalzwerk, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 116, Nr. 3015, 11.04.1901, S. XIIf.

Umschlaggestaltung: Michael Haderer, WienSatz: Bettina Waringer, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-412-51882-0

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

2. Touristische räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

2.1. Touristische Wissensräume als Teil der Kulturgeschichte . . . . . . . . . 212.1.1. Kulturgeschichte als analyse des „selbstgesponnene[n]

Bedeutungsgewebe[s]“ des Menschen . . . . . . . . . . . . . . 212.1.2. Die Konstruktion von Wissensräumen . . . . . . . . . . . . . 262.1.3. Tourismus als symbolische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . 31

2.2. Der touristische raum als Wissensraum in der Forschung . . . . . . . . 372.2.1. geschichtswissenschaftliche Forschungen zum Tourismus

als symbolische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372.2.2. Forschungen zur Fabrik als touristische attraktion . . . . . . . 45

2.3. Quellen zur Fabrik als touristische attraktion . . . . . . . . . . . . . . 512.3.1. Die rekonstruktion von touristischen Wissensräumen . . . . . 512.3.2. Mediale grundlagen der rekonstruktion des Fabrikbesuchs:

reportagen und industriebilder . . . . . . . . . . . . . . . . . 562.3.3. Medien des Fabrikbesuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

3. Bürgerlichkeit und bürgerlicher Tourismus im 19. Jahrhundert

3.1. Bürgertum und Bürgerlichkeit in Deutschland: aufstieg und Krise . . . . 81

3.2. reisen als „das Salz deutschen Bürgerlebens“ . . . . . . . . . . . . . . . 963.2.1. Vom ‚reisenden‘ zum ‚Touristen‘ . . . . . . . . . . . . . . . . 973.2.2. Bürgerliches reisen und soziales geschlecht . . . . . . . . . . 103

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6 Inhalt

4. Die Fabrik als Objekt des touristischen interesses: eine annäherung

4.1. Touristische inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1134.1.1. Die rationalisierung und Spektakelisierung des Sehens

seit der aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1154.1.2. Die reise ins gebirge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1204.1.3. Die reise zum „Fetisch Ware“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 1304.1.4. Die ‚exotische‘ reise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

4.2. Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen attraktion . . . . . . . . . . 1594.2.1. Die frühe Wahrnehmung der Fabrik:

Ein bedrohlicher Ort hinter hohen Mauern . . . . . . . . . . 1604.2.2. Die Technikbegeisterung des späten 19. Jahrhunderts und ihre

auswirkungen auf das Erkenntnisinteresse des Bürgertums . . 1654.2.3. Ein neuer umgang der unternehmen mit der öffentlichkeit:

Die Fabrik wird zugänglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

4.3. Die Fabrik als touristische attraktion in populären Medien . . . . . . . 1964.3.1. „Eintrittskarten im hof, erste Tür links“:

Die Fabrik im reisehandbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . 1964.3.2. „Zu Besuch bei gebrüder Stollwerck in Köln“:

Die Fabrik in den reportagen populärer Zeitschriften . . . . . 2044.3.3. „So heiß, wie die Kohle beim glühenden guß/

Ereile dich heute mein Essener gruss“: Die Fabrik im Medium der ansichtskarte . . . . . . . . . . . 207

5. Die Fabrik als touristische Konstruktion

5.1. Der ‚industrietourist‘ und sein Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2155.1.1. Private Besucherinnen und Besucher in der Fabrik

als Massenphänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2165.1.2. Motive für einen privaten Fabrikbesuch . . . . . . . . . . . . 230

5.2. Der ablauf des Fabrikbesuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2545.2.1. „Man muß erst die Scylla des Portiers und die

Charybdis des Meldezettels passieren“: Der Eintritt in die Fabrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

5.2.2. „an der hand eines kundigen Führers“: Der gang durch die Fabrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

5.2.3. „in rein frohem Sang konnte der inhaltsreiche Tag so aus klingen“: Der Fabrikbesuch als bürgerlich-touristisches Ereignis . . . . . 269

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Inhalt 7

6. Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

6.1. „Das leben und Treiben in den Fabriken macht einen eigenartigen Eindruck, doch lohnt es sich, ihm einen augenblick zuzusehen“: Erlebnisse in der Fabrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2856.1.1. Faszination Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2856.1.2. Faszination Maschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3046.1.3. Faszination ‚arbeiter‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

6.2. Das Werksleben jenseits der arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 6.2.1. Das Werksleben in der unternehmerischen Selbstdarstellung . 3556.2.2. Das Werksleben in der touristischen Betrachtung . . . . . . . 365

6.3. Die Konstruktion des ‚Fabriktouristen‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . 378

7. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

anhang

abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409

Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409

literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449

Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453

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Vorwort

Die Fabrikanlage von Volkswagen in Wolfsburg ist nicht nur einer der größten Stand-orte der Autofertigung weltweit und der größte Arbeitgeber in der Region, sondern auch eine touristische Attraktion für diejenigen, die im Rahmen einer Fabrikbesichti-gung als Gast in die längste Werkshalle der Welt kommen. Nachdem man den Pförtner passiert hat, nimmt man, wohl angeleitet von einem versierten Führer, eine Mahlzeit in einer der Kantinen des Werks mitten unter ‚echten‘ VW-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein. Danach geht es in die Fertigungsanlagen, durch die die Gästeschar in einem Spezialfahrzeug, einer Achterbahn nicht unähnlich, manövriert und dabei mit dem Produktionsprozess vertraut gemacht wird. Die Arbeiterinnen und Arbeiter, an denen man auf diese Weise vorbeizieht, halten in ihrer Arbeit inne und winken scheinbar fröhlich. Ich kann nicht anders, ich winke zurück. Vergnügen, Belehrung und Selbst inszenierung treffen bei einer Fabrikbesichtigung unmittelbar zusammen.

Diese Reise ins VW-Werk in der Gegenwart, an der ich sozusagen beobachtend teil-nahm, deren Mechanismen ich mich dennoch nicht entziehen konnte, korrespondierte mit meiner Forschungsreise entlang der touristischen Pfade des 19. Jahrhunderts zu den Wurzeln der Fabrik als touristische Attraktion, zu den ersten Fabriktouristinnen und -touristen, die den Produktionsprozess und die darin involvierten Arbeiterinnen und Arbeiter mit einer Mischung aus Neugier, Wissensdurst und dem Drang nach Abgrenzung und Selbstverortung betrachteten. Dieser mehrjährige Forschungsausflug führte zu der vorliegenden Arbeit, die als Dissertation im Rahmen des Promotions-verfahrens zur Dr. phil. von der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen im Frühjahr 2013 angenommen wurde.

Die wichtigste Begleiterin auf dieser Tour war meine Betreuerin Prof. Dr. Angela Schwarz. Sie motivierte mich dazu, die Reise anzutreten, half mir in intensiven Ge-sprächen auch nach langen Arbeitstagen, meine Hypothesen zu schärfen, wann immer ich drohte, den Weg aus den Augen zu verlieren, und stand mir zur Seite, wenn die Expedition zu lang und mühselig erschien. Nicht zuletzt sorgte Prof. Schwarz für eine Arbeitssituation an ihrem Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, die es mir immer wieder möglich machte, den Universitätsalltag zu verlassen und den Fabriktou-ristinnen und -touristen auf ihren Pfaden zu folgen. Ich danke ihr nicht nur für die ‚Reiseleitung‘ im Rahmen meiner Dissertation, sondern insgesamt für die Jahre der intensiven Ausbildung, die mit meinem ersten Neuzeit-Proseminar als Studentin an der Universität Duisburg-Essen vor über 15 Jahren begannen und in denen mir Prof. Schwarz jeden Tag ein Beispiel für eine vorbildliche Wissenschaftlerin und akademi-sche Lehrerin war. Ganz herzlich bedanken möchte ich mich ebenso bei meiner Zweit-

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10 Vorwort

gutachterin Prof. Dr. Bärbel Kuhn, die die Arbeit intensiv kommentiert und mir für die Überarbeitung zur Drucklegung wertvolle Hinweise, insbesondere zur Geschlechterge-schichte des 19. Jahrhunderts und zur Gendertheorie, geliefert hat.

Auf meinem Weg haben mich außerdem meine Kollegen vom Lehrstuhl für Neu-ere und Neueste Geschichte begleitet. Sie ließen mir in Kolloquien und unzähligen Gesprächen am Schreibtisch wertvolle Anregungen zukommen. Mein Dank gilt insbe-sondere Jan Pasternak, der nicht nur bei technischen und formalen Problemen unver-zichtbare Hilfe leistete, sondern mich über die Jahre immer ermutigt und unterstützt hat. Mein Dank gilt weiterhin den Kolleginnen und Kollegen des wissenschaftlichen Mittelbaus der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen, die mir im interdiszi-plinären Austausch viele Hinweise gaben, die meine Dissertation in der vorliegenden Ausrichtung möglich machten.

Unschätzbare Unterstützung erfuhr ich außerdem durch die Archivarinnen und Ar-chivare des Historischen Archivs Krupp in Essen, des Bayer Archivs Leverkusen, des Deutschen Technikmuseums Berlin sowie des Rheinisch-Westfälischen- und des Rhei-nischen Wirtschaftsarchivs in Dortmund beziehungsweise Köln, die sich auf meinen kulturgeschichtlichen Ansatz einließen und es mir ermöglichten, die Bestände ihrer Archive in einem neuen Licht zu betrachten.

Für die Finanzierung meiner Reise(n) – und das im ganz wörtlichen Sinn – bedanke ich mich bei der Nachwuchsförderung der Philosophischen Fakultät, die einen gro-ßen Beitrag zur Deckung der Kosten meiner Archivreisen leistete. Danken möchte ich auch dem Forschungskolleg der Universität Siegen (FoKoS) für seine Unterstützung. Mein Dank gilt außerdem Prof. Angela Schwarz für die Aufnahme in die Schriftenreihe „TransKult: Studien zur transnationalen Kulturgeschichte“.

Schließlich möchte ich meiner Familie und meinen Freunden danken, die mir den Rücken gestärkt haben, wenn das Reisegepäck zu schwer zu werden schien. Neben meinem Mann Norbert und meinen Eltern haben mich besonders meine langjährigen Freundinnen Dr. Dagmar Melzig und Dipl. Kff. Simone Eberhardt ermutigt, auf dem langen Weg einen Schritt vor den anderen zu setzen. Meine Eltern haben in mir nicht nur die Liebe zu Büchern und zur Geschichte geweckt, sondern mich auch im Studium und in der Berufswahl unterstützt. Meinem Mann Norbert danke ich von Herzen da-für, dass er das Wagnis eingegangen ist, sich parallel zu meiner Reise in die Fabriken des 19. Jahrhunderts mit mir auf die Reise des Lebens zu begeben, eine Reise, die uns in eine Zukunft mit unserem Sohn Noah geführt hat, der die letzten Arbeiten an der Druckfassung teilweise lautstark kommentiert hat.

Daniela Mysliwietz-FleißBottrop, September 2019

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1. Einleitung

Im Sommer des Jahres 1906 unternahm die Deutsche Gesellschaft für Kunst und Wis-senschaft aus Posen, deren Mitglieder nach der Selbstbeschreibung „meistens höhere Verwaltungsbeamte, einige Kaufleute, Offiziere u.a.“1 waren, eine Studienreise nach Westfalen. Die Reisegruppe von ca. 30 Personen besichtigte die Leinenindustrie und die Bodelschwinghschen Anstalten in Bielefeld, das Stahlwerk Hösch, die Kronenbrau-erei, die Zeche Minister Achenbach sowie das Schiffshebewerk Henrichenburg in Dort-mund, die Hafenanlagen in Duisburg und Ruhrort und die Gussstahlfabrik Krupp in Essen, jeweils in der Hoffnung, man möge den Vereinsmitgliedern „einen kleinen Einblick in den großartigen Betrieb […] gestatten.“2

Die Reise der Deutschen Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft, eines Vereins, zu dem sich 1901 mehrere Posener Bildungsgesellschaften verschiedener Ausrichtung zusammengeschlossen hatten,3 gehörte zu einer größeren Bewegung, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert immer mehr Menschen als Schaulustige in die Fabriken4 des Deutschen Reiches führte. Schon für die Jahre nach 1890 lässt sich ein Anstieg der Zahl von betriebsfremden Gästen in den Fabriken der Schwer-, Elektro- und Konsum-güterindustrie erkennen. Verschiedene Indizien in den Archivquellen legen die Vermu-tung nahe, dass der Besuch nicht mehr allein der Einkommenssicherung, beruflichen Fortbildung oder, wie in der Zeit zuvor, der Industriespionage, sondern einem weiter-führenden Zweck diente. Die chemischen Fabriken der Firma Bayer in Leverkusen, die Werkstätten der metallverarbeitenden Krupp-Werke in Essen, der Süßwarenhersteller Stollwerck in Köln oder der Elektrokonzern AEG in Berlin wurden ebenso wie viele an-dere Fabriken in verschiedenen Industriezentren Deutschlands innerhalb weniger Jahre zu Besuchermagneten.5

Gleichzeitig griffen Publikationsorgane wie Reisehandbücher, Zeitschriften oder Postkarten das Thema der Fabrik als Ausflugsziel auf, indem sie diese als lohnenden Besichtigungspunkt auf einer Reiseroute vorstellten, Reportagen über die Erlebnisse

1 Daniels an Firma Krupp, Anfrage Besichtigung Deutsche Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft Posen, 14.05.1906, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2014, 421, 422.

2 Ebd.3 Vgl. Statut der Deutschen Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft in Posen, 1901, Wielkopolska

Biblioteka Cyfrowa (Großpolnische digitale Bibliothek), URL: http://www.wbc.poznan.pl/dlibra/docmetadata?id=42236&from=publication (Stand: 01.09.2019).

4 Als Fabriken werden im Folgenden alle Industriestandorte bezeichnet, also beispielsweise auch Ze-chen.

5 Vgl. Kapitel 5.1.1.

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12 Einleitung

im Innern der Werkshallen abdruckten oder Motive von und aus der Fabrik als Be-bilderung einer Ansichtskarte nutzten, um damit einen Gruß aus der Ferne in die Heimat zu schicken. Die riesigen Maschinen der Schwerindustrie, die Hitze, die Ge-räuschkulisse, das Farbenspiel etwa bei der Stahlherstellung und -verarbeitung, die einzelnen, rätselhaft wirkenden Arbeitsschritte, die planlos erscheinenden und doch planvoll den Produktionsvorgängen folgenden Bewegungen der Arbeiterschaft waren Vorgänge, die ihre Wirkung auf die ortsfremden Beobachterinnen und Beobachter nicht verfehlten und von den Darstellungen in Berichten und Reportagen oder auf Bildern aus der Fabrik in besonderer Weise aufgegriffen wurden.6 Die Fabrik wurde zur touristischen Attraktion.

So vertraut heute Führungen durch Brauereien, Schokoladenfabriken und Auto-werke, selbst stillgelegte Industrieanlagen als Zeugen der ‚Industriekultur‘ als Freizeit-event auch erscheinen mögen,7 so unerwartet ist ihr bereits verhältnismäßig hoher Verbreitungsgrad auf den ersten Blick im wilhelminischen Kaiserreich. Unter den damaligen Umständen der Hochindustrialisierung wäre vordergründig ein anderes Verhalten anzunehmen gewesen, nämlich dass Fabriken und industrialisierte Land-schaften als schmutzig und trostlos empfunden wurden, wie es zahlreiche bekannte Reisebeschreibungen der Zeit tatsächlich vermittelten.8 Sie präsentierten sie als Ort der proletarischen Arbeit und daher für andere Gesellschaftsschichten als ‚No go Area‘, allenfalls noch als Ort des viel besungenen Fortschritts, der aus der sicheren Ferne betrachtet wurde.9 In den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts statteten der Fa-brik regelmäßigere Besuche vor allem Fachleute – Ingenieure, Techniker, Naturwissen-schaftler – ab, zumeist mit dem Ziel, sich neues Wissen anzueignen, das sie dann ziel-gerichtet in ihrem Beruf einsetzen konnten. Prominente Fälle waren Eberhard Hoesch und Alfred Krupp, die sich 1823 beziehungsweise 1838 in England aufgehalten und

6 Vgl. Kapitel 4.3.7 Vgl. zum aktuellen Phänomen des Industriekulturtourismus z.B. Daniela Fleiß/Dörte Strelow: Ur-

laub im Schatten des Förderturms. Industriekultur als Tourismusattraktion und Hoffnungsträger, in: Angela Schwarz (Hrsg.): Industriekultur, Image, Identität. Die Zeche Zollverein und der Wandel in den Köpfen, Essen 2008, S. 221–260; Achim Schröder: Industrietourismus, in: Christoph Becker/Hans Hopfinger/Albrecht Steinecke (Hrsg.): Geographie der Freizeit und des Tourismus. Bilanz und Ausblick, 3. Aufl., München 2007, S. 213–224.

8 Vgl. hierzu z.B. die Untersuchungen von Dirk Hallenberger: Industrie und Heimat. Eine Literatur-geschichte des Ruhrgebiets, Essen 2000. Diese Art der Beschreibung zieht sich durch die gesamte Berichterstattung über das Ruhrgebiet vom Beginn der Industrialisierung bis in die Zeit des Struk-turwandels in den sechziger bis achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts.

9 Vgl. u.a. Michael Salewski: Technik als Vision der Zukunft um die Jahrhundertwende, in: ders./Ilona Stölken-Fitschen (Hrsg.): Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 77–91.

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Einleitung 13

dort wertvolles Wissen gesammelt hatten, das sie in ihren eigenen Betrieben anwenden konnten.10 Die zweite Gruppe, die ein in gewisser Weise berufliches Interesse an der Fabrik und den Vorgängen in ihrem Innern hatte, bestand aus Sozialreformern, die durch die persönliche Erfahrung in der Lebenswelt der Arbeiterschaft versuchten, Wis-sen, das heute als ethnografisch eingestuft würde, für ihre reformerische Praxis zusam-menzutragen. Der Gesellschaftstheoretiker Friedrich Engels, der eigentlich ebenfalls zur Weiterbildung und Vorbereitung auf die Arbeit im väterlichen Betrieb in verschie-dene englische Fabriken geschickt worden war, entwickelte sich durch die Erlebnisse vor Ort zu einem der ersten Sozialreformer und veröffentlichte im Anschluss 1845 sein Hauptwerk Die Lage der arbeitenden Klasse in England mit dem Untertitel Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen.

Welche Motive aber führten gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend Besucherin-nen und Besucher – ‚Fremde‘ im Duktus der Unternehmen –11 jenseits solcher kon-kreter Interessen an den Ort industrieller Fertigung? Eine einfache, aber leicht nach-zuvollziehende Erklärung, zumindest in Bezug auf die Stätten der Großindus trie, wäre die, dass es die reine Neugier war, zu erfahren, was sich hinter den zumeist hohen Mauern und geschlossenen Werkstoren der ‚verbotenen Stadt‘ ereignete. Diese Neu-gier, unbekanntes Terrain zu erkunden, insbesondere wenn die Geräusche oder Rauch und Feuerschein aus der Fabrik die Fantasie beflügelten, regt auch heute noch zu Be-suchen von Indus trieanlagen an.12 Eine solche Begründung kann jedoch allenfalls ein erster Anhaltspunkt sein für die Suche nach tiefergehenden Motiven, die ebenso von generellen, durch die menschliche Natur bestimmten Zusammenhängen, wie von spe-ziellen gesellschaftlichen und zeitlichen Umständen bestimmt wurden und werden. Die Fabrik, die Vorgänge und Menschen in ihrem Inneren, waren etwas Fremdes, etwas

10 Vgl. Klaus Herrmann: Ingenieure auf Reisen. Technologieerkundung, in: Hermann Bausinger/Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hrsg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, 2. Aufl., München 1999, S. 297–304, hier S. 303.

11 Die Firma Stollwerck führte beispielsweise ein „Fremdenbuch“, das alle externen Personen, die Zutritt zum Werk erhielten, auflistete: Fremdenbuch der Firma Stollwerck, RWWA, Bestand: 208 – Stollwerck, Signatur: 208, 136-3. Die Firma Krupp führte eine genau zu protokollierende „Fremdenführung“ durch: Protokolle von Fremdenführungen bei der Firma Krupp, HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1. Und auch die Firma Bayer sprach bei Besichtigungen ihrer Fa-brikanlagen durch auswärtige Besucherinnen und Besucher von „Fremdenführungen“: Direktion, Rundschreiben, Dezember 1903, BA, Bestand: 221-2 – Sozialabteilung Leverkusen; Bestimmungen für den Fremdenbesuch in Leverkusen, [Sept. 1909], vgl. auch BA, Bestand: 192-1.1 – Werksbe-sichtigungen, Bestimmungen und Richtlinien für Besucher der Bayer Werke, Bd. I (1902–1966).

12 Vgl. Fleiß/Strelow, Urlaub im Schatten des Förderturms, S. 228; Silke Röllinghoff: „Zollverein muss kompromisslos gut werden“ oder: „Vergangenheit hat Zukunft“, in: Schwarz, Industriekultur, Image, Identität, S. 261–307, hier S. 302f.

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14 Einleitung

Unbekanntes, mit dem die Personen aus der Welt außerhalb des Werkes umzugehen versuchten. Das Fremde, ob nun in der Form der Arbeiterschaft, von Maschinen oder Produktionsverhältnissen in der Fabrik oder in irgendeiner anderen Art des Unbekann-ten, regte dazu an, die eigene Identität näher zu bestimmen. Im Blick auf das Fremde gewann das Eigene Kontur.

Diese anthropologische Grundkonstante der Definition des Eigenen durch die Ab-grenzung vom Anderen schlug sich in jeder Zeit und Gesellschaft in unterschiedlichen Fremdheitsdiskursen und gesellschaftlichen Praktiken nieder.13 Die Dichotomie zwi-schen dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Fremden‘ bestand im 19. Jahrhundert beispielsweise zwischen ‚Männern‘ und ‚Frauen‘‚14 ‚zivilisierten‘ und ‚wilden‘ Völkern,15 zwischen ‚normalen‘ Menschen und ‚Freaks‘16 oder zwischen ‚Bürgern‘ und ‚Arbeitern‘,17 wo-bei die Erstgenannten jeweils diejenigen waren, die das Verhältnis deuteten und das ‚Fremde‘ definierten.

Gerade das Bürgertum bedurfte dieser Selbstdefinition durch die Abgrenzung, die Distinktion vom Anderen, speziell vom ‚Arbeiter‘ als dem gesellschaftlich Anderen. Denn beim Bürgertum des späten 19. Jahrhundert handelte es sich nicht mehr um eine Gruppe innerhalb einer Ständegesellschaft, die sich durch ein gemeinsames stän-disches Recht ausgezeichnet hätte, noch bildete es eine Klasse der Industriegesellschaft, die durch ihre einheitliche Marktlage abgegrenzt gewesen wäre.18 Stattdessen definierte

13 Vgl. zur Differenz zwischen dem Fremden und dem Eigenen als anthropologischer Grundkonstante Ortfried Schäffter (Hrsg.): Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Be-drohung, Opladen 1991. Vgl. zur Theorie der Selbstdefinition durch Distinktion vor allem Pierre Bourdieu: La Distinction. Critique Sociale du Jugement, Paris 1979.

14 Vgl. zum bürgerlichen Geschlechterdiskurs Ute Frevert: Bürgerliche Meisterdenker und das Ge-schlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: dies. (Hrsg.): Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 17–48, hier S. 22.

15 Vgl. etwa Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. Grundzüge einer Geistes- und Kultur-geschichte der europäisch-überseeischen Begegnungen, München 1976.

16 Vgl. Robert Bogdan: Freak Show. Presenting Human Oddities for Amusement and Profit, Chicago, IL/London 1990, insbes. S. 6, 95, 105–107; Birgit Stammberger: Monster und Freaks. Eine Wis-sensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert, Berlin 2011, insbes. S. 15–64.

17 Vgl. als vergleichende Betrachtung dieser beiden Gesellschaftsgruppen Jürgen Kocka (Hrsg.): Ar-beiter und Bürger im 19. Jahrhundert. Varianten ihres Verhältnisses im europäischen Vergleich, München 1986.

18 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. über-arb. Aufl., Tübingen 1976, S. 531–540. Vgl. auch Rudolf Vierhaus: Der Aufstieg des Bürgertums vom späten 18. Jahrhundert bis 1848/49, in: Jürgen Kocka (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 64–78, hier S. 64, vgl. Jürgen Kocka: Bürgertum und Bürger-lichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert, in: ders., Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, S. 21–63, hier S. 41.

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Einleitung 15

sich das Bürgertum durch gemeinsame Wertvorstellungen und Gesellschaftskonzepte, Gebilde, die ständig verhandelt werden mussten, wodurch diese Gruppe fortwährend unter dem Druck stand, die eigene Identität neu zu bestimmen. Diese an sich schon unsichere Lage, in der sich das Selbstbewusstsein des deutschen Bürgertums grundsätz-lich befand, wurde Ende des 19. Jahrhunderts durch eine gesellschaftliche Umbruch-situation in eine noch prekärere überführt, als das Bürgertum in eine Identitätskrise geriet. Ihr zugrunde lag zunächst einmal eine allgemeine Krise der Gesellschaft, für die Ernst Bloch 1935 den Begriff der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“19 prägen sollte. Damit meinte er den Zustand von wirtschaftlichem und technischem Fortschritt sowie rationaler Lebenseinstellung bei gleichzeitigem politischen Konservativismus und mentaler Modernitätsverweigerung, in dem sich die Kräfte des Status quo und des Fortschritts blockierten. Dieses Phänomen traf alle gesellschaftlichen Gruppen des Kaiserreichs und führte zu einer allgemeinen Krisenstimmung, die – so eine verbreitete Deutung in der Forschung – den Weg in den Ersten Weltkrieg ebnete.20

Für das Bürgertum im Besonderen stellte sich diese Zeit als noch viel problemati-scher dar.21 Denn von der gescheiterten ‚bürgerlichen‘ Revolution 1848/49 an habe der Liberalismus, so die einhellige Meinung der historischen Bürgertumsforschung, und mit ihm die Idee der bürgerlichen Gesellschaft an gesellschaftlicher Deutungsmacht verloren. Mit der Nationalstaatsgründung durch die etablierte politische Obrigkeit sei der Liberalismus, so argumentiert etwa Hans-Ulrich Wehler, dann politisch völlig ins Abseits gedrängt worden.22 Lediglich auf wirtschaftlichem Gebiet habe sich der frei-heitliche Gedanke noch behaupten können, er sei letztlich aber durch die Gründerkrise zwischen 1873 und 1879, die die Zeitgenossen auf die ungezähmten Kräfte des freien

19 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt am Main 1962 (Erstausgabe 1935).20 Vgl. Gunther Mai: Der Erste Weltkrieg, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Scheidewege der deutschen

Geschichte. Von der Reformation bis zur Wende 1517–1989, München 1995, S. 159–170, hier S. 159.

21 Hier wird der Annahme einer Krise des Bürgertums nach 1918, in der es breiten Teilen der Mit-telklassen unter den Einwirkungen von Krieg und Inflation nicht mehr möglich gewesen sei, die Standards eines bürgerlichen Lebensstils aufrecht zu erhalten, vgl. Michael Schäfer: Bürgertum in der Krise, Göttingen 2003, S. 402, insofern widersprochen, dass nicht erst von einer Krise durch die Entwicklungen in der Weimarer Republik ausgegangen, sondern der Beginn einer Krise des Bürger-tums schon in der Zeit vor der Jahrhundertwende verortet wird. Diese Tatsache bestreitet zwar nicht die krisenhafte Situation in der Zwischenkriegszeit, gibt ihr aber einen anderen Stellenwert und zum Teil andere Wurzeln.

22 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Wie „bürgerlich“ war das Deutsche Kaiserreich?, in: Kocka, Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, S. 243–280, hier S. 271. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Thomas Nipperdey in seiner Epochendarstellung der deutschen Geschichte, vgl. Thomas Nip-perdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 314–331.

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16 Einleitung

Marktes zurückführten, ebenso diskreditiert worden wie zuvor sein politisches Pen-dant. Im Zuge dieser Entwicklungen habe das Bürgertum nicht nur seine politischen Einflussmöglichkeiten und einen Teil seiner wirtschaftlichen Potenz, sondern vor allem einen seiner bedeutendsten ideologischen Stützpfeiler verloren. Hinzu kam die zwar tatsächlich existierende, subjektiv aber um ein Vielfaches stärker empfundene Bedro-hung der eigenen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Position durch die unterlegene Schicht der Industriearbeiterschaft und die überlegene des Adels. Während die schiere Masse der Arbeiterschaft und ihr steigender Organisationsgrad, verbunden mit entsprechenden Forderungen nach mehr Rechten und Mitbestimmung, ein Gefühl der Einschüchterung auslöste, gab die konservative Führungsschicht dem Bürgertum zunehmend ein Gefühl der (politischen) Ohnmacht.23 Ein anschauliches Beispiel für diese Vorgänge liefert die Mehrgenerationen-Studie über die Wirts- und Kaufmanns-familie Bassermann von Lothar Gall, der die Ereignisse des ökonomischen Abstiegs und das berufliche Versagen vieler Familienmitglieder sowie den Verlust ökonomischer und politischer Unabhängigkeit durch Großkonzernbildung und politische Massenorgani-sationen als Merkmale des Niedergangs oder sogar der Krise interpretiert.24

Dieses Krisenbewusstsein, das Gall für die Familie Bassermann exemplarisch nachge-wiesen hat, führte, so kann man für weite Teile dieser Schicht annehmen, zu einem Ge-fühl des partiellen Verlustes der Individual- und der Gruppenidentität. Verstärkte Akte der Selbstdefinition waren in dieser Situation vonnöten, wozu auch die Distinktion vom ‚Anderen‘, vom ‚Fremden‘, gehörte. Eine Möglichkeit, diese Abgrenzung zu verstärken, wurde, so die hier zugrundegelegte Überlegung, durch touristische Praktiken eröffnet.

Reisen an sich war für das Bürgertum um 1900 nichts Neues mehr. Das Reisen hatte als Teil des bürgerlichen Tugendkatalogs, als Mittel zur Bildung und Persön-lichkeitsformung seit der Entstehung dieser Sozialformation einen besonderen Stel-lenwert.25 Durch die Erfahrung der Weite und Vielfalt von Natur und Gesellschaft, durch das Erlebnis von Kultur im engeren Sinne und durch Kontakte zu weltge-wandten Persönlichkeiten sollte die innere und äußere Ausbildung des ‚Bürgers‘ auf eine Weise vervollkommnet werden, wie sie ohne die Reise nicht möglich gewesen wäre. Mit dem Aufstieg des Bürgertums und der Verbreitung des Reisens entwickelte sich das originäre Erlebnis jedoch immer mehr zum vorgefertigten Ereignis und zum bürgerlichen Statussymbol: Der ‚Tourist‘ war geboren.26 Sein optisches Erkennungs-

23 Vgl. Martin Doerry: Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kai-serreichs, Weinheim/München 1986, S. 46.

24 Vgl. Lothar Gall: Bürgertum in Deutschland, Berlin 2000, S. 440–465.25 Vgl. Vierhaus, Der Aufstieg des Bürgertums, S. 66.26 Zur Begriffserklärung und Differenzierung zwischen dem Reisenden und dem Touristen vgl. Kapitel

2.1.3. und Kapitel 3.2.1.

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Einleitung 17

merkmal war, so das Klischee, das aufgeschlagene Baedeker-Reisehandbuch vor der Nase, das ihm vorgab, was wie zu betrachten sei und es damit erst zum touristischen Objekt machte.

Der touristische Blick, den das Reisehandbuch vorgab, erschien als ein umfassendes Phänomen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Durch diesen Blick, der gleicher-maßen auf unbekannte geografische Gegebenheiten wie beispielsweise die Alpen, auf unbekannte Tiere und Menschen aus entfernten Ländern oder auf besonders gefertigte Waren ebenso wie – was im Folgenden genauer untersucht werden soll – auf die Arbei-terin und den Arbeiter in der Fabrik fallen konnte, rückte die Inszenierung des Betrach-teten in den Vordergrund, während sein Charakter an sich oder seine ursprüngliche Be-stimmung in den Hintergrund geriet.27 Der reale Raum, dessen Durchmessen für das Reisen noch konstitutiv gewesen war, trat dabei in seiner Bedeutung hinter einen neu erschaffenen Raum zurück, der nur auf einer mentalen Ebene existierte. Die Touristin-nen und Touristen mussten nur noch kommen und sehen, und zwar nicht die Wirk-lichkeit, sondern die – touristische – Attraktion. Für diese Art des Sehens lassen sich im 19. Jahrhundert eine Unmenge von Beispielen finden: die ‚zoologische Schaulust‘28 im Tierpark, der Blick, der auf ‚gezähmte Wilde‘29 in Völkerschauen fiel, die neugie-rige Betrachtung der Ausgestoßenen der Gesellschaft in ‚Irrenanstalten‘, Zuchthäusern und Gefängnissen.30 Dabei bestanden die Betrachtenden zwar stets darauf, dass es sich eben nicht um bloße Schaulust handele, sondern dass dem Ganzen ein Bildungswert zugrunde liege.31 Die Verwandtschaft dieser Inszenierungen zu der in den ebenfalls zu jener Zeit aufkommenden Kaufhäusern mit ihren Schaufenstern32 offenbart aber etwas anderes: Der Bildungsgedanke hatte zumindest zu einem guten Teil nur den Zweck der

27 Vgl. für den Inszenierungscharakter gesellschaftlicher Handlungen Erika Fischer-Lichte: Theatralität und Inszenierung, in: dies. (Hrsg.): Inszenierung von Authentizität (Theatralität, Bd. 1), 2. Aufl., Tübingen 2007, S. 9–28.

28 Christina Wessely: „Künstliche Tiere etc.“. Zoologische Schaulust um 1900, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin, Bd. 16, Nr. 2, 2008, S. 153–182. Vgl. Utz Anhalt: Tiere und Menschen als Exoten. Die Exotisierung des „Anderen“ in der Gründungs- und Entwicklungsphase der Zoos, Saarbrücken 2008.

29 Anne Dreesbach: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870–1940, Frankfurt am Main 2005.

30 Harro Zimmermann: Irrenanstalten, Zuchthäuser und Gefängnisse, in: Bausinger/Beyrer/Korff, Reisekultur, S. 207–213.

31 Vgl. zu diesen beiden Konzepten Christopher B. Balme: Schaulust und Schauwert. Zur Umwertung von Visualität und Fremdheit um 1900, in: Hans-Peter Bayerdörfer/Bettina Dietz/Frank Heide-mann/Paul Hempel (Hrsg.): Bilder des Fremden. Mediale Inszenierung von Alterität im 19. Jahr-hundert, Berlin 2007, S. 63–78.

32 Christina Wessely verweist auf diese Verwandtschaft, indem sie das Warenhaus und das Tierhaus vergleichend in den Blick nimmt, vgl. Wessely, „Künstliche Tiere etc.“, S. 168.

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18 Einleitung

Rechtfertigung der Schaulust, seine Betonung diente zur Festigung der eigenen Identi-tät in dem touristischen Erlebnis.

In diesem Sinne kann auch der Fabrikbesuch als touristische Handlung gedeutet werden. Es gilt zu untersuchen, ob und wenn ja wie die Umwandlung des Arbeitsor-tes Fabrik in eine touristische Attraktion einen neuen touristischen Raum entstehen ließ, durch dessen Konstruktion und Rezeption sich das Bürgertum in einer als für die gesellschaftliche Gruppe krisenhaft empfundenen Zeit gegen den Adel wie gegen die Arbeiterschaft abgrenzen konnte. Was die Besucherinnen und Besucher in der Fabrik erleben konnten, wie sie es deuteten und zu welchem Zweck diese Praktik angewandt wurde, steht im Folgenden im Mittelpunkt. Wurde mehr gesehen als die für den Laien oft undurchschaubaren Produktionsvorgänge? Sollte das zutreffen, dann erlebten die Industrietouristin und der Industrietourist eine Inszenierung, in der die Beschäftigten der Fabrik wie die ‚Wilden‘ in den Völkerschauen und die Tiere im Zoo zum Objekt der Schau wurden.

Um das Innere der Fabrik durch die Augen der Industrietouristin und des Indus-trietouristen zu erkunden und dadurch zugleich die mentalen Räume, die die Bürger und Bürgerinnen bei ihrem Besuch erschufen, zu durchmessen, muss in einem ersten Schritt festgestellt werden, wie und warum touristische Räume im 19. Jahrhundert all-gemein entstanden und welchen Charakter sie hatten. Sodann gilt es, nach den Spuren zu fragen, die die Touristinnen und Touristen hinterließen und aus denen man ihre Erlebnisse nachvollziehen kann. Welche Quellen lassen heute das Erlebnis des Fabrik-inneren vor 150 Jahren wiedererstehen? Welche Überreste verweisen auf das Innere des mentalen Raumes, den das Bürgertum mit dem Fabrikbesuch konstruierte?

Damit die Touristinnen und Touristen des späten 19. Jahrhunderts die Fabrik über-haupt als touristische Attraktion entdeckten, bedurfte es bestimmter gesellschaftlicher Zusammenhänge, in denen die Fabrikbesucherinnen und Fabrikbesucher als Mitglie-der des Bürgertums standen. Ein Überblick über die Zusammensetzung und Situation des Bürgertums im späten 19. Jahrhunderts kann Aufschluss darüber geben, wie es um die führende Gesellschaftsgruppe des ‚bürgerlichen Jahrhunderts‘ am Ende dieses Zeit-alters bestellt war. Insbesondere die kulturelle Praktik des Reisens spielte in dieser Zeit für diese Schicht eine bedeutende Rolle. Welchen Zweck verfolgten die bürgerlichen Touristen und – in Anlehnung oder in Abgrenzung zu ihnen – auch die Touristinnen mit der Erkundung von unbekannten Landstrichen, Tieren und Völkern? Entwickelten sie dabei ritualisierte Praktiken, die möglicherweise dazu beitrugen, das Phänomen des Industrietourismus vorzuzeichnen?

Welche anderen Interessen des Bürgers – und in gewissem Maße der Bürgerin – ver-wiesen auf die Fabrik als Objekt der Neugier? Die allgemeine Begeisterung für Wissen-schaft und Technik speziell im Bürgertum, so lässt sich vermuten, rückten die Fabrik

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Einleitung 19

als Ort der Technik schlechthin in den Blick dieser Gesellschaftsgruppe. Gleichzeitig war eine positive Einstellung der Unternehmensleitung gegenüber dem öffentlichen Interesse an ihren Produktionsstätten nötig, um aus dem reinen Interesse einen Besuch werden zu lassen. Woraus resultierte diese offenbar vorhandene Einstellung der Unter-nehmer? Populäre Medien wie illustrierte Zeitschriften, Postkarten oder Reisehandbü-cher griffen schließlich die Neugier auf die Fabrik auf und verbreiteten die Idee, eine Fabrik zu besichtigen.

Wie sah danach der Schritt in den Fabrikinnenraum aus? Wie viele Touristinnen und Touristen wählten sich überhaupt die Fabrik als Ziel? Woher stammten sie? Wie ver-hielten sich die Anteile der Geschlechter in dieser Gruppe zueinander? Welche Gründe bewogen sie zu dem Schritt und welche Art von Unternehmen bevorzugten sie? Mit diesen Informationen lässt sich anschließend der mentale Innenraum, der durch die Besichtigung entstand, besser ausmessen. Denn in ihm stellten sich verschiedene Erleb-nisse ein, ließen sich jeweils unterschiedliche Bereiche – Produktionsprozess, Maschine und Arbeiterin beziehungsweise Arbeiter – erfahren.

Auf den Spuren der Bürgerinnen und Bürger in der Fabrik soll so der Annahme nachgegangen werden, dass der Fabrikbesuch einen wesentlichen Beitrag zur Identitäts-findung dieser gesellschaftlichen Schicht leistete. Der Arbeitsort Fabrik wurde, so die These, dabei in eine Attraktion umgewandelt, wodurch ein neuer touristischer Raum entstand, in dem sich das Bürgertum jenseits der klassischen, am Adel orientierten Bildungsreise seiner selbst versicherte.

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2. Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

2.1. Touristische Wissensräume als Teil der Kulturgeschichte

Dass Menschen bestimmte Orte oder Ereignisse als touristische Attraktionen begrei-fen, sie durch ihre Handlungen auf eine Weise inszenieren, die diese in einen neuen Sinnzusammenhang stellt, hängt wesentlich von den jeweiligen Voraussetzungen einer Gesellschaft ab. Um die Fabrik als touristischen Raum deuten zu können, müssen diese unbewussten, jedoch handlungsleitenden Einstellungen sichtbar gemacht und in ihren lebensweltlichen Auswirkungen erkannt werden. Daher soll im Folgenden zuerst das generelle Paradigma der Kulturgeschichte, das der Untersuchung ebensolcher Einstel-lungen zugrunde liegt, skizziert werden. Sodann gilt es, die sozialen Auswirkungen und den Nutzen unbewussten Wissens zu untersuchen und die Möglichkeit auszuloten, Tourismus als eine solche Auswirkung zu begreifen. Schließlich stellt sich die Frage, wie Interpretationsmodelle für solche Inszenierungen aussehen können.

2.1.1. Kulturgeschichte als Analyse des „selbstgesponnene[n] Bedeutungsgewebe[s]“1 des Menschen

Das Verhalten eines einzelnen Menschen oder einer sozialen Gruppe kann nicht allein durch die Analyse politischer Machtverhältnisse und Praktiken, durch die Interpreta-tion von Tabellen zur wirtschaftlichen Entwicklung und durch die Untersuchung von Daten zur sozialen Lage erklärt werden. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse reichen, obwohl als Kontext unerlässlich, doch nicht aus, die von den Menschen erfahrenen Wirklichkeiten zu erfassen.2 Hierzu muss die Kultur eines Kollektivs, also eines Volkes, einer Schicht, eines Standes, einer Gesellschafts- oder Berufsgruppe in einer bestimm-ten Zeitspanne und in einem bestimmten Raum in Betracht gezogen werden.3 Die

1 Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1987, S. 9. Vgl. für eine eingehendere Beschreibung dieser Methode Kapitel 2.3.1.

2 Vgl. Rudolf Vierhaus: Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kultur-geschichtsschreibung, in: Hartmut Lehmann (Hrsg.): Wege zu einer neuen Kulturgeschichte. Mit Beiträgen von Rudolf Vierhaus und Roger Chartier, Göttingen 1995, S. 5–28, hier S. 8.

3 Vgl. Peter Dinzelbacher: Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, in: ders. (Hrsg.): Europä-ische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1993, S. XVII–XLIII,

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22 Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

Kultur umfasst die Gesamtheit der gesellschaftlich konstituierten raum- und zeitbezo-genen Werte, Einstellungen und Vorstellungen. Diese bestimmen, ebenfalls als Teil der Kultur, die Lebenswelt als individuell wahrgenommene, selbstverständliche Wirklich-keit und die in ihr möglichen Handlungen.4 Menschen leben in einem „selbstgespon-nene[n] Bedeutungsgewebe“5 und dieses begründet ihr Verhalten.

Um dieses Gewebe zu analysieren, um den ganzen historischen Prozess jenseits zähl- und messbarer Daten in seiner Tiefe und Breite6 auszumachen, bedarf es einer umfas-senden Kulturgeschichte, deren Ziel es ist, durch die Rekonstruktion der Lebenswelt das Verhalten verständlich und erklärbar zu machen.7 Dazu ist es nötig, alle Lebensbereiche des Menschen, sowohl materielle wie geistige Dimensionen, in ihren Vernetzungen zu erfassen.8 Die Kulturgeschichte umfasst und bündelt daher Elemente der Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte ebenso wie die der Ideen- und Mentalitätsgeschichte. Die Ergebnisse der Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte bilden den Rahmen der

hier S. XXVIII. Die Aufzählung ließe sich um viele weitere Aspekte wie beispielsweise Geschlecht, Klasse, ethnische Gruppe oder regionale Verortung ergänzen.

4 An dieser Stelle soll nicht die Diskussion über Entwicklung, Stellung und Bedeutung der Kulturge-schichte und der Mentalitätsgeschichte nachgezeichnet oder zu dieser Diskussion Position bezogen, sondern eine Definition nach eigenen Überlegungen geliefert werden. Dabei wurden besonders die Ausführungen bestimmter Autoren und Abhandlungen mit einbezogen: vgl. Volker Sellin: Menta-lität und Mentalitätsgeschichte, in: Historische Zeitschrift, Bd. 241, H. 3, 1985, S. 555–598; Ha-gen Schulze: Mentalitätsgeschichte. Chancen und Grenzen eines Paradigmas der französischen Ge-schichtswissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 36, Nr. 4, 1985, S. 247–270; Vierhaus, Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten, S. 9–16; Thomas Mergel: Kulturge-schichte – die neue „große Erzählung“? Wissenssoziologische Bemerkungen zur Konzeptualisierung sozialer Wirklichkeit in der Geschichtswissenschaft, in: Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996, S. 41–77; Manfred Hettling: Bürgerliche Kultur – Bürgerlichkeit als kulturelles System, in: Peter Lundgreen (Hrsg.): Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986–1997) (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte, Bd. 18), Göttingen 2000, S. 319–339, hier S. 319; Dieter Hein/Andreas Schulz: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Bürgerkultur im 19. Jahrhundert, München 1996, S. 9–16; Otto Gerhard Oexle: Geschichte als Historische Kulturwissenschaft, in: Hardtwig/Wehler, Kulturgeschichte heute, S. 14–40, hier S. 25–27; Dinzelbacher, Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, S. XVII–XLIII.

5 Geertz, Dichte Beschreibung, S. 9.6 Vgl. Mergel, Kulturgeschichte, S. 59f. Während Mergel sich mit der Wendung der Breite auf die

Ausweitung des Themenspektrums bezieht, will er mit dem analytischen Begriff der Tiefe die Unter-suchung um die Dimension von Sinn und Bedeutung erweitern, die jedem menschlichen Handeln zugrunde liege, womit nicht zwingend die Beschäftigung mit neuen Themen verbunden wäre, son-dern die Suche nach neuen Zugängen.

7 Vgl. Vierhaus, Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten, S. 13.8 Vgl. Dinzelbacher, Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, S. XXXIII.

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Touristische Wissensräume als Teil der Kulturgeschichte 23

subjektiv wahrgenommenen Wirklichkeit.9 Dass die Fabriktouristinnen und -touristen Ende des 19. Jahrhunderts zum überwiegenden Teil zum Bürgertum gehörten, dass sie sich in Abgrenzung zum Adel und zur Arbeiterschaft definierten, dass sie in einer Zeit raschen wirtschaftlichen Wandels und in einem obrigkeitsstaatlichen politischen Sys-tem lebten, war, wie spätere Ausführungen darlegen sollen,10 der Hintergrund, vor dem sich ihre Lebenswelt entfaltete. Wie die Menschen die Realität wahrnahmen und trans-portierten, offenbaren die Ideen- und die Mentalitätsgeschichte. Dabei ist die Idee „die bewusste[ ] Konstruktion eines individuierten Geistes“, während die Mentalität „die Vorstellungen und Urteile der sozialen Subjekte ohne deren Wissen beherrscht.“11 Als Idee begegnet uns die Vorstellung von der Aufklärung als dem „Ausgang aus der selbst-verschuldeten Unmündigkeit“12 und dem daraus resultierenden Konzept einer bürgerli-chen Gesellschaft freier und gleicher Individuen. Doch selbst wenn diese grundlegende Idee einen wichtigen Beitrag zur Ausgestaltung der Lebenswelt des Bürgertums leistete, kann sie doch die subjektive Wirklichkeitswahrnehmung und die daraus folgenden Handlungen des bürgerlichen Menschen nicht vollständig beschreiben und erklären. Darum spielt die Frage nach der Mentalität die bedeutendere Rolle, zumal in ihr immer noch bisher wissenschaftlich ungenutzte Erklärungsmöglichkeiten liegen, speziell im Hinblick auf die Wirklichkeitswahrnehmung und das daraus resultierende Verhalten der Menschen aus dem Bürgertum Ende des 19. Jahrhunderts.13

Das generelle Konzept der Mentalität14 konstatiert in Anlehnung an den Entwurf der ‚Représentations Collectives‘ Émile Durkheims, dass es unbewusste Vorstellungen gibt, auf die durch äußere Erscheinungen, also Verhalten, hingewiesen wird. Diese Vor-stellungen entstehen im Miteinander der Individuen und gehen über den Einzelnen hi-naus, sind also kollektiv, so das Konzept.15 Die Mentalität eines Menschen ist demnach

9 Vgl. ebd., S. XX.10 Vgl. Kapitel 3.1. und Kapitel 3.2.1.11 Roger Chartier: Intellektuelle Geschichte und Geschichte der Mentalitäten, in: Ulrich Raulff

(Hrsg.): Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987, S. 69–96, hier S. 78.

12 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, in: Berlinische Monatsschrift, Jg. 4, Nr. 12, 1784, S. 481–494, hier S. 481.

13 Vgl. Ulrich Raulff: Vorwort. Mentalitäten-Geschichte, in: ders., Mentalitäten-Geschichte, S. 7–17, hier S. 11. Raulff plädiert für eine Mentalitätsgeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, da seiner Meinung nach gerade die Zeit der Jahrhundertwende nach mentalitätsgeschichtlichen Er-klärungen verlange, worauf auch das Auftauchen der Begriffe wie ‚Weltbild‘, ‚Welt anschauung‘, ‚Le-bensduktus‘ zu dieser Zeit hindeutete.

14 Zur Begriffsgeschichte vgl. u.a. Jacques Le Goff: Eine mehrdeutige Geschichte, in: Raulff, Mentali-täten-Geschichte, S. 18–33, hier S. 24f.

15 Vgl. Émile Durkheim: Représentations Individuelles et Représentations Collectives, in: Revue de Metaphysique et de Morale, Bd. 6, 1898, S. 273–302.

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24 Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

eine „geistig-seelische Disposition“,16 die als unmittelbare Prägung durch die soziale Lebenswelt entsteht und ihrerseits die subjektive Wirklichkeit beeinflusst. Dabei ist sie, zumindest im Verhältnis zu den klarer formulierten Ideen, relativ unbewusst.17 Auf den Konnex zwischen dem Konzept der Mentalitäten in der Geschichtswissenschaft und dem eines vortheoretischen Wissens der Soziologie verweist der Historiker Alexander Schmidt, indem er beide Phänomene als un- oder teilbewusste Deutungsmuster er-kennt, die Wissensgemeinschaften mit speziellen Wirklichkeitsmodellen erschaffen.18 Nicht aus innerer Freiheit bewege sich das Individuum auf diese oder jene Weise in der sozialen Welt, sondern es sei bestimmt durch vorab formierte Denk- und Handlungs-dispositionen, die es implizit mit seiner Vergesellschaftung aufnehme. Auf diese Weise, so die Kernannahme der Wissenssoziologie, entstehe Wirklichkeit als gesellschaftliche Konstruktion.19 Wie sich jemand in bestimmten Situationen verhält und warum er dieses Verhalten an den Tag legt, hängt also von gruppenspezifischen, unbewussten Einstellungen – Mentalität, vortheoretischem Wissen – ab. Das Verhalten resultiert aus der inneren Haltung und macht diese Haltung sichtbar. Das jeweils gruppenspezifische Bündel vortheoretischen, unbewussten, durch die Vergesellschaftung vermittelten Wis-sens, das bestimmte Verhaltensweisen evoziert, bezeichnet die Soziologie als den Ha-bitus, der schließlich einen spezifischen Lebensstil als Bündel symbolischer Praktiken konstituiert.20 Der Habitus generiert mit dem Lebensstil Schemata, die der Wahrneh-

16 Theodor Geiger: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statis-tischer Grundlage, Stuttgart 1967 (Erstausgabe 1932), S. 77.

17 Vgl. Sellin, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 561; Le Goff, Eine mehrdeutige Geschichte, S. 21; Peter Burke: Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte, in: Raulff, Mentalitäten-Ge-schichte, S. 127–145, hier S. 127.

18 Alexander Schmidt: Reisen in die Moderne. Der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich, Berlin 1997, S. 21f.

19 Vgl. Peter Berger/Thomas Luckman: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine The-orie der Wissenssoziologie, 20. Aufl. (unveränderter Abdruck der 5. Auflage 1977), Frankfurt am Main 2004 (amerikanische Erstausgabe 1967), S. 16. Mit der Kernaussage, Wirklichkeit sei eine gesellschaftliche Konstruktion, stimmt die Wissenssoziologie im Übrigen mit der Diskurstheorie überein, vgl. Nikolas Coupland/Adam Jaworski: Discourse, in: Paul Cobley (Hrsg.): The Routledge Companion to Semio tics and Linguistics, London 2001, S. 134–148, hier S. 134f.

20 Vgl. Pierre Bourdieu: La Distinction. Critique Sociale du Jugement, Paris 1979, S. 189f. Ähnliche Überlegungen finden sich bei Max Weber und Werner Sombart, die die Ausdrücke ‚Gesinnung‘, ‚Geist‘, ‚Lebensführung‘ und ‚Ethos‘ verwendeten. Vgl. Werner Fuchs-Heinritz/Alexander König: Pierre Bourdieu. Eine Einführung, Konstanz 2005, S. 134, 181. Vgl. zusammenfassend zum Habitus-Be-griff Ulrike Heß-Meining: Der Habitusbegriff. Ein soziologischer Ansatz zur Erfassung kollektiver Charaktere, Identitäten, Mentalitäten, in: Heinz Hahn (Hrsg.): Kulturunterschiede. Interdisziplinäre Konzepte zu kollektiven Identitäten und Mentalitäten, Frankfurt am Main 1999, S. 199–216. Die Chancen und Risiken, eine soziologische Theorie, und insbesondere das Habitus-Konzept Bourdieus, für die Geschichtswissenschaft nutzbar zu machen, diskutieren Ingrid Gilcher-Holtey und Olivier

ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

Daniela Mysliwietz-Fleiß: Die Fabrik als touristische Attraktion

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Touristische Wissensräume als Teil der Kulturgeschichte 25

mung, Ordnung und Interpretation der sozialen Wirklichkeit dienen und zum Han-deln anleiten. Aufgrund des Habitus sind die Menschen in der Lage, an der sozialen Praxis teilzunehmen und selbst soziale Praxis hervorzubringen.21

Während lange Zeit in der dominierenden Forschungsrichtung der Mentalitäts-geschichte davon ausgegangen wurde, dass sich Mentalitäten relativ langsam verän-derten,22 geht vorwiegend der Forschungszweig, der das Konzept für die Neuere und Neueste Geschichte nutzbar machen möchte, ebenso von der Existenz mittlerer und kurzer Mentalitäten aus. Er bezeichnet das industrielle Zeitalter als „Zeitalter der Be-schleunigung des Mentalitätswandels“,23 in dem das Entstehen und das Vergehen von Mentalitäten in verhältnismäßig engen zeitlichen Zusammenhängen mit gesellschaftli-chen und politischen Umwälzungen gleichzusetzen seien,24 was dem vorgestellten Kon-zept der umfassenden Kulturgeschichte entspricht. Danach sei sogar davon auszugehen, dass Mentalitäten in einem bestimmten Punkt der Geschichte, zum Beispiel in einer politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Krise, manifest würden.25 In die-sem Zusammenhang ist zusätzlich von Bedeutung, dass Mentalitäten nicht nur durch serielle Auswertungen quantifizierbarer Daten zu erfassen sind, wie vorwiegend von der Annales-Schule praktiziert,26 sondern ebenso durch mit hermeneutischen Metho-den durchgeführte Fallstudien.27 Diese beiden grundsätzlichen Erkenntnisse deuten die

Christin ausführlich. Vgl. Olivier Christin: Geschichtswissenschaften und Bourdieu, in: Catherine Colliot-Thélène/Etienne François/Gunter Gebauer (Hrsg.): Pierre Bourdieu. Deutsch-französische Perspektiven, Berlin 2005, S. 195–207; Ingrid Gilcher-Holtey: Gegen Strukturalismus, Pansymbo-lismus und Pansemiologie. Pierre Bourdieu und die Geschichtswissenschaft, in: Colliot-Thélène/François/Gebauer, Pierre Bourdieu, S. 179–194. An das Habitus-Konzept erweist sich auch die Dis-kurstheorie als anschlussfähig, geht sie doch davon aus, dass das den Habitus konstituierende Wis-sen durch Diskurs erzeugt werde und wiederum diskursive Praktiken hervorbringe, vgl. Coupland/Jaworski, Discourse, S. 140.

21 Vgl. Pierre Bourdieu: Soziologie symbolischer Formen, Frankfurt am Main 1991, S. 143; Wer-ner Georg: Lebensstile in der Freizeitforschung. Ein theoretischer Bezugsrahmen, in: Christiane Cantauw (Hrsg.): Arbeit, Freizeit, Reisen. Die feinen Unterschiede im Alltag (Beiträge zur Volks-kultur in Nordwestdeutschland, Bd. 88), Münster/New York, NY 1995, S. 13–20, hier S. 14–18; Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 113f.

22 Vgl. z.B. Le Goff, Eine mehrdeutige Geschichte, S. 23. Le Goff gibt einen anschaulichen Einblick in die Auffassung der Annales-Schule, die als quantifizierende Wirtschafts-, Sozial- und Bevölkerungs-geschichte mithilfe von aus großen Quellenmassen isolierten Datenreihen langfristige Strukturen und Konjunkturen sichtbar zu machen suchte.

23 Sellin, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 585.24 Vgl. ebd., S. 565, 589; Schulze, Mentalitätsgeschichte, S. 256f.25 Vgl. Dinzelbacher, Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, S. XXVIII.26 Vgl. Anm. 22.27 Michel Vovelle: Serielle Geschichte oder „Case studies“. Ein wirkliches oder nur ein Schein-

Dilemma?, in: Raulff, Mentalitäten-Geschichte, S. 114–126.

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Daniela Mysliwietz-Fleiß: Die Fabrik als touristische Attraktion