die autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft...

50

Upload: others

Post on 09-Jul-2020

3 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit
Page 2: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

Die AutorinKyra Groh wurde 1990 in Seli-genstadt am Main geboren.Nach einem kleinen Umwegüber die Uni Gießen, verschluges sie 2012 nach Frankfurt, wosie Trambahnen, Apfelweinund Supermärkte, die bis Mit-ternacht geöffnet haben, zuschätzen lernte. Sie behauptetgerne, neben dem Schreibenkeine weiteren Talente zu ha-

ben – daher veröffentlicht sie nicht nur seit einigen Jahrenhumorvolle Liebesromane, sondern treibt auch hauptberuf-lich als Texterin ihr Unwesen. Sie hat eine Schwäche für gutesEssen, Instagram und Bilder von gutem Essen auf Instagram.Außerdem liebt sie Schachtelsätze, Erdnussbutter, Netflix und– aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind –Sport.

Das BuchBeim nächsten Traummann links abbiegen, bitte!

492 Kilometer. So weit ist es von Hamburg nach Frankfurtund eigentlich steht Romys exakt kalkulierter Fahrt wirklichnichts im Wege. Nur, dass sie sich ihren Opel Corsa ungeplantmit einem Möbel-Designer und einem Hund teilen muss, derso groß ist wie ein Kalb, und dass dieser fast einen Haufen aufdie Rückbank gesetzt hätte. Der Hund, nicht der Designer.Leon. Dass dieser ziemlich attraktiv ist und wahnsinnig char-mant kommt noch dazu. Doof, dass Romy eigentlich mit Flozusammen ist. Und doof, dass Leon ihr eine Woche später imMeeting als neuer Kollege gegenüber sitzt. Manche nennen

Page 3: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

sowas Schicksal, Romy nennt es einen verdammt fiesen Zufall,der ihren wohldurchdachten Plan vom Leben ganz schön insWanken geraten lässt.

Page 4: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

Kyra Groh

Mitfahrer gesucht -Traummann gefunden

Roman

Page 5: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei ForeverForever ist ein Digitalverlag

der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinNovember 2017 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017

Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®

Autorenfoto: © privat

ISBN 978-3-95818-214-1

Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich ge-

schützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für denpersönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheber-

rechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, des-halb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffent-liche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/

oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu WebseitenDritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ull-stein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen

macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haf-tung übernimmt.

Page 6: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

PROLOG 1

»Glaubst du an Schicksal?«, fragt mich Leon, der Mann aufmeinem Beifahrersitz.

Eine ungewöhnliche Frage für eine Internetbekanntschaft.Die meisten anderen, mit denen ich bisher über ich-fahr-mit.de eine Fahrgemeinschaft von Hamburg nach Frankfurtvereinbart hab, fragten Dinge wie »Und … äh … was machstdu so beruflich?«. Oft haben sie auch einfach so lange ge-schwiegen, bis die Stille mich fast erdrückt hat und ich ausVerlegenheit einen Radiosender mit leicht verdaulicher Pop-musik angemacht habe.

»Nein«, antworte ich nüchtern.»Sondern?«»Na ja, eben eher an einen guten Plan. An Entwicklung. Ich

denke zum Beispiel nicht, dass es Menschen gibt, die fürei-nander geschaffen sind. Schicksalhafte Begegnungen oderdergleichen … nein, das … damit geben wir einfach die Ver-antwortung ab.«

»Wie meinst du das?«»Na ja. Die meisten Paare trennen sich statistisch gesehen

ja. Und weil sie sich die Trennung leicht machen wollen, sagensie dann so etwas wie Wir sind einfach nicht füreinander ge-schaffen. Und damit wollen sie sich freisprechen. Es ist eineArt Ablassbrief. Ein simpler Wink an das Schicksal, und mankann alles wegschmeißen, statt daran zu arbeiten. Es ist einefeige Methode, sich möglichst leicht aus der Affäre zu ziehen.«

»Nein!«

Page 7: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

»Wie nein?«»Na, einfach nein! Ich denke, du siehst das falsch.« Leon

faltet seine Hände im Schoß, öffnet sie kurz wieder, macht einerhetorische Geste und schließt sie erneut. »Schau: Wenn manfüreinander geschaffen ist oder zumindest fest davon über-zeugt ist, nur dann wird man an der Beziehung arbeiten. Esheißt nicht, dass man perfekt ist. Es heißt, dass man bereit ist,die Kraft aufzuwenden, die Beziehung gemeinsam weiterzu-entwickeln.« Altklug legt er die Handflächen gegeneinanderund fährt fort: »Wenn man aber nicht füreinander gemachtist, kann man so viel arbeiten, wie man will. Es wird nie funk-tionieren. Daher verstehe ich nicht, wieso du einen Plan demSchicksal vorziehst.«

Ich reagiere mit Schweigen. Ein Triumph, den Leon aller-dings nicht auskostet. Wahrscheinlich sieht man mir an, wiesehr mich seine Worte aufwühlen und zum Nachdenken brin-gen.

»Manchmal ist es der beste Plan, keinen Plan zu haben«,sagt er abschließend.

Page 8: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

PROLOG 2

»Ich liebe Flo«, ermahne ich meine Freundin Sarah, als sie mirunterstellt, einem anderen Mann hinterherzusabbern. Ich lie-be meinen Freund Florian wirklich! Jemanden zu lieben, heißtja nicht, beim bloßen Gedanken an ihn dahinzuschmelzenund jeden anderen Menschen mit Missachtung zu strafen. Je-manden zu lieben, bedeutet, ihn als Teil des eigenen Lebenszu akzeptieren. Ihn nicht missen zu wollen, oder vielmehr: ihnnicht missen zu können, weil die Vorstellung, ohne ihn zu sein,absurd wäre.

»Aber du bist nicht glücklich mit ihm.«»Ich BIN glücklich. Ich bin vielleicht nicht über beide Oh-

ren verliebt, und wir haben Probleme, aber es ist alles okay.Und okay ist doch okay, oder?«

»Ja, wenn okay für dich okay genug ist, dann ist es okay.Denke ich.«

Diese Aussage lasse ich mir durch den Kopf gehen, und ichmerke, wie sie sich genau dort verankert. Wenn okay für michokay genug ist, dann ist alles okay. Oder?

Page 9: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

TEIL 1

Die Erschaffung des Allwetter-Haarsprays

4. Mai, in der Nähe von Hamburg

»Kannst du mir wenigstens den Namen und die Adresse diesesMannes notieren?«

Meine Mutter gestikuliert heftig, während sie das brüllt,und eilt aus der Doppelhaushälfte, die einst mein Zuhausewar. Sie rennt hinter mir her durch den Vorgarten undschwenkt dabei eine blaue Tupperdose. Ihre Frisur, die wieein fein säuberlich angelegtes Vogelnest auf ihrem Kopfthront, wippt sanft umher und verströmt die gewohnte Notevon Haarspray. Mama benutzt, seit ich denken kann, Drei-Wetter-Taft in der Intensitätsstufe vier, um ihre immer glei-che Hochsteckfrisur zu fixieren. So war es, und so wird esimmer bleiben. Das ist so unumstößlich wie der Werbespotfür Taft, in dem sich in den letzten Jahren lediglich das Modellgeändert hat, das zur Behebung des Produkts bei Wind, Regenund Sonne aus einem schnittigen Fortbewegungsmittel aus-steigt.

»Der Mann heißt Leon. Er wohnt … schätzungsweise inHamburg oder in Frankfurt.«

»Schätzungsweise? Du bist lebensmüde. Le-bens-mü-de!Warum springst du nicht gleich aus einem fahrenden Zug?«Jetzt wird sie hysterisch und läuft hinter mir her auf die Straße.Würde in ihrem Frisuren-Nest ein Küken sitzen, wäre es spä-

Page 10: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

testens bei ihrer schockierten Aussprache des Wortes »schät-zungsweise« und der dazu passenden ruckartigen Kopfbewe-gung hinausgepurzelt.

»Mama! Es ist vollkommen normal, sich zu einer Mitfahr-gelegenheit zu verabreden.«

»Es ist nicht vollkommen normal, dass eine junge Frau ei-nen Wildfremden am Straßenrand aufsammelt – «

»Am Hauptbahnhof!«Sie ignoriert meinen Korrekturversuch: »… und mal eben

mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.«Ich weiß überhaupt nicht, warum ich diese Diskussion er-

neut führe. In den letzten Jahren habe ich immer Mitfahrermitgenommen, wenn ich meine Eltern in meiner Heimat inder Nähe von Hamburg besucht habe. Bis zu diesem Besuchwar ich clever genug, meiner chronisch vorwurfsvollen Mut-ter nichts davon zu erzählen. Ausgerechnet heute Morgenbeim Frühstück musste mir jedoch herausrutschen, dass icheinen Abstecher in die Hamburger Innenstadt mache, bevorich mich auf den Rückweg in meine Wahlheimat Frankfurtbegebe.

»In Zeiten des Carsharings und des Internets ist es nichtsUngewöhnliches.«

Meine Mutter hat natürlich keine Ahnung, was das WortCarsharing bedeutet. Ihre Kenntnisse des Internets sind aufdem Stand von 2003. Sie glaubt noch heute, dass man einenPakt mit dem Teufel eingeht, wenn man ein paar gebrauchteSchuhe auf eBay ersteigert, und E-Mails hält sie für einen vo-rübergehenden Trend.

»Du meinst also, nur anständige Menschen verabreden sichüber das Internet? Darf ich dich an den Kannibalismus-Vor-fall in Rothenburg erinnern? Zwei Männer, die sich über dasInternet verabredet haben – und am Ende des Treffens hatte

Page 11: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

einer von beiden keinen Penis mehr! Weil seine Internetbe-kanntschaft ihn gegessen hat! GEGESSEN!«

Ich blinzle sie kritisch an. Unvorstellbar, dass ich diesesGespräch wirklich führen muss.

Ich schließe für eine Sekunde genervt die Augen, greife miran die Nasenwurzel und atme tief ein und aus. Mit einer Handauf meinen Opel Corsa gestützt und mit der anderen meinenRollkoffer umklammernd, sammle ich mich und sage ruhig:»In einer Sache kann ich dich beruhigen, Mutter: Die wild-fremde Internetbekanntschaft wird nicht meinen Penis es-sen!«

Mama wirft erzürnt den Kopf in den Nacken und ver-schränkt die Arme. »Du willst mich nicht verstehen, Romy.Du willst es einfach nicht.«

Ich bemerke aus den Augenwinkeln, dass sie verstohleneBlicke die Straße rauf und runter wirft. Allein der Gedanke,einer der Nachbarn könnte beobachten, wie sie mit ihrerTochter diskutiert, verursacht meiner Mutter Stress. Streit,Meinungsverschiedenheiten und Probleme lassen sich in ih-ren Augen am besten hinter verschlossenen Türen fixieren,wegbürsten und kaschieren. Wofür hat der liebe Gott dennsonst wetterfestes Haarspray geschaffen?

»Ich muss jetzt wirklich los«, betone ich und öffne die Au-totür, um das zu unterstreichen.

»Du hörst also nicht auf deine Mutter.«»Nein. Und das, obwohl ich doch erst siebenundzwanzig

bin – muss man sich mal vorstellen!« Sie verdreht die Augenund lässt sich dann scheinbar die Zahl siebenundzwanzig aufder Zunge zergehen.

»Ja! Du bist siebenundzwanzig. In deinem Alter lag ich ver-heiratet in den Wehen. Nicht vergewaltigt auf der Autobahn-raststätte.« Ihre panische Angst ist so absurd, dass ichunwillkürlich lachen muss.

Page 12: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

»Ich rufe dich sofort an, wenn ich zu Hause bin. Und wennwir an einer Raststätte halten sollten, achte ich sorgsam darauf,dass er mich nicht vergewaltigt.« Ich gehe um das Auto herum,öffne den Kofferraum und verstaue mein Gepäck.

Meine Mutter seufzt – ein verzweifeltes Geräusch der Re-signation, das irgendwo zwischen Was habe ich nur falschgemacht? und Das hat sie von ihrem Vater geerbt liegt. Danndrückt sie mir entnervt die Tupperdose in die Hand undgrummelt mit erhobenem Zeigefinger: »Iss nicht alles alleine!«

»Siebenundzwanzig Jahre, Mama«, erinnere ich sie, »Wennich acht Stücke Kuchen alleine essen will, dann tue ich es.«

»Du weißt, was beim letzten Mal passiert ist, als du dachtest,du wärst alt genug, um deine Portionen eigenverantwortlichzu bestimmen?« Ich verziehe die Lippen zu einem schmalen,gekünstelten Lächeln. Nicht nur, dass meine Erzeugerinkrampfhaft in der Vergangenheit lebt, sie muss auch noch je-dem Menschen in ihrem Umfeld stets alle Fehler und Schwä-chen vorhalten. Wahrscheinlich steht deswegen auch keinaktuelles Foto von mir auf dem Kachelofen im Wohnzimmer,sondern eines aus meiner »speckigen Zeit«. Meine »speckigeZeit«, wie man sie in meiner Familie nennt, war etwa im erstenJahr meines Studiums. Damals nahm ich in rekordverdächti-gen zwei Semestern um die zwanzig Kilo zu. Meiner Einschät-zung nach lag das daran. dass sich mein Körper in meinerneuen Frankfurter Studien-WG das holte, was meine Mutterihm an dem Tisch, unter den ich zuvor neunzehn Jahre langmeine Füße streckte, untersagt hatte.

Kurz überlege ich, mich vor ihren Augen mit den acht StückStreusel-Käsekuchen vollzustopfen. Doch dann sage ich mirlieber ein Mantra auf: Meine Mutter bestimmt nicht über meinLeben. Ich lasse ihre Probleme nicht an mich heran. Sie istunzufrieden. Nicht ich.

Oder? Ach nee: Ommm, ich meinte Ommmmmmm.

Page 13: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

Ich schnaufe tief durch, umarme sie und scherze: »Ich teileden Kuchen einfach mit meinem Vergewaltiger. Und jetztmuss ich los.«

»Wann kommst du das nächste Mal?«Ich zucke die Schultern, rufe mir kurz den Kalender vor

mein inneres Gedächtnis. Es ist Mitte Mai. Weihnachten kannich ihr wohl kaum als akzeptablen nächsten Termin zur Stipp-visite anbieten.

»Vielleicht zu Papas Geburtstag im Oktober.«»Oktober!?«»Ich muss los, Mama«, würge ich das aufkeimende Entset-

zen in ihren Augen ab, umkreise den Wagen, öffne die Fah-rertür und schlage sie zu, ohne noch einmal die Fensterherunterzufahren und dadurch ein weiteres Gespräch zuzu-lassen.

Die unzumutbaren Schachbrett-Schuhe

22. Mai, Frankfurt-Ostend

»Daniel hat sich gestern ein Paar Vans gekauft.«Sarah wischt sich mit dem Ärmel ihrer Chiffonbluse über

den Mundwinkel, aus dem ihr bei diesen Worten gerade einegehörige Portion Barbecue-Soße gelaufen ist. Sie sieht michmit einem düsteren Blick an, als hätte Daniel keine Schuhegekauft, sondern das ganze Ersparte für eine Hüpfburg-Nach-bildung des Schlosses Versailles auf den Kopf gehauen.

»Du meinst diese Skater-Treter, die wir alle mit vierzehngetragen haben?« Ich klaue eine Fritte von ihrem Teller, aufdem sich die Reste eines extragroßen Burger-Menüs befinden.Vor mir ruht eine komplett leer gekratzte Schüssel, die bis voretwa einer Viertelstunde mit Salat und Ziegenkäse gefüllt war.

Page 14: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

Wenn ich Speisekarten aufschlage, in denen Burger, Frittenund Co. ganz oben aufgeführt werden, erklingt oft automa-tisch die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf. Deswegenbin ich zu so einer schrecklichen Frau geworden, die in Res-taurants immer Salat bestellt und versucht, den Brotkorb zuignorieren. Es funktioniert aber meistens nur so lange, bismeine Essenbegleitung etwas Fettiges, gut Gewürztes auf ih-rem eigenen Teller übrig lässt. Glücklicherweise ist Sarahnicht die Art Freundin, die mich darauf aufmerksam macht,dass es inkonsequent ist, Salat zu ordern und dann Pommeszu naschen.

»Doch genau die. Diese komischen Slipper mit Schach-brettmuster. Und ich fand die 2004 schon scheiße.« Sarahwedelt bedrohlich mit einer Pommes, um ihre Antipathie zuunterstreichen. »Es gibt wirklich keinen guten Grund für ei-nen erwachsenen Mann von einunddreißig, im Jahr 2017noch einmal mit so etwas anzufangen.«

»Meine Mutter hat mir die immer verboten. Sie meinte, dieseien nicht gesellschaftstauglich.« Kurz fällt mir wieder ein,dass meine Mutter mir erst letzte Woche verbieten wollte, ei-nen vermeintlich todbringenden Mitfahrer in mein Auto ein-steigen zu lassen. Dieser Gedanke erfüllt mich mit einemHauch kindlicher Aufregung.

»Damit hat sie ausnahmsweise mal recht. Und ich gebe ihrecht ungern recht, schließlich ist sie der Grund, warum duimmer nur Grünzeug bestellst!« Sarah stopft sich die letztenPommes in den Mund und schaut weiterhin finster. »Ich hassees, meinen Freund zu bevormunden. Aber die Schuhe müssenweg, gib mir Argumente!«

Ob sie mich hierfür als qualifiziert erachtet, weil sie denkt,dass auch ich meinen Freund bevormunde? Na ja, da ist Leug-nen wohl zwecklos. Ja, ich bevormunde meinen Freund hinund wieder. Vor allem, wenn es um seine Kleiderwahl geht.

Page 15: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

»Ich? Argumente? Gegen die Turnschuhe eines Mannes?Du weißt schon, dass mein Freund so ’ne Art Berufsjugend-licher ist, der seit 1999 dasselbe Paar adidas Superstar trägt?«

Sarahs Blick sagt mir, dass die Schachbrett-Vans eindeutigschlimmer sind, da Superstars a) wenigstens Schnürsenkelund ein Fußbett haben, b) letzten Sommer in so ziemlich je-dem Fashionblog vorstellig wurden und c) die Füße meinesFreundes Flo und nicht die von Daniel darin stecken.

»Bei Flo passt das eben. Du weißt schon.«Sarah spielt darauf an, dass mein Freund wirklich eine Art

Berufsjugendlicher ist. Flo hat sich, nachdem er einige Jahreals Redakteur für ein Gaming-Magazin geschrieben hat, mitseiner eigenen Website selbstständig gemacht. Heute zähltsein Blog Flo zockt zu den erfolgreichsten deutschen Seiten indieser Sparte. Zigtausend Menschen lesen wöchentlich seineRezensionen und Berichte über Neuheiten aus der Welt derPC- und Konsolenspiele und verfolgen die Videos, in denener in Echtzeit Spiele spielt und kommentiert. Doch Erfolg hinoder her: Flos Profession löst oft eher Kopfschütteln als Be-geisterung aus; und festes Schuhwerk muss er während derArbeit definitiv nicht tragen.

»Daniel ist promovierter Mathematiker und arbeitet in ei-ner Bank. Die Latschen müssen weg.« Sie setzt einen Schmoll-mund auf. »Du hast doch auch sonst immer so überzeugendeArgumente.« Anmerkung: Damit meint sie nicht meine Brüs-te. Sie spielt auf meinen Beruf als Account Managerin an. Alssolche bin ich die meiste Zeit damit beschäftigt, den Kundender Werbeagentur, in der ich arbeite, Dinge anzudrehen, diesie entweder nicht bezahlen wollen oder nicht zu brauchenglauben. Sarah ist es gewohnt, dass ich unseren Kunden inellenlangen Streitgesprächen erkläre, warum es sich lohnt,Geld in provokative oder aufmerksamkeitsstarke Kampagnenzu investieren – Kampagnen, deren Urheberin Sarah ist. Denn

Page 16: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

sie ist nicht nur meine beste Freundin, sondern auch meineKollegin. Sarah Ritter ist Art-Direktorin und denkt sich alssolche kreative Konzepte, Designs und Layouts aus.

»Okay«, schließe ich und mache meine übliche, leicht An-gela-Merkel-inspirierte Geste, die signalisiert, dass ich einenPlan gefasst habe. Ich imitiere Sarahs Stimme, die höher ist alsmeine eigene, und halte eine strenge Predigt: »Daniel, du hasteinen Hochschulabschluss, eine Freundin, die sich bereits Na-men für eure drei Kinder überlegt, du zahlst Einkommens-steuer und Rentenversicherung. Doch all das, sagt dieserSchuh nicht. Dieser Schuh sagt: Ich hasse meine Eltern,schwänze den Religionsunterricht und verbringe meine Frei-zeit damit, den Cranberry-Wodka von Lidl zu trinken und zuden Klängen von Green Day auf den Kapitalismus zu schimp-fen.«

Sarah bricht in schallendes Gelächter aus und lacht noch,während wir unsere Taschen packen und uns aus der sonnigenMittagspause zurück Richtung Agentur bewegen.

Als wir wieder in unserem Büro sind, wartet ein ganzer Haufenunbeantworteter E-Mails auf mich. Achtunddreißig, um ge-nau zu sein, dabei waren wir nicht mal eine Stunde unterwegs.Ich mache mich sofort daran, eine nach der anderen abzuar-beiten. Als Account Managerin bin ich für unsere KundenBerater, Babysitter und Fußabtreter in Personalunion. Die E-Mails spiegeln einen guten Querschnitt dieser Tätigkeitsfel-der: zwei Dutzend Anfragen, Rückfragen, Nachfragen unddumme Fragen, ein paar Terminänderungen und Meetinger-innerungen, und der Rest ist – nennen wir es mal – unkonst-ruktive Kritik. Wie etwa die E-Mail meiner LieblingskundinFrau Knallkopfski, die vor einer halben Stunde in meiner Ab-wesenheit eingetroffen ist.

Page 17: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

Die Dame heißt natürlich nicht wirklich Knallkopfski. Ihrrichtiger Name ist Regina Kanowski und sie ist die Marketin-gleiterin eines Unternehmens, das ziemlich erfolgreich Papp-kartons herstellt. Und mit ziemlich erfolgreich meine ich:Gefühlt jeder zweite Karton auf Gottes schöner Erde stammtaus dem Hause papp.inc und wurde im nahe gelegenen Vor-dertaunus geboren. Die praktische Aufreiß-Methode derAmazon-Päckchen – eine Erfindung aus dem Hausepapp.inc. Die ultraflache Kartonage des Billy-Regals ebenfalls.Genauso wie jede Versandbox, die man bei der DeutschenPost erwerben kann. Wahrscheinlich sind wir bei SCHMITT+MATUSCHEK daher auch so stolz darauf, dieses Unterneh-men in unserem Kundenportfolio zu führen. So stolz, dass wirihnen alles durchgehen lassen.

Regina Kanowski verfügt bei papp.inc über einen Marke-tingetat von knapp fünfzehn Millionen Euro im Jahr undfinanziert damit einen Großteil unserer Gehälter. Das mussich mir jedes Mal anhören, wenn ich es wage, mich bei meinemChef über sie aufzuregen. Damit hat er natürlich auch recht.Aber es ist eben nicht immer leicht, mit Regina zu verhandeln.Sie erachtet sich in wirklich allem als überlegen – von Volks-wirtschaft über Rechnungswesen bis hin zu Kreativer Kon-zeption und Produktion von Werbemitteln. Ja, einmal hat siemir sogar zu erklären versucht, wie ich meine Haare kämmenmüsse, damit sie besser glänzen.

Weil der Kunde König ist und ich eine doofe Heuchlerin,habe ich so getan, als hätte ich mir den Tipp zu Herzen ge-nommen und am nächsten Morgen eine E-Mail an sie mit demPS beendet: »Ich habe ihren Tipp beherzigt, und mein Haarist wie verwandelt.« Was zwar nicht stimmte, mir aber einpositives Feedback und einen reibungslosen Arbeitstag mit ihrbeschert hat.

Page 18: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

Heute habe ich leider keine Schmeichelei auf Lager, mit derich schlichten könnte, was offenbar in Reginas Köpfchen brü-tet. Ich gebe Sarah eine Kostprobe ihrer neuesten, wutent-brannten Nachricht: »Hey, hör mal zu. Bevor wir in dieMittagspause gefahren sind, habe ich Regina den Kostenvor-anschlag für die Gestaltung des papp.inc-Messeauftritts ge-schickt.«

Im August hat papp.inc den größten Stand auf einer Messeder Verpackungsindustrie gebucht, und wir konnten uns ineiner Ausschreibung einen großen Teil der angedachtenKommunikationsmaßnahmen sichern. Angefangen bei derGestaltung des Standes bis hin zu Einladungskarten für be-sondere Gäste läuft alles über meinen Schreibtisch. Es ist dergrößte Job meiner bisherigen Karriere, und das erfüllt michgleichermaßen mit Stolz wie mit grenzenloser Panik. Gemein-sam mit Sarah werde ich im August sogar nach Londonfliegen, wo die Messe stattfindet, um den Aufbau des Standeszu begutachten und abzunehmen. Jede wütende E-Mail mei-ner Kundin fühlt sich daher an, als hätte ich auf einer sehrsteilen, großen Treppe eine Stufe verpasst und würde nun inZeitlupe hinuntersegeln, während mir alle beim Scheitern zu-sehen.

»Lass mich raten: Frau Knallkopfski ist der Meinung, dassalles viel zu teuer ist und dass Gaudi persönlich ihr einengünstigeren Messestand bauen würde?«

Ich sehe Sarah verdutzt an und korrigiere: »Nicht direktGaudi, aber …« Ich verstelle meine Stimme zu einer Imitationunserer Kundin, die stets versucht, ihren starken südhessi-schen Akzent durch Überbetonung jeder einzelnen Silbe zuüberdecken: »Liebe Frau Wagner. Darübär müssän wir aberschprechän.« Ich wechsle zurück in meine eigene Tonlage undparaphrasiere den Rest: »… was denken Sie eigentlich, wer Siesind … denken Sie ernsthaft, wir geben die Hälfte unseres

Page 19: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

Messebudgets an Ihre Agentur? … ich habe Ihnen schon hun-dertmal erzählt, dass … Gott, bei diesem Gerede hätte ichgenauso gut bei meiner Mutter wohnen bleiben können! AberAchtung, jetzt kommt es: Ich habe mit einem Experten ge-sprochen und schlage vor, asap einen gemeinsamen Terminzu vereinbaren. Ich wünsche mir, dass er zentrale Elementezur Gestaltung des papp.inc-Messestandes beiträgt.«

Sarah reißt entsetzt die Augen. Als leitende Art-Direktorinliegt die Gestaltung des Messestandes eigentlich bei ihr. DerGewinn dieses Projekts war für sie ähnlich bedeutend wie fürmich. Er hat uns beiden eine Beförderung eingebracht.

In ihren Augen ist deutlich zu lesen, was sie davon hält, sichdie Gestaltung des Standes mit einem vermeintlichen Exper-ten teilen zu müssen. Ihr Gesichtsausdruck sieht aus, als wäreihr ein ziemlich übel riechender Hundefurz in die Nase ge-stiegen.

Für einen kleinen Augenblick bringt mich dieser Gedankeaus dem Konzept, und ich muss lachen. Ich erhebe die Hand,um mir damit auf die Schenkel zu klopfen und Sarah in einer»Weißt du noch, damals«-Manier, in mein Kopfkino einzu-weihen. Aber dann fällt mir ein, dass Sarah ja noch gar nichtsdavon weiß, dass ich erst kürzlich ziemlich genaue Bekannt-schaft mit einer mächtigen Stinkbombe von Hunde-Ausdüns-tung gemacht habe. Ich erinnere mich zum zigsten Mal an dengroßen braunen Hundekörper, der durch einen Zufall vorknapp einer Woche auf der Rückbank meines Autos lag undmit Verdauungsschwierigkeiten kämpfte. Ich denke an dasHerrchen des Hundes, und das Herz rutscht mir in die Hose.

Bisher habe ich noch nicht entschieden, ob ich meine besteFreundin in diese Geschichte einweihen möchte. Doch Sarahlässt mir eh keine Gelegenheit, ihr von meinem Hundefurz-Insiderwitz zu erzählen. Sie springt von ihrem Stuhl auf,umkreist unsere Kopf an Kopf stehenden Schreibtische und

Page 20: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

wedelt bedrohlich mit dem Zeigefinger. »Wir müssen mitMatu reden! Romy, die Knallkopfski reißt mal wieder die ge-samte Projektleitung an sich. Das können wir ihr nicht zuge-stehen. Wir müssen mit Patrick sprechen!«

Ich hebe beschwichtigend die Hände, verjage den Hund,der übrigens Dexter heißt, und sein Herrchen mehr schlechtals recht aus meinen Gedanken und lese den letzten Satz vonFrau Kanowskis E-Mail laut vor: »Ich habe dies bereits mitHerrn Matuschek geklärt, schreibt sie.«

»WAS?!«, brüllt Sarah, »Dieser feige Mistsack! Er kann ihrdoch nicht einfach … er kann doch nicht … ich will das nicht.Das ist mein Job!«

Jeder bei SCHMITT+MATUSCHEK weiß, dass Patrick Ma-tuschek, seines Zeichens Kreativchef der Agentur, für einenKunden alles machen würde. Eigentlich ist er ein netter Kerl,Sarah jedoch kann ihn auf den Tod nicht ausstehen. Patrickwurde erst vor fünf Jahren zum Teilhaber der Agentur, die inden Achtzigern von Reinhold Schmitt gegründet und Anfangder Zweitausender von seinem Sohn Matthias übernommenwurde. Schmitt Jr. ist als Geschäftsführer für den administra-tiven und wirtschaftlichen Bereich zuständig, außerdem fürdie Kundenakquise und Strategie. Er ist sozusagen die linkeHälfte des Firmengehirns und sieht genauso aus, wie man sicheinen Zahlenmenschen mit logischem Denkvermögen vor-stellt: Ende vierzig, Anzug, Krawatte, blank polierte Schuhe,gescheitelte Gelfrisur, nicht vorhandene Lippen und stolzerBesitzer eines Porsche Panamera. Auch Patrick Matuscheklebt als Kreativchef sämtliche Klischees aus, die sein Beruf somit sich bringt. Er hat immer eine Motivationsfloskel auf La-ger, feiert gerne mal eine exzessive Party und steht auf abge-fahrene Dandy-Outfits: gelb gemusterte Hemden und rosa-farbene Hosen mit gekrempelten Umschlägen, geringelte

Page 21: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

Socken, Einstecktücher mit Paisleydruck, Hüte und brauneHornbrillen.

Schon als ich die E-Mail lese, wird mir klar, dass ich wahr-scheinlich den ganzen restlichen Tag in einem »Deeskalati-onsmeeting« zubringen werde. So nennt es Patrick, wenn mansich vier Stunden lang darüber auskotzt, dass Regina Kanow-ski nicht mehr alle Latten am Zaun hat, nur um am Ende zubeschließen, ihren hirnrissigen Wünschen stattzugeben. Es isteiner der Begriffe, die Patrick in den Management-Seminarenkennengelernt hat, die er besucht, um ein noch kompetentererChef zu werden.

»Beruhig dich, Sarah«, beschwichtige ich, schwinge michdramatisch auf dem Schreibtischstuhl herum, sodass meineFinger auf der Tastatur ruhen bleiben und beginne bereits eineAntwort zu formulieren. »Sie ist nicht umsonst Frau Knall-kopfski. Die Alte hat einfach einen Knall. Es bleibt ganzbestimmt dein Job«, beruhige ich meine beste Freundin.

Als ich vor vier Jahren als Juniorin im Account Manage-ment angefangen habe, wurde mir beigebracht, dass Kreativezarte Pflänzchen seien. Man muss sehr behutsam mit ihnenumgehen und ihnen a) ihre Freiheit und b) ihren Zorn lassen.Denn während ich mich vor den Beleidigungen und der Miss-gunst von Damen wie Miss papp.inc gut abschotten kann, gehtes einer kreativen Seele wie Sarah oft an die Nieren. WennFrau von und zu papp.inc beschließt, einen externen »Spezi-alisten« anzuheuern, um einen Messestand zu gestalten, dannliest Sarah zwischen diesen Zeilen, dass ihre Arbeit unzurei-chend ist.

»Ich kann bei so einem Verhalten einfach nicht diploma-tisch bleiben.« Sarah zieht mit beleidigter Miene ein Twix ausihrer Zauber-Schublade, in der sie massenhaft Süßigkeiten

Page 22: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

aufbewahrt, und schiebt sich den ersten Riegel beinahe amStück in den Mund.

Ich kann nicht anders, als ihre Kalorienzufuhr der letztenanderthalb Stunden im Kopf zu überschlagen. Diese Ange-wohnheit habe ich mir unfreiwillig von meiner Mutter abge-guckt. Während meiner »speckigen Zeit« sagte sie ständigDinge wie »Ein Snickers entspricht fünf Kilometern Joggen«oder »Nimm lieber einen Salat statt Pommes« oder »Weißt dueigentlich, dass dieses Stück Kuchen ein Drittel deines Tages-bedarfs an Kalorien abdeckt?«.

Das Einzige, was ich durch diese Rechenbeispiele tatsäch-lich gelernt habe, ist, dass solche Ratschläge hundert Prozentmeines täglichen Bedarfs an Bullshit decken.

Ich behalte die Nährwerte des Twix-Riegels daher für michund gönne Sarah, dass ihr gestählter Körper scheinbar denUmsatz eines kleinen Kraftwerks besitzt. Erwähnte ich, dassSarahs Arme dick wie Pythons und ihr Hintern stramm wieeine frisch gespannte Trommel ist? Vielleicht sollte ich malmit ihr in ihr komisches Spezial-Fitnessstudio gehen, in demsie Gewichte stemmt und in Rekordzeit Ausdauerübungendurchführt.

Seit ich das letzte Mal Sport getrieben habe, ist so einigespassiert in der Welt. Die Einführung des Euros zum Beispiel.Ich sollte Sarah mal zum Sport begleiten. Ein Paar muskelbe-packter Arme ist bestimmt ein hilfreiches Argument, wennich Regina die Sache mit ihrem Spezialisten ausreden möchte.

Die Serien-Fantasie

22. Mai, Frankfurt-Ostend

Page 23: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

Als ich gegen Viertel vor sieben etwas verspätet Feierabendmache, habe ich den Vorsatz, bald mit Sarah zum Sport zugehen, bereits wieder vergessen. Er wurde von einem Haufenneuer Informationen und Vorhaben verdrängt, die in denletzten Stunden eingetrudelt sind. Patrick Matuschek hat dasdringende Meeting in Sachen papp.inc auf den morgigen Vor-mittag verschoben, was die Angelegenheit für Sarah nur ver-schlimmert hat. Sie zeterte den ganzen restlichen Arbeitstagüber nichts anderes mehr und aß vor lauter Aufregung nochein zweites Twix (und damit meine ich ein komplettes zweites,nicht einfach nur den zweiten Riegel aus der ersten Packung).Mir hingegen kam der Aufschub ganz recht. So wurde »Kri-senmeeting mit Matu« auf meiner Liste für den heutigen Tagerst mal gestrichen. Damit verbleiben in meinem Moleskine-Taschenkalender nur noch folgende Tagesordnungspunkte:· Flo fragen, ob er seinen Teil der Kaution an mich zurück-

überwiesen hat· Kühlschrank-Temperatur prüfen· Gemischtes Gemüse mit Hähnchen zum Abendessen

Ja, ich schreibe mir tatsächlich auf, was es abends zum Essengeben soll. Ich laufe sonst Gefahr, mir zum Abendessen eineganze Packung Käse reinzupfeifen, die ich Scheibe für Scheibedirekt aus dem Kühlschrank esse.

Ich mache gerne Pläne, und Teil des Plans ist, selbigen auf-zuschreiben und zur vorgesehenen Zeit auszuführen. Nachdiesem Konzept habe ich mein Studium strukturiert, meineersten Praktika absolviert und auch mein Privatleben voraus-geplant.

Page 24: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

Beim Gedanken an mein Privatleben, das mich zu Hausewahrscheinlich wieder einmal in Lotterklamotten und unge-duscht erwartet, notiere ich einen weiteren Punkt:· Netflix-Serie Stranger Things ansehen

Ich grinse, während ich den Kugelschreiber wieder zudreheund in die Handtasche zurückstecke. Mein Blick wandertdurch die Straßenbahn, in der ich nach Hause fahre, undscannt die vorbeirauschende Umgebung. Als würde ich Aus-schau halten nach etwas, nach jemandem, nach ihm, weil ergesagt hat, ich solle mir diese neue Netflix-Show unbedingtansehen, sie würde mir gefallen.

Serien sind meine absolute Schwäche. Wenn mich eines ausder Spur bringen kann, dann eine wirklich gute Show, von derman zehn Folgen nahtlos am Stück schauen kann. Seltenschalte ich so ab, wie wenn ich eine ganze Serienstaffel an nureinem Wochenende sehen kann. Wenn ich in die Welt derProtagonisten eintauche und meine eigene für zehn wunder-bare Stunden links liegen lassen kann. Es gibt vermutlich keinepopuläre Show der letzten zwanzig Jahre, die ich nicht zu-mindest angefangen habe. Nicht jede entspricht meinem Ge-schmack, aber wenn mich etwas fesselt, dann werde ich zumbedingungslosen Fan.

Wenn ich miterlebe, wie sich Ross und Rachel aus Friendsverlieben, kann ich dabei Popcorn essen, ohne dass mich dieStimme meiner Mutter an die speckige Zeit erinnert. Wennich einen Ausflug nach Stars Hollow mache und dort die Gil-more Girls besuche, dann ist die ganze Welt aus Zuckerwatte,und ich vergesse, was ich alles zu erledigen habe. Wenn icheine Folge Lost schaue, überlege ich, was mir im Leben nochwichtig wäre, wenn ich auf einer einsamen Insel strandenwürde. Ob ich an Flo denken müsste, wenn mein Flugzeugabstürzt. Ob Frau Knallkopfski mich dann mal kreuzweise

Page 25: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

könnte. Ob ich zum Helden mutieren oder komplett durch-drehen würde – und wie mein Körper wohl aussehen würde,wenn ich wochenlang hauptsächlich von Mangos leben müss-te?

Und wenn ich eine Folge von Dexter, einer meiner Lieblin-ge, schaue, werde ich fortan wahrscheinlich nur noch an denriesigen rotbraunen Hund denken, der mir letzten Sonntagfast auf die Rückbank meines Opel Corsas gekackt hätte.

Der Anfang vom Anfang

14. Mai, Kilometer 0

Ein Wochenende in meinem Elternhaus ist wie eine Zeitreise.Nur dass ich dabei nicht nur durch Raum und Zeit reise, son-dern zu einem vergangenen Selbst von mir werde. Einem, dasmit Vorwürfen und kritischen Fragen überschüttet wird unddem nicht das geringste Fünkchen Eigenverantwortung zu-gestanden wird.

Scheinbar mache ich den Eindruck, nichts alleine entschei-den zu können, ohne dabei fett oder sogar misshandelt zuwerden. Warum sonst sollte meine Mutter Bedenken haben,mich mit acht Stück Kuchen und einem bisher anonymenMitfahrer alleine zu lassen?

Vorsichtshalber schalte ich bereits jetzt mein Handy auf»lautlos«. Ich habe wirklich keine Lust, während der Fahrt miteinem »Wildfremden« im Auto mit meiner psychotischenMutter zu telefonieren.

Ich sortiere mich an der Ampel ein, die mich auf den Zu-bringer zur Autobahn führt, und atme merklich auf. Mitjedem Meter, mit dem ich die menschenleere Kleinstadt wei-ter hinter mir lasse, werde ich entspannter. Ganz so, als würde

Page 26: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

ich meinem vergangenen Selbst davonfahren und Stück fürStück wieder die Romy werden, die ich jetzt bin.

Wenn ich es mir recht überlege, ist es gar nicht so unwahr-scheinlich, dass ich meine Eltern wirklich erst wieder imOktober zu Gesicht bekomme. An den vergangenen vier Ta-gen dieses verlängerten Christi-Himmelfahrt-Wochenendeshat Mama mich nicht nur mehrfach daran erinnert, dass ichmal übergewichtig war. Sie hat mir auch unablässig Fragenüber die neue Wohnung gestellt, in die ich vor einem Monatumgezogen bin. Hat mir unterstellt, dass diese sicher nochsehr chaotisch und nicht fertig eingerichtet wäre, dass sichdarin das Geschirr türme, weil ich keine Spülmaschine besitze,und dass ich mir eine Wohnung mit Balkon in Frankfurt-Bornheim doch ganz sicher nicht leisten könne.

Dabei kann Mama das gar nicht beurteilen, weil sie wedereine Ahnung davon hat, wie viel ich in meinem Job als Ac-count Managerin verdiene, noch, wie viel eine Wohnung mitBalkon in Bornheim eigentlich kostet. Sie wohnt schon ihrLeben lang in einem Kaff im Norden und kennt Frankfurt nuraus den Börsennachrichten im Fernsehen.

Auch ihre wiederholten Sticheleien rund um die ThemenHeirat und Kinder sind mir nicht entgangen. Dabei dachte ichbisher, es wäre eine Erfindung von Funk und Fernsehen, dassEltern mit voranschreitendem Alter ihres Nachwuchses vonder Panik ergriffen werden, ihr Stammbaum könnte nichtfortgesetzt werden.

Meine Mutter hat wirklich keinen Grund, sich darum zusorgen, dass ich ihr keine Enkelchen schenke. Ich liebe Kinder.Das weiß sie auch. Oder sie wüsste es zumindest, wenn sie mirin den letzten sechsundneunzig Stunden zumindest einmalzugehört hätte, als ich auf ihre Seitenhiebe mit »Mama, ichliebe Kinder« reagiert habe.

Ich sollte mir über all das keine Gedanken machen, denn

Page 27: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

a) ich bin eine siebenundzwanzigjährige Frau mit eigenem,nicht gerade schlechtem Einkommen, einem Dach über demKopf und einem gut funktionierenden Gehirn,

b) ich habe noch alle Zeit der Welt zum Kinderkriegen,denn bis ich als spätgebärend eingestuft werde, müssen lockernoch zehn Jahre ins Land gehen,

c) die neue Wohnung kann ich mir durchaus leisten, dasssie noch etwas chaotisch ist, muss meine Mutter nicht wissen,und die Anschaffung der Spülmaschine ist bereits im Finanz-plan der nächsten sechs Monate einkalkuliert, und außerdem

d) hat meine Mutter keine Ahnung. Weder davon, wie esist, mit siebenundzwanzig über ein eigenes Einkommen zuverfügen, noch, wie man mit Vollzeitjob einen Haushalt undeinen Haufen Spülgeschirr meistert. Ganz zu schweigen da-von, dass sie einen Internetservice zum privaten Carsharingnicht von einem Portal für mordlustige Perverse unterschei-den kann.

Mit einem ihrer Themen, mit dem sie mich partout nichtin Ruhe lassen wollte, hat sie jedoch nicht unrecht. MeineMutter hatte immer Bedenken, was Flo angeht. Auch ich kannspätestens seit unserem Zusammenziehen nicht mehr leug-nen, dass es reifere und vernünftigere Männer als ihn gibt.Aber ich habe mich nun mal für ihn entschieden. Oder? Undich bin kein Mensch, der Pläne einfach über Bord wirft.

Den Weg in die Hamburger Innenstadt zum Hauptbahnhoffahre ich wie mit Autopilot. Dort angekommen parke ichmeinen weißen Kleinwagen auf dem Parkplatz nahe der U-Bahn-Haltestelle und steige aus, um nach meiner Internetbe-kanntschaft Ausschau zu halten. Über die App von ich-fahr-mit.de haben wir schriftlich diesen Ort als Treffpunkt umvierzehn Uhr vereinbart. Ich gehe davon aus, dass diese Uhr-zeit gerade noch rechtzeitig sein wird, um einem Stau mög-

Page 28: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

lichst aus dem Weg zu gehen. Sicherlich fahren vieleMenschen am Ende dieses langen Wochenendes nach Hause.Wenn wir, wie ich es mir zurechtgelegt habe, auf der Höhevon Hannover tanken und bei Göttingen oder Kassel eventuellhalten, um mal aufs Klo zu gehen oder einen Snack zu kaufen,könnten wir es binnen fünf Stunden nach Frankfurt schaffen.

Ich schaue auf die Uhr. Sieben nach zwei. Ich will nichtsagen, dass ich pingelig bin, aber Unpünktlichkeit setzt michein bisschen unter Druck. Ich habe nun mal angepeilt, umsieben am Frankfurter Hauptbahnhof und eine Viertelstundespäter auf meinem Sofa zu sein. Mit mindestens einem Stückdes Käsekuchens und einer Folge Game of Thrones.

Natürlich wäre es auch kein Drama, erst um halb acht oderacht damit zu beginnen, mich mit Kuchen vollzustopfen,während ich Jon Snow und Co. dabei zugucke, wie sie Schwer-ter schwingen und Köpfe abhacken. Aber jeder hat eben seineMacken, und meine besteht darin, meine Vorhaben einzu-halten.

Schon zwölf nach zwei übrigens.Ich entferne mich ein paar Schritte von meinem Corsa und

schaue auf dem belebten Bahnhofsparkplatz umher. Etwa vierDutzend Taxen sind hier geparkt, ebenso viele Privatfahrzeu-ge. Menschen wuseln umher, rennen zur U-Bahn-Haltestelleund in den Hauptbahnhof hinein. Ich zähle zwei Obdachloseund vier Bettler und fünf Menschen, bei denen ich mir unsi-cher bin, ob sie zur einen oder zur anderen Kategorie gehörenoder ob sie ein anderes schlimmes Schicksal ereilt hat, das dazuführt, dass man an einem Sonntagnachmittag auf dem Park-platzboden vor dem Hamburger Hauptbahnhof kauert undFlaschen mit alkoholhaltigen Getränken an den zahnlosenMund führt. Mich überkommt gleichermaßen Ekel wie Mit-leid, und ich drehe mich weg. Vierzehn Uhr vierzehn.

Page 29: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

Ein Paar ganz in meiner Nähe auf dem Bürgersteig siehtebenfalls aus, als würde es auf eine Mitfahrgelegenheit warten.Sie hat einen Trekkingrucksack geschultert und bunte Fädenund Perlchen in ihre hüftlangen Dreadlocks geflochten. DerMann an ihrer Seite ist attraktiv, um die dreißig, führt einengroßen braunen, schlanken Hund an einer Leine mit sich undstreicht sich nervös über den Bart, während er immer wiederauf die Anzeige seines Smartphones schaut. Ich beobachte dasungleiche Paar. Das Einzige, das sie gemeinsam zu habenscheinen, sind die ähnlichen Wander-Rücksäcke.

Erst als das Mädchen auf einen kleinen, abgewrackten Re-nault zugeht, die aussteigende Fahrerin (Anfang zwanzig,Rastazöpfchen und Haremshose) mit einer herzlichen Um-armung begrüßt und mit ihr davonfährt, fällt mir auf, dass diebeiden gar nicht zusammengehören. Der Mann ist auf demBordstein zurückgeblieben, streichelt nun mit einer Hand denKopf des Hundes und hält sich mit der anderen das Telefonans Ohr.

Plötzlich treffen sich unsere Blicke. Er steckt das Handyweg, kneift die Augen zusammen, als würde er in mir eine alte,verschollen geglaubte Freundin wiedererkennen, und kommtauf mich zu.

»Fährst du nach Frankfurt?«, fragt er und streckt mir einegroße Hand entgegen. Mein lieber Scholli! Das ist wirklich einegroße Hand. Als ich ihm irritiert die meine reiche, verschwin-den meine Finger fast vollkommen unter seinen. Dabei sindmeine Hände für meine Körpergröße von einem Meter fünf-undsechzig recht normal proportioniert. Seine Hände jedochsind wie die eines Basketballers, noch dazu spröde und tro-cken.

Etwas verwirrt, warum mich dieser Fremde mit Handschlagbegrüßt, stammle ich: »Ja … ähm …« Mein Blick wandert von

Page 30: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

seinem bärtigen Gesicht zu dem angeleinten Hund, dessenrotbraunes Fell fast unnatürlich schön glänzt.

»Romy, richtig?«, fragt er mich, »Ich bin Leon, von ich-fahr-mit.de!«

Nun bin ich es, die die Augen zusammenkneift, um ihn ge-nauer zu betrachten. Das Foto von ihm, das in seinem Profilin der App hinterlegt war, sieht ihm nicht im Geringsten ähn-lich. Darauf war ein blasser, glattgesichtiger Typ mit kurzgeschorenem Haar zu erkennen, dessen Alter ich auf grade-fertig-mit-dem-Abi geschätzt habe.

Doch der Mann vor mir hat einen wettergegerbten, gesun-den Teint, einen Haarschnitt wie Patrick Dempsey in Grey’sAnatomy und einen dunkelblonden Vollbart, der sicher zweiWochen gezüchtet worden ist. Und sein Schulabschluss liegtbestimmt schon zehn Jahre zurück. Sein Paar eisblauer Augen,das mich soeben in einen geradezu hypnotischen Bann zieht,war ebenfalls auf dem Profilbild nicht zu erkennen – von sei-nem tierischen Begleiter einmal ganz zu schweigen.

»Oh! Leon!« Ob es meine Mutter beruhigt, dass mein po-tenzieller Mörder einen soliden Händedruck hat und offenbareiner handwerklichen Tätigkeit nachgeht – zumindest nachder Rauheit seiner Hände zu schließen? Oder dass er es ge-schafft hat, ein Hemd zuzuknöpfen, ohne einen Knopf zuverfehlen? Oder dass seine Augen eher zu »SchwiegermamasLiebling« als zu »Geistesgestörter Killer« passen?

»Du … dein … auf deinem Foto sahst du ganz anders aus,entschuldige! Ich hab dich nicht erkannt.«

»Ja, sorry. Das müsste ich aktualisieren. Ich glaube, das ist… aus dem ersten Semester an der Uni oder so.«

»Es wurde auf jeden Fall aufgenommen, bevor Bärte hipwurden«, scherze ich und bereue es sofort. Ich habe gelesen,dass der Mann von heute sehr viel Zeit und Pflege in seineGesichtsbehaarung investiert. Ich möchte es mir nur ungern

Page 31: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

mit einem Menschen verscherzen, mit dem ich die kommen-den fünf Stunden auf engstem Raum gemeinsam verbringenwerde, nur weil ich sein haariges Hobby verspottet habe.

Aber Leon lacht und präsentiert mir neben einem Sinn fürHumor zwei Reihen weißer Zähne. Der Hund wird auf dieGesprächspartnerin seines Herrchens aufmerksam und be-ginnt zunächst an meinen Schuhen, dann an meinen Beinenzu schnuppern. Ehe ich michs versehe, schiebt er seine feuch-te, lange Schnauze direkt zwischen meine Beine und schubstmir damit genau in den Schritt. Ich kenne Hunde, und ich magHunde. Ich weiß, dass sie gerne mal ihre Nase in intime An-gelegenheiten stecken, und bin – normalerweise – erwachsengenug, um mich dadurch nicht peinlich berührt zu fühlen.Doch heute erschreckt mich das feuchte Riechorgan in meinerMädchenregion so sehr, dass ich zurückschrecke und gegenden Seitenspiegel meines Autos remple.

»Oh Gott, Entschuldigung! Dexter! Dexter, zurück!« Leonzieht an der Leine, und der Hund schaut traurig von ihm zumir, als wüsste er nicht, was er denn falsch gemacht habe. SeinHundeblick sagt deutlich: »Was denn? Ich will doch nur malwissen, ob die Dame freundlich ist, und dafür muss ich nunmal an ihren Genitalien riechen!« In der Hundewelt ist daswahrscheinlich so etwas Ähnliches wie das Angebot, sich fort-an beim Vornamen zu nennen.

»Ist schon okay«, besänftige ich und streichle Dexter, ummein Einverständnis zu untermalen. Ich bin gespannt, ob Le-on bald mal ein Wort darüber verliert, wieso ein Hund anseiner Seite ist.

»Ich hab versucht, dich anzurufen. Außerdem habe ich dirin der letzten halben Stunde ein gutes Dutzend Nachrichtengeschrieben. Wegen ihm.« Er nickt zu dem Hund, der nun,wo wir Duzfreunde sind, mit freudigem Schwanzwedeln aufmeine Berührung reagiert. Leon klingt kein bisschen vor-

Page 32: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

wurfsvoll, weil ich seine Anrufe versäumt habe. Im Gegenteil.Sein Tonfall ist unterwürfig, und seine Stimme wird flehend,als er fortfährt: »Es tut mir so leid! Ich wäre nicht mit einerMitfahrgelegenheit gefahren, wenn ich gewusst hätte, dass erdabei ist. Ich wollte mir einen Mietwagen nehmen, aber ichkonnte so kurzfristig keinen mehr kriegen. Ich schwöre dir,ich wusste nicht, dass ich den Hund bei mir habe, als wir dieFahrt vereinbart haben. Ich hätte dich auf jeden Fall erst ge-fragt, ob du ihn mitnimmst.« Er kramt in der hinteren Tascheseiner Jeans nach einem braunen Lederportemonnaie, schauthinein, zählt ein paar Banknoten durch und sagt: »Ich gebe dirnatürlich zusätzlich Geld für ihn. Vielleicht zwanzig Euro?Oder dreißig? Wie du magst! Ich gebe dir …« Er lächelt glei-chermaßen verzweifelt wie charmant. »… mein letztes Hemd… und unterwegs lade ich dich auf ein Fünf-Gänge-Menü einoder so.« Leon wiederholt noch einmal: »Ich wusste nicht, dassich Dexter bei mir habe. Das habe ich erst vor einer Stundeerfahren, und ich muss ihn wirklich mit nach Frankfurt neh-men. Mir ist klar, dass das sehr merkwürdig wirkt und michnicht gerade wie den vertrauenswürdigsten Mitfahrer ausse-hen lässt. Aber … einfach nur: Bitte!«

»Dein Hund heißt Dexter?«, frage ich, grinse freudig undgehe in die Knie, um dem kräftigen Tier richtig in die Augensehen zu können. »Du darfst natürlich mitfahren, Dexter!«

Das Cinnimini-Fiasko

22. Mai, Frankfurt-Bornheim

Bevor ich zu Hause den Schlüssel in die Wohnungstür einst-ecke, schaue ich auf die Uhr. Es ist Viertel nach sieben. Ich

Page 33: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

fühle mich muffig und schlapp von der Arbeit, vielleicht sollteich noch ein Bad nehmen.

Ich schließe die Wohnungstür auf und trete ein. Der Flurist dunkel, aber die Tür am Ende des Ganges steht einen Spalt-breit auf, und Licht fällt in einem schmalen Streifen auf dasLaminat der Altbauwohnung. Diese unfassbar schöne Alt-bauwohnung, für die ich eine Niere auf dem Schwarzmarktverkauft hätte, um sie zu bekommen.

Ich lege mein Gepäck neben den Umzugskisten ab, die sichnoch immer im Flur türmen. Ein kleiner Teil von mir hat jawirklich gehofft, sie hätten sich während meiner Abwesenheitam letzten Wochenende irgendwie von selbst ausgeräumt undin den Keller getragen. Aber als ich vorigen Sonntag voll be-packt mit Gepäck und einer halb leer gegessenen Kuchendosedie Wohnung betrat, traf mich die Erkenntnis, dass die Um-zugskartons wohl so lange in unserem Flur stehen werden, bisich mich erweiche und sie selbst wegräume.

Ich folge dem Lichtstrahl zum Ende des Flurs und stoße dieTür auf. Ähnlich wie im Gang herrscht auch hier das blankeChaos. Im Zimmer ist es viel zu warm, es riecht süßlich-che-misch nach Energydrinks, und der Geruch von ungewasche-ner Kleidung liegt in der Luft. Das bekannte Brummen undSummen der Computerbelüftung erfüllt den Raum, und aufdem Boden liegt eine nach links gekrempelte Jeans, die aus-sieht, als wäre sie gedankenlos heruntergetreten und ausge-strampelt worden. So als hätten sich hier zwei Liebhaber blindvor Leidenschaft die Kleider vom Leib gerissen.

»Hey, ich bin da«, sage ich.Keine Reaktion.Auf dem Computerbildschirm ragt der Lauf eines Maschi-

nengewehrs in eine öde, exotische Landschaft.»Flo?«Immer noch nichts.

Page 34: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

Ich trete seufzend einen Schritt in den Raum hinein, fasseden mir zugewandten Rücken an den Schultern an und sagelaut: »Florian!«

Flo zuckt zusammen und zieht sich die Kopfhörer von denOhren. Er dreht sich auf dem Schreibtischstuhl herum undstrahlt mich überrascht an.

»Du bist ja schon da!«»Flo, es ist fast halb acht.«Er rappelt sich auf. »Ja, aber manchmal … du weißt schon:

Seitdem du diesen Riesenjob von der Pappkarton-Tante über-nommen hast, kommst du auch oft erst nach acht heim.«

Flo klopft sein T-Shirt glatt, und dabei fallen seine Kopf-hörer, gefolgt von einer Milliarde undefinierbarer Krümel, aufden Teppich. »Ich hab gar nicht bemerkt, wie spät es gewordenist. Ich hatte … ich wollte … Eigentlich wollte ich noch waszu essen machen.« Flo trägt nur blau karierte Boxershorts (daserklärt die zerknitterte Jeans-Leiche auf dem Teppichboden)und ein T-Shirt, auf dem in dicken Lettern Wacken 2007 zulesen ist.

Beinahe an jedem Tag, an dem ich erst nach achtzehn Uhraus dem Büro herauskomme, verspricht Flo, etwas zu essenvorzubereiten. Er vergisst es eigentlich immer. Das stört michnicht besonders, denn Flos Talent am Herd pendelt sich ir-gendwo zwischen Rührei, Miracoli und Salamitoast ein.

»Sieht aus, als hättest du schon gegessen.« Ich deute aufseinen Schreibtisch, auf dem neben der Tastatur eine riesigeSalatschüssel steht, in der noch ein kleiner See von Milch undeinige von Flos liebsten Cornflakes, Cinniminis, vor sich hindümpeln.

»Ach das …« Er winkt ab. »War mein Mittagessen.«»Wieder eine ganze Packung?«

Page 35: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

»Nein. Nur etwa drei Viertel.« Flo zeigt mir sein typischesspitzbübisches Grinsen, tritt auf mich zu und drückt mir einenKuss auf den Mund.

Er folgt mir in die Küche und sieht mir dabei zu, wie ichzwei Hähnchenbrüste zu zerteilen beginne. »Wie war’s ei-gentlich bei deinen Eltern?«

»Flo, ich bin bereits seit einer Woche wieder hier.« Ich sagedas in einem Ton, als würde ich mit einem Mann reden, dernach einem langen Koma an Gedächtnisschwund leidet.

»Ja, aber wir haben noch gar nicht richtig darüber geredet.«»Wahrscheinlich, weil du seit Wochen zu sehr in Battle-

field oder Call of Duty oder was es auch immer war, vertiefstbist.«

»Tut mir leid«, spult er hastig herunter und lässt sein Stan-dardargument folgen. Wann immer Flo mich wegen einesComputerspiels sitzen lässt, rechtfertigt er es mit »Aber Romy:Es. Ist. So. Geil!«.

Als ich vor einer Woche vom verlängerten Wochenende beimeinen Eltern heimkam, hatte ich Flo in ähnlichem Zustandvorgefunden wie gerade eben. Er hat mich nur kurz begrüßtund dann den restlichen Abend am Computer verbracht. Ichsaß mit einem Kopf voller verwirrender Gedanken auf derCouch und sah mir zum wiederholten Mal die Pilotfolge derCrime-Serie Dexter an, ehe ich bereits um halb zehn ins Bettging. Flo kam gegen ein Uhr nachts nach, kuschelte sich anmich, rieb sein Becken gegen meine Rückseite und flüstertemir ins Ohr, er habe mich vermisst. Ich habe so getan, alswürde ich tief schlafen. Ich konnte seine Nähe an diesemAbend nicht mehr ertragen.

Jetzt berühre ich beiläufig seinen Unterarm, wie um zu sagen:»Ist schon okay«, fahre fort, das Hähnchen in Streifen zuschneiden, und beantworte seine Frage: »Es war eigentlich wie

Page 36: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

immer. Aber einen Tag länger hätte ich meine Mutter nichtertragen«, stöhne ich.

Flo kichert und sieht zu, wie ich das Gemüse und das Fleischin den Wok schmeiße. Auf seinem Gesicht breitet sich eineMischung aus Faszination und hungriger Vorfreude aus.

Ich ergreife diese Gelegenheit, um ein Thema anzuspre-chen, das mir unter den Nägeln juckt, seit ich ihn eben in vollerPracht in seinem Arbeitszimmer gesehen habe.

»Sag mal, war das T-Shirt nicht schon mit einem Bein inder Altkleidertonne?« Ich erinnere mich nur zu gut daran,dass ich dieses Exemplar bei unserem Umzug in einen blick-dichten schwarzen Sack für Altkleidersachen gepackt habe,weil es unter dem Kragen voller Löcher und an den Säumenausgefranst ist.

Flo hat mir beim Einrichten unserer gemeinsamen Woh-nung bis auf Kleinigkeiten die Oberhand überlassen. Es warihm egal, welche Farbe die Wände oder welche Form die Sesselhaben. Wichtig war ihm nur, dass sein Arbeitszimmer so ist,wie er es will. Und da mir klar war, dass ich diesen Raum nurab und an betreten werde, um zu lüften und um nach längererAbwesenheit nachzusehen, ob Flo überhaupt noch lebt, durfteer dort walten, wie es ihm beliebte.

Offenbar hatte er aber bemerkt, dass ich heimlich einigeRelikte aus seinem Kleiderschrank entsorgt habe. Flo hat einebeachtliche Sammlung an Band- und Motto-Shirts. NebenWacken 2007 hat er auch Andenken aus den Jahren 2008 bis2016 von diesem Festival mitgebracht. Er besucht das be-kannte Metal-Event jedes Jahr mit alten Freunden aus derSchulzeit. Dabei mag Flo die Musikrichtung nicht einmal be-sonders. Die Jungs fahren nach Wacken, um drei Tage langzu zelten, Bier zu trinken und Gras zu rauchen. Und um einT-Shirt zu kaufen, natürlich.

Page 37: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

»Ja, aber daran hängen wertvolle Erinnerungen. Das kannstdu nicht einfach wegschmeißen!«

Wahrscheinlich hat er recht damit. Nur weil wir jetzt zu-sammenleben, habe ich noch lange nicht das Recht dazu, seineGarderobe zu bestimmen. Aber das labbrige, verbeulte Dingist zehn Jahre alt!

»Und wie war die Heimfahrt?«, fragt Flo.Für einen Moment bin ich wirklich versucht, ihm zu er-

zählen, dass ich mir den Corsa ungeplant mit einem Möbel-designer und seinem Hund geteilt habe, der so groß war wieein Kalb, und dass dieser mir fast einen Haufen auf die Rück-bank gesetzt hätte. Der Hund, nicht der Designer. Dass seinHerrchen frischgebackener Single ist und dieselben Serienmag wie ich. Dass wir uns die ganze Fahrt über blendend un-terhalten haben. Dass er die drei Stück von Mamas Kuchengegessen hat. Dass er wirklich ziemlich gut in seiner Lederja-cke ausgesehen hat. Dass ich es noch nie so genossen habe,fünf Stunden mit einem Fremden zuzubringen. Dass ich zumersten Mal bei einer Fahrt so abgelenkt war, dass ich bis zumletzten Tropfen Sprit gefahren bin. Dass das Leons Schuld war.Dass ich mich frage, wo Leon wohl unterkommt, ob er sichwieder einlebt, ob er eine Wohnung findet, ob er seinen Be-trieb hier gut starten kann, ob er bleibt, ob er sich eines Tageswieder mit seiner Exfreundin vertragen wird und zurück nachHamburg geht, ob wir uns irgendwann mal über den Weglaufen. Und wie wir uns dann begrüßen. Ob wir in entgegen-gesetzte Richtungen blicken, obwohl wir uns ganz genaugesehen haben, aber beide entscheiden, dass wegschauen ein-facher ist.

Aber stattdessen sage ich nur: »War okay. Hab nur ein biss-chen länger gebraucht.«

Flo reagiert, wie ich es erwartet habe: »Cool.«

Page 38: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

Die Kofferraumproblematik

14. Mai, Kilometer 0

Nachdem ich Leon oder vielmehr dem Hund mit einem tiefenBlick in dessen treue bernsteinfarbene Augen versprochenhabe, ihn auf die knapp fünfhundert Kilometer lange Reisemitzunehmen, setzt das Zögern ein.

Ich werfe einen Blick auf meinen Opel Corsa.In der Werbebroschüre des Pkw steht sicherlich nirgendwo

beschrieben, dass er sich bestens eignet für lange Fahrten mitHunden, die ein Stockmaß von knapp siebzig Zentimeternhaben. Was ist das überhaupt für eine Rasse? Handelt es sichbei dem Knaben mit dem glänzenden rotbraunen Fall viel-leicht um einen Kampfhund, der mir während der Fahrt dieKopfstützen der Rücksitze abkaut? Ist er stubenrein oder viel-mehr: kleinwagenrein? Übersteht das Tier fünf Stunden aufso engem Raum? Überstehe ich das? Ist es Leons Hund, oderhat er ihn nur zur Pflege? Und wenn es sein Hund ist, wiesokam es für ihn dann so überraschend, dass er ihn mitnehmenmuss? Gehen Flecken von Hunde-Pipi eigentlich wieder raus?

Ich merke, wie die Anwesenheit des Tieres mich langsam,aber sicher aus dem Konzept zu bringen droht. Ich will wederGeld noch kulinarische Gegenleistungen dafür, dass der Hundmitfahren darf. Stattdessen würde ich gerne eine Garantieausgestellt bekommen, dass das Tier meinen Plan nicht rui-niert. Und auch nicht die Inneneinrichtung meines Autos.

»Ist er …? Ich meine: Muss er nicht zwischendurch mal aufsKlo? Also aufs Hundeklo?«

»Er kackt dir bestimmt nicht in den Kofferraum, falls dudas fragen willst.«

»Ja, ich denke, das wollte ich fragen.«

Page 39: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

Ich öffne die Klappe des Kofferraums. Sein Ladevolumenhat sich bisher für Taschen, Wocheneinkäufe und kleinereIKEA-Besuche immer als vollkommen ausreichend erwiesen.Aber jetzt mustere ich Dexter, der schon wieder sehr interes-siert an meinem Intimbereich schnuppert, und bin mir ziem-lich sicher, dass das nicht funktionieren wird. Auch nachdemich den Kofferraumdeckel entfernt und meinen Trolley he-rausgehoben habe, wird meine Einschätzung nicht besser.Dexter passt da nicht hinein. Niemals. Und falls ich ihn dochdort hineinzwänge, handle ich mir sicherlich Problememit Peta ein.

»Ich vermute, er kackt, wenn überhaupt, auf die Rück-bank«, resümiere ich.

»Da hast du wahrscheinlich recht. Ich meine …! Nein!« Le-on greift sich besorgt an die Nasenwurzel und sagt zu sichselbst: »Großartige Reaktion, Kumpel!« Dann lächelt er mirgewinnend zu und erklärt: »Ich garantiere dir, er kackt nir-gends hin. Er kennt es, auf der Rückbank zu sitzen. Er fährttotal gerne mit dem Auto. Er legt sich hin und schlummertsofort ein. Wir könnten auf der Hälfte der Strecke eine kleinePause für ein Sicherheits-Gassigehen einlegen, wenn das okayist.«

»Ähm, na klar. Sicherheits-Gassigehen klingt gut.« Ichlächle zögerlich.

Etwas an Leons freundlichem Gesicht überzeugt mich. Eskönnten seine strahlend blauen Augen sein, die es beinaheunmöglich machen, ihm einen Wunsch abzuschlagen. Aberschlussendlich siegt auch meine Menschlichkeit. Ich kann ihnja schlecht mit dem Hund hier am Hauptbahnhof stehen las-sen – vor allem nicht, nachdem ich bereits versprochen habe,die beiden mitzunehmen.

»Dann wollen wir mal«, schlage ich vor und werfe einenletzten kritischen Blick auf die Uhr. Zweiundzwanzig nach

Page 40: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

zwei. Das Sicherheits-Gassigehen mit einkalkuliert, wird sichunsere Ankunft in Frankfurt mindestens um eine halbe Stun-de verzögern.

»Super! Danke! Das wirst du definitiv nicht bereuen.« Leonschwingt den Wanderrucksack von der Schulter und verstautihn. »Dexter ist der liebste Hund der Welt. Und wenn wirhalten, geht dein Kaffee auf jeden Fall schon mal auf mich.«

»Das ist lieb«, sage ich, während ich die Fahrerseite besteige,und denke gar nicht daran, das Angebot aus Höflichkeit aus-zuschlagen. Ein Kaffee ist doch eine nette Aufmerksamkeitdafür, dass ich bereit bin, mein Auto den Exkrementen seinesHundes auszusetzen – und wesentlich bescheidener als daseben noch versprochene Fünf-Gänge-Menü ist es auch.

Die Matuschek’sche Mediationsmethode

22. Mai, Frankfurt-Ostend

Ich genieße es, immer ein paar Minuten früher im Büro zusein. Zum einen ist die Straßenbahn noch nicht so voll, wennich bereits um kurz vor acht losfahre, zum anderen kann ichmeine Gedanken ein wenig sortieren, bevor das große Chaoslosbricht.

SCHMITT+MATUSCHEK sitzt im sechsten und siebtenStock eines großen Bürogebäudes im Frankfurter Ostend. ImErdgeschoss befindet sich ein Autohaus, das neue und ge-brauchte Kia- und Hyundai-Wagen verkauft, die anderenEtagen nimmt eine Firma ein, die sich mit Datenverarbeitungbeschäftigt. Es ist eines dieser alten Industriegebäude mit vierMeter hohen Decken und Wänden aus blankem Beton undStein, die man aus stylischen Gründen unverputzt belassenhat. Die Büroräume von SCHMITT+MATUSCHEK sind so

Page 41: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

eingerichtet wie viele Werbeagenturen, die etwas auf sich undauf Designermöbel halten: Eames-Stühle in den Konferenz-räumen, USM-Sideboards in den Chefbüros und großblättri-ge exotische Zimmerpflanzen im Empfangsbereich.

Mein Büro liegt im unteren der beiden Stockwerke. Ich teilemir den eher kleinen Raum mit Sarah, die vis-à-vis von mirsitzt, und einem weiteren Kollegen, dessen Schreibtisch einwenig von unserem Doppel entfernt steht. Pierre-HolgerSchwarzbrod ist nicht grade stark darin, sich zu unterhalten,Augenkontakt herzustellen oder sonst etwas zu tun, was fürZwischenmenschlichkeit wichtig ist. Seine Sozialschwäche istwohl der Grund, warum Pierre-Holger es vorzieht, mit demRücken zu uns zu sitzen und vor sich nichts als zwei Compu-terbildschirme und die weiße Wand zu haben. Nicht ein BlattPapier bedeckt seinen perfekt aufgeräumten Schreibtisch. Le-diglich eine schnurlose Tastatur, eine kabellose Maus und einKugelschreiber in einem Becher mit Turtles-Aufdruck befin-den sich darauf. Alle Utensilien sind so ausgerichtet, dass siein rechten Winkeln und Parallelen zueinanderliegen. Nach-dem Pierre-Holger die Ordnung morgens nach seinem Ein-treffen zwei- oder dreimal zerstört vorgefunden (der Stift lagnur noch im Siebenundachtzig-Grad-Winkel zur Maus) unddaraufhin einen kleinen Zusammenbruch erlitten hatte, setztesich unser Chef dafür ein, dass das Reinigungspersonal seinenPlatz nicht mehr berühren darf. Was eh überflüssig ist, da Pi-erre-Holger seinen Schreibtisch mehrmals am Tag selbst rei-nigt.

Man munkelt, dass die Chefetage den spleenigen, aber ei-gentlich herzensguten jungen Mann nur deshalb mit zweiTratschtanten wie uns in ein Büro gesetzt hat, damit er ir-gendwann von selbst kündigt. Dass Sarah und ich jeden Tagein paar Minuten damit zubringen, über unsere Männer zuschimpfen, mit schrecklichen Worten über Frau Knallkopfski

Page 42: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

herzuziehen oder uns über Schuhe, Filmstars und andere le-benserhaltende Wichtigkeiten zu unterhalten, hat Pierre-Hol-ger aber bisher ziemlich kaltgelassen. Im Gegenteil: Wir habenihn mittlerweile sogar so weit, dass er ab und an mit unsspricht. Als zum Beispiel die Scheidung von Brad Pitt undAngelina Jolie publik wurde, da trug er zu unserer Diskussionbei: »Ich habe nie verstanden, wieso diese Menschen so vieleKinder haben. Die waren doch sicher nicht oft daheim, umZeit mit ihnen zu verbringen.« Sarah klopfte mit der Faust aufden Tisch und brüllte: »Vollkommen meine Rede, Pierre! Duhast es raus!« Eigentlich, denke ich, wäre Pierre-Holger einguter Charakter in unserer eigenen Ausgabe von The Office.

Wie jeden Morgen sortiere ich vier Stapel auf meinemSchreibtisch: Einen »Erledigt«-Stapel, mit beendeten Aufga-ben, die ich nur zur Sicherheit und aus Aberglaube nicht direktad acta lege, einen »Von mir aus erledigt, aber nicht fertig«-Stapel mit Jobs, die von meinem Schreibtisch auf einen ande-ren gewandert sind, von mir aber geprüft und nachgefasstwerden müssen, einen »To-do«-Stapel mit Aufgaben für denbevorstehenden Tag und einen längerfristigen »To-do«-Hau-fen.

Ich fahre meinen Computer hoch und starte das E-Mail-Programm und den Kalender. Sofort verkünden mir mehrerelaute Ping-Töne, dass einige Termine für den heutigen Taganstehen. Patrick Matuschek muss bereits heute Morgen umsieben ein Meeting für zehn Uhr eingestellt haben – das zu-mindest sagt Outlook. Der Creative Director legt viel Wertdarauf, dass alle mitkriegen, dass er sich zu unkonventionellenUhrzeiten um die Arbeit Sorgen macht. Gerne antwortet ernachts um halb zwei auf E-Mails, die man ihm am Vormittaggeschickt hat, besonders gerne, wenn sich dabei ein Geschäfts-führer oder ein Kunde auf CC befindet. Auch vom Früh-

Page 43: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

stückstisch oder vom Frühsport versendet er hin und wiederNachrichten und versieht sie mit Grußzeilen, die eindeutigeHinweise auf seine derzeitige Verfassung geben. »Schweiß-nasse Grüße aus dem Gym, PM« oder »Mein Green Smoothieist schon grün vor Neid – bis später, PM«. Heute früh umsieben schrieb er Folgendes:

»Ladys, zehn Uhr zum Mediations-Meeting in meinem Bü-ro. Operation Kanowski. Wir werden die Pappschachtel schonhandeln. Ich widme mich nun wieder meinem Morning-Yo-ga. Namaste, Girls! PM.«

Ich hoffe stillschweigend, dass PM bei seinen Yoga-Ver-renkungen nicht der Clown wieder hochkommt, den er of-fenbar zum Frühstück verspeist hat.

Als ich das nächste Mal hochsehe, erschrecke ich mich vorPierre, der ohne den leisesten Ton hereingekommen sein undsich an seinem Platz niedergelassen haben muss.

»Oh! Guten Morgen, Pierre! Alles gut?«Er nickt, ohne mir den Kopf zuzuwenden oder meinen

Gruß zu erwidern. Aber für Pierre ist ein Nicken eigentlichschon ein Zeichen der Zuneigung.

Im Frühjahr und Sommer trägt unser Kollege jeden Tag einPoloshirt, in den Farben Weiß oder Schwarz, das er fein säu-berlich in den Bund einer mit Gürtel festgeschnürten Jeanssteckt. Keine besonders modische Jeans. Eher ein Modell, wiees sechzigjährige Mathelehrer tragen. So eine mit sehr großerHinternpartie und einem Schnitt, der mehr an eine Bundfal-tenhose erinnert. In den kälteren Jahreszeiten trägt er eineWinterausgabe dieser Kombination: Mathelehrerhose, Hemdin Weiß oder Schwarz und darüber einen Pullover. Ich weißnicht genau, wie alt Pierre-Holger ist, weil sein Kleidungsstilund sein Name schnell zu falschen Einschätzungen führen.Wahrscheinlich ist er noch nicht mal fünfunddreißig.

Page 44: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

Sarah kommt zur Bürotür hereingestürmt, das Gesicht un-ter ihrem hellblonden Haar leicht gerötet. Die verrückte Saraherklimmt jeden Morgen freiwillig die Treppen in den sechstenStock. Um ihre Schulter baumelt eine Sporttasche, die so großist, als wäre Sarah im Begriff mit ihr zu einer zweiwöchigenFlugreise aufzubrechen.

»Hey, Pierre, wie geht’s heute Morgen?«, fragt sie ihn lautmit einem Lachen in der Stimme. Er nickt erneut.

»Ach, das freut mich«, jubelt sie, als hätte er ihr grade haar-genau beschrieben, was er gestern Abend Schönes erlebt hat.

»Morgen, Romy«, grüßt sie mich gut gelaunt und schmeißtdie Sporttasche auf den Boden hinter ihrem Schreibtisch. IhreLederjacke, die Handtasche und ein Halstuch segeln hinter-her. Während sie ihren Computer startet, packt sie eine Tütevom Bäcker aus, summt einen aktuellen Chart-Song, wipptdazu mit dem Kopf und beginnt ihr Frühstück.

»Ich will dir deine gute Laune nicht verderben, aber Matuhat um zehn ein Mediations-Meeting einberufen.«

»Medi-was? War der wieder in einem Seminar oder so?Krisenmanagement für Kreativdirektoren?« Aus ihremMundwinkel fliegen ein paar Krümel, die verdächtig nachBlätterteig aussehen.

»Ich glaube, er hat heute um sieben in der Früh seine innereMitte gefunden und ist nun gewillt, Regina zu bändigen.«

Zwei Minuten lang hört man nur das Klackern von PierresTastatur, das Rascheln meiner Papierstapel und die Mampf-,Knusper-, und Kaugeräusche, die Sarah beim Verzehren ihresPlunderteilchens von sich gibt. Dann bricht Sarah in lautesStöhnen aus, so laut, dass sogar Pierre sich für einen Momentbeinahe umdreht. Seine Schulter zuckt merklich, und er recktdas Ohr nach hinten, wie bei einem Labrador, der eine Fährteaufnimmt.

Page 45: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

»Ey, nee, oder? Jetzt verstehe ich auch den Witz mit derinneren Mitte. Letzte Woche stand er doch noch auf Kraft-sport? Was will er denn jetzt mit Yoga? Ich hab mich vollgefreut, mich mit ihm über seinen Rekord im Bankdrückenzu unterhalten. Was ist passiert? Ist Yoga wieder im Trend?«

»Wahrscheinlich war es ihm peinlich, dass er dir beimBankdrücken unterlegen ist.«

Sarah gibt ein gehässiges Lachen von sich. Die Wahrheitliegt wohl wirklich darin, dass Patrick Matuschek eifrigTrends nacheifert. Er ist stets gestylt, als wollte er im Schau-fenster einer Hipster-Boutique Modell stehen. Und jedes Mal,wenn er von einem seiner Seminare zurückkommt, die sichmit Leadership oder Management beschäftigen, ist er inspi-riert, sein Leben fortan wie Elon Musk, Mark Zuckerberg oderSteve Jobs zu gestalten. Vor Kurzem hatte er aufgeschnappt,dass Krafttraining den besten Start in den Tag eines erfolg-reichen Leaders bildet, diese Woche scheint es Yoga zu sein.

»Mal schauen, wie er plant, das Biest zu zähmen. Vielleichtmit der Kobra oder dem Sonnengruß?« Sarah murmelt dasEnde des Satzes in die Bäckerei-Tüte und stopft sich Gebäckin den Mund.

Punkt zehn sitzen wir in Matus Büro. Ich halte eine Tasse inden Händen und schwenke geistesabwesend den restlichenKaffee darin. Sarah zieht einen Schmollmund und sitzt unla-dylike mit breiten Beinen auf ihrem Stuhl. Matu selbst stehtnoch auf dem ans Büro angrenzenden Balkon, raucht eine Zi-garette (trotz Yoga) und tut so, als hätte er noch nicht bemerkt,dass wir bereits da sind. Um dieses Laienspiel zu untermalen,tritt er eine Minute später ein und meint: »Ladys! Ich habeeuch gar nicht gehört. Ich habe noch ein wenig an meinemMindset gearbeitet.«

Page 46: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

Habe ich schon erwähnt, dass Patrick ein großer Liebhabervon Anglizismen ist? Und zwar solcher, die nicht zwanghaftnotwendig sind, weil es ausreichend deutsche Worte als Ersatzgäbe? Er ist einfach das formvollende Klischee: ein Mann, derfließend Denglisch spricht, E-Mails nur mit seinen Initialenunterschreibt, Leadership-Workshops besucht und auf Hoch-wasserhosen mit bunten Ringelsocken steht.

Unser Kreativchef rückt seinen Sessel hinter dem Schreib-tisch hervor, schiebt ihn an einem Sideboard vorbei, auf demer mehrere Flaschen mit Alkohol dekorativ in Szene gesetzthat und hockt sich vor uns, sodass wir einen kleinen Kreisbilden (sicher einen Kreis des Vertrauens oder einen Circle ofCommunication oder so). Er stützt die Ellenbogen auf dieKnie, streicht seine kinnlangen, graumelierten Ponysträhnenhinter die Ohren und legt mit Bedacht die Handflächen zu-sammen.

»Girls«, fängt er an.Wie gerne möchte ich ihm dafür eine Ohrfeige verpassen.

Es ist nicht so, dass ich Patrick Matuschek nicht mag. Matuist nur einfach manchmal … zu viel des Guten. Er ist so sehrum seine Wirkung bemüht, dass sein eigentlich nettes undfürsorgliches Wesen oft dahinter verschollen bleibt.

»Dann erzählt doch erst mal.«»Wir sollen dir etwas erzählen?«, platzt Sarah sofort heraus.

Die gute Laune der Morgenstunden ist wie weggeblasen, undsie ist zurück auf hundertachtzig. »Was denn? Dass Knall-kopfski sich mal wieder in alles einmischt? Und wie immeralles besser weiß? Wir haben um dieses Projekt gepitcht! Siekann nicht einfach einen anderen Typen mit dazuholen, derihr den Scheiß-Messestand baut. Es ist mein Job!« Sie wirfteinen um Unterstützung heischenden Blick in die Runde undkorrigiert sich: »Also … unser Job.«

Page 47: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

»Sarah, Sarah. Ich finde es gut, dass du so passionate bist.Du hast vollkommen recht damit, dass wir uns dieses Projekthart erpitcht haben.«

Unter einem Pitch versteht man in der Werbebranche eineAusschreibung, in der verschiedene Agenturen mit gutenStrategien und Ideen darum buhlen, den Etat für ein be-stimmtes Projekt zu gewinnen. Als es um die Messekommu-nikation für papp.inc ging, haben Sarah, Matu und ich zweiWochen lang über zehn Stunden täglich gearbeitet und dieWochenenden durchgeschuftet. Aber die Mühe hat sich ge-lohnt, da wir uns im Pitch gegen wesentlich größere undnamhaftere Agenturen durchsetzen konnten.

»Wir sollten jetzt aber ruhig bleiben und uns zunächst an-hören, was Frau Knall…, äh Kanowski sich wünscht.« HinterPatricks Schreibtisch, schlicht, weiß, aber absurd groß für eineeinzige Person, hängen zwei große gerahmte Poster. Eineszeigt einen oberkörperfreien Muhammad Ali im Boxring, denArm zum Schwung abgewinkelt und eingekeilt von den Zei-len: If your dreams don’t scare you, they aren’t big enough. Dasandere zeigt in einer fetten Schrift die Worte Keep calm andMatu on – ein Geschenk, das wir ihm letztes Jahr zum vier-zigsten Geburtstag gemacht haben. So klischeehaft diese Mo-tivations-Poster auch sein mögen, so gut passen sie doch auchzu seiner Persönlichkeit.

»Den Messestand gebaut hätten wir ja sowieso nicht. Wirbeziehungsweise du, Sarah, hätten ihn konzipiert und designt.Ich glaube nicht, dass sie uns das streitig machen will. Viel-leicht handelt es sich bei ihrem Kontakt um einen klassischenMessebauer.«

»Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht mischt er sich ja ein-fach nur wieder in alles ein! Und schwups stehe ich da wie derletzte Depp und darf gar nichts mehr entscheiden.«

Page 48: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

Ich halte mich an seinen Leitspruch Keep calm und mischemich ein: »Du hast natürlich recht, Patrick. Bestimmt soll erden Stand nur bauen, nachdem wir uns alles ausgedacht ha-ben.« Ich habe mir solche Floskeln angewöhnt, weil Zuge-ständnisse ein wichtiges Mantra in Matus Führungsphiloso-phie sind. Ebenso wie er Sarah zugestanden hat, mit ihrer Wutnur ihre Leidenschaft für den Job auszudrücken, gestehe ichihm nun zu, dass der Kundenwunsch wichtig ist. Zu betonen,dass Regina trotzdem eine unverbesserliche Besserwisserin ist,würde die Diskussion nur anheizen.

»In Frau Kanowskis E-Mail stand ja, sie habe mit dir bereitsalles abgeklärt. Wahrscheinlich fühlen wir uns deshalb etwasauf den Schlips getreten. Vielleicht kannst du uns mal aufklä-ren?« Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie Sarah die Augenverdreht. Sie kann meine Diplomatie in solchen Dingen ab-solut nicht nachvollziehen. Nackt auf dem Tisch zu tanzenund Frau Kanowski dabei mit Voodoozauber und Feuerritu-alen zu verdammen, scheint das Problem in ihren Augen vieleffizienter zu lösen. Allerdings stemmt Sarah in ihrer Freizeitauch kiloschwere Gewichte über ihren Kopf und bereist mitihrem Freund Daniel südostasiatische Länder mit nichts alseinem Rucksack und den Kleidern, die sie am Leib tragen. Ichschreibe mir in meiner Freizeit To-dos auf und bereise mit FloOrte, die er aus Computerspielen kennt.

Matu steht auf, umkreist seinen Schreibtisch und ist sichder dramatischen Wirkung dieser Geste mit Sicherheit be-wusst. »Die Lage ist folgende: Frau Kanowski hat sich gesternmit einem alten Bekannten getroffen – durch Zufall, wie siemir versichert hat.«

Ich führe meine Kaffeetasse zum Mund und halte Augen-kontakt mit meinem Chef.

»Die beiden haben sich unterhalten, und anscheinend hattedas Ganze einen inspirational effect auf sie.« Ich blinzle diesen

Page 49: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

Anglizismus unkommentiert weg, nippe weiter an meinemKaffee.

»Der Bekannte ist so eine Art Woodworker.«Der Kaffee kollidiert in meinem Rachen mit einem hervor-

sprudelnden Lachen. Sarah und Matu sehen mich gleichzeitigerschrocken an, als ich von einem Hustenanfall geschütteltwerde. »Sorry«, bringe ich hervor. »Ich … äh … ein Wood-worker. Jemand, der was mit Holz macht, ich verstehe schon.Sorry, kindischer Gedanke.«

Ich gebe lieber nicht zu, dass ich zuerst an das englischeSlangwort Wood denken musste, das man umgangssprachlichfür einen erigierten Penis verwendet.

»Anyway …«, fährt Patrick fort, stützt sich vorgebeugt aufder Schreibtischkante ab, »Frau Kanowski ist begeistert vonseiner Arbeit, und sie würde gerne mit ihm kooperieren, wennwir den Messestand bauen.«

»Aber …«, unterbricht ihn Sarah.»Wir wollten bei dem Stand eh demonstrieren, dass

papp.inc sehr verantwortungsbewusst im Umgang mit Holz-ressourcen ist .«

»Aber …«»Sustainability ist DAS Thema bei papp.inc.«»Aber, Patrick …«»Sie haben immerhin dieses Regenwald-Zertifikat verlie-

hen bekommen und produzieren eine Serie, die zu hundertProzent aus recyceltem Material hergestellt wird.«

»PATRICK!«, schreit Sarah nun fast und spult dann ihreWiderrede ab: »Das ist doch total unlogisch! Wir wollen denumweltbewussten und nachhaltigen Umgang mit Ressourcenthematisieren – das war unser Konzept! Das Konzept, dasKnallkopfski im Pitch total begeistert hat, wohlgemerkt. Undnun machen wir was? Bauen einen ganzen Stand aus Holz,oder was? Aus nachhaltig abgeholzten Bäumen vielleicht?«

Page 50: Die Autorin - ullstein-buchverlage.de · – aus Gründen, die ihr selbst manchmal schleierhaft sind – ... mit ihm fünfhundert Kilometer durch Deutschland fährt.« ... Pakt mit

Sarah redet sich in Rage. Ich bemerke an ihrem Tonfall, dasssie längt nicht mehr rational argumentiert, sondern sich inden Kopf gesetzt hat, papp.inc und dem ominösen Woodwor-ker auf keinen Fall entgegenzukommen.

»Wir könnten dafür ja neue Bäume pflanzen oder so. Cha-rity kommt doch bestimmt gut an.« Sarah sieht mich an, alswollte sie mich augenblicklich ebenfalls mit Voodoozauberbelegen.

»Fantastische Idee, Romy! Ich wusste, ihr findet eine Lö-sung.« Er klatscht in die Hände. »Frau Kanowski lässt sichnicht von der Sache abbringen. Sie besucht uns diesen Freitagzu einem gemeinsamen Get together mit dem Woodworker.Sie ist hin und weg von ihrem Schreiner oder Designer oderwas er auch immer beruflich macht.«

Ich fühle mich wie vom Blitz getroffen.Vor meinen Augen verschwimmen Muhammad Ali, Pat-

ricks Silhouette und Keep calm and Matu on zu einem einzigenMischmasch aus Motivationsgelaber und verschmierten Far-ben. Mein Herzschlag verdoppelt sich, und meine Fingerfühlen sich plötzlich an, als wären sie fest umschlossen. Um-schlossen von einem schwieligen, festen Händedruck.

Mehr unter forever.ullstein.de