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Page 1: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates
Page 2: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

Carsten G. Ullrich

Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

Page 3: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

Carsten G. Ullrich

Die Akzeptanz desWohlfahrtsstaatesPräferenzen, Konflikte,Deutungsmuster

Page 4: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

.

1. Auflage 2008

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008

Lektorat: Monika Mülhausen

Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media.www.vs-verlag.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes istohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesonderefür Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei-cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergDruck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., MeppelGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in the Netherlands

ISBN 978-3-531-15702-3

Bibliografische Information Der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz-Thyssen-Stiftung.

Page 5: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

Abbildungsverzeichnis 5

Inhalt

Abbildungsverzeichnis........................................................................................... 7

Vorbemerkung ...................................................................................................... 11

1 Einleitung .................................................................................................... 13

2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen ................................................................................................ 19

2.1 Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates.................................................................................. 19 2.1.1 Was ist Akzeptanz? Annäherungen an ein »amorphes« Konzept ........... 19 2.1.2 Wohlfahrtsstaatsakzeptanz............................................................................. 28

2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates........................ 33 2.2.1 Funktionalistische Ansätze ............................................................................ 33 2.2.2 Konflikttheoretische Ansätze ........................................................................ 36 2.2.3 Wohlfahrtskulturelle Ansätze ........................................................................ 46 2.2.4 Institutionentheoretische Ansätze ................................................................ 50

3 Ergebnisse und Defizite der wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzforschung ..56 3.1 Hintergründe und zentrale Ergebnisse der Akzeptanzforschung............................ 56 3.2 Akzeptanzmessung und Akzeptanzerklärung: Defizite und Aporien ..................... 61

4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz ............................68 4.1 Angaben zur Umfrage »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates«.............................. 68 4.2 Indikatoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz ................................................................ 69 4.3 Erklärungsfaktoren für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme ........................ 82

5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der BundesrepublikDeutschland.................................................................................................93

5.1 Akzeptanz des »Status quo« ........................................................................................... 93 5.2 Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit....................................................................... 103 5.3 »Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit« und allgemeine Wirkungen des

Wohlfahrtsstaates........................................................................................................... 1155.4 Zusammenfassung: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates und der

Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland ..................................................................... 124

Page 6: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6 Inhalt

6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«:Mögliche Erklärungsfaktoren von Akzeptanzurteilen und Akzeptanzunterschieden ........................................................................... 128

6.1 Klassen, Parteien und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates ................................. 131 6.1.1 Einleitung........................................................................................................ 131 6.1.2 Arbeiter und »Mittelklassen«: Unterschiede zwischen sozialen Klassen

bei der Beurteilung sozialer Sicherungssysteme ....................................... 138 6.1.3 Politisierte Gegensätze? Zum Einfluss der Parteiaffinität auf

die Akzeptanzurteile...................................................................................... 146 6.2 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (I): Versorgungsklassen ......................... 153

6.2.1 Einleitung........................................................................................................ 153 6.2.2 Versorgungsklassenstatus und subjektive

Interessendefinitionen .................................................................................. 158 6.2.3 Fazit ................................................................................................................. 168

6.3 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (II): Generationenkonflikte .................. 171 6.3.1 Zur Möglichkeit von Generationenkonflikten im

Wohlfahrtsstaat .............................................................................................. 171 6.3.2 Generationenkonflikte um die Gesetzliche

Rentenversicherung? ..................................................................................... 177 6.3.3 Generationsunterschiede bei der Beurteilung von

Familienleistungen......................................................................................... 186 6.3.4 Fazit ................................................................................................................. 188

6.4 Eine Frage der Moral? Zum normativen Fundament der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz ........................................................................................... 190 6.4.1 Wohlfahrtsstaatliche Prinzipien und normative Orientierungen........... 190 6.4.2 Die Bedeutung von Gerechtigkeitsüberzeugungen und

grundlegender Sozialorientierungen für die Akzeptanzsozialer Sicherungssysteme .......................................................................... 198

6.4.3 Fazit ................................................................................................................. 2086.5 Die Bedeutung des »Leistungsempfängerbildes« für die Akzeptanz

sozialer Sicherungssysteme........................................................................................... 212 6.5.1 Einleitung: »Deservingness« und Akzeptanz ............................................ 212 6.5.2 Die Wahrnehmung der Leistungsempfänger............................................ 224 6.5.3 Der Einfluss der Leistungsempfängerwahrnehmung auf die

Akzeptanzurteile ............................................................................................ 229 6.5.4 Fazit ................................................................................................................. 238

7 Zusammenfassung: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates und ihre Bestimmungsgründe .......................................................................... 241

Literaturverzeichnis ............................................................................................252

Anhang................................................................................................................265

Page 7: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

Abbildungsverzeichnis 7

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 2.1 »Akzeptanzrelevante« Beziehungskonstellationen und Entscheidungen ...... 24

Abbildung 2.2 Konfliktwahrscheinlichkeiten in unterschiedlichen Wohlfahrtsregimen ...... 45

Abbildung 2.3 Wohlfahrtsstaatstheorie und Wohlfahrtsstaatsakzeptanz ............................... 55

Abbildung 4.1 Hauptindikatoren zur Messung der Akzeptanz sozialerSicherungssysteme und -bereiche ........................................................................ 76

Abbildung 4.2 Systemmerkmale der einzelnen wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzobjekte .... 81

Abbildung 4.3 Mögliche Erklärungsfaktoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz ...................... 86

Abbildung 4.4 Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen: allgemeines Orientierungsschema ............................................................................................ 92

Abbildung 5.1a Gesetzliche Krankenversicherung: Institutionenakzeptanz (Häufigkeiten)...... 95

Abbildung 5.1b Gesetzliche Rentenversicherung: Institutionenakzeptanz (Häufigkeiten)........ 96

Abbildung 5.1c Arbeitslosenversicherung: Institutionenakzeptanz (Häufigkeiten) ................. 97

Abbildung 5.1d Sozialhilfe: Institutionenakzeptanz (Häufigkeiten)............................................ 97

Abbildung 5.1e Leistungen für Familien: Institutionenakzeptanz (Häufigkeiten).................... 98

Abbildung 5.1f Positive Beurteilungen des »gesellschaftlichen Wertes« (Institutionen-akzeptanz) im Vergleich (Häufigkeiten).............................................................. 99

Abbildung 5.2a Systemvertrauen (Häufigkeiten) ........................................................................101

Abbildung 5.2b Positive Vertrauenswerte im Vergleich (Häufigkeiten)...................................102

Abbildung 5.3a Gesundheitsversorgung: gewünschte staatliche Zuständigkeit (Häufigkeiten) .......................................................................................................105

Abbildung 5.3b Alterssicherung: gewünschte staatliche Zuständigkeit (Häufigkeiten) .........105

Abbildung 5.3c Unterstützung Arbeitsloser: gewünschte staatliche Zuständigkeit (Häufigkeiten) .......................................................................................................106

Page 8: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

8 Abbildungsverzeichnis

Abbildung 5.3d Armut: gewünschte staatliche Zuständigkeit (Häufigkeiten) .........................107

Abbildung 5.3e Hilfe für Familien: gewünschte staatliche Zuständigkeit (Häufigkeiten) .....107

Abbildung 5.3f Befürwortung einer überwiegend staatlichen Zuständigkeit im Vergleich (Häufigkeiten) .....................................................................................108

Abbildung 5.4a Gesetzliche Krankenversicherung: »Leistungsbewertung« (Häufigkeiten).....110

Abbildung 5.4b Gesetzliche Rentenversicherung: »Leistungsbewertung« (Häufigkeiten) .......111

Abbildung 5.4c Arbeitslosenversicherung: »Leistungsbewertung« (Häufigkeiten).................112

Abbildung 5.4d Sozialhilfe: »Leistungsbewertung« (Häufigkeiten) ...........................................113

Abbildung 5.4e »Leistungsbewertung«: Präferenzen für Leistungserhöhungen und Leistungskürzungen im Vergleich (Häufigkeiten) ...........................................114

Abbildung 5.5a Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »Arbeitsplätze« (Häufigkeiten) .............116

Abbildung 5.5b Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »Verringerung der Einkommens-unterschiede« (Häufigkeiten) ..............................................................................117

Abbildung 5.5c Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »mehr finanzielle Unterstützung von Familien« (Häufigkeiten) .............................................................................118

Abbildung 5.5d Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »Kinderbetreuungseinrichtungen« (Häufigkeiten) .......................................................................................................119

Abbildung 5.6 Zustimmung zu wohlfahrtsstaatlichen Wirkungen (Häufigkeiten)...............122

Abbildung 6.1.1 »Leistungsbewertung« von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe nach sozialen Klassen (Häufigkeiten).............................................................................138

Abbildung 6.1.2 Befürwortung staatlicher Zuständigkeit: »Arbeitsplätze« und »Abbau von Einkommensunterschieden« nach sozialen Klassen (Häufigkeiten).....140

Abbildung 6.1.3 »Leistungsbewertung«: Arbeitslosengeld – Klassen, soziale Lage (OLS-Regressionen) ............................................................................................142

Abbildung 6.1.4 »Leistungsbewertung«: Sozialhilfe – Klassen, soziale Lage (OLS-Regressionen) ............................................................................................143

Abbildung 6.1.5 Staatliche Zuständigkeit: »Arbeitsplätze« und »Einkommensunterschiede« – Klassen, soziale Lage (Ordinale logistische Regressionen) ........................144

Abbildung 6.1.6 »Leistungsbewertung« von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe nach Parteiaffinität (Häufigkeiten) ..............................................................................147

Abbildung 6.1.7 Befürwortung staatlicher Zuständigkeit: »Arbeitsplätze« und »Abbau von Einkommensunterschieden« nach Parteiaffinität (Häufigkeiten)..........149

Page 9: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

Abbildungsverzeichnis 9

Abbildung 6.1.8 »Leistungsbewertung«: Arbeitslosengeld und Sozialhilfe; Einflussder Parteiaffinität (OLS-Regressionen) ............................................................150

Abbildung 6.1.9 Staatliche Zuständigkeit: »Arbeitsplätze« und »Abbau von Einkommens-unterschieden«; Einfluss der Parteiaffinität (Ordinale logistische Regressionen) ....................................................................................................... 151

Abbildung 6.2.1 Wahrscheinlichkeit von Versorgungsklassengegensätzen .............................156

Abbildung 6.2.2 »Leistungsbewertung« nach Versorgungsklassen: Arbeitslosengeldund Sozialhilfe (Häufigkeiten) ............................................................................160

Abbildung 6.2.3 »Leistungsbewertung«: Höhe des Arbeitslosengeldes und der Sozialhilfe– Versorgungsklassen und subjektive Interessendefinitionen (OLS-Regressionen) .......................................................................................................161

Abbildung 6.2.4 Institutionenakzeptanz: Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe – Versorgungsklassen und subjektive Interessendefinitionen (OLS-Regressionen) .......................................................................................................163

Abbildung 6.2.5 Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »Arbeitsplätze« – Versorgungsklassenund subjektive Interessendefinitionen (Ordinale logistische Regressionen) ..164

Abbildung 6.2.6 »Leistungsbewertung« (Rentenhöhe) und Institutionenakzeptanz (GRV)– Versorgungsklassen und subjektive Interessendefinitionen (OLS-Regressionen) .......................................................................................................166

Abbildung 6.2.7 Institutionenakzeptanz: Gesetzlichen Krankenversicherung – subjektive Interessendefinitionen (OLS-Regressionen) .............................168

Abbildung 6.3.1 Wahrnehmung einer »Benachteiligung Jüngerer« und eines Generationen-konflikts in der Gesetzlichen Rentenversicherung (Häufigkeiten) ...............178

Abbildung 6.3.2 Anspruchserwerb durch Rentner nach Alterskategorien (Häufigkeiten) ........180

Abbildung 6.3.3 Anspruchserwerb durch Rentner (Ordinale logistische Regressionen).......181

Abbildung 6.3.4 Mögliche Konfliktlagen im Kontext wohlfahrtsstaatlicher Sicherung .......182

Abbildung 6.3.5 Institutionenakzeptanz der Gesetzlichen Rentenversicherung nach Altersgruppen (Häufigkeiten).............................................................................183

Abbildung 6.3.6 Gesetzliche Rentenversicherung: Institutionenakzeptanz und Leistungs-bewertung« (OLS-Regressionen).......................................................................184

Abbildung 6.3.7 Einschätzung der eigenen Absicherung im Alter (Ordinale logistische Regressionen) .......................................................................................................186

Abbildung 6.3.8 Staatliche Unterstützung für Familien und für die Kinderbetreuung (Ordinale logistische Regressionen)..................................................................187

Page 10: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

10 Abbildungsverzeichnis

Abbildung 6.4.1 Wohlfahrtsstaatliche Bereiche und inkorporierte Gerechtigkeitsprinzipien ..193

Abbildung 6.4.2 Institutionenakzeptanz der Gesetzlichen Rentenversicherung (OLS-Regressionen) ............................................................................................200

Abbildung 6.4.3 Institutionenakzeptanz der Sozialhilfe (OLS-Regressionen).........................202

Abbildung 6.4.4 »Leistungsbewertung« – Renten (OLS-Regressionen) ...................................203

Abbildung 6.4.5 »Leistungsbewertung« – Sozialhilfe (OLS-Regressionen)..............................204

Abbildung 6.4.6 Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »Bereitstellung von Arbeitsplätzen« und »Abbau von Einkommensunterschieden« (Ordinale logistische Regressionen) .......................................................................................................206

Abbildung 6.5.1 Mögliche Zielgruppen- und Leistungsempfängerbilder.................................214

Abbildung 6.5.2 Verteilung der untersuchten »deservingness«-Kriterien ...............................219

Abbildung 6.5.3a Wahrnehmung der Leistungsempfänger: »positive« Eigenschaften (Häufigkeiten) ...........................................................................................................225

Abbildung 6.5.3b Wahrnehmung der Leistungsempfänger: »negative« Eigenschaften (Häufigkeiten) ............................................................................................................227

Abbildung 6.5.4 Staatliche Zuständigkeit für Gesundheitsversorgung und »Leistungs-bewertung« (GKV-Leistungen) (OLS-Regressionen) ...................................230

Abbildung 6.5.5 Staatliche Zuständigkeit für die Alterssicherung und »Leistungs- bewertung« (Rente) (OLS-Regressionen).........................................................232

Abbildung 6.5.6 Staatliche Zuständigkeit für die Unterstützung von Arbeitslosen und »Leistungsbewertung« (Arbeitslosengeld) (OLS-Regressionen) ...................234

Abbildung 6.5.7 Staatliche Zuständigkeit bei Armut und »Leistungsbewertung« (Sozialhilfe) (OLS-Regressionen) ......................................................................235

Abbildung 6.5.8 Staatliche Zuständigkeit für Familien (OLS-Regressionen) ..........................236

Abbildung 6.5.9 Präferenzen für höhere Ausgaben für Familien (Ordinale logistische Regressionen) .......................................................................................................237

Page 11: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

Vorbemerkung

Diese Arbeit befasst sich mit der Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates in der Bundesre-publik Deutschland. Sie ist aus einem umfangreichen Forschungsprojekt hervorge-gangen, dass ich von 2002 bis 2005 an der Universität Mannheim geleitet habe. Das hier vorliegende Buch stellt die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Habilita-tionsschrift dar, die im Juni 2006 von der Fakultät für Sozialwissenschaften der Uni-versität Mannheim angenommen wurde.

Wie immer bei umfangreichen Forschungsvorhaben wäre ihre Realisierung ohne die Unterstützung vieler Kolleginnen und Kollegen nicht möglich gewesen.

An erste Stelle ist hier Johannes Berger zu nennen, dem ich gleich dreifach zu danken habe: als Co-Projektleiter, als Gutachter meiner Habilitationsschrift sowie als langjähriger Inhaber des Lehrstuhls, an dem ich den notwendigen Freiraum hat-te, mich dieser intensiven Forschung zu widmen.

Ohne Einschränkung kann ich dies auch für Bernhard Ebbinghaus sagen, der Johannes Berger als Lehrstuhlinhaber nachfolgte. Er hat mir nicht nur in Zeiten ho-her Lehrstuhlbelastung ein relativ »druckfreies« Beenden meiner Forschungen er-möglicht, sondern unterstützte mich auch darüber hinaus in vielerlei Hinsicht. Die Zusammenarbeit mit Bernhard Ebbinghaus werde ich als ausgesprochen konstruk-tiv und solidarisch in Erinnerung behalten.

Mein besonderer Dank gilt auch Bernhard Christoph, der als mein langjähriger Projektmitarbeiter für die Durchführung des Forschungsprojekts unverzichtbar war. Fast alle Aspekte der vorliegenden Arbeit sind in intensiver Zusammenarbeit und anregenden Diskussionen mit Bernhard Christoph entstanden. Ihm gebührt dabei das Verdienst, mich ein ums andere Mal vor vorschnellen Interpretationen gewarnt zu haben (und sofern es diese dennoch geben sollte, ist dies bestimmt nicht seine Schuld).

Wichtige Anstöße gingen auch vom Kollegenkreis am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) aus, insbesondere im Rahmen der dort regelmäßig abgehaltenen Kolloquien. Als sehr wertvoll für die Projektarbeit erwies sich auch die Unterstützung durch das Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA).

Patrick Sachweh und Valentin Eck haben über einen langen Zeitraum als stu-dentische Hilfskräfte wertvolle und engagierte Projektarbeit geleistet. Beide haben zudem herausragende Diplomarbeiten zu Teilfragen des Forschungsprojekts ver-fasst. Auch ihnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Zu erwähnen sind hier auch

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12 Vorbemerkung

Tim Müller, Nadine Reibling, André Schaffrin und Sebastian Koos, die mich als studentische Hilfskräfte des Lehrstuhls in unterschiedlicher Form bei meiner Arbeit unterstützt haben.

Im Rahmen des wissenschaftlichen Austausches haben auch viele Kolleginnen und Kollegen durch Anregungen und Kritik Einfluss auf mein Forschungsvorhaben genommen; ihnen sei hier kollektiv gedankt. Zuletzt sei auch der Fritz-Thyssen-Stiftung und dem Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung für die Finanzierung des Forschungsprojektes sowie dieser Publikation gedankt.

Mannheim, im Juli 2007

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1 Einleitung

Diese Arbeit befasst sich mit der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen in der Bundesrepublik Deutschland. Es wird untersucht, auf welches Maß an Akzep-tanz der Wohlfahrtsstaat stößt, welcher Art diese Akzeptanz ist und wie die Akzep-tanzurteile gegenüber sozialen Sicherungssystemen und sozialpolitischen Zielen er-klärt werden können.

Grundlage für diese Analysen sind die Ergebnisse einer repräsentativen Um-frage zur Wohlfahrtsstaatsakzeptanz in Deutschland, die im Sommer 2004 durchge-führt wurde. Diese Umfrage ist die erste für die Bundesrepublik Deutschland durch-geführte Primärerhebung, in der Aspekte der wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanz in größerem Umfang und in detaillierter Form thematisiert wurden.

Die Frage, wie der Sozialstaat insgesamt, einzelne Sicherungssysteme sowie spezifische Teilaspekte und Regelungen von der Bevölkerung beurteilt werden, ist von großer Bedeutung für die Ausgestaltung des Systems der sozialen Sicherung.

Dies gilt zum einen in legitimatorischer Hinsicht: Soziale Rechte und indivi-duelle Sicherungsbedürfnisse bilden die Grundlage zumindest im Kern legitimer Ansprüche und Erwartungen der Sozialbürger an den Staat. Sie sollten insofern ein zentrales Anliegen staatlicher Politik sein und sich zumindest restringierend auf (sozial)politische Entscheidungsspielräume auswirken.

Aber auch für den Erhalt, die Funktionstüchtigkeit und die Umgestaltung so-zialer Sicherungsinstrumente ist die Frage ihrer Akzeptanz von entscheidender Be-deutung. Denn nur soweit die in ihnen inkorporierten Handlungserwartungen – an die Solidaritätsbereitschaft, Eigenverantwortung oder auch »compliance« – bei einer Mehrheit der wohlfahrtsstaatlichen Adressaten grundsätzlich auf Zustimmung stoßen und insofern von einer supportiven Wohlfahrtskultur getragen werden, können soziale Sicherungssysteme ihren vielschichtigen Anforderungen gerecht werden. Als reine Zwangsapparate – so zumindest die weit geteilte Auffassung – lassen sich der-art anspruchsvolle Institutionen wie die Gesetzliche Rentenversicherung oder die Sozialhilfe in einem demokratischen Rechtsstaat jedenfalls nicht aufrechterhalten.

Gerade in Zeiten intensiver Bemühungen um eine grundlegende Umgestaltung des Wohlfahrtsstaates gewinnen Fragen der sozialen Akzeptanz daher zunehmend an Bedeutung und angesichts des Ausmaßes des notwendigen – oder auch nur als notwendig erachteten – Reformbedarfs im Bereich der sozialen Sicherung auch an Dringlichkeit.

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14 1 Einleitung

Trotz ihrer zentralen Bedeutung hat die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme jedoch sowohl im politisch-öffentlichen als auch im wissenschaftlichen Diskurs bis-her eher wenig Beachtung gefunden. Ein entscheidender Grund für die Vernachlässi-gung von Fragen der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz ist in der lange Zeit vorherrschen-den Auffassung zu sehen, der Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit generiere durch die Gewährung von Leistungsansprüchen seine Unterstützung gewissermaßen selbst. Doch bereits in der Hochphase der wohlfahrtsstaatlichen Expansion mehrten sich die Zweifel an einer unverbrüchlichen Unterstützung sozialpolitischer Programme in der Bevölkerung.

Die Richtungen, aus denen diese Zweifel geäußert wurden, waren denkbar un-terschiedlich – so wechselten sich im Gefolge der politischen Großwetterlagen neo-marxistische, neokonservative und neoliberale Krisenszenarien ab. Gemeinsam sind ihnen die eher politisch-weltanschauliche Sichtweise und eine meist völlige Abstinenz gegenüber womöglich irritierenden Fragen tatsächlicher (empirischer) Akzeptanz. Ihre skeptischen Annahmen über vermeintliche Legitimationsdefizite des Wohlfahrts-staates sind daher wesentlich ideologischer Natur.

Wie die Bevölkerung das System der sozialen Sicherung beurteilt und wie sie möglichen Reformalternativen gegenübersteht, ist jedoch eine empirische Frage und kann nicht einfach aus theoretischen Axiomen abgeleitet werden. Eine positive Akzep-tanz der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen ist dabei alles andere als selbstverständ-lich. Sie ist, im Gegenteil, äußerst voraussetzungsvoll, setzt sie doch beim Gros der Beitrags- und Steuerzahler in erheblichem Maße ein Verzicht auf unmittelbare Kon-suminteressen voraus.

Die vorliegende Arbeit verfolgt daher ein doppeltes Ziel: Zum einen soll ein repräsentatives Bild über den Grad der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutio-nen in der Bundesrepublik Deutschland sowie über Akzeptanzunterschiede zwi-schen einzelnen Bevölkerungsgruppen gewonnen werden. Darüber hinaus zielt sie auf die Erklärung positiver und negativer Akzeptanzurteile mittels multivariater Er-klärungsmodelle. Entsprechende Analysen werden für insgesamt fünf Leistungsbe-reiche bzw. Sicherungssysteme durchgeführt: für die Bereiche Alterssicherung/Ge-setzliche Rentenversicherung, Gesundheitsversorgung/Gesetzliche Krankenversiche-rung, Arbeitslosigkeit/Arbeitslosenversicherung, Armut/Sozialhilfe sowie für Leis-tungen für Familien. Angesichts der Vielschichtigkeit der für die Beurteilung sozia-ler Sicherungssysteme infrage kommenden Bezüge – wie u.a. unmittelbare und lang-fristige Interessen, gegensätzliche Wertorientierungen und unterschiedliche Situa-tionseinschätzungen – und der institutionellen Komplexität und Widersprüchlich-keit des Wohlfahrtsstaates ist jedoch für beide hier zentralen Fragen – nach dem Art und Umfang der Akzeptanz sowie nach den möglichen Erklärungsfaktoren – nicht mit »einfachen« Antworten zu rechnen.

Insgesamt gliedert sich die Untersuchung in zwei Teile. Der erste Teil, der die Kapitel 2 bis 4 umfasst, behandelt zunächst verschiedene theoretische und konzep-

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1 Einleitung 15

tionelle Fragen der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz. Im Hauptteil dieser Arbeit (Kapitel 5 und 6) werden dann die einzelnen empirischen Analysen zu den im ersten Teil entwickelten Annahmen über die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen vor-gestellt.

Im folgenden Kapitel (Kapitel 2) werden zwei grundlegende theoretische As-pekte diskutiert. Im ersten Abschnitt stehen Bemühungen im Vordergrund, den Ak-zeptanzbegriff genauer zu bestimmen (Abschnitt 2.1). Dabei sind Antworten auf zwei Fragen zu finden: Zum einen ist zu klären, wie Akzeptanz allgemein definiert werden und von vordergründig ähnlichen Phänomenen wie Toleranz oder Legitimität sinnvoll unterschieden werden kann. Auf dieser Grundlage werden dann die spezifi-schen Akzeptanzbedingungen erörtert, die im Kontext der wohlfahrtsstaatlichen Si-cherung bestehen.

Ein anderer theoretischer Zugang zur Wohlfahrtsstaatsakzeptanz wird im zwei-ten Abschnitt (2.2) gesucht. Hier werden die dominanten Richtungen der Wohlfahrts-staatstheorie danach befragt, welchen Stellenwert sie Akzeptanzfragen beimessen und vor allem, welche Annahmen sie über die allgemeine Beschaffenheit der Akzep-tanz und über mögliche Erklärungsfaktoren treffen bzw. welche Hypothesen über die Wohlfahrtsstaatsakzeptanz sich aus ihnen ableiten lassen. Dieser Abschnitt dient der Gewinnung noch eher allgemeiner Annahmen über die Akzeptanz von Wohl-fahrtsstaaten insgesamt sowie über die spezifischen Akzeptanzbedingungen des deutschen, »konservativen« Wohlfahrtsstaatsmodells.

Das dritte Kapitel gibt einen kurzen Überblick über den internationalen Forschungs-stand zur Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates. In einem ersten Schritt werden die ge-bräuchlichen Formen der (wohlfahrtsstaatlichen) Akzeptanzmessung dargelegt und die zentralen Befunde zusammengefasst, wobei sich die Darstellung vor allem auf ver-gleichende Untersuchungen stützt (3.1). Daran anknüpfend wird verdeutlicht, worin die Probleme und Defizite der Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat bestehen und welche Alternativen sich anbieten (3.2).

Die Kritik an der Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat bildet den Aus-gangspunkt für die Entwicklung der Akzeptanzindikatoren und die Bestimmung mög-licher Erklärungsfaktoren für die Akzeptanzurteile (Kapitel 4). Nach einigen allgemei-nen Angaben zur Datenbasis (4.1) erfolgt zunächst eine detaillierte Darstellung der Akzeptanzindikatoren (4.2). Dabei geht es nicht nur um allgemein-methodische und messtechnische Fragen, sondern vor allem um die Angemessenheit der verwende-ten Indikatoren im Hinblick auf die in Abschnitt 2.1 herausgestellten Besonderheiten wohlfahrtsstaatlicher Akzeptanz. Die Vor- und Nachteile verschiedener Formen der Akzeptanzmessung sowie methodologische »Aporien« werden hier ausführlich dis-kutiert. Da sie nur analytisch von der Frage der Angemessenheit von Akzeptanzin-dikatoren zu trennen ist, erfolgt in diesem Abschnitt schließlich auch die nähere Festlegung des »Akzeptanzobjekts Wohlfahrtsstaat«. Dabei wird deutlich, dass nur

Page 16: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

16 1 Einleitung

einzelne Sicherungssysteme, Leistungen und Aufgabenbereiche die Analyseeinheiten bilden können.

Im dritten Abschnitt dieses Kapitels (4.3) werden die Erklärungsfaktoren erläu-tert, die im Rahmen dieser Untersuchung zur Erklärung der Akzeptanzurteile über soziale Sicherungssysteme herangezogen werden. Auch hier gilt es, die Kritik an der traditionellen Akzeptanzforschung produktiv für die Erweiterung des Spektrums mög-licher Erklärungsfaktoren zu nutzen. Neben in der politischen Einstellungsforschung häufig verwendeter Indikatoren der sozialen Lage und politischer Präferenzen wer-den hier zudem subjektive Interessendefinitionen, grundlegende Wertorientierungen und spezifische Deutungsmuster hinsichtlich ihres möglichen Erklärungswerts dis-kutiert.

Im fünften Kapitel werden die allgemeinen (deskriptiven) Befunde zur Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates in der Bundesrepublik Deutschland dargelegt. Dabei werden zwei kategoriale Dimensionen unterschieden: In einem ersten Abschnitt (5.1) wird die Akzeptanz der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Institutionen bzw. Leistungs-bereiche betrachtet. Dazu werden das Systemvertrauen und die allgemeine Beurtei-lung der Wohlfahrtsinstitutionen für insgesamt fünf Bereiche analysiert (Gesetzliche Rentenversicherung, Gesetzliche Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, So-zialhilfe und Leistungen für Familien).

Zusätzlich zum wohlfahrtsstaatlichen Status quo wird auch die Akzeptanz der »Wohlfahrtsstaatlichkeit«, des gewünschten Umfangs und der gewünschten Intensi-tät der sozialen Sicherung, untersucht (Abschnitt 5.2). Im Vordergrund stehen dabei die Frage einer staatlichen Zuständigkeit für sozialpolitische Aufgaben sowie die Be-urteilung des Niveaus der für den deutschen Wohlfahrtsstaat zentralen Leistungsarten (gesetzliche Rente, Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung, Arbeitslosen-geld und Sozialhilfe). Ergänzend wird schließlich auch die Akzeptanz von sozialpoli-tischen Zielsetzungen und Aufgaben untersucht, die nicht zum Kanon der institu-tionalisierten wohlfahrtsstaatlichen Funktionen zu rechnen sind (Abschnitt 5.3).

Im zweiten und umfangreicheren Teil der empirischen Analysen (Kapitel 6) wer-den unterschiedliche und zum Teil konkurrierende Annahmen über die maßgeb-lichen Erklärungsfaktoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz eingehend analysiert. Dies erfolgt abschnittsweise anhand von insgesamt fünf thematischen Schwerpunkten. Da-bei werden die im zweiten Kapitel aus den Theorien der wohlfahrtsstaatlichen Ent-wicklung abgeleiteten, noch allgemeinen Annahmen über die Wohlfahrtsstaatsakzep-tanz und über Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen in den einzelnen Ab-schnitten zu spezifischen Hypothesen weiterentwickelt und ausführlich erläutert.

Im ersten Abschnitt dieses analytischen Teils (6.1) steht zunächst die klassische Frage im Mittelpunkt, ob sich traditionelle Klassengegensätze, die gerade auch in der Arena der sozialstaatlichen Sicherung ausgetragen wurden, in den Akzeptanzurteilen über den Wohlfahrtsstaat wieder finden lassen. Demnach müssten vor allem Arbeiter und Personen in ähnlichen sozialen Positionen das System der sozialen Sicherung

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1 Einleitung 17

mehr unterstützen und ein höheres Absicherungsniveau präferieren als andere Be-völkerungsteile, insbesondere wenn diese dem Lager der traditionellen Wohlfahrts-staatsgegner zuzurechen sind (wie vor allem Selbständige).

Neben dem zentralen Aspekt traditioneller Klassengegensätze wird in diesem Abschnitt geprüft, inwiefern sich gegenläufige Annahmen über die Integration der Mittelklassen in den Wohlfahrtsstaat mit Akzeptanzurteilen belegen lassen. Schließ-lich wird hier auch der Frage nachgegangen, inwiefern bei der Beurteilung der sozia-len Sicherung Gegensätze zwischen Personen mit unterschiedlicher parteipolitischer Orientierung zu erkennen sind.

In Abschnitt 6.2 wird untersucht, in welchem Maße Interessengegensätze bei der Beurteilung der sozialen Sicherung bestehen, die sich unmittelbar aus den redis-tributiven Wirkungen des Wohlfahrtsstaates ergeben. Das wichtigste Kriterium sind hierbei Versorgungsklassenpositionen, die vor allem bei Sicherungssystemen mit existenz- oder lebensstandardsichernden Leistungen (Renten, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe) deut-lich sichtbar sind und ein spezifisches Interesse gegenüber den entsprechenden Si-cherungssystemen und Leistungen konstituieren. Neben der objektiven sozialpoliti-schen Interessenlage wird in diesem Abschnitt zudem die Bedeutung subjektiver In-teressendefinitionen für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme untersucht.

Die Möglichkeit eines wohlfahrtsstaatlichen Generationenkonflikts ist das dritte The-ma dieses Kapitels (6.3). Ähnlich wie bei den Versorgungsklassen handelt es sich hier um einen latenten Gegensatz, der erst durch die Form der sozialen Sicherung selbst mitbedingt ist und angesichts eines schrumpfenden »Kuchens« virulent zu werden droht. An besonders lebensphasenspezifischen Leistungen wird daher un-tersucht, ob sich aus Akzeptanzunterschieden zwischen Altersgruppen ein Potenzial für intergenerationelle Konflikte ablesen lässt und wie die Befragten selbst die Mög-lichkeit eines wohlfahrtsstaatlichen Generationenkonflikts einschätzen.

Kreisen die bisherigen thematischen Schwerpunkte vor allem um Erklärungen von Akzeptanzurteilen und Akzeptanzunterschieden, die letztlich auf vom Wohl-fahrtsstaat unabhängige oder durch ihn strukturierte Interessen rekurrieren, so be-fassen sich die beiden letzten Abschnitte des analytischen Teils mit Erklärungsver-suchen, die Akzeptanzurteile durch Einflüsse jenseits des unmittelbaren Eigeninter-esses motiviert sehen.

Zunächst wird in Abschnitt 6.4 die Bedeutung unterschiedlicher Handlungs- und Wertorientierungen für die Erklärung von Akzeptanzurteilen betrachtet. Dabei wird nicht nur gezeigt, dass sich normative Überzeugungen auf die Wohlfahrtsstaatsakzeptanz auswirken können; vielmehr wird auch den spezifischen, kontextabhängigen Ein-flüssen der einzelnen Handlungsorientierungen nachgegangen. Denn Wertorientierun-gen, so die hier zugrunde gelegte Annahme, wirken sich nur in dem Maße auf die Akzeptanzurteile über soziale Sicherungssysteme aus, wie sie auch im jeweiligen Si-cherungskontext relevant erscheinen. Dabei wird vor allem für Orientierungen an grundlegenden Normen der Verteilungsgerechtigkeit (u.a. Bedarfsgerechtigkeit) eine ent-

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18 1 Einleitung

sprechende Wirkung auf die Beurteilung sozialer Sicherungssysteme angenommen. Ein ähnlicher Einfluss auf die Akzeptanzurteile wird aber auch von allgemeinen »So-zialorientierungen« (z.B. einer Befürwortung von Eigenverantwortung) erwartet.

Im abschließenden Analyseabschnitt (6.5) werden schließlich institutionalistische Überlegungen zur Akzeptabilität sozialer Sicherungssysteme überprüft. Diesen ist die Vorstellung gemeinsam, dass die Chancen einer Institution auf Akzeptanz auch durch deren institutionelle Spezifika geprägt werden. Die Untersuchung dieser institutiona-listischen Grundüberzeugung erfolgt hier für einen wichtigen Teilbereich, und zwar für die Wahrnehmung und Beurteilung der Leistungsempfänger. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass ein positives Bild der Leistungsempfänger sich verstärkend, ein nega-tives dagegen abträglich auf die Akzeptanz der entsprechenden Sicherungssysteme aus-wirkt. Hierzu werden Beurteilungen der Leistungsempfänger anhand mehrerer Eigen-schaften erfasst und hinsichtlich ihres Einflusses auf die Akzeptanzurteile untersucht.

Abschließend werden die wichtigsten Ergebnisse der empirischen Analysen zusammengefasst und ihre Implikationen diskutiert (Kapitel 7). In einem Anhang fin-det sich eine ausführliche Darstellung der verwendeten Akzeptanzindikatoren und Erklärungsfaktoren nebst Itemformulierungen und Antwortskalen.

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2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen

Dieses Kapitel führt in die allgemeine Thematik dieser Arbeit ein. Dazu wird darge-legt, auf welche soziale Phänomene und Problemlagen das Konzept der Akzeptanz reagiert und welche Erklärungen unterschiedliche Wohlfahrtsstaatstheorien für die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen anbieten. Im ersten Teil (2.1) wird zu-nächst näher erläutert, was unter »Akzeptanz« zu verstehen ist. Im Vordergrund stehen dabei begriffliche und theoretische Präzisierungen. Diese erfolgen zunächst in allgemeiner Form (2.1.1). In einem zweiten Schritt wird dann verdeutlicht, was man im Kontext der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung mit Akzeptanz meint und wo sich hier Akzeptanzprobleme stellen können (2.1.2). Der zweite Teil diese Kapitels (2.2) befasst sich dann eingehend mit den einzelnen Annahmen über die Bedeutung und die Ursachen der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz, die sich aus konkurrierenden An-sätzen der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung ergeben.

2.1 Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

2.1.1 Was ist Akzeptanz? Annäherungen an ein »amorphes« Konzept

»Akzeptanz« ist ein schwieriges, empirisch wie theoretisch nur schwer zu fassendes Phänomen. Die Thematik sozialer Akzeptanz weist dabei zahlreiche theoretische Bezüge auf; eine allgemeine und umfassende Theorie der Akzeptanz steht aber noch aus. Auch sind – etwa im Unterschied zum Begriff der politischen Unterstüt-zung, der aus dem Kontext der kybernetischen Systemtheorie hervorgegangen ist – kaum spezifische Affinitäten zu einzelnen Theorierichtungen auszumachen. Ent-sprechend heterogen und theoretisch unbestimmt erscheint daher auch oft die Ver-wendung des Akzeptanzbegriffs.

Eingang in wissenschaftliche Diskussionszusammenhänge fand das Konzept der Akzeptanz in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts (vgl. Kneer 2000). Eine wichti-ge Rolle spielte der Akzeptanzbegriff dabei zunächst in der Techniksoziologie im Zusammenhang mit der Einführung neuer Technologien und der damit verbunde-nen Risiken (vgl. u.a. Dierkes 1986; Jaufmann 1999; Kistler/Jaufmann 1990), wobei eine theoretische Reflexion des Akzeptanzphänomens – wie etwa bei Rammert (1990) –

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20 2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen

jedoch eher die Ausnahme blieb. Eine gewisse Verbreitung hat er aber auch in der Verwaltungssoziologie (Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen; Kneer 2000) und vor allem in der Rechtssoziologie gefunden (Akzeptanz von Gesetzen und richterli-chen Entscheidungen; vgl. u.a. Limbach 1998; Würtenberger 1999). Schließlich hat der Akzeptanzbegriff auch in der deutschsprachigen Wohlfahrtsstaatsforschung seit den 90er Jahren immer mehr Verwendung gefunden und ältere Terminologien zu-nehmend verdrängt (s. hierzu 2.1.2).

Grundsätzlich liegen jeder Form von Akzeptanzforschung zwei allgemeine Prämissen zugrunde: So wird zum einen angenommen, dass ein bestimmtes Min-destmaß an (positiver) Akzeptanz eine Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit so-zialer Institutionen ist. Nur mit Protest, Ablehnung oder Desinteresse – so diese in-tegrations- und stabilitätstheoretische Prämisse – lässt sich keine gesellschaftliche Ordnung aufrechterhalten. Zum anderen wird das empirisch feststellbare Maß an Akzeptanz als Kriterium für die Legitimität insbesondere von Herrschaftsverhält-nissen angesehen (legitimitätstheoretische Prämisse), ohne dass jedoch (empirische) Akzeptanz und (normative) Legitimität gleichzusetzen wären.

Die Akzeptanzthematik gewinnt zudem durch die Annahme an Brisanz, dass Fragen sozialer Akzeptanz immer häufiger gestellt werden. Sowohl als gesellschaftli-ches Phänomen als auch als theoretisches Konzept steigt demnach die Bedeutung von Akzeptanz. Für einen wachsenden Bedarf an sozialer Akzeptanz lassen sich da-bei mindestens zwei theoretische Argumente anführen (vgl. a. Lucke 1995, 1996):

In modernisierungstheoretischer Sicht kann von einer stärkeren und weiter wachsenden Demokratisierung bzw. Partizipation ausgegangen werden. Dies bedeu-tet, dass immer mehr Bürgern immer mehr Partizipations- und Mitbestimmungs-rechte eingeräumt werden und dass diese gleichzeitig immer mehr willens sind, diese Rechte auch wahrzunehmen. Dadurch werden vor allem politische Entscheidungen im steigenden Maße von Akzeptanz abhängig – sei es tatsächlich oder nur im Sinne eines Anspruches auf »Akzeptanzbeachtung«.1

Auch systemtheoretische Überlegungen legen einen steigenden Akzeptanzbe-darf nahe, wenn man der grundlegenden Annahme einer »thematischen Reinigung« der Funktionssysteme und ihrer »legitimen Indifferenz« (Tyrell 1978) gegenüber system-fremden Belangen folgt. Denn aufgrund dieser Eigenschaften produzieren Funk-tionssysteme permanent »Systemexternalitäten«, die – allerdings weniger in einer sys-tem- als in einer akteurstheoretischen Perspektive – Akzeptanzprobleme aufwerfen. Durch Inklusionsprozesse und wachsende Interdependenzen werden zudem immer mehr Menschen zu Beteiligten und Betroffenen unterschiedlicher Funktionssyste-me, was zugleich zu einem gesteigerten Kontingenzbewusstsein führt.

Mit modernisierungs- und systemtheoretischen Überlegungen lässt sich also die Vermutung begründen, dass immer mehr Menschen von einer wachsenden Zahl

1 Nach Lucke (1995) leben wir bereits in einer »Abstimmungsgesellschaft«.

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2.1 Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 21

von Entscheidungen anderer betroffen sind, dass ihnen immer häufiger ein »An-spruch auf Akzeptanz« zugestanden wird und dass parallel die Erwartung und Be-reitschaft steigt, diesen Anspruch einzulösen und vor allem negative Akzeptanz mit-tels öffentlicher Proteste und anderer Formen des Widerstands (z.B. rechtliche Kla-gen) zum Ausdruck zu bringen. Für die Annahme eines gestiegenen Akzeptanzbe-darfs gibt es insofern gute theoretische Gründe. Entsprechende empirische Nachwie-se dürften dennoch schwer fallen (vgl. aber die Beiträge in Lucke/Hasse 1998). Dies gilt vor allem für die aus dem gestiegenen Akzeptanzbedarf und einer vermeintlich ge-sunkenen Zustimmungsbereitschaft abgeleitete Annahme einer grundlegenden Ak-zeptanzkrise.

Angesichts der unterschiedlichen und oft eher unspezifischen Verwendungs-weisen scheint es fraglich, ob Akzeptanz sinnvoll als eigenständiges, vom jeweiligen Akzeptanzobjekt unabhängiges Phänomen aufzufassen ist und zum Gegenstand einer allgemeinen Akzeptanztheorie gemacht werden kann. So kommt Lucke (1995; vgl. a. 1998) in ihrer umfassenden begriffsanalytischen Arbeit, in der sie auch die unter-schiedlichen Verwendungszusammenhänge des Akzeptanzbegriffs untersucht, trotz des offensichtlichen Bemühens, »Akzeptanz« als eigenständigen, von konkreten Ak-zeptanzkontexten unabhängigen Untersuchungsgegenstand zu begründen, nicht zu einer allgemeinen Theorie der Akzeptanz. Ihr Vorschlag für eine kontextunabhängi-ge Definition von Akzeptanz läuft schließlich auf eine enge Anbindung an den We-berschen Herrschaftsbegriff hinaus (Lucke 1995: 104).2

Die Möglichkeit einer »allgemeinen Theorie der Akzeptanz« ist also eher skep-tisch zu beurteilen. Es ist jedoch auch zu fragen, ob es einer solchen allgemeinen Theorie (Theorie im engeren Sinne) überhaupt bedarf und ob nicht vielleicht allge-meinere Plausibilisierungen eines gestiegenen Akzeptanzbedarfs bzw. einer wachs-enden Akzeptanzabhängigkeit von Entscheidungen und Institutionen ausreichen – sowie natürlich jeweils konkrete, auf die spezifischen Akzeptanzanforderungen zu-geschnittene Hypothesen.

Auch hier kann keine abschließende Antwort auf die Frage gegeben werden, was Akzeptanz denn ganz allgemein sei. Wohl aber soll im Folgenden versucht wer-den, mehr theoretische Klarheit über das Phänomen Akzeptanz zu erlangen. Dazu sollen einige begriffliche Erörterungen dienen, mit denen Akzeptanz besser von zu-mindest vordergründig ähnlichen Sachverhalten unterschieden werden kann. Da-durch sollte es auch möglich sein, einem zu ungenauen und ausufernden Gebrauch des Akzeptanzkonzepts entgegenzuwirken.

2 Kneer (2000), der das Theoriedefizit der Akzeptanzforschung beklagt, unternimmt den Versuch,

das Akzeptanzphänomen systemtheoretisch zu fassen. Er geht davon aus, dass sich »von Akzep-tanz sprechen lässt, wenn die Annahme einer Kommunikation kommuniziert wird« (2000: 97). Eine solche Definition unterstreicht jedoch nur, dass mit spät- bzw. postluhmannianischen Theoriestrategien vordem durchaus substantielle Konzepte jeglicher theoretischen Prägnanz beraubt und zu semantisch verklausulierten Trivialitäten herabgewürdigt werden.

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22 2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen

In ihrer allgemeinen Form kann Akzeptanz als Bewertung (und Reaktion) auf Handlungen und Entscheidungen anderer definiert werden. Fragen der Akzeptanz stellen sich immer dann, wenn Entscheidungen und Handlungen, auch in »institu-tionalisierter« Form, Auswirkungen auf Akteure haben, die am Zustandekommen dieser Entscheidungen nicht (maßgeblich) beteiligt waren. (Individuelle) Akzeptanz kann insofern als der Grad bezeichnet werden, in dem intendierte und nicht-inten-dierte Wirkungen von Entscheidungen und Handlungen anderer – bzw. diese Ent-scheidungen oder Entscheidungsträger selbst – bei einer Person oder einem Perso-nenkollektiv auf Zustimmung (positive Akzeptanz) oder Ablehnung (negative Ak-zeptanz) stoßen.3

Diese Definition hat eine Reihe von Implikationen und zwei grundlegende Voraussetzungen; zunächst zu den beiden Voraussetzungen:

(1) Die erste ist die »Entdinglichung« der Akzeptanzobjekte. Akzeptanzprobleme können nur insoweit auftreten, wie man sich der grundsätzlichen Kontingenz von Entscheidungen und institutionellen Arrangements bewusst ist. Dinge, die uns na-türlich oder zumindest unabänderlich (weil funktional notwendig und zugleich alter-nativlos) erscheinen, können wir nicht »akzeptieren«, jedenfalls nicht im Sinne der hier zugrunde gelegten Begriffsverwendung. Dies gilt nicht nur für primär natürliche Phänomene wie das Wetter, die eigene Sterblichkeit oder die Schwerkraft, sondern auch für viele »soziale Tatsachen« sowie für das eigene Handeln (man kann die eige-nen Entscheidungen zwar später bereuen, aber nicht ablehnen).4

Ungleich komplizierter ist die Situation bei vielen sozialen Phänomenen, die oft zum Teil, aber fast nie ausschließlich, auf Entscheidungen zurückgeführt werden kön-nen – und wenn, dann womöglich auf mehrere Entscheidungsträger, die ihre Ent-scheidungen unkoordiniert oder gar mit entgegengesetzten Zielsetzungen treffen. Ein Beispiel hierfür ist Arbeitslosigkeit, die – je nach wirtschaftspolitischem Handeln – vielleicht höher oder niedriger sein könnte, deren vollständige Beseitigung durch staatliches Handeln aber nicht ernsthaft erwartet werden kann (auch wenn manche dies – entgegen gut fundierter systemtheoretischer Einsichten – dennoch tun).

(2) Die zweite grundlegende Voraussetzung besteht darin, dass alternative Reak-tionsmodi bekannt sind. Das heißt, die Beziehung der »Entscheidungsbetroffenen« zum Entscheidungsträger ist nicht durch bedingungslosen Gehorsam (Gehorsamspflicht) und Unterwürfigkeit gekennzeichnet. Neben der Zustimmung muss daher auch deren Verweigerung (bzw. eine Ablehnung) als Beurteilungsoption zur Verfügung stehen.

3 Durch diese »bipolare« Bestimmung unterscheidet sich dieser Definitionsvorschlag vom häufige-

ren Sprachgebrauch, der den Begriff auf Zustimmung beschränkt (Lucke 1995; Kneer 2000).4 Dass sich in diesen Fällen keine Akzeptanzfragen stellen, hat selbstverständlich unterschiedliche

Gründe: Beim eigenen Handeln ist man selbst Entscheidungsträger (Kriterium der passiven Be-troffenheit); das Wetter und andere natürliche Phänomene sind dagegen überhaupt nicht von Ent-scheidungen abhängig.

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2.1 Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 23

Als Reaktionsform auf Entscheidungen anderer, von denen man betroffen ist, unterscheidet sich Akzeptanz z.B. von »Anerkennung« (Honneth 1992; Nullmeier 2003). Gesellschaftlich oder individuell anerkannte Ansprüche, z.B. eine besondere Schutzbedürftigkeit von Kindern oder der Anspruch von Kriegs- und Gewaltopfern auf Versorgung, können zwar eine wesentliche Quelle positiver Akzeptanz sein (im umgekehrten Fall einer Nicht-Anerkennung der Ansprüche von negativer). Akzep-tanzfragen stellen sich aber erst in dem Moment, in dem derartige Ansprüche zur Grundlage politischer Entscheidungen gemacht werden. Erst diese Entscheidungen und ihre unmittelbaren, zurechenbaren Folgen können »akzeptiert« werden.

Von »Toleranz« unterscheidet sich Akzeptanz demgegenüber durch die Betrof-fenheit der Urteilenden. Andere Lebensstile, Geschmäcker, Karrieren usw., aber z.B. auch politische Entscheidungen, von denen man nicht betroffen ist, können »toleriert« werden, müssen aber nicht »akzeptiert« werden. Anders formuliert: Man toleriert etwas so lange, wie man davon nicht betroffen ist. Erst durch die »Betrof-fenheit« wird die Toleranz- zur Akzeptanzfrage.

(3) Die erste Implikation der vorgeschlagenen Akzeptanzdefinition betrifft die Art der sozialen Beziehungen, in denen Akzeptanzprobleme entstehen können. So sind »Herrschaftsbeziehungen« sicherlich ein besonders wichtiger Typus sozialer Beziehungen, bei denen sich Akzeptanzfragen stellen, denn bindende und sich auf die Situation der »Beherrschten« in vielfacher Weise auswirkende Entscheidungen stellen hier den Normalfall dar. Dennoch wäre es m.E. wenig sinnvoll, Akzeptanz-fragen auf Herrschaftsbeziehungen zu beschränken, selbst wenn man diese im wei-teren, Weberschen Sinne definiert. Denn auch innerhalb horizontaler sozialer Be-ziehungen und Interaktionen können zahlreiche Probleme auftreten, die sich nicht grundlegend von der Akzeptanz von »Befehlen« und politischen Entscheidungen unterscheiden. So können etwa Entscheidungen des Ehepartners (z.B. berufliche wie die Aufnahme einer Berufstätigkeit in einer anderen Stadt oder eine Kündigung) beim jeweils anderen durchaus auf Zustimmung oder Ablehnung stoßen, sofern dieser nicht an der Entscheidung beteiligt war. Ebenso können die Handlungsweisen kaum bekannter Nachbarn mit erheblichen Externalitäten verbunden sein (z.B. Ruhestö-rung).

Wichtig ist zudem die Unterscheidung von intendierten und nicht-intendierten Folgen. Die Frage, ob die Folgen von Entscheidungen von Handelnden beabsich-tigt waren oder nicht, mag sich in vielen Fällen erheblich auf die Akzeptanzurteile auswirken. Aber auch nicht-intendierte Folgen und Handlungsexternalitäten – sogar solche, die den Handelnden selbst im Nachhinein nicht bewusst werden – sind prin-zipiell genauso »akzeptanzrelevant« wie Entscheidungen, deren Folgen beabsichtigt sind. Entscheidend ist allein die prinzipielle Zurechenbarkeit der Handlungen und Hand-lungsfolgen. Insgesamt ergeben sich damit vier grundlegende »Beziehungskonstellatio-nen«, in denen sich Akzeptanzprobleme entwickeln können (Abbildung 2.1).

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24 2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen

Abbildung 2.1 »Akzeptanzrelevante« Beziehungskonstellationen und Entscheidungen

intendierte Folgen nicht-intendierte Folgen(inkl. Externalitäten)

Herrschafts-beziehung

(a) politischer Entscheidungen: z.B. geringere Steuerlast (infolge einer Steuersenkung)(b) nicht-politischer Entscheidungen: z.B. größere Mitarbeiterloyalität (infolge einer Gehaltserhöhung)

(a) politischer Entscheidungen: z.B. Steuer-hinterziehung (infolge einer Steuererhöh-ung)(b) nicht-politischer Entscheidungen: z.B. sinkende Arbeitsmoral (infolge der Ableh-nung einer Gehaltserhöhung)

horizontaleBeziehung

z.B. psychische Schäden (infolge von »Mobbing« oder Ehebruchs)

z.B. Lärmbelästigung (durch feiernde Nachbarn)

Auch auf Marktbeziehungen lässt sich der Akzeptanzbegriff in der hier vorgeschlage-nen Definition anwenden5 – nämlich immer dann, wenn nicht alle Marktbedingun-gen vollständig erfüllt sind. So kann man von Entscheidungen monopolistischer oder quasi-monopolistischer Anbieter in ähnlicher Weise betroffen sein wie etwa in Herrschaftsbeziehungen (z.B. wenn Bahnstrecken stillgelegt oder Portogebühren er-höht werden). Erst unter optimalen Marktbedingungen, bei vollständiger Konkurrenz, macht es keinen oder doch nur sehr wenig Sinn, von Akzeptanz zu sprechen: Zwar sind Zustimmung (z.B. Kauf) und Ablehnung (Nicht-Kauf) die gängigen Optionen im Marktgeschehen, jedoch ohne dass es hier zu Akzeptanzproblemen kommt. Wird der Preis für eine Ware nicht »akzeptiert«, kommt es eben nicht zum Verkauf. Der Marktpreis ist in diesem Sinne immer der »Akzeptanzpreis«.6

Nicht für die Frage, ob Entscheidungen anderer akzeptiert werden, wohl aber dafür, dass zustimmende oder ablehnende Akzeptanz eine soziologische oder nor-mative Bedeutung erlangen, ist schließlich maßgeblich, dass auf Seiten der Entschei-dungsbetroffenen, eines neutralen Beobachters oder sogar der Entscheidungsträger ein moralisch begründeter Anspruch auf »Akzeptierung« besteht – egal welcher Art dieser ist und woraus ein solcher Anspruch abgeleitet wird. Ein moralisch begründeter An-spruch besteht z.B. nicht (oder zumindest nicht unumstritten) in totalen Institutionen (Gefängnisse, psychiatrische Anstalten etc.) oder bei Vormundschaftsverhältnissen, z.B. bei Entscheidungen von Eltern, die Auswirkungen auf ihre Kinder haben.

(4) Eine weitere Implikation der vorgeschlagenen Definition ist, dass sich Ak-zeptanz immer auf Entscheidungen und ihnen unmittelbar zurechenbare Folgen be-

5 Hiermit ist allerdings nicht die im Marketing verbreitete Benutzung des Akzeptanzbegriffs im

Sinne von Produktakzeptanz gemeint. Bei dieser geht es um die »Annahme« eines (neuen) Produkts auf dem Markt, die sich an der Entwicklung der Verkaufszahlen ablesen lässt.

6 Dies gilt allerdings nur für »reine« Marktbeziehungen. Sobald moralökonomische Aspekte (etwa eines »gerechten Preises«) berücksichtigt werden (müssen), kann es sehr wohl auch im Bereich wirt-schaftlicher Transaktionen zu Akzeptanzproblemen kommen.

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2.1 Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 25

zieht. Wie oben am Beispiel der Arbeitslosigkeit bereits angedeutet wurde, kommen die Folgen von Entscheidungen und Handlungen nur insofern als Akzeptanzobjekt in Frage, wie sie auf diese Entscheidungen zurückgeführt werden können. Nicht all-gemeine Folgen (oder »outcomes«), sondern nur die als Ergebnisse (oder »outputs«) von Entscheidungen und Handlungen identifizierbaren Folgen sind akzeptanzrele-vant. Davon unbenommen können von spezifischen Folgen Betroffene diese in sehr unterschiedlichem Maße Entscheidungen und Entscheidungsträgern zurechnen.

Zumindest in Herrschaftsbeziehungen können auch Entscheidungsträger Akzep-tanzobjekte sein. Dies jedoch nicht als Person (Personen sind schließlich keine Ent-scheidungen), sondern nur insoweit, wie Entscheidungen dieser Entscheidungsträ-ger akzeptanzrelevant waren bzw. sind oder solche akzeptanzrelevanten Entscheidun-gen sinnvollerweise erwartet werden können. Zudem können Entscheidungsträger als Ergebnis von Entscheidungen, an denen man nicht beteiligt, von denen man aber betroffen ist, akzeptanzrelevant sein. Auch in diesem Fall können wir aber nicht die Person selbst akzeptieren (ihr »zustimmen« oder sie »ablehnen«), sondern nur die Entscheidung, die diese zu einem Entscheidungsträger gemacht hat.

Auch gesellschaftliche Institutionen (wie die Gesetzliche Rentenversicherung, das Rechtsfahren oder die Bundesversammlung) können Akzeptanzobjekte sein. Wenn diese auch häufig »historisch gewachsen« sind, so beruhen sie doch auf zurechenba-ren Entscheidungen (einschließlich der Entscheidungen, sie nicht zu verändern oder abzuschaffen), sind gewissermaßen »geronnene Entscheidungen«. Dies schließt auch die Leistungen oder Ergebnisse mit ein, die gesellschaftliche Institutionen produzie-ren.

(5) Aus der allgemeinen Definition von Akzeptanz folgt auch, dass Akzeptanz ein Einstellungsphänomen ist. Verhaltensweisen wie die bekannten, von Hirschman (1974) untersuchten Optionen der »Abwanderung« (exit) und des »Widerspruchs« (voice) lassen zwar Rückschlüsse über die Akzeptanz zu (und insofern kann man hier auch von Akzeptanzverhalten sprechen), sie sind aber keine Akzeptanz.7 Zudem wäre es voreilig, aus bestimmten Verhaltensweisen oder aus dem Ungenutztlassen von Handlungsoptionen direkt auf bestehende Akzeptanz zu schließen. Denn we-der folgt aus der Zustimmung oder Ablehnung zwangsläufig ein bestimmtes Verhal-ten, noch dürften Akzeptanzurteile i.d.R. der einzige Grund für die Entscheidung für eine bestimmte Handlungsweise sein.

Für die Analyse sozialer Akzeptanz sind Verhaltensweisen, die etwas über Ak-zeptanz verraten, dennoch von großer Wichtigkeit. Grundsätzlich ist dabei jedoch von einer systematischen Schieflage auszugehen: Handlungsweisen, die auf Ableh-nung schließen lassen (wie Protestverhalten), sind wahrscheinlicher und besser beob-achtbar als ihre »positiven« Gegenstücke. So bestehen selbst bei Herrschaftsbeziehun- 7 Dies ist ein weiterer Punkt, durch den sich die hier vorgeschlagene Definition von Akzeptanz von

der Luckes unterscheidet. Nach Lucke (1995: 394) hat Akzeptanz (immer?) »von außen beobacht-bare, wenn auch nicht immer kurzfristige und unmittelbar eintretende Handlungskonsequenzen«.

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26 2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen

gen mehrere Handlungsalternativen bei negativer Akzeptanz: Die naheliegendste ist gewiss der öffentliche und private Protest. Aber auch Abwanderung (Emigration; Kündigung) ist, wenn auch mit mehr Kosten verbunden und daher weniger verbreitet, eine mögliche Reaktionsweise. Darüber hinaus bestehen jedoch auch Möglichkeiten, die in Hirschmans (1974) Analysen nicht vorkommen. Hierzu können Ausweich- und Vermeidungsverhalten (z.B. Rollendistanz, »innere Emigration«, »Rückzug ins Private«; Nichtwählen) oder Defektion (Missbrauch; shirking) gezählt werden.

(6) Aus der vorgeschlagenen Definition ergibt sich ferner, dass Akzeptanz we-der als Zustimmung noch als Ablehnung spezifische Akzeptanzmotive erfordert. Sie präjudiziert auch keine Annahmen über die generelle Art der Akzeptanzmotivie-rung. So kann Akzeptanz gleichermaßen auf (unterschiedlichen) moralischen Über-zeugungen von der Richtigkeit von Entscheidungen und der Legitimität von Institu-tionen beruhen oder auf subjektiven Eigeninteressen. Positive Akzeptanz setzt aber immer eine »echte« Zustimmung voraus (sowie negative »echte« Ablehnung). Hier-durch unterscheidet sich Akzeptanz u.a. von Fatalismus, Desinteresse, »Teilnahms-losigkeit« oder auch »blindem Gehorsam«.

(7) Akzeptanzfragen stellen sich nur für »Betroffene«. Akzeptanzprobleme kön-nen nur bei Akteuren auftreten, die durch Handlungen und Entscheidungen (an de-nen sie nicht unmittelbar beteiligt waren) direkt oder indirekt betroffen sind. Hier-durch unterscheidet sich Akzeptanz vom Urteil der »Öffentlichkeit« (vgl. u.a. Ha-bermas 1962; Merten 1987). Die Öffentlichkeit beurteilt nur politisches und ande-res, »öffentlich gemachtes« Geschehen, ohne dass damit eine Form der Betroffen-heit verbunden wäre. Dies gilt im Übrigen auch für »veröffentlichte Meinungen« in Form von Meinungsumfragen.8

Aber was heißt, »von Entscheidungen betroffen sein« oder »Auswirkungen haben«? Eine Möglichkeit wäre eine subjektive Bestimmung (»betroffen ist, wer sich be-troffen fühlt«). So kann man sich z.B. auch von den Kriegsopfern in entfernten Re-gionen betroffen fühlen (wenn diese Auswirkungen auf das eigene psychische Wohl-befinden haben). Ganz abwegig ist eine rein subjektive Festlegung also nicht. Hier-bei besteht jedoch die Gefahr, dass der Bereich individueller Betroffenheit beliebig ausgedehnt wird und dass sich infolgedessen die Grenze zwischen Toleranz und Akzeptanz völlig verwischt. Um diesen »konstruktivistischen Dilemma« zu entgeh-en, muss der »Kreis der Betroffenen« (bzw. der Kreis derjenigen, die sich legitimerweise betroffen fühlen könnten) begrenzt werden. Für eine solche Begrenzung kann es keine allgemeine Regel geben; sie muss aus den jeweiligen Kontextbedingungen ab-

8 Sofern hier unterschiedslos alle Bevölkerungsteile befragt werden, werden nicht Akzeptanzurteile

von Betroffenen, sondern nur Meinungen erhoben. Dies ist jedoch dann nicht der Fall, wenn – wie bei vielen politischen Fragen – die gesamte (erwachsene) Bevölkerung als »betroffen« gelten kann.

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2.1 Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 27

geleitet und für diese begründet werden. Dabei scheint es angemessen, unterschiedlicheGrade und Arten der Betroffenheit zu unterscheiden.9

Grundsätzlich können sowohl die Entscheidungsträger als auch die Entschei-dungsbetroffenen, bei denen sich ein Akzeptanzproblem stellen kann, ebenso individu-elle wie kollektive oder korporative Akteure sein. Akzeptanzforschung kann sich also auch auf soziale Gruppen und korporative Akteure erstrecken. Dies gilt insbesondere für Organisationen, die von den jeweiligen Entscheidungen unmittelbar betroffen sind und ein entsprechendes Organisationsinteresse ausbilden, und für solche, die sich als kollektive Interessenorganisationen und/oder als »advokatorische Interessenver-treter« verstehen und in dieser Funktion individuelle Interessenlagen zu bündeln und artikulieren versuchen (z.B. Selbsthilfeorganisationen von Betroffenen, Gewerk-schaften, Wohlfahrtsverbände, Krankenkassen).10

(8) Aber ab wann kann man von positiver Akzeptanz sprechen, wenn mehrereAkteure von Entscheidungen betroffen sind? Ähnlich wie bei der Frage der »Betrof-fenheit« kann es hierfür keinen allgemeinen Algorithmus geben, sondern nur mehr oder weniger kontingente Lösungen, die sich – wie etwa Armutsgrenzen oder Äqui-valenzskalen – nicht unmittelbar aus einem materiellen Substrat ableiten, sondern als Konventionen vor allem der Vereinfachung der Kommunikation dienen. Die einfachste »Aggregationsregel« wäre hier, dass eine positive Akzeptanz nur dann vorliegt, wenn alle Betroffenen zustimmen. Dies scheint aber nur bei einer relativ kleinen Zahl von Betroffenen angemessen. Für alle anderen Kontexte wird man zu weniger »anspruchsvollen« Regelungen greifen müssen.11 Zudem scheinen weitere Differenzierungen (z.B. »hohe« positive Akzeptanz) möglich und sinnvoll.

Ein weiterer Klärungsbedarf besteht hinsichtlich des Umgangs mit »Akquies-zenz«.12 Damit soll hier das Phänomen »neutraler« Akzeptanz bezeichnet werden,

9 Als ein Beispiel kann hier die Gesetzliche Rentenversicherung dienen: Von Reformentscheidungen

sind bei dieser nicht nur die unmittelbaren Adressaten (Rentenversicherte) betroffen, sondern auch deren Familienangehörige und evtl. sogar Personengruppen, die selbst nicht rentenversichert sind. Zudem bestehen auch zwischen den unmittelbaren Adressaten Unterschiede: So sind z.B. aktuelle Rentner unmittelbarer und vermutlich stärker von Rentenkürzungen betroffen als rentenversicherte Beitragszahler.

10 Insbesondere bei politischen Entscheidungen können sich also auf mehreren gesellschaftlichen Ebenen Akzeptanzprobleme ergeben. Von positiver sozialer Akzeptanz kann man daher im Grunde nur sprechen, wenn auf allen diesen Ebenen (oder den meisten) zustimmende Einstellungen dominieren. In jedem Fall aber ist positive soziale Akzeptanz nicht mit der Summe positiver individueller Akzeptanzurteile gleichzusetzen.

11 Als Kriterien zur Bestimmung positiver Akzeptanz bieten sich u.a. eine einfache absolute Zustimmungs-mehrheit (über 50 Prozent der Betroffenen), eine relative Zustimmungsmehrheit (mehr Zu-stimmung als Ablehnung) oder auch eine absolute Mehrheit der Nicht-Ablehnung (Ablehnung geringer als 50 Prozent) an.

12 »Akquieszenz« ist ein vor allem in der Surveymethodologie gebräuchlicher Ausdruck und bezeichnet dort die Zustimmungs- oder Jasage-Tendenz. International findet »acquiescence« jedoch eine brei-tere Verwendung, u.a. in der Motivationspsychologie, im Versicherungswesen und in den Rechts-

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28 2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen

also alle Akzeptanzurteile, die sich nicht als Zustimmung (positive Akzeptanz) oder Ablehnung interpretieren lassen. Akquieszenz gewinnt dabei vor allem dadurch an Brisanz, dass eine »Zustimmung durch Schweigen« als ausreichend für die Legiti-mierung politischer Entscheidungen angesehen werden kann. Ein offenes und wohl nie wirklich befriedigend lösbares Problem ist schließlich auch die Gewichtung un-terschiedlicher Akteure.13

2.1.2 Wohlfahrtsstaatsakzeptanz

In den 90er Jahren hat sich der Akzeptanzbegriff auch in der Wohlfahrtsstaatsfor-schung zunehmend durchgesetzt. Üblicherweise werden damit Einstellungen zu wohl-fahrtsstaatlichen Einrichtungen (oder zum gesamten Sozial- oder Wohlfahrtsstaat) be-zeichnet (vgl. Ullrich 2000a). Er verdrängte ältere Terminologien wie »Unterstüt-zung«, »Ansprüche an den Wohlfahrtsstaat« (z.B. Gangl 1997) oder schlicht »Einstel-lungen zum Wohlfahrtsstaat« (Roller 1992). Diese Entwicklung ist allerdings auf den deutschsprachigen Raum beschränkt; im internationalen Sprachgebrauch ist – ne-ben »attitudes« – »support« die übliche Bezeichnung für die Gesamtheit der Einstel-lungen zum Wohlfahrtsstaat geblieben, evtl. noch als »political«, »public« oder »po-pular support« qualifiziert.

Mit den verschiedenen Begriffsverwendungen sind jedoch nur selten explizite theoretische Vorstellungen verknüpft.14 Als Akzeptanz werden dabei meist ganz allge-mein Einstellungen und Präferenzen gegenüber wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen bezeichnet (z.B. Dehlinger/Brennecke 1992; Klein/Schilling 1994; Norden 1986). Kommt in diesen eine zustimmende Haltung oder der Wunsch nach »mehr« Wohl-fahrtsstaatlichkeit (z.B. nach höheren Leistungen) zum Ausdruck, spricht man meist von positiver Akzeptanz (zur Problematik der Akzeptanzmessung im sozialpoliti-schen Kontext vgl. Kapitel 3).

Wie alle politischen Entscheidungen und Institutionen handelt es sich auch im Bereich Sozialpolitik/Wohlfahrtsstaat vor allem um Herrschaftsbeziehungen: So-zialpolitische Entscheidungen und Institutionen zeitigen dabei primär intendierte Folgen (z.B. Erhöhung oder Senkung des Renteniveaus), haben aber auch eine Rei-he nicht-intendierter Wirkungen. Die Beurteilung staatlicher Politik durch die Be-

wissenschaften. In allgemeiner Form lässt sich »acquiescence« als »Zustimmung durch Schweigen« (durch ausbleibenden Widerspruch) übersetzen.

13 So scheint klar, dass z.B. bei politischen Entscheidungen, die die Ärzte betreffen, die Akzeptanz des Ärzteverbandes nicht nur tatsächlich mehr Einfluss hat als die eines einzelnen Arztes, sondern dass sie auch für die Beurteilung der sozialen Akzeptanz dieser Entscheidung ein höheres Gewicht haben muss. Ungleich schwieriger ist es dagegen, diese Akzeptanz auch nur einigermaßen zufrie-denstellend zu gewichten.

14 Dies gilt im Übrigen auch für die »politische Unterstützung«, obwohl die Entstehung dieses Konzepts eindeutig auf die politische Systemtheorie Eastons zurückgeführt werden kann (Easton 1965).

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2.1 Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 29

völkerung sowie deren normative und tatsächliche Bedeutung für den politischen Prozess werden dabei meist unter dem Begriff der Legitimität diskutiert. Der Unter-schied zum Akzeptanzbegriff, so wie er hier verwendet wird, besteht vor allem darin, dass Legitimität in erster Linie15 ein normatives Konzept ist. Fragen der nor-mativen Legitimität und solche der empirischen Akzeptanz unterscheiden sich also kategorial. So ist Akzeptanz gewiss ein wichtiger Aspekt bei der Beurteilung der Le-gitimität staatlicher Politik.16 Dennoch ist es sehr wohl möglich, dass politische Ent-scheidung mehrheitlich akzeptiert werden, aber dennoch nicht legitim sind (und umgekehrt).17

Ein enger Zusammenhang besteht auch zwischen Akzeptanz und Legitimierung(oder Legitimation). Als Legitimierung werden dabei im Anschluss an Weber (1922) und Berger/Luckmann (1980 [1966]) meist jene Prozesse umschrieben, mit denen Herrschende (oder Entscheidungsträger) versuchen, ihre Herrschaft (oder einzelne Maßnahmen) zu rechtfertigen, sie als legitim erscheinen zu lassen. Sofern ihnen dies gelingt und ein entsprechender »Legitimitätsglaube« besteht, ist mit hoher Akzep-tanz zu rechnen. Legitimierungsstrategien sind aber nur eine Möglichkeit der Erklär-ung von Akzeptanz, die auch andere Ursachen haben kann. Daher ist sowohl positi-ve Akzeptanz ohne Legitimierung als auch negative Akzeptanz trotz des Versuchs einer Legitimierung möglich. Zudem werden keineswegs alle Entscheidungen oder Institutionen (auch nicht alle politischen) explizit legitimiert.

In der empirischen Forschung sind Legitimität und Legitimierung vor allem im Konzept der politischen Unterstützung umgesetzt worden. Dieses auf die politische Systemtheorie Eastons zurückgehende Konzept (Easton 1965; vgl. a. Fuchs 1989: 12ff. und Westle 1989) unterscheidet bekanntlich zwei Unterstützungsdimensionen, die diffuse und die spezifische Unterstützung. Während die spezifische Unterstüt-zung sich aus (kurzfristigen) Nutzenüberlegungen bezüglich der herrschenden Au- 15 Der Legitimitätsbegriff wird allerdings alles andere als einheitlich verwendet (vgl. u.a. Mandt 1996).16 In allgemeiner Form können politische Entscheidungen und Entscheidungsträger bereits als »le-

gitim« (oder »legitimiert«) gelten, sofern die Entscheidungsträger durch ein legitimes Verfahren in ihre Position gekommen sind und ihre Entscheidungen nicht gegen Verfassungsgrundsätze versto-ßen. So ist z.B. eine gesetzlich verordnete Beschränkung der Ausgaben im Gesundheitsbereich sicher politisch »legitim(iert)«, wird bei den davon Betroffenen deshalb aber nicht unbedingt auch auf Zu-stimmung stoßen. Positive und negative Akzeptanz sind also auch bei (prinzipiell) legitimierten Ent-scheidungen möglich und wahrscheinlich.

17 Zunächst waren es jedoch nicht die Legitimität und Legitimation der wohlfahrtsstaatlichen Siche-rung, die von Theoretikern des Wohlfahrtsstaates als gefährdet oder auch nur problematisierungs-würdig empfunden wurden – zu offensichtlich schienen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten die »segensreichen Wirkungen« des Sozialstaates. Vielmehr stand lange Zeit die Legitimierungsleistung, die das System der sozialen Sicherung für das politische System erbringt, im Vordergrund. Bekannt wurden hier insbesondere neomarxistische Ansätze, die die Funktion des Wohlfahrtsstaates in der Erzeugung bzw. Gewährleistungen von Massenloyalität sahen (Narr/Offe 1975; Offe 1984). Der Wohlfahrtsstaat erzeuge demnach durch seine Sozialleistungen in der Bevölkerung Massenloyalität, die vorwiegend im Interesse an den erhaltenen Leistungen begründet ist und sich dadurch von echter Legitimität unterscheide (vgl. a. Ullrich 2006).

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30 2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen

toritäten speist (und damit z.B. für Wahlentscheidungen maßgeblich ist), ist die dif-fuse Unterstützung unabhängig von unmittelbaren Nutzenkalkülen. Neben der Iden-tifikation mit einer »politischen Gemeinschaft« umfasst sie sowohl ein generalisier-tes Vertrauen in den langfristigen Nutzen von »Autoritäten« und »Regimen« als auch den Glauben an deren Legitimität.

Akzeptanz weist also viele Berührungspunkte mit Konzepten politischer Legi-timierung und Unterstützung auf.18 Ein wichtiger Unterschied besteht jedoch auch darin, dass sich »Legitimität« und »politische Unterstützung« explizit auf politische Herrschaft – und insbesondere auf die Herrschaftsstabilisierung – beziehen, wäh-rend »Akzeptanz« auf ein größeres Spektrum sozialer Beziehungen bezogen ist und Fragen der Stabilität und Legitimität von Herrschaft hier von nachgeordneter Be-deutung sind.19

Akzeptanzprobleme können bei jeder Einzelentscheidung auftreten. Im Bereich politischer Herrschaft ist dies aber eher die Ausnahme bzw. auf das »tagespolitische Geschäft« der Reformen und Einzelmaßnahmen beschränkt. Von grundlegender Bedeutung ist dagegen die Akzeptanz allgemeiner Sturkurmerkmale und Funktions-prinzipien. Dies gilt auch für die Wohlfahrtsstaatsakzeptanz. Die Akzeptanz des Wohl-fahrtsstaates ist daher im Wesentlichen die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen.

Daraus dass Institutionen die Akzeptanzobjekte sind, ergeben sich einige Be-sonderheiten. Vor allem kann Akzeptanz nicht im unmittelbaren Sinne als Zustim-mung oder Ablehnung erfasst werden, weil dies weder sprachlich noch »konzeptio-nell« die typischen Reaktionsweisen auf Institutionen sind. Einer Institution wie der Gesetzlichen Rentenversicherung oder dem Subsidiaritätsprinzip stimmt man nicht einfach zu, und nur sehr wenige werden sie pauschal ablehnen. Notwendig sind hier zugleich differenzierte und umfassende Formen der Akzeptanzmessung, die es erlau-ben, so verschiedene Aspekte wie das Institutionenvertrauen, die wahrgenommene allgemeine Nützlichkeit von Institutionen oder auch deren aktuelle Performanz zu erfassen (vgl. hierzu Abschnitt 4.2).

Eine weitere Besonderheit der Institutionenakzeptanz besteht darin, dass insti-tutionelle Teilregelungen (insbes. Strukturprinzipien wie das Solidarprinzip in der Ge-setzlichen Krankenversicherung, das Subsidiaritätsprinzip oder das Äquivalenzprin-zip) maßgebliche Faktoren der Gesamtbeurteilung des Wohlfahrtsstaates sein kön-nen. Entsprechen z.B. die grundlegenden Organisationsformen der Sicherungssys-teme den allgemeinen Interessen und Wertüberzeugungen der »Betroffenen«, so

18 Man kann Akzeptanz auch durchaus als »empirische Legitimität« bezeichnen. Zur Vermeidung

empiristischer Fehlschlüsse halte ich es jedoch für ratsamer, den Begriff Legitimität für die Beurteilung von Herrschaft unter ethischen Gesichtspunkten zu reservieren.

19 Vor allem zum relativ »ausgearbeiteten« Konzept der politischen Unterstützung bestehen noch we-itere Unterschiede: So schließt dieses auch Handlungsformen ausdrücklich mit ein (Easton 1965: 163f.). Zudem ergeben sich hier einige theoretische Unklarheiten und Inkonsistenzen sowie Schwierig-keiten bei der Übersetzung in empirische Forschungsfragen (vgl. hierzu Westle 1989: 165ff.).

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2.1 Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 31

kann dies zu einer höheren Gesamtakzeptanz des Wohlfahrtsstaates führen, als wenn die gleichen Ziele auf anderen Wegen erreicht werden.

Bei der theoretischen Beurteilung der Akzeptanzchancen des Wohlfahrtsstaates in der Bundesrepublik wird dabei oft von einer besonders hohen Akzeptabilität des deutschen Wohlfahrtsstaates (bzw. des konservativen Wohlfahrtsstaatsmodells) ausge-gangen (vgl. u.a. Mackscheidt 1985; Offe 1990). Dieser sei – u.a. infolge der großen Be-deutung des Versicherungsprinzips und des Subsidiaritätsgedankens – in besonde-rem Maße »moralisch anspruchslos« und daher besser als andere Wohlfahrtsstaaten gegen moralische und interessenbasierte Anfeindungen gefeit.20

Die in der Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat erhobenen Beurteilungen und Präferenzen beziehen sich meist jedoch nicht auf die wohlfahrtsstaatlichen Insti-tutionen selbst. Typisch sind eher Einstellungen zu einzelnen Maßnahmen (z.B. hö-here Selbstbeteiligungen bei Arzneimitteln) oder Präferenzen zu spezifischen As-pekten wie der Leistungs- oder Ausgabenhöhe und der staatlichen Zuständigkeit für Bereiche der sozialen Sicherung (vgl. hierzu Kapitel 3).21

Da Akzeptanz ein Einstellungsphänomen ist, stellt sich hier auch nicht das Problem der Handlungsrelevanz von Akzeptanzurteilen. Zwar gibt es auch im Bereich der sozialen Sicherung Handlungsformen, die man als Akzeptanzverhaltenbezeichnen kann, weil sie Rückschlüsse über die Akzeptanz erlauben (z.B. der Wechsel von einer gesetzlichen in eine private Krankenversicherung). Gegenüber direkten Akzeptanzurteilen sind sie aber sekundär. Wohlfahrtsstaatsakzeptanz kann daher mittels standardisierter oder qualitativer Interviews erhoben werden, in denen die Beurteilung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und Regelungen zum Thema gemacht wird.

Die Frage, wer von sozialpolitischen Entscheidungen und wohlfahrtsstaatlichen Institutionen betroffen ist, lässt sich nicht pauschal beantworten. Es kann jedenfalls nicht umstandslos vorausgesetzt werden, dass bei allen wohlfahrtsstaatlichen Akzep-tanzfragen jeweils die gesamte Bevölkerung »betroffen« ist. Denn die meisten wohl-fahrtsstaatlichen Institutionen sind auf spezifische Adressaten ausgerichtet und ha-ben insofern auf viele Bürger keine unmittelbaren Auswirkungen. Gleichzeitig be-stehen aber auch bei Nicht-Adressaten unterschiedliche Möglichkeiten mittelbarer Auswirkungen.22

20 Ob sich dies auch in einer entsprechend höheren Akzeptanz niederschlägt, kann nur durch verglei-

chende Untersuchungen geklärt werden. Erste Ergebnisse scheinen die Annahme einer besonders hohen Akzeptabilität des deutschen Wohlfahrtsstaates allerdings nicht zu bestätigen (vgl. Ullrich 2001).

21 Nur sofern mit dem Begriff Wohlfahrtsstaat eine bestimmte staatliche Entwicklungsstufe (und nicht ein Politikbereich) bezeichnet wird, kann mit »Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« auch mehr als nur die wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und Institutionen gemeint sein. Das Akzeptanzobjekt wäre in diesem Fall eine bestimmte Form staatlichen Selbstverständnisses, die u.a. durch ein hohes Maß an Interventionen gekennzeichnet ist (so etwa bei Klein/Schilling 1994).

22 So sind etwa Arbeitslose und der sozialversicherungspflichtige Teil der Erwerbsbevölkerung die un-mittelbaren Adressaten der Arbeitslosenversicherung, die diese entweder mit Leistungen versorgt

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32 2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen

Die fast immer sehr weitreichenden Wirkungen vor allem der zentralen wohl-fahrtsstaatlichen Leistungsbereiche rechtfertigen es jedoch in gewissem Maße, bei der Frage der Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates zumindest solange von der Gesamtbevöl-kerung als »akzeptanzrelevanter Grundgesamtheit« auszugehen, wie keine Gründe für eine engere Definition der »Betroffenheit« vorliegen. Notwendig scheint es dann aber, unterschiedliche Arten und Grade von Betroffenheit zu unterscheiden und bei der Beurteilung der Gesamtakzeptanz zu berücksichtigen.

Im Einzelfall wird allerdings oft nur schwer zu entscheiden sein, welches Ge-wicht man den unterschiedlichen »Betroffenengruppen« beimisst. Dennoch dürfte zumindest grundsätzlich klar sein, dass z.B. die Beurteilung der Leistungshöhe durch einen Leistungsempfänger eine andere Bedeutung hat als bei Personen, die nicht einmal zur Gruppe der potenziell Leistungsberechtigten gehören, und dass das Vertrauen, das erwerbstätige Rentenversicherte der Gesetzlichen Rentenversicherung entgegenbringen, anders zu beurteilen ist als das von Rentnern oder von Beamten. Wichtig ist hier vor allem die differenzierte Betrachtung und Behandlung von Leis-tungsempfängern (und ihren Angehörigen), Leistungsfinanzierern (Steuer- und Bei-tragszahler) sowie der nur mittelbar Betroffenen.

Wie bereits bei der allgemeinen Bestimmung von Akzeptanz betont wurde, ist soziale Akzeptanz nicht per se identisch mit der Gesamtheit der individuellen Akzep-tanzurteile. Diese sind jedoch der vielleicht wichtigste und am besten erfassbare Indi-kator sozialer Akzeptanz. Zudem basieren individuelle Akzeptanzurteile auf sozialen Deutungsmustern, die Teil der allgemeinen Wohlfahrtskultur sind, und bieten inso-fern einen privilegierten Zugang zum Phänomen sozialer Akzeptanz. Individuelle Akzeptanzurteile zum Wohlfahrtsstaat können insofern als Ausdruck und Indikator sozialer Akzeptanz aufgefasst werden.23

Schließlich gilt auch für die Erforschung der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz, dass die Motive, die den Akzeptanzurteilen zugrunde liegen, in keiner Weise präjudiziert werden. Aufgrund welcher Überlegungen und anhand welcher Kriterien Akzeptanzurteile über wohlfahrtsstaatliche Institutionen gefällt werden, ist keine definitorische Frage, son-dern eine, die es empirisch zu klären gilt. Eigeninteressen, die sich aus der allgemei-nen sozialen Lage, der »Versorgungsklassenlage« (z.B. Leistungsempfänger) oder all-gemeinen subjektiven Interessendefinitionen (z.B. Risikoneigung) ergeben, kommen

oder zur Finanzierung dieser Leistungen heranzieht. Indirekt sind aber weit mehr Personen von der Arbeitslosenversicherung betroffen, z.B. Ehepartner und Kinder von Arbeitslosen. Erweitert man die Perspektive, wird schnell deutlich, dass die Arbeitslosenversicherung Auswirkungen auch auf Personengruppen hat, die nicht zu den Adressaten der Arbeitslosenversicherung zählen, wenn sicher auch in anderer, weniger unmittelbarer Form. So werden Arbeitgeber durch die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung belastet und selbst Beamte und Rentner können zu den Nutznießern ar-beitsmarktpolitischer Maßnahmen gerechnet werden (z.B. durch die Entlastung der anderen So-zialversicherungen bei geringerer Arbeitslosigkeit).

23 Das Problem des Verhältnisses von individueller und sozialer Akzeptanz stellt sich dabei vor allem bei der Interpretation bzw. Bewertung der Akzeptanzurteile auf der Individualebene.

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2.1 Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 33

als Ursachen individueller Akzeptanzurteile gegenüber wohlfahrtsstaatlichen Institu-tionen daher ebenso in Betracht wie z.B. allgemeine Handlungsorientierungen und grundlegende Wertüberzeugungen.24

24 In diesem Punkt unterscheidet sich das hier vorgeschlagene Akzeptanzkonzept von der von Claus

Offe vorgeschlagenen terminologischen Unterscheidung von Akzeptanz und Legitimität, bei der Ak-zeptanz auf interessenrationale (und »routinemäßige«) Unterstützung beschränkt ist (Offe 1990).

2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

Der folgende Abschnitt befasst sich mit dem Verhältnis von Wohlfahrtsstaatstheo-rie und der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen. Dabei stehen zwei Fra-gen im Vordergrund: Zum einen soll geklärt werden, welche Bedeutung die einzelnen Ansätze der Wohlfahrtsstaatstheorie Problemen der sozialen Akzeptanz beimessen. Zum anderen soll die Beschäftigung mit den unterschiedlichen Ansätzen zur Erklä-rung der Entstehung und Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten dazu dienen, zu-nächst noch allgemeine Annahmen über die soziale Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und vor allem über ihre Bestimmungsfaktoren zu entwickeln.

Neben der zu erwartenden Höhe der Akzeptanz (bzw. dem Vorhandensein posi-tiver Akzeptanz) sollten sich aus den unterschiedlichen wohlfahrtsstaatstheoretischen Ansätzen begründete Vermutungen über Akzeptanzunterschiede zwischen Wohlfahrts-staatstypen und Sicherungsformen, über die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme in den einzelnen Bevölkerungsteilen sowie darüber, welche Beweggründe (Interessen-definitionen, Deutungsmuster, Wertüberzeugungen etc.) den Akzeptanzurteilen zugrun-de liegen, gewinnen lassen.

Die Vielfalt wohlfahrtsstaatlicher Erklärungsansätze kann dabei zu vier grund-legenden Paradigmen verdichtet werden (vgl. Ullrich 2005b), die sich sowohl hin-sichtlich der Relevanzzuschreibung als auch möglicher Erklärungen von Akzeptanz zum Teil deutlich unterscheiden. Dies sind funktionalistische (2.2.1), konflikttheore-tische (2.2.2), wohlfahrtskulturelle (2.2.3) sowie institutionalistische Ansätze (2.2.4) zur Erklärung der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung.

2.2.1 Funktionalistische Ansätze

Funktionalistische Ansätze erklären die Entstehung und Entwicklung von Wohl-fahrtsstaaten mit gesellschaftlichen, sozialen oder ökonomischen Notwendigkeiten. Auch wenn dabei zum Teil ganz unterschiedliche Erfordernisse angenommen wer-den, so teilen sie doch die Grundidee, dass die Einführung umfassender sozialer Siche-rungssysteme ab einem bestimmten Punkt der gesellschaftlichen Entwicklung unver-meidbar war. Insgesamt können mindestens drei grundlegende Varianten des funk-

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34 2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen

tionalistischen Ansatzes unterschieden werden: der sozioökonomische, der moderni-sierungstheoretische und der neomarxistische.

Sozioökonomische Ansätze sehen im wirtschaftlichen Wandel des 19. Jahr-hundert die Ursache für die Entstehung des Wohlfahrtsstaates. So habe die Indus-trialisierung mit ihren Begleiterscheinungen – hierzu sind vor allem die soziale Mo-bilisierung, die Urbanisierung und die demografischen Veränderungen zu zählen – zu einer Überforderung traditioneller Sicherungsformen geführt (u.a. Wilensky 1975). Dementsprechend waren alle Gesellschaften, die sich mit Problemen der Industriali-sierung konfrontiert sahen (und sehen), früher oder später dazu gezwungen, wohl-fahrtsstaatliche Sicherungssysteme einzuführen. Hinsichtlich der weiteren Entwick-lung von Wohlfahrtsstaaten wird angenommen, dass das Niveau der wohlfahrtsstaat-lichen Absicherung (meist an der Höhe der Sozialausgaben abgelesen) vom wirtschaft-lichen Entwicklungsstand bestimmt wird und mit der wirtschaftlichen Leistungs-fähigkeit steigt.25

Eine Erweiterung dieser »Industrialismusthese« stellen modernisierungstheore-tische Ansätze dar (u.a. Flora et al. 1977). Ebenfalls in einer funktionalistischen Pers-pektive erweitern diese das Spektrum der Wohlfahrtsstaatsursachen um kulturelle und politische Modernisierungsprozesse, in denen ebenso wie in der wirtschaftlichen Entwicklung ein Grund für die Notwendigkeit neuer Sicherungsformen gesehen wird. Die wohlfahrtsstaatliche Sicherung wird zudem oft als Voraussetzung für die weitere gesellschaftliche Modernisierung verstanden (vgl. z.B. Huf 1998).

Gegen funktionalistische Ansätze wurden verschiedene Einwände geltend ge-macht. Neben der grundlegenden epistemologischen Kritik an funktionalistischen Erklärungen wurde vor allem auf mehrere Unzulänglichkeiten und »blinde Flecken« der funktionalistischen Perspektive hingewiesen. So sehr das generelle Argument, dass (irgend)eine Form der kollektiv-staatlichen sozialen Sicherung im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert unabdingbar geworden war, auch zutreffen mag, so wenig sind funktionalistische Erklärungen der Entstehung und Entwicklung von Wohl-fahrtsstaaten in der Lage, die konkreten wohlfahrtsstaatlichen Erscheinungsformen auf spe-zifische funktionale Erfordernisse zurückzuführen.

Unterschiede zwischen Wohlfahrtsstaaten, die ein ähnliches sozioökonomi-sches Niveau und einen ähnlichen Modernisierungsgrad aufwiesen, aber zu unter-schiedlichen Zeitpunkten soziale Sicherungssysteme implementierten oder unter-schiedliche Sicherungsformen entwickelten, vermögen funktionalistische Ansätze im Allgemeinen ebenso wenig zu erklären wie die sozialpolitische Pionierrolle von wirt-

25 Den sozioökonomischen Erklärungsmodellen sehr ähnlich sind neomarxistische Ansätze (u.a.

Narr/Offe 1975; O'Connor 1974), die das Erfordernis sozialpolitischer Interventionen ebenfalls aus wirtschaftlichen Faktoren ableiten, nun jedoch nicht aus der industriellen Wirtschaftsform, sondern aus der kapitalistischen Produktionsweise. Dem Wohlfahrtsstaat komme dabei primär die Aufgabe zu, das kapitalistische Wirtschaftssystem vor seinen selbstzerstörerischen Tendenzen zu schützen (»saving capitalism from itself«).

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2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 35

schaftlich und politisch eher rückständigen Ländern wie Deutschland und Öster-reich.26

Die Akzentuierung funktionaler Erfordernisse und die dezidiert makrosoziolo-gische Perspektive verhindern, dass Fragen der sozialen Akzeptanz wohlfahrtsstaat-licher Sicherungssysteme eine höhere Relevanz beigemessen wird. Denn wenn Um-fang und Form der sozialen Sicherung zumindest im Wesentlichen den jeweiligen funktionalen Imperativen folgen, sind die Zustimmung oder Ablehnung wohlfahrts-staatlicher Politik bestenfalls erfreuliche, schlechtestenfalls störende Begleiterschei-nungen im Prozess der kontinuierlichen Anpassung an sich wandelnde Anforderun-gen.27

Annahmen über die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme lassen sich aus funk-tionalistischen Ansätzen daher nur in sehr allgemeiner Form ableiten. So kann ver-mutet werden, dass z.B. das wohlfahrtsstaatliche Anspruchsniveau – die Erwartun-gen, die bezüglich des Umfangs und der Generosität der Absicherung bestehen – zumindest grob am sozioökonomischen Entwicklungsstand und dem Modernisie-rungsgrad (also den funktionalen Erfordernissen) orientiert ist. So wie die Menschen des 19. Jahrhunderts geringere Erwartungen (oder Hoffnungen) bezüglich einer sozia-len Absicherung hegten, als dies im 21. Jahrhundert der Fall ist, so werden die Wohl-fahrtsansprüche in Entwicklungsländern auch weit geringer sein als in hochindus-trialisierten Ländern.

Eine mögliche, dieser Logik eines parallelen Wachstums von Wirtschaft und gesellschaftlicher Modernisierung auf der einen Seite und wohlfahrtsstaatlichem Leistungsumfang auf der anderen zum Teil entgegengesetzte, aber ebenso funktio-nalistische These könnte etwa lauten, dass ab einem bestimmten (hohen) wirtschaft-lichen Entwicklungsstand oder Modernisierungsgrad eine wohlfahrtsstaatliche Absi-cherung immer weniger zwingend ist und dass sich dies in einer sinkenden Akzep-tanz insbesondere umfassender, egalitärer und etatistischer Sicherungssysteme aus-wirkt. Als Gründe für einen sinkenden Bedarf an einer wohlfahrtsstaatlichen Absi-cherung ließen sich dabei neben dem hohen Wohlstandsniveau auch das gestiegene Bildungsniveau und eine entsprechend wachsende Vorsorgebereitschaft und -fähig-keit anführen. Zwischen der sozioökonomischen Entwicklung und den »Wohl-fahrtsansprüchen« bestände demzufolge ein kurvlinearer (umgekehrt U-förmiger)

26 Auch die jüngere wohlfahrtsstaatliche Entwicklung, die vor allem durch den Abbau wohlfahrtsstaatli-

cher Leistungen gekennzeichnet ist, lässt sich zumindest mit den »alten« funktionalistischen Argumen-ten nicht erklären. Denn weder die sozioökonomische Entwicklung (insbes. das Wirtschaftswachs-tum) noch die gesellschaftliche Modernisierung sind stagnierende oder gar rückläufige Prozesse.

27 Immerhin aber war es einer der prominentesten Vertreter des sozioökonomischen Funktionalismus in der Wohlfahrtsstaatstheorie, Harold Wilensky, der auf das in manchen Wohlfahrtsstaaten zu beobach-tende Phänomen des »welfare backlash«, einem wachsenden Widerstand in den Mittelschichten gegen expandierende Wohlfahrtsstaatlichkeit, aufmerksam gemacht hat (Wilensky 1975). Dies ändert jedoch nichts an dem Umstand, dass derartige Phänomene innerhalb des funktionalistischen Paradigmas nicht befriedigend erklärt werden können. (Zum »welfare backlash« s.a. Abschnitt 2.2.2).

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36 2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen

Zusammenhang: Mit dem Entwicklungsstand würde zunächst das Bedürfnis nach wohlfahrtsstaatlicher Absicherung steigen, dann aber einen Scheitelpunkt erreichen und schließlich wieder abnehmen.28

Aus funktionalistischen Überlegungen lassen sich insofern durchaus Annahmen über Akzeptanzunterschiede zwischen Wohlfahrtsstaaten und im historischen Ver-gleich ableiten –nämlich solche, die den gesellschaftlichen Entwicklungsstand re-flektieren. Für die hier zentrale Frage der Erklärung von Akzeptanz und Akzeptanz-unterschieden innerhalb eines Wohlfahrtsstaates und zu einem Zeitpunkt bietet eine funktionalistische Perspektive dagegen kaum Anhaltspunkte; sie soll hier daher nicht weiter verfolgt werden.

2.2.2 Konflikttheoretische Ansätze

Die vielleicht einflussreichsten Ansätze in der Wohlfahrtsstaatsforschung sind die-jenigen, die zur Erklärung der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung auf Interessen und Interessenunterschiede, deren Bündelung durch unterschiedliche Formen der Orga-nisation sowie auf die Konfrontation zwischen unterschiedlichen Interessengruppen rekurrieren. Sie werden unter anderem als Machtressourcen-, Parteienstärke-, inter-essentheoretische oder konflikttheoretische Ansätze bezeichnet. In ihnen ist zum Teil auch eine Reaktion auf die vermeintlichen Unzulänglichkeiten funktionalisti-scher Erklärungen, die vor allem den Unterschieden zwischen Wohlfahrtsstaaten nicht gerecht werden, zu sehen. Diese im Einzelnen sehr unterschiedlichen und zum Teil von gegensätzlichen Annahmen ausgehenden Ansätze versuchen, wohlfahrts-staatliche Entwicklungen auf den Einfluss gesellschaftlicher Interessengruppen und politischer Machtkämpfe zurückzuführen.

Den größten Einfluss hatte hierbei die Sozialdemokratie-These, die ihre moderne Ausdeutung vor allem in der skandinavischen Wohlfahrtsstaatstheorie erhalten hat (vgl. u.a. Castles 1978; Korpi 1983).29 In ihrer allgemeinen Form geht diese These davon aus, dass das System der sozialen Sicherung umso stärker ausgebaut wird, je größer das relative politische Gewicht sozialdemokratischer Parteien ist. In Ländern, in denen die Sozialdemokratie über einen längeren Zeitraum einen hegemonialen Status erlan-

28 Ein solcher Zusammenhang erscheint allerdings vor allem für die im engeren Sinne sozioökono-

mische Entwicklung plausibel. In modernisierungstheoretischer Sicht kann angesichts von Indivi-dualisierungs- und Destandardisierungstendenzen auch für die Zukunft ein wachsender Bedarf an sozialer Sicherung angenommen werden

29 Ein Vorläufer bzw. früher Vertreter der Sozialdemokratie-These ist Eduard Heimann (1980 [1929]), der im reformistisch orientierten Teil der Arbeiterbewegung die treibende Kraft bei der Entstehung und vor allem beim weiteren Ausbau der sozialen Sicherung sah.

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2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 37

gen konnte (z.B. in Schweden), sei der Wohlfahrtsstaat daher auch am weitesten ent-wickelt.30

Gegen die Annahme, dass die Stärke der (sozialdemokratischen) Arbeiterpartei-en und ihrer Verbündeten (insbes. der Gewerkschaften) entscheidend für die sozial-politische Entwicklung war, spricht vor allem, dass wichtige Sozialgesetze oft bereits eingeführt worden waren, bevor sozialdemokratische Parteien überhaupt einen größe-ren parlamentarischen Einfluss gewinnen konnten (vgl. Alber 1982: 127ff.). Zudem wurden soziale Sicherungssysteme auch in Ländern ausgebaut, in denen Arbeiterpar-teien nie einen hegemonialen Status innehatten.31

Eher geeignet, die Entwicklung in nicht von sozialdemokratischen Parteien do-minierten Wohlfahrtsstaaten zu erklären, sind daher Ansätze, die in christlichen bzw. christdemokratischen Parteien die maßgeblichen Antreiber sozialpolitischer Refor-men sehen (z.B. van Kersbergen 1995). Die Christdemokratie-These kann insofern als wichtige Ergänzung des Parteienstärkeansatzes angesehen werden.32

Eine etwas andere Erklärung bietet die »Mittelklassenthese« (u.a. Baldwin 1990; Goodin/Le Grand 1987), die davon ausgeht, dass auch Angehörige mittlerer Schich-ten, die traditionell eher zu den Wohlfahrtsstaatsgegnern gerechnet werden, in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein stärkeres Interesse an einer umfassenden sozialen Sicherung entwickelt haben. Diese Annahme wird vor allem damit begrün-det, dass Angehörige der Mittelschichten in vielen Wohlfahrtsstaaten in erheblichem Maße von Sozialleistungen profitieren, insbesondere wenn diese, wie häufig im Gesundheits- und Bildungsbereich, universalistisch ausgerichtet sind. Dabei wird oft ein »Matthäuseffekt« (Deleeck 1984) angenommen, demzufolge Angehörige der Mittelschichten überproportional viele Sozialleistungen erhalten.

In konflikttheoretischer Perspektive stellen sich Akzeptanzfragen nur bedingt. Anders als funktionalistische Ansätze wird jedoch davon ausgegangen, dass bezüg-lich wohlfahrtsstaatlicher Präferenzen erhebliche Unterschiede bestehen. Dabei wird

30 Als neomarxistische Variante der Sozialdemokratie-These kann die »Pazifizierungsthese« gelten. Nach

dieser stellen sozialpolitische Programme Konzessionen der bürgerlichen Eliten an die aufbegeh-renden Arbeiter (bzw. andere deprivierte Schichten) dar. Sozialpolitik soll daher vor allem die Aus-gebeuteten und Benachteiligten beruhigen und diene damit den langfristigen Interessen der herr-schenden Klassen (vgl. u.a. Piven/Cloward 1977).

31 Angesichts dieser Erklärungsnot verwundert es nicht, dass es schnell zu Modifizierungen der ur-sprünglichen These kam. Als eine Weiterentwicklung der Sozialdemokratie-These können dabei Ansätze gelten, die in spezifischen sozialreformerischen Koalitionen unter Führung sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien – im Fall Schwedens etwa von sozialdemokratischer Arbeiterbe-wegung und Bauern – als entscheidend für die expansive Dynamik von Wohlfahrtsstaaten ansehen. Wenn solche Parteienkoalitionsthesen auch eine gewisse empirische Plausibilität haben, so vermögen sie die Entwicklung in nicht sozialdemokratisch geprägten Wohlfahrtsstaaten ebenso wenig zu erklären wie die Sozialdemokratie-These.

32 Ähnlich wie die Sozialdemokratie-These ist aber auch die Christdemokratie-These vor allem für Wohlfahrtsstaaten plausibel, in denen entsprechende Parteien über längere Zeiträume politisch do-minant waren (wie in den Niederlanden, Deutschland und Italien).

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38 2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen

jedoch implizit unterstellt, dass diese Unterschiede von der sozialen Position abhän-gen und dass allgemeine Interessenorganisationen und politische Parteien diese gruppenspezifischen Interessen an der sozialen Sicherung adäquat zum Ausdruck bringen.

Eine Ausnahme ist hier die neomarxistische »Pazifizierungsthese«: Sollen Sozial-leistungen Massenloyalität sicherstellen, so muss gewährleistet sein, dass diese auch ge-wollt werden. Gemeinhin wird dabei jedoch davon ausgegangen, dass die Sicherstel-lung der politischen Unterstützung durch wohlfahrtsstaatliche Leistungen und deren Erhöhung unproblematisch ist (dass die »Massen« also Sozialleistungen wollen und dass mehr Leistungen auch zu mehr politischer Unterstützung oder Akquieszenz führen). Erst vor dem Hintergrund eines zumindest in Teilen der Bevölkerung wachsenden Widerstandes gegen den weiteren Ausbau der sozialen Sicherung wur-de dieser Automatismus – mehr Sozialleistungen bedeute mehr politische Unterstüt-zung – zunehmend hinterfragt.

Abgesehen von der »Pazifizierungsthese« ergeben sich aus konflikttheoretischen Ansätzen aber insgesamt nur wenig unmittelbare Impulse für die theoretische Re-flexion des Akzeptanzphänomens. Dessen ungeachtet üben sie einen erheblichen Einfluss auf die wohlfahrtsstaatliche Akzeptanzforschung aus, wenn auch eher über den »Umweg« politikwissenschaftlicher »cleavage«-Ansätze, die als maßgebliche Quelle für die Hypothesenbildung im Bereich der wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanz-forschung gelten können (vgl. z.B. Roller 1992). So sind traditionale Klassen- und Schichtunterschiede der vielleicht am häufigsten verwendete Prädiktor sozialpoliti-scher Einstellungen.

Unterschiede hinsichtlich der wohlfahrtsstaatlichen Präferenzen und entspre-chend differente Akzeptanzurteile können in mehrfacher Hinsicht durch die soziale Positionierung bedingt sein. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Be-deutung sozialstruktureller Unterschiede auch von der institutionellen Ausgestaltung der Sicherungssysteme abhängt. Ob und wie sich soziale Unterschiede in Akzeptanz-unterschieden niederschlagen, hängt auch davon ab, in welchem Maße sich die sozialen Sicherungssysteme an sozialstrukturellen Unterschieden orientieren und z.B. nur Leistungen für bestimmte soziale Gruppen bereitstellen.

Insgesamt können vier zentrale Konfliktlinien ausgemacht werden, die zu ent-sprechend unterschiedlichen Urteilen über den Wohlfahrtsstaat bzw. über einzelne Sicherungssysteme führen können.

(1) Zunächst gilt dies natürlich für den traditionalen Klassenkonflikt, dessen Nie-derschlag in konträren wohlfahrtsstaatlichen Interessenpositionen der »Sozialdemo-kratie-These« zugrunde liegt. Für die einzelnen Wohlfahrtsregime können hier un-terschiedliche Annahmen abgeleitet werden. So ist zum einen zu vermuten, dass der Konflikt zwischen »Arbeitnehmern« und »Arbeitgebern« im konservativen Modell besonders stark auf die wohlfahrtsstaatliche Sicherung durchschlägt, weil hier die Unternehmer durch die so genannte paritätische Finanzierung unmittelbar belastet

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2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 39

werden. In liberalen Wohlfahrtsstaaten sollte der Konflikt zwischen Unternehmern und Beschäftigten dagegen schwächer ausgeprägt sein. Die unmittelbare Belastung der Unternehmen entfällt hier und die Leistungshöhen sind vergleichsweise gering.33

In sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten ist dagegen wiederum von einer et-was höheren Wahrscheinlichkeit von Klassenkonflikten im Bereich der wohlfahrts-staatlichen Absicherung auszugehen. Zwar ist auch hier die direkte Belastung der Unternehmen im Vergleich zum konservativen Wohlfahrtsstaatsmodell eher gering; das hohe Leistungsniveau und entsprechende Steuersätze dürften hier aber dafür sorgen, dass der »Klassencharakter« der sozialen Sicherung deutlicher hervortritt.

Innerhalb der einzelnen Wohlfahrtsstaaten sollten sich – unabhängig vom kon-kreten Wohlfahrtsstaatstyp – bei der Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme deutli-che Unterschiede ergeben: nicht so sehr bei der Beurteilung von Sicherungsformen, sondern vor allem bei der der Leistungshöhe. Abhängig Beschäftigte (insbes. Arbei-ter) sollten demnach eher Präferenzen für ein hohes Leistungsniveau haben, Selb-ständige (und Freiberufler) dagegen für ein deutlich geringeres. Weiter kann ange-nommen werden, dass die Präferenzen der abhängig Beschäftigten für höhere Leis-tungen desto ausgeprägter sind, je stärker der Leistungsbezug an Erwerbstätigkeit gebunden ist und je höher daher die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein »Arbeitnehmer« diese Leistungen im Rahmen einer »Normalerwerbsbiografie« erhält.

Grundsätzlich ist zu vermuten, dass sich der traditionale kapitalistische Klas-sengegensatz in entsprechenden politischen Orientierungen auswirkt und dass die Anhänger unterschiedlicher Parteien entsprechend gegensätzliche Vorstellungen über die soziale Sicherung haben. Zumindest was die beiden »großen Volksparteien« be-trifft, widerspricht dem allerdings die Christdemokratie-These. Sowohl christlich-konservative als auch sozialdemokratische Kräfte haben sich maßgeblich an der Ausgestaltung der Sozialpolitik in Deutschland beteiligt. Insofern wären keine grundlegenden Unterschiede zwischen den Anhängern der beiden »Volksparteien« zu erwarten – vielleicht mit der Einschränkung, dass die sozialdemokratische Anhän-gerschaft weitergehende Erwartungen hat: so z.B. bei typisch sozialdemokratischen Zielen und Werten wie der Verringerung sozialer Ungleichheit und der Sicherung von Arbeitsplätzen.34

(2) Neben den Selbständigen (und historisch vor allem auch den selbständigen Landwirten) gilt der »alte Mittelstand« als Hort wohlfahrtsstaatsfeindlicher Einstellun- 33 Zudem gibt es in liberalen Wohlfahrtsstaaten nicht zuletzt wegen des geringen Leistungsniveaus nahe-

liegendere Konfliktarenen zum Austragen der Interessengegensätze zwischen »Kapital« und »Arbeit«. 34 Deutlichere Unterschiede können dagegen bei den Anhängern der kleineren Parteien erwartet wer-

den: bei FDP-Anhängern eine kritischere Haltung gegenüber dem Wohlfahrtsstaat, bei Anhängern der PDS eine starke Unterstützung für eine umfassendere Wohlfahrtsstaatlichkeit und eine ent-sprechende Unzufriedenheit mit dem Status quo und bei den Anhängern der Grünen eine eher kritische Beurteilung klassischer sozialpolitischer Zielsetzungen (z.B. Alterssicherung) und womög-lich eine stärkere Unterstützung (oder zumindest Aufgeschlossenheit) für »weiche«, nicht-erwerbs-arbeitszentrierte Sozialpolitikbereiche (Familie, Ausländer, Grundeinkommen etc.).

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40 2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen

gen, was sich u.a. mit dem Distinktionsbedürfnis gegenüber der Arbeiterschaft erklä-ren lässt. Die massiven sozialstrukturellen Veränderungen nach dem Zweiten Welt-krieg haben jedoch zu einem Aufstieg der Angestellten und zu einem immer geringe-ren Anteil des alten Mittelstandes und der Landwirte an der Erwerbsbevölkerung geführt, sodass das Lager traditionaler Wohlfahrtsstaatsgegner deutlich zusammen-geschrumpft ist.

Durch die sukzessive Ausweitung sozialer Sicherungssysteme erwarben zudem auch Angestellte und Beamte, zum Teil auch Selbständige und Freiberufler, zuneh-mend wohlfahrtsstaatliche Ansprüche. Die Veränderungen in der Erwerbsstruktur und die Ausweitung der wohlfahrtsstaatlichen Adressatendefinition bilden die Grundla-ge für die Mittelklassenthese, nach der der Wohlfahrtsstaat mit einer breiten Unterstüt-zung durch die »neuen« Mittelschichten rechnen kann.35

Für die Frage der Akzeptanz bedeutet dies, dass wohlfahrtsstaatliche Sicherungs-systeme bei Angehörigen der Mittelschichten auf Zustimmung stoßen, sofern diese aufgrund der Art ihrer Erwerbstätigkeit auf kollektive Absicherung angewiesen sind und insoweit sie davon ausgehen können, dass die Sozialleistungen auch ihnen selbst zugute kommen (können).

Auf der Ebene der Wohlfahrtsregime würde dies zunächst bedeuten, dass kon-servative Wohlfahrtsstaaten wegen der weitreichenden Geltung des Äquivalenzprin-zips (wer mehr Beiträge zahlt, erhält auch höhere Geldleistungen) und durch die institutionelle Aufrechterhaltung von Statusunterschieden auf hohe Akzeptanz in den Mittelschichten stoßen. Verstärkend könnte hier der in vielen konservativen Wohl-fahrtsstaaten, und gerade auch in Deutschland, vergleichsweise früh erfolgte Einbezug der Mittelschichten in das System der sozialen Sicherung wirken.

Liberale Wohlfahrtsstaaten sind dagegen durch eine misslungene (oder nie an-gestrebte) Integration der Mittelschichten gekennzeichnet. Hier ist bei Angehörigen der Mittelschichten daher auch mit einer geringen Akzeptanz, wenn nicht Ableh-nung sozialstaatlicher Programme zu rechnen, weil »welfare«, so lautet die Vermu-tung, aufgrund der geringen Wahrscheinlichkeit eines eigenen Bezugs vorwiegend als (steuerliche) Belastung wahrgenommen wird.

Entgegen einer verbreiteten Selbstwahrnehmung vieler skandinavischer Sozial-politikforscher sollten sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten bei der Frage nach dem Rückhalt des Wohlfahrtsstaates in den Mittelklassen eher eine mittlere Position einnehmen. Für eine Mittelklassenunterstützung spricht die hohe Verbreitung uni-versalistischer Leistungen (die auch Angehörigen der Mittelschichten zugute kom-men) – ein Effekt, der aber durch die hohe steuerliche Belastung zumindest stark

35 Mit Papadakis (1993: 257ff.) können drei Arten von Interesse unterschieden werden, die das Ver-

hältnis der Mittelschichtangehörigen zum Wohlfahrtsstaat prägen können: Dies sind die beiden »positiven« Interessen als »Konsument« von Leistungen und als Leistungsanbieter (z.B. im Ge-sundheitswesen), dem das »negative« Interesse als Beitrags- und Steuerzahler entgegensteht.

Page 41: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 41

relativiert werden könnte, zumal hier (im Unterschied zu konservativen Wohlfahrts-staaten) wohlfahrtsstaatliche Privilegien gegenüber den Arbeitern weitgehend fehlen.

Argumente für eine eher hohe Akzeptanz sozialer Sicherung in den Mittelschich-ten in sozialdemokratischen und konservativen Wohlfahrtsstaaten scheinen der These eines »welfare backlash« (der Mittelschichten) zu widersprechen. Als »welfare back-lash« wird die ablehnende Haltung gegenüber dem Wohlfahrtsstaat in Teilen der Bevölkerung, die sich zu anti-wohlfahrtsstaatlichen Bewegungen steigert, bezeichnet (Wilensky 1975).

Vor allem in konservativen Wohlfahrtsstaaten mit ihrer Dominanz von Sozial-versicherungen (Äquivalenzprinzip) und dem Festhalten an »ständischen« Organisa-tionsprinzipien ist die Wahrscheinlichkeit eines solchen »welfare backlash« sehr ge-ring – und in der Tat gibt es bisher auch kaum einen solchen Fall (vgl. Wilensky 2002: 380f.).36 Aufgrund der universalistischen Grundstruktur (bzw. soweit diese reicht) gilt dies im Grunde auch für die sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten. Die Lage scheint hier jedoch weniger eindeutig, denn wie der Fall Dänemarks zeigt (vgl. Wi-lensky 2002: 377f.), kann es wegen der hohen Finanzierungslasten gerade der mittle-ren Einkommensschichten durchaus zu »welfare backlash«-Phänomenen kommen.

Die Mittelklassenthese und die Annahme eines »welfare backlash« stehen mit-hin also nicht in einem Widerspruch, sondern beleuchten einen ähnlichen Sachver-halt aus unterschiedlicher Richtung: Dort wo die Integration der Mittelschichten in den Wohlfahrtsstaat gelungen ist, ist die Wahrscheinlichkeit eines »welfare backlash« gering. Klassische »welfare backlash«-Länder sind daher auch nur liberale Wohl-fahrtsstaaten, denn hier sind direkte und selektive Transferleistungen für Bedürftige typisch, während weite Teile der Mittelschichten nur in geringem Maße wohlfahrts-staatliche Leistungen erhalten (können). Ein einfacher Umkehrschluss (keine breite Unterstützung der Mittelschichten, also »welfare backlash«) wäre jedoch voreilig. So ist selbst für liberale Wohlfahrtsstaaten die Wahrscheinlichkeit eines »welfare back-lash« eher gering, wie die insgesamt geringe Zahl von historischen Beispielen zeigt (vgl. Wilensky 2002: 363ff.). Denn ob aus einer fehlenden Unterstützung offener Wi-derstand wird, hängt noch von einer Reihe weiterer Faktoren ab, u.a. von der steu-erlichen Belastung, die aber gerade in liberalen Wohlfahrtsstaaten eher gering ist.

(3) Interessengegensätze bei der sozialen Sicherung können sich aber nicht nur aus der allgemeinen sozialen Lage ergeben, sondern auch aus Interessenlagen, die erst durch das System der sozialen Sicherung selbst gebildet werden. So konstituieren viele Sicherungssysteme dauerhafte Versorgungsklassenlagen, die zu sehr unterschied-lichen Präferenzen bezüglich des Wohlfahrtsstaates führen können.

Als (positiv privilegierte) Versorgungsklassen werden nach Lepsius (1979) Bevölke-rungsgruppen bezeichnet, die ihren Lebensunterhalt vorwiegend aus Sozialtransfers 36 Die stärksten »welfare backlash«- Phänomene eines konservativen Wohlfahrtsstaates stellt Wilens-

ky für Frankreich fest (2002: 365f.), das auf der von ihm entwickelten »welfare backlash«-Skala im-merhin einen Wert von 3 (max. 5) erhält (2002: 381).

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bestreiten (also insbesondere Rentner, Arbeitslosengeldempfänger und Sozialhilfe-empfänger). Dabei können zwei grundsätzliche Formen möglicher »Versorgungs-klassenkonflikte« unterschieden werden: Interessengegensätze zwischen Leistungs-empfängern (bzw. Nettoempfängern) und Leistungsfinanzierern (oder Nettozahlern37)und Verteilungskämpfe zwischen den verschiedenen (»positiv privilegierten«) Versor-gungsklassen (also z.B. zwischen Rentner und Arbeitslosengeldempfängern).

Angesichts des enormen sozialpolitischen Verteilungsaufwands scheint insbe-sondere ein Konflikt zwischen Leistungsbeziehern und Leistungsfinanzierern wahr-scheinlich. Aber auch das zweite Konfliktszenario ist zumindest insofern plausibel, als es wegen zunehmend begrenzter Mittel für einzelne Gruppen von Leistungs-empfängern (z.B. Rentner) durchaus nahe liegend sein kann, ihre Interessen auf Kosten anderer Versorgungsklassen und Leistungsempfängergruppen (z.B. Arbeits-lose) durchzusetzen. Dass aus solchen Interessengegensätzen manifeste Konflikte werden, setzt allerdings die Organisation dieser Interessen voraus, was selbst bei den größeren Leistungsempfängergruppen bisher nur in Ansätzen zu beobachten ist (für Rentner vgl. z.B. Wolf/Kohli 1998).

Die Möglichkeit von Konflikten zwischen Versorgungsklassen wurde für die Bundesrepublik schon früh von Jens Alber (1984) untersucht. Alber findet insgesamt jedoch nur wenig Anhaltspunkte für Verteilungskonflikte, die sich aus der Versor-gungsklassenposition ableiten, auch wenn die Zahl der Leistungsempfänger und da-mit auch die Abgabenlast offensichtlich gestiegen sind. Das Ausbleiben von Versor-gungsklassenkonflikten führt er u.a. darauf zurück, dass die meisten Steuer- und Beitragszahler in der einen oder anderen Form auch Leistungsempfänger sind (oder sein werden). Daher sieht Alber die »mittlere Masse der Einkommensbezieher (...) fest in den Wohlfahrtsstaat integriert« (1984: 233). Mithin gebe es nur wenige »struk-turelle Anknüpfungspunkte für eine Widerstandsbewegung gegen den Wohlfahrts-staat« (1984: 233). Auch für Konflikte zwischen einzelnen (positiven) Versorgungs-klassen sieht Alber wenig Anzeichen. Er führt dies auf die Heterogenität der einzel-nen Versorgungsklassen zurück sowie auf die Schwierigkeit, eine individuelle Bilanz von Leistungen und Belastungen zu erstellen. Auch die spezifische institutionelle Struktur des deutschen Wohlfahrtsstaates (u.a. die Einkommensabhängigkeit der Leis-tungen) trage zu einem insgesamt geringen Konfliktpotenzial bei (1984: 234, 246).

Auch über 20 Jahre nach Albers Analysen scheint sich an dieser Situation kaum etwas geändert zu haben. Die potenzielle Konfliktträchtigkeit der wohlfahrts-staatlichen Umverteilung besteht unverändert. Dass Verteilungskonflikte zwischen Versorgungs- und »Finanzierungsklassen« bisher aber nicht virulent wurden, unter-

37 Als Nettozahler und Nettoempfänger werden »sozialpolitische Verteilungspositionen« bezeichnet, die

durch eine Parallelität von Finanzierung und Leistungserhalt gekennzeichnet sind (wie insbes. in der Gesetzlichen Krankenversicherung). Die entsprechenden wohlfahrtsstaatlichen Adressaten können dann eine aus ihrer Sicht positive (Nettoempfänger) oder negative (Nettozahler) »Beitrags-Leistungs-Bilanz« ziehen.

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2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 43

streicht die Vermutung, dass der deutsche (konservative) Wohlfahrtsstaat gegen die Ge-fahr solcher Verteilungskonflikte gut gerüstet ist. Entscheidend dürfte hierfür die starke »Mittelschichtorientierung« des deutschen Wohlfahrtsstaates sein, und dass ver-tikale Umverteilungen entsprechend gering sind. Auch manifeste Verteilungskonflikte zwischen unterschiedlichen (positiv privilegierten) Versorgungsklassen (etwa zwi-schen Rentnern und Sozialhilfeempfängern) sind bisher bestenfalls in Ansätzen zu erkennen. Angesichts eines großen, aber immer kleiner werdenden »Kuchens« wer-den solche Verteilungskonflikte jedoch wahrscheinlicher und sollten für die Zu-kunft nicht ausgeschlossen werden.

Sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten weisen bei der Anfälligkeit für Versor-gungsklassenkonflikte viele Ähnlichkeiten mit denen des konservativen Typs auf. Wie schon bei der Diskussion des »welfare backlash« deutlich wurde, sind hier aber aufgrund der geringeren Erwerbsabhängigkeit der Leistungen, der Nivellierung von Statusunterschieden durch die universalistische Leistungsstruktur und der direkten und hohen Finanzierungslasten Konflikte zwischen Finanzierungs- und Versor-gungsklassen zumindest wahrscheinlicher als in konservativen Wohlfahrtsstaaten.

Wegen des geringen Leistungsniveaus kann demgegenüber für liberale Wohl-fahrtsstaaten angenommen werden, dass Interessenkonflikte zwischen den positiven Versorgungsklassen eher unwahrscheinlich sind. Aufgrund der hohen »Sichtbarkeit« der Transferleistungen müssen liberale Wohlfahrtsstaaten dagegen als anfällig für manifeste Interessenkonflikte zwischen Leistungsempfängern und Leistungsfinan-zierern gelten – auch wenn diese möglicherweise »einseitig« in Form eines »welfare backlash« der Mittelschichten ausgetragen werden.

Unabhängig von der Frage, ob solche Konfliktlagen auch virulent werden, ist davon auszugehen, dass sich auch latente wohlfahrtsstaatliche Interessengegensätze in entspre-chenden Unterschieden bei den Präferenzen hinsichtlich der sozialen Absicherung sowie bei der Be-urteilung bestehender Sicherungsinstrumente niederschlagen. Die grundlegende Annahme lau-tet daher, dass die »Grenzen der Versorgungsklassen« auch Demarkationslinien wohl-fahrtsstaatlicher Akzeptanz sind. Die Zugehörigkeit zu einer Finanzierungs- oder Versorgungsklasse wird dabei in erster Linie die Akzeptanzurteile über die jewei-ligen Sicherungssysteme maßgeblich bestimmen, darüber hinaus aber auch die Ak-zeptanz des Wohlfahrtsstaates insgesamt.

Die Bewusstheit dieser wohlfahrtsstaatlichen Interessengegensätze – wenn man so will: das »Versorgungsklassenbewusstsein« – wird sich dabei vermutlich verstär-kend auswirken. Grundsätzlich ist aber davon auszugehen, dass die Akzeptanzurteile durch die individuelle sozialpolitische Verteilungsposition und weniger durch spezi-fische Konkurrenz- und Missgunstbeziehungen geprägt sind, dass relevante Akzep-tanzunterschiede zwischen Versorgungsklassen also auch bereits ohne ein entspre-chendes Konfliktbewusstsein bestehen.

(4) Versorgungsklassenkonflikte sind Konfliktlagen, die erst durch das System der sozialen Sicherung entstehen. Im weiteren Sinne trifft dies auch für Interessen-

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gegensätze zwischen »Generationen« zu, die im wohlfahrtsstaatlich relevanten Sinne zum Teil erst durch die Regelungen der Sicherungssystemen (z.B. Rentenalter) ge-schaffen werden.

Der Begriff »Generationenkonflikt« gehört dabei zu den zahlreichen, sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch in der Soziologie verwendeten Begriffen mit mehrdeutigem und normativ aufgeladenem Gehalt. Im Kontext der wohlfahrts-staatlichen Sicherung sind damit meist strukturelle Konfliktlagen zwischen Angehö-rigen unterschiedlicher Alterskohorten bzw. Generationslagen gemeint.

Ähnlich wie bei den Versorgungsklassen kann angenommen werden, dass durch die Art der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung und der durch sie bedingten Vertei-lung von Lasten und Leistungen Interessenlagen entstehen, die sich an die Zugehö-rigkeit zu einer Generation oder Altersgruppe knüpfen. Demgemäß ergäbe sich also ein (latenter) Generationenkonflikt bereits aus dem objektiven Interessengegensatz zwischen »altersstrukturierten« sozialpolitischen Lagen. Das große Volumen interge-nerationeller Umverteilungen und sich daran anschließende Fragen der »Generatio-nengerechtigkeit« bilden dabei das materielle Substrat für Generationenkonflikte in Wohlfahrtsstaat, die durch die hohe Aufmerksamkeit, die diese Fragen in den Mas-senmedien erfahren, zunehmend ins öffentliche Bewusstsein gerückt sind.

Generationenkonflikte auf der Ebene der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung kön-nen völlig unabhängig von der spezifischen Ausgestaltung der sozialen Sicherung auftreten. So führt der demografische Wandel in allen Wohlfahrtsstaaten zu Finan-zierungsproblemen; gleichzeitig gibt es in allen Wohlfahrtsstaaten viele alters- bzw. lebensphasenspezifische Leistungen, die eine Grundlage für wohlfahrtsstaatliche Generationenkonflikte bieten.

Unterschiede zwischen Wohlfahrtsstaaten ergeben sich aber daraus, wie sehr kollektive Sicherungssysteme für Schwankungen in der Bevölkerungsentwicklung an-fällig sind. Dass Sicherungssysteme unterschiedlich stark durch den Bevölkerungs-rückgang belastet werden, wird vor allem an der umlagefinanzierten Rentenversiche-rung deutlich, auch wenn kapitalgedeckte Verfahren alles andere als eine vollständige Immunisierung gegen den demografischen Faktor sind (vgl. Wagner et al. 1998).38

Die Anfälligkeit für demografische Veränderungen wird schließlich auch durch die unterschiedlich starke Altersorientierung der Wohlfahrtsstaaten beeinflusst (vgl. Lynch 2001). So stellt der Bevölkerungsrückgang insbesondere solche Wohlfahrts-staaten vor Probleme, die einen sehr hohen Anteil an Leistungen für Ältere vorsehen wie insbesondere die mediterranen Wohlfahrtsstaaten. Wie Lynch (2001) betont, fol-

38 Ein instruktives Beispiel sind hier auch die unterschiedlichen Finanzierungskonzepte der gesetzli-

chen und der privaten Krankenversicherungen. Während letztere aufgrund des Fehlens eines so-zialen Ausgleichs von demografischen Entwicklungen weitgehend unabhängig sind, kommt es in der Gesetzlichen Krankenversicherung infolge des Solidarprinzips zu intergenerationellen Umver-teilungen und somit zu einer stärkeren Belastung der (zahlenmäßig) schwächeren Alterskohorten.

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2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 45

gen diese Unterschiede in der Altersorientierung insgesamt jedoch nicht dem Mus-ter der Wohlfahrtsstaatstypen.

Die meisten Beobachter stimmen wohl darin überein, dass der deutsche Wohl-fahrtsstaat vor allem wegen seiner umlagefinanzierten Rentenversicherung, der groß-zügigen Vorruhestandsregelungen und der Erwerbsarbeitszentrierung (das Gros der Leistungen wird durch lohnabhängige Beiträge finanziert) besonders »demografie-anfällig« ist (vgl. a. Kaufmann 1997: 69ff.). Noch mehr als andere hat der deutsche (konservative) Wohlfahrtsstaat ein stetiges Bevölkerungswachstum unterstellt und kann daher mit dem alten sozialpolitischen Instrumentarium nicht angemessen auf den Bevölkerungsrückgang reagieren. Wohlfahrtsstaatliche Generationenkonflikte sollten unter diesen Bedingungen eher auftreten als in Wohlfahrtsstaaten mit einem geringeren Ausmaß an intertemporalen und intergenerationellen Umverteilungen. Da aber alle Wohlfahrtsstaaten einen hohen Anteil altersspezifischer Programme aufweisen, besteht auch in allen die Möglichkeit von Generationenkonflikten; Un-terschiede zwischen Wohlfahrtsstaaten sind hier eher gradueller Natur.

Abbildung 2.2: Konfliktwahrscheinlichkeiten in unterschiedlichen Wohlfahrtsregimen

liberalerWohlfahrtsstaat

konservativerWohlfahrtsstaat

sozialdemokratischerWohlfahrtsstaat

traditioneller Klassen-konflikt

gering-mittel (selektive Leistungen)

eher hoch (Arbeitgeberbeiträge)

mittel (universale Leistungen)

»welfare backlash«-Wahrscheinlichkeit (vs. Mittelklassen-unterstützung)

mittel (geringes Leistungsniveau); aber nur geringe Mittelklas-

senunterstützung wegen selektiver Leistungen

gering (Statusprinzip)

mittel (universale Leistungen; hohes Leistungsniveau);mittlere bis hohe Mittel-

klassenunterstützung

Konflikte zwischen: (a) Versorgungs- und Finanzierungsklassen (b) positiven Versorgungsklassen

(a) hoch (hohe »Sichtbarkeit«)

(b) eher gering (geringes Leistungsniveau)

(a) gering (Statusprinzip)

(b) mittel(hohes, aber sinkendes

Leistungsniveau)

(a) mittel(universale Leistungen)

(b) mittel(hohes, aber sinkendes

Leistungsniveau)

Generationen-konflikt(e) eher gering (?) eher hoch eher gering (?)

Wie bei den Versorgungsklassenkonflikten gilt auch für wohlfahrtsstaatliche Gene-rationenkonflikte, dass sie nicht manifest sein müssen, um sich auf die Akzeptanz-urteile auszuwirken. Sofern die Annahme strukturell angelegter Interessengegen-sätze zwischen Altersgruppen richtig ist, müssten sich zwischen den Generationen bzw. Altersgruppen deutliche Unterschiede bei der Beurteilung der sozialen Sicherung ergeben – zumindest bei lebensphasenrelevanten Sicherungssystemen wie der Kran-ken- und der Rentenversicherung. Anzunehmen wäre etwa eine höhere Akzeptanz der

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Rentenversicherung bei den Älteren als bei Jüngeren. Aber auch umgekehrt müssten bei jüngeren Personen stärkere Präferenzen für Ausbildungshilfen und Familienleis-tungen vorhanden sein (vgl. hierzu auch Kapitel 6.3).

Die Wahrscheinlichkeiten der verschiedenen Konfliktformen im Kontext wohl-fahrtsstaatlicher Absicherung sind der folgenden Tabelle zusammengefasst (Abb. 2.2). Dabei ist zu beachten, dass die jeweils zugewiesenen Konfliktwahrscheinlichkeiten notwendig nur sehr grobe Annäherungen sein können und dass nicht alle »Gegenthe-sen« aufgeführt werden konnten.

2.2.3 Wohlfahrtskulturelle Ansätze

Untersuchungen, die zur Erklärung der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung auf un-terschiedliche kulturelle Aspekte rekurrieren, können zusammenfassend als wohl-fahrtskulturelle Ansätze bezeichnet werden (vgl. a. Ullrich 2003). Wohlfahrtskultu-relle Ansätze können sich jedoch hinsichtlich der vermuteten Erklärungsfaktoren und der Analyseebene erheblich unterscheiden. Darüber hinaus sind Aussagen über die Ursachen und Kausalmechanismen der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung ge-meinhin vager und seltener, als dies bei funktionalistischen und konflikttheoreti-schen Ansätzen der Fall ist.

Zu den wohlfahrtskulturellen Arbeiten sind alle Arbeiten zu rechnen, die die Bedeutung von Ideologien und Werten für die Entstehung und Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten betonen. Der Einfluss politischer Ideologien auf die Entstehung und institutionelle Struktur von Wohlfahrtsstaaten sowie auf den Umfang der Absi-cherung wurde vor allem in historisch-vergleichenden Studien verdeutlicht (z.B. Rimlinger 1971). Auch religiöse Orientierungen (wie Katholizismus oder Pietismus) sind als mögliche Erklärungsfaktoren wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungen herange-zogen worden (vgl. u.a. Kaufmann 1988; Manow 2002). Insgesamt besteht eine weit geteilte Überzeugung, dass die Entstehung und die Expansion der sozialen Siche-rung eine Reihe kognitiver und moralischer Entwicklungen zur Voraussetzung hat-ten. So habe es umfangreicher kollektiver Lernprozesse bedurft, um den Wohl-fahrtsstaat sowohl den bürgerlichen Eliten als auch der revolutionären Arbeiterbe-wegung als »historischen Kompromiss« zwischen einem ungezügelten, auf soziale Problemlagen keine Rücksicht nehmenden Kapitalismus einerseits und einer radika-len sozialistischen Umgestaltung andererseits »schmackhaft« zu machen (vgl. u.a. Heclo 1974; De Swaan 1988).39

39 Zu den wichtigsten »moralischen Lernschritten« werden hier die Einsicht, dass die freiwilligen Selbst-

hilfeorganisationen der Arbeiter den Sicherungsbedarf in industrialisierten Gesellschaften nicht mehr decken können, eine breite Sensibilisierung für die Risiken der modernen Lohnarbeiterexistenz sowie die Überzeugung, dass die Absicherung dieser Risiken eine kollektiv-staatliche Lösung erfordere, ge-rechnet (vgl. De Swaan 1988).

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2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 47

Den wohlfahrtskulturellen Ansätzen zuzurechnen sind auch Beschreibungen nationaler Wohlfahrtskulturen (vgl. z.B. für Frankreich: Bode 1999) sowie Vergleiche zwischen Ost- und Westdeutschland (Roller 1997). Eher selten sind dagegen explizi-te Versuche einer Typisierung von Wohlfahrtskulturen.40 Für Arbeiten, die von wohl-fahrtskulturellen Annahmen ausgehen, ist allgemein aber die Befassung mit einzel-nen kulturellen Aspekten und spezifischen Fragestellungen eher typisch. Dies gilt für so unterschiedliche Arbeiten wie Richard Titmuss Studie über Blutspenden (1970), Arbeiten zu wohlfahrtsstaatlichen Ideologien von Eliten (z.B. George 1998) oder auch solche im Rahmen des »culture of poverty«-Ansatzes (Lewis 1968).

Wohlfahrtskulturelle Ansätze verfolgen insgesamt also kein klar umrissenes oder gar einheitliches Forschungsprogramm. Sie sind eher als »sensitizing concepts« zu verstehen, die die Bedeutung kultureller Aspekte für die Entstehung und Ent-wicklung von Wohlfahrtsstaaten betonen. Eine eindeutige theoretische Verortung von Fragen der Akzeptanz sozialer Sicherungsleistungen und die Zurechnung eines entsprechenden Stellenwerts des Akzeptanzaspektes können daher kaum erwartet werden. Wohlfahrtskulturelle Ansätze interessieren sich jedoch in besonderem Ma-ße für Deutungsmuster, Ideologien und Diskurse – und somit auch dafür, welche Erwartungen an die soziale Sicherung bestehen und welche sozialpolitische Vorstel-lungen dominant sind. Zu letzteren gehören u.a. »Armutsbilder« (Ursachenattribu-tion bei Armut; Armutsdefinition etc.), Ungleichheitssemantiken oder auch Deutungs-muster von Leistungsempfängern (soziale Wertschätzung/Sympathie, Victimisierung etc.). Die Akzeptanz der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung und insbesondere deren kul-turelle Hintergründe können daher als ein zentraler Themenbereich der Wohlfahrts-kulturforschung angesehen werden (vgl. Ullrich 2003: 14).

Aus wohlfahrtskulturellen Überlegungen lassen sich drei grundlegende und zu einem guten Teil gegenläufige Annahmen über die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates ableiten:

(1) Arbeiten, die die Bedeutung kollektiver Lernprozesse für die wohlfahrtsstaat-liche Entwicklung untersuchen (z.B. De Swaan 1988), legen zunächst die Annahme einer »supportiven« Wohlfahrtskultur als Voraussetzung für die Entstehung von Wohlfahrtsstaaten (insbesondere aber wohl für die »entwickelter« Wohlfahrtsstaa-ten) nahe.

Von besonderer Bedeutung ist hier das Konzept der Moralökonomie (Thompson 1980), das vor allem von Kohli (1987, 1989) für wohlfahrtsstaatliche Fragestellungen fruchtbar gemacht wurde. Moralökonomisch argumentierende Studien gehen meist

40 So unterscheidet Zijderveld (1986) drei grundlegende Formen eines nationalen »Ethos«, von denen er

annimmt, dass sie in einem direktem Verhältnis zur Ausgestaltung der jeweiligen Wohlfahrtsstaaten stehen. Das für die USA und Japan typische »moralische Ethos« betone etwa die individuelle Verant-wortung und wirke sich daher restringierend auf die Expansion wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen aus. Umgekehrt verhalte es sich beim »immoralischen Ethos« (z.B. in Deutschland), während das »amoralische Ethos« (z.B. Italiens) gegenüber wohlfahrtsstaatlicher Politik indifferent sei.

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davon aus, dass sich im Zuge der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung allgemeine Normen entwickelt haben, die wohlfahrtsstaatliche Leistungsansprüche, Zahlungsbe-reitschaften und Umverteilungen legitimieren und sie dadurch von der unmittelba-ren Notwendigkeit entbinden, eine Mehrheit allein interessenmotivierter Unterstüt-zer zu sichern. Dies impliziert jedoch nicht, dass diese Normgenese der Institutio-nalisierung wohlfahrtsstaatlicher Regelungen und Ansprüche vorausgegangen sein muss.

(2) Die Vermutung, dass die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung an entsprechen-de kulturelle Veränderungen gebunden war, bedeutet jedoch keinesfalls, dass das Ver-hältnis von Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtskultur grundsätzlich unproblematisch ist. Es muss im Gegenteil von einem latent spannungsreichen Verhältnis ausgegan-gen werden: Wohlfahrtsstaatliche Institutionen müssen sich nicht nur an Veränderun-gen auf der Ebene der Wohlfahrtskultur anpassen; auch können (funktional womög-lich notwendige) wohlfahrtsstaatliche Entwicklungen durch eine »resistente« Wohl-fahrtskultur gebremst wenn nicht gar blockiert werden.

Selbst wenn man also die grundlegende Annahme eines wechselseitigen Bedin-gungsverhältnisses von Wohlfahrtsinstitutionen und Wohlfahrtskultur akzeptiert, besteht durchaus noch die Möglichkeit eines erneuten Auseinanderdriftens von in-stitutioneller und wohlfahrtskultureller Entwicklung. Je nachdem, welche Seite sich hier »bewegt«, kann dies dazu führen, dass die Bevölkerung entweder die bestehen-de Form der sozialen Sicherung immer weniger unterstützt oder aber sich (notwen-digen) Reformen verweigert. Beide Szenarien werden von Wohlfahrtsstaatstheoreti-kern unterschiedlicher Provenienz beschworen.

Insbesondere der schon ältere Diskurs um die von einigen Beobachtern ver-mutete »Legitimitätskrise« des Wohlfahrtsstaates (vgl. u.a. Moran 1988; Ringen 1987) hat hier Bedeutung erlangt. Der empirische Teil der Legitimitätskrisenthese besteht in der Annahme, dass wohlfahrtsstaatskritische Einstellungen in der Bevölkerung do-minieren und dass es daher für den Wohlfahrtsstaat keine unterstützende Mehrheit (mehr) gebe oder dass diese zumindest gefährdet sei. Neben den hohen Finanzie-rungslasten in Form von Beiträgen und Steuern können als Ursachen für einen sol-chen Legitimationsentzug gestiegene und zunehmend schwerer zu erfüllende Erwar-tungen an den Wohlfahrtsstaat, die Zunahme interessenrationaler Einstellungen, aber auch allgemeine Entwicklungen, wie die Verschlechterung der ökonomischen und sozialstrukturellen Rahmenbedingungen und der allgemeine Wertewandel, angeführt werden (vgl. u.a. Offe 1987: 527ff.; Ringen 1987: 47ff.; Schmidt 1988: 183ff.).41

41 Der Annahme einer Legitimitätskrise sind schon früh Entwicklungen entgegengehalten worden, die in

die entgegengesetzte Richtung einer höheren Unterstützung des Wohlfahrtsstaates weisen. Doch unabhängig von der Frage ihrer empirischen Plausibilität ist für den hier interessierenden Zusammen-hang entscheidend, dass von der Legitimitätskrisenthese unmittelbare Impulse – wenn nicht gar der entscheidende Anstoß – zur Erforschung der Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates ausgingen.

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2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 49

In jüngerer Zeit ist die These einer Auseinanderentwicklung von Wohlfahrtsin-stitutionen und Wohlfahrtskultur – wenn auch vor einem ganz anderen Hintergrund und mit ganz anderen Zielsetzungen – von neoliberalen Wohlfahrtsstaatskritikern er-neuert worden. Demnach brauchen und wollen »mündige Staatsbürger« keine bevor-mundenden staatlichen Regelungen. Auf der politischen Ebene finden diese Vor-stellungen in Forderungen nach mehr Wahlmöglichkeiten, einem Abbau von Zwangs-regelungen und einer Förderung privater Vorsorge oder auch einer aktivierenden Sozialpolitik ihren Ausdruck.

Eine dem entgegengesetzte Situationseinschätzung (bei gleicher politischer Stoß-richtung) liegt der Annahme einer reformunwilligen Bevölkerung zugrunde. Dieser zufolge erweist sich eine als »unzeitgemäß« empfundene Wohlfahrtskultur als ent-scheidender Hemmschuh für die als notwendig erachteten sozialpolitischen Refor-men. Vertreter dieser Position verweisen insbesondere auf empirische Untersuchun-gen, die eine mangelnde Reformbereitschaft (im Sinne einer Privatisierung der Absi-cherung) nahe legen (z.B. Föste/Janßen 1997).

(3) Die Vermutung einer zunehmenden Spannung zwischen wohlfahrtsstaatli-chen Institutionen und Wohlfahrtskultur kann schließlich noch durch die Behaup-tung »radikalisiert« werden, dass dieser Entwicklungsprozess durch das System der sozialen Sicherung selbst, also endogen, erzeugt wird: Fehlallokationen von Mitteln, Leistungsmissbräuche, bürokratische Auswüchse und andere Missstände, vor allem aber die hohe Beitragslast, haben demnach dazu geführt, dass sich immer mehr Menschen vom Wohlfahrtsstaat zumindest in seiner »anspruchsvollen« Form ab-wenden.

In ähnlicher Weise können auch die vermeintlich gestiegenen und zunehmend unerfüllbaren Erwartungen der Bevölkerung auf reale oder nur unterstellte wohl-fahrtsstaatliche Leistungsversprechungen zurückgeführt werden. Ihre dramatisieren-de Form erhält diese Variante der Wohlfahrtsstaatskritik in der Metapher einer »An-spruchsspirale«, bei der sich die wohlfahrtsstaatlichen Leistungsversprechen und die Erwartungshaltungen und Mentalitäten der Adressaten wechselseitig verstärken (und dadurch das Leistungsniveau, das für eine Befriedigung der Wohlfahrtsansprüche ausreicht, immer höher schrauben).

Wie sehr man solchen Diagnosen im Einzelnen auch immer folgen mag: Aus ihnen lassen sich allgemeine Annahmen über die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates gewinnen. Dazu ist jedoch zunächst zu klären, wie plausibel die einzelnen Vermu-tungen für die Situation des deutschen Wohlfahrtsstaates sind. Allgemein kann hier zunächst vermutet werden, dass die Ausbildung einer supportiven Moralökonomie vor allem für »starke« Wohlfahrtsstaaten eine Voraussetzung war und dass in erster Linie auch nur diese durch die Möglichkeit eines Auseinanderdriftens von wohl-fahrtsstaatlichen Institutionen und Wohlfahrtskultur vor größere Probleme gestellt werden: Je höher das Leistungsniveau und je stärker die redistributiven und dekommodifizieren-den Wirkungen, desto mehr werden Wohlfahrtsstaaten auf eine kulturelle Verankerung angewie-

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50 2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen

sen sein und desto weniger können sie sich auf vordergründige Interessenkalküle ihrer Adressaten verlassen.

Folgt man der ersten, allgemeinen Annahme einer supportiven Wohlfahrtskul-tur ist für die Akzeptanz sozialer Sicherungssystemen in Deutschland vor allem eine zumindest (grobe) Korrespondenz von Wohlfahrtsinstitutionen und Wohlfahrtskul-tur zu erwarten, d.h. eine starke normative und mentale Verankerung der grundle-genden Prinzipien der sozialen Sicherung. Neben etatistischen und paternalistischen Orientierungen schließt dies auch eine hohe Solidaritätsbereitschaft und eine gewis-se »Permissivität« gegenüber Leistungsempfängern sowie eine geringe Neigung zu deren Victimisierung42 ein. Schließlich sollten Präferenzen für eine umfangreiche Ab-sicherung und für ein hohes Leistungsniveau ausgeprägt sein. Demgegenüber soll-ten z.B. in liberalen Wohlfahrtsstaaten u.a. individualistische und victimisierende Einstellungen sowie Präferenzen für ein geringes Leistungsniveau vorherrschen.

Aus der »skeptischen« wohlfahrtskulturellen Annahme, dass Wohlfahrtskultur und Wohlfahrtsinstitutionen nicht (länger) im Einklang sind, lassen sich entspre-chend gegenläufige Vermutungen über die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates ablei-ten. Die generelle Annahme ist hier, dass die Akzeptanz in allen »starken« Wohl-fahrtsstaaten zurückgeht, weil sich die Wohlfahrtskultur »liberalisiert«. Dies müsste sich u.a. in einem Wunsch nach mehr Wahlfreiheit und der Ablehnung eines Staats-paternalismus, in einer generell stärkeren Bedeutung des Eigeninteresses, in einer kritischeren Sicht der Leistungsempfänger sowie in einer kritischeren Beurteilung der wohlfahrtsstaatlichen Performanz niederschlagen.

Welchem Entwicklungsszenario man aber auch immer zuneigt: Die grundsätz-liche Annahme zur Wohlfahrtsstaatsakzeptanz lautet in jedem Fall, dass eine hohe Kongruenz von Wohlfahrtskultur und Wohlfahrtsinstitutionen zu einer hohen Ak-zeptanz des bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Arrangements führt. Dies gilt auch für Unterschiede zwischen Bevölkerungsteilen: Je stärker die allgemeinen Ideologien oder spezifische Wertorientierungen (z.B. Gerechtigkeitsüberzeugungen) einer Per-son mit der normativen Logik eines sozialen Sicherungssystems übereinstimmen, desto positiver wird sie – ceteris paribus – dieses beurteilen.

2.2.4 Institutionentheoretische Ansätze

Die Grundidee institutionalistischer Ansätze besteht in der Annahme, dass die ge-sellschaftlichen Institutionen selbst, wenn sie erst einmal implementiert sind, so-wohl die Interessen der betroffen Akteure (hier also gegenüber der sozialen Siche-rung) prägen als auch ihre moralischen Überzeugungen.

42 Als Victimisierung (victim blaming) wird allgemein die Auffassung bezeichnet, dass Leistungsemp-

fänger selbst dafür verantwortlich sind, in eine Abhängigkeit von Sozialleistungen geraten zu sein.

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2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 51

In der Wohlfahrtsstaatstheorie haben in jüngerer Zeit vor allem Erklärungsver-suche besonderes Interesse hervorgerufen, die auf die Historizität wohlfahrtsstaatli-cher Institutionen und auf Rückkoppelungseffekte rekurrieren. Oft liegt ihnen die aus Modellen der »Pfadabhängigkeit«43 entlehnte Annahme zugrunde, dass die wohl-fahrtsstaatlichen Entwicklungsmöglichkeiten maßgeblich von der bereits bestehen-den institutionellen Struktur eines Wohlfahrtsstaates bestimmt werden. Frühere so-zialpolitische Entscheidungen erweisen sich dann rückblickend als entscheidende Weichenstellungen.

Wohlfahrtsstaatliche Rückkoppelungseffekte sind alle durch den Wohlfahrts-staat ausgelösten Veränderungen in der Umwelt, die wieder auf den Wohlfahrtsstaat zurückwirken. Solche Rückwirkungen können verstärkend oder destruktiv sein. Als positive Rückkoppelung (Verstärkung) kann z.B. die durch den Wohlfahrtsstaat mit verursachte Veränderung der Beschäftigungsstruktur in Richtung einer Zunahme abhängig Beschäftigter gelten. Diese hat dazu geführt, dass immer mehr Menschen auf eine sozialpolitische Absicherung angewiesen sind, während gleichzeitig die Zahl der klassischen Wohlfahrtsstaatsgegner (Selbständige, Landwirte) zurückging.44

Eine typische negative Rückkoppelung besteht dagegen, wenn wohlfahrtsstaat-liche Programme durch die Veränderung der individuellen Opportunitätsstrukturen Verhaltensweisen begünstigen, die zu einer Belastung der sozialen Sicherungssyste-me führen. Hierzu gehören u.a. die oft beklagte »Anspruchsmentalität« und die Ver-teuerung der Arbeitskraft durch Sozialabgaben. Aber auch im »welfare backlash« (vgl. Abschnitt 2.2.2) ist eine destruktive Rückwirkung auf den Wohlfahrtsstaat zu sehen, zumindest soweit diese Ablehnung auf die hohe finanzielle Belastung durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zurückzuführen ist.

Die Frage der Akzeptanz wird in der institutionentheoretischen Perspektive in »umgekehrter Richtung« zum Thema: Nicht die Bedeutung der sozialen Akzeptanz für die Stabilität und Performanz sozialer Sicherungsinstitutionen ist in dieser Sicht-weise zentral, sondern der Einfluss, den diese auf die Präferenzen und Einstellun-gen der Wohlfahrtsstaatsbürger und auf die gesamte Wohlfahrtskultur haben (kön-nen).

Die grundlegende Vorstellung besteht darin, dass sich die Unterschiede, die bei der Akzeptanz zwischen sozialen Sicherungssystemen deutlich werden, maßgeblich auf die divergenten institutionellen Strukturen der Sicherungssysteme zurückzufüh-ren lassen. Die weitergehende Hoffnung lautet dann, dass man mit einer »geschick- 43 Zur Anwendung von Modellen der Pfadabhängigkeit auf den Wohlfahrtsstaatskontext vgl. u.a. Eb-

binghaus (2005); für einen Überblick über unterschiedliche Pfadabhängigkeitskonzepte Beyer (2005).

44 Als Rückkoppelungseffekte, die zu einer Verfestigung der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Strukturen geführt haben, werden u.a. auch die Wohlfahrtsstaatsbürokratie und die durch den Wohlfahrtsstaat gebildeten »Versorgungsklassen« angesehen, die jeweils, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen, ein starkes Interesse am Bestand des Wohlfahrtsstaates bzw. am Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen haben.

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ten« Ausgestaltung der sozialen Sicherung – und nicht nur mit einer möglichst »ge-nerösen« Leistungsgestaltung – deren Chancen auf Akzeptanz (ihre »Akzeptabili-tät«) erhöhen kann (vgl. Ullrich 2001).

Institutionalistische Annahmen über die Akzeptabilität sozialer Sicherungssys-teme werden typischerweise auf zwei Ebenen gemacht: auf der wohlfahrtsstaatlicher Regime und auf der Ebene spezifischer Systemeigenschaften.

(1) Auf der Regimeebene wird angenommen, dass die Wohlfahrtsstaatstypen in unterschiedlichem Maße in der Lage sind, Akzeptanz zu generieren. Dabei werden jedoch ganz konträre Positionen vertreten. So wird einerseits schlanken, also vor al-lem liberalen, Wohlfahrtsstaaten eine hohe Akzeptabilität attestiert, weil das Umver-teilungsvolumen gering ist und Leistungen vergleichsweise zielgenau den Bedürfti-gen (und nur diesen) zugute kommen (vgl. hierzu kritisch: Greenstein 1991).

Andererseits werden aber auch dem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatstyp privilegierte Akzeptanzchancen nachgesagt. Dies wird mit fast entgegengesetzten Argumenten begründet. So sei der Rückhalt sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaa-ten in der Bevölkerung gerade aufgrund des hohen Leistungsniveaus und des Um-stands, dass fast jeder in der einen oder anderen Form Leistungen erhält oder darauf hoffen kann, Leistungen zu erhalten, besonderes stark (Rothstein 1998: 134ff.; 156ff.). Schließlich wird auch dem konservativen Wohlfahrtsstaat eine hohe Akzeptabilität zugeschrieben. Die Gründe werden dabei im geringen Maß interpersoneller Umver-teilungen und in der engen Bindung der Leistungsberechtigung an Vorleistungen (insbes. Beitragszahlungen) gesehen.

(2) Diese Annahmen über die Akzeptabilität unterschiedlicher Wohlfahrtsregi-me basieren letztlich auf der Unterstellung, dass bestimmte, für die einzelnen Wohl-fahrtsstaatstypen typische Systemmerkmale akzeptanzförderlich oder -abträglich sind. Zu den akzeptanzförderlichen Eigenschaften sozialer Sicherungssysteme wer-den u.a. die Zahl der potenziellen Leistungsempfänger, das (Sozial)Versicherungs-prinzip bzw. die Bindung von Leistungsansprüchen an vorherige Beitragszahlungen, die Restriktivität des Leistungszugangs (z.B. Karenzzeiten) und das Ausmaß interper-soneller Umverteilungen gezählt (vgl. u.a. Esping-Andersen 1997; Karl et al. 1998; Mackscheidt 1985; Offe 1990; Ullrich 2001; Skocpol 1991). Im weiteren Sinne kön-nen aber auch die zugeschriebenen Eigenschaften von Leistungsempfänger sowie die »normative Kompatibilität« der Sicherungssysteme mit der Wohlfahrtskultur als Akzeptabilitätskriterien gelten.

Für den deutschen Wohlfahrtsstaat wurde insbesondere wegen des hohen An-teils von Sozialversicherungen eine höhere Akzeptabilität angenommen. Claus Offe sieht hier ein »ausgeklügeltes Ensemble vertrauenssichernder Vorkehrungen« (1990: 182) am Werk, das vor allem vor zwei Dingen schütze: dass Unberechtigte Leistun-gen erhalten und dass Leistungsberechtigte keine Leistungen erhalten (1990: 181f.). Zu den Strukturmerkmalen, durch die dies erreicht werde, zählt er u.a. die Pflicht-versicherung, die Staatsaufsicht, das Äquivalenzprinzip und die Unabhängigkeit vie-

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2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 53

ler Leistungen von der Bedürftigkeit (1990: 182ff.). Diese und weitere Merkmale setzen laut Offe »die moralischen Anforderungen in puncto Solidarität (...) so weit herab (...), dass rational begründete Vorbehalte gegen das Sicherungssystem selbst nicht leicht aufkommen können«. Das System der sozialen Sicherung sei daher »in ge-radezu idealer Weise kognitiv und moralisch anspruchslos« (1990: 185; Hervorhebun-gen d. O. sind weggelassen).

Wenn die allgemeine Akzeptabilitätsvermutung im Grundsatz zutrifft und die institutionelle Struktur für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme bedeutsam ist, so gilt dies nicht nur für die Höhe der Akzeptanz, sondern auch für den »Inhalt« der wohlfahrtsstaatlichen Präferenzen und Einstellungen. Das heißt, die Einstellungen und Präferenzen der wohlfahrtsstaatlichen Adressaten müssten weitgehend den Struk-turmerkmalen folgen bzw. sich an ihnen orientieren.

Im Fall des »konservativen« deutschen Wohlfahrtsstaates wäre etwa eine hohe Akzeptanz von Sozialversicherungen, ein Befürwortung paternalistischer Staatsein-griffe und eine hohe Solidaritätsbereitschaft im Bereich der Gesundheitsversorgung zu erwarten; andererseits aber auch eine geringe Akzeptanz von Umverteilungen und steuerfinanzierter, von Vorleistungen unabhängiger Leistungen.

Wie wohlfahrtskulturelle legen also auch institutionalistische Ansätze eine hohe Kongruenz der Präferenzen und Einstellungen mit den institutionalisierten Wohl-fahrtsstaatsstrukturen nahe. Die Erwartungen hinsichtlich der Akzeptanz und der Akzeptanzmotive unterscheiden sich daher nicht grundsätzlich von denen der in Abschnitt 2.2.3 dargelegten wohlfahrtskulturellen Perspektive. Wodurch sich die beiden Ansätze unterscheiden, ist primär die vermutete Kausalrichtung: Während wohlfahrtskulturelle Ansätze davon ausgehen, dass bestimmte Präferenzen und Ein-stellungen auf Seiten der (späteren) Adressaten eine Voraussetzung für die Durch-setzung und den Bestand wohlfahrtsstaatlicher Institutionen sind, sind es in der in-stitutionalistischen Perspektive die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen, die sich erst eine konforme Wohlfahrtskultur schaffen (oder diese zumindest zu entsprechenden Anpassungsleistungen zwingen).

Inwiefern solche und weitere Annahmen über die Akzeptabilität und Akzep-tanz von Wohlfahrtsstaaten zutreffen, ist bisher jedoch kaum untersucht worden. Dies dürfte wesentlich darauf zurückzuführen sein, dass für eine systematische Über-prüfung insgesamt zu wenige Vergleichsmöglichkeiten bestehen. Unterschiede zwi-schen Wohlfahrtsstaaten (vgl. hierzu Kap. 3.1) und einfache Vergleiche von System-typen (Ullrich 2001) bestätigen aber zumindest den »Generalverdacht«, dass die insti-tutionelle Form der Absicherung einen Einfluss auf die soziale Akzeptanz haben kann. Darüber hinaus finden sich Hinweise, dass die Beurteilung sozialer Sicherungs-systeme sich auch als Folge sozialpolitischer Reformen verändert (vgl. Hills 2002; Smith/Wearing 1987). Eine fundierte Einschätzung institutionalistischer Annahmen über die Akzeptabilität sozialer Sicherungssysteme würde jedoch eine genaue empi-

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rische Überprüfung der Bedeutung einzelner Systemeigenschaften (z.B. Bedürftig-keitsprüfungen) für die Gesamtbeurteilung eines Sicherungssystems erfordern.45

Die kursorische Darstellung der wichtigsten wohlfahrtsstaatstheoretischen Pa-radigmen hatte den Zweck zu prüfen, welche grundlegenden Annahmen über die Wohlfahrtsstaatsakzeptanz sich aus den unterschiedlichen Ansätzen der Wohlfahrts-staatstheorie ergeben. Dabei ging es zum einen um den Stellenwert, der »Akzep-tanzfragen« beigemessen wird, und zum anderen um Vermutungen über Akzeptanz-ursachen und -unterschiede. Diese grundlegenden Annahmen stellen das Bindeglied zwischen der allgemeinen Wohlfahrtsstaatstheorie und der in Kapitel 6 erfolgenden Entwicklung und Begründung spezifischer Hypothesen zur Erklärung der Wohl-fahrtsstaatsakzeptanz dar.

Insgesamt wurde deutlich, dass sich vor allem aus konflikttheoretischen Ansät-zen allgemeine (und zum Teil gegensätzliche) Annahmen über die Wohlfahrtsstaats-akzeptanz und insbesondere über Akzeptanzunterschiede zwischen Bevölkerungs-gruppen entwickeln lassen. Eine wichtige Ergänzung stellen wohlfahrtskulturelle und institutionalistische Konzepte und Überlegungen dar, die zu durchaus ähnlichen An-nahmen über die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates und über mögliche Erklärungsfak-toren führen. Dagegen erwiesen sich funktionalistische Erklärungen des Wohlfahrts-staates, obwohl sich aus ihnen durchaus Annahmen über die Akzeptanz von Wohl-fahrtsstaaten ableiten lassen, für die hier interessierenden Fragen der Wohlfahrtsstaats-akzeptanz (in einem Wohlfahrtsstaat und zu einem Zeitpunkt) als nicht weiterführend.

Die zentralen Befunde dieses kurzen Durchgangs durch die Hauptströmungen der Wohlfahrtsstaatstheorie und der Diskussion möglicher Implikationen für Fra-gen der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz sind in Abbildung 2.3 festgehalten. Die aus den einzelnen Erklärungsansätzen gewonnenen Annahmen über die Akzeptanz des Wohl-fahrtsstaates werden in Kapitel 6 eingehender untersucht.

45 Zumindest für die Eigenschaften von Leistungsempfängern konnte eine entsprechende Wirkung

zumindest in einem Fall (Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates in den USA) nachgewiesen werden (Cook/Barrett 1992). Die »deservingness« der Leistungsempfänger nimmt unter den Akzeptabilitätskriterien allerdings einen Sonderstatus ein (vgl. hierzu ausführlich: Kapitel 6.5).

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2.2 Wohlfahrtsstaatstheorie und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 55

Abbildung 2.3: Wohlfahrtsstaatstheorie und Wohlfahrtsstaatsakzeptanz

funktionalistischer Ansatz

konflikttheoretischerAnsatz

wohlfahrtskulturellerAnsatz

institutionalistischerAnsatz

allgemeineMerkmale;Varianten

- wohlfahrtsstaatliche Entwicklung folgt funktionalen Erfor-dernissen

- sozioökonomische, modernisierungstheo-retische und neomar-xistische Ansätze

- wohlfahrtsstaatliche Entwicklung ist Folge sozialer Interessen-konflikte

- u.a. Sozialdemokratie-, Mittelklassen- und Versorgungsklassen-these

- Analyse der kulturel-len Voraussetzungen von Wohlfahrtsstaat-lichkeit

- historische Lernpro-zesse; Deutungsmus-ter- und Diskursana-lysen

- wohlfahrtsstaatliche Institutionen schaf-fen Bedingungen für weitere Entwicklung (Pfadabhängigkeiten)

Bedeutungvon Akzep-tanzfragen

- gering: Akzeptanz folgt funktionalen Notwendigkeiten(oder muss ignoriert werden)

- Akzeptanz wichtig, gilt als abhängig von der sozialen Position, insbes. der Versor-gungsklassenlage

- Akzeptanz zentrales Thema; akzentuiert kulturelle Faktoren

- Akzeptanz wichtig, wird als Folge institu-tioneller Strukturen aufgefasst (»Akzepta-bilität«)

- relativ hohe Kongruenz zwischen Wohl-fahrtskultur und Wohlfahrtsinstitutionen

allgemeineAnnahmenüber Akzep-tanz

- Akzeptanz passt sich dem Entwicklungs-niveau an

- evtl.: sinkende Funk-tionalität der Absi-cherung sinkende Akzeptanz

- Akzeptanzunter-schiede zwischen Klassen, Versor-gungsklassen und Generationen

- unterschiedliche »Konfliktanfällig-keiten« je nach Wohl-fahrtsstaatstyp

- Unterschiede zwis-chen Wohlfahrts-staatstypen bei Akzeptanzmotiven

- Möglichkeit eines Auseinanderdriftensvon Wohlfahrtskul-tur und Wohlfahrts-institutionen

- institutionell bedingte Unterschiede zwi-schen Wohlfahrts-staaten (konkurrie-rende Annahmen)

Annahmenüber die Ak-zeptanz des deutschenWohlfahrts-staates

- keine spezifischen - geringe Wahrschein-lichkeit größerer Ak-zeptanzunterschiede zwischen Klassen und Versorgungs-klassen

- höhere Wahrschein-lichkeit eines Gene-rationenkonflikts

- spezifische Akzep-tanzmotive (z.B. »Paternalismus«)

- evtl.: sinkende Ak-zeptanz infolge kul-turellen Wandels

- hohe Akzeptabilität des deutschen Wohl-fahrtsstaates auf-grund relativer »mo-ralischer Anspruchs-losigkeit«

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3 Ergebnisse und Defizite der wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzforschung

3.1 Hintergründe und zentrale Ergebnisse der Akzeptanzforschung

Lange Zeit bestand in der politischen Öffentlichkeit und in der sozialwissenschaftli-chen Forschung kein kontinuierliches und systematisches Interesse an Fragen der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen. Dieses Desinteresse kann auf min-destens drei Gründe zurückgeführt werden. Zum einen schienen die Vorteile einer sozialen Absicherung offenbar zu »selbstverständlich«. So wurde der weitere Aus-bau des Sozialstaates nicht nur im Interesse der wohlfahrtsstaatlichen Adressaten vorangetrieben, sondern auch – so die im Nachkriegsdeutschland lange vorherr-schende Lehrmeinung – zum Nutzen der gesamten Volkswirtschaft. Zweitens fehl-te es in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs an exogenen Anreizen, die wohlfahrts-staatliche Expansionsdynamik zu begrenzen. Steigende Sozialversicherungsbeiträge konnten lange durch entsprechende Produktivitätssteigerungen und eine daran an-gepasste Lohnentwicklung kompensiert werden.

Die Vernachlässigung der Frage, ob die Sozialbürger eine umfangreiche soziale Sicherung und die bestehende und sich weiter entwickelnde Form der Wohlfahrts-staatlichkeit überhaupt wollen, ist schließlich auch darauf zurückzuführen, dass sich die aus der amerikanischen Politische Kultur-Forschung stammende (und im ameri-kanischen Demokratieverständnis verwurzelte) Auffassung, nach der die politische Unterstützung ein entscheidender Faktor für die Stabilität politischer Systeme und Regierungen sowie vor allem auch für deren Legitimierung ist, nur langsam durch-gesetzt hat.

Die USA, in denen politische Meinungsumfragen eine längere Tradition haben als in den europäischen Ländern, sind daher auch das einzige Land, für das Umfra-geergebnisse für weiter zurückliegende Zeitpunkte vorliegen (vgl. Coughlin 1979; Schiltz 1970). In Deutschland blieben Studien aus dem Bereich Sozialpolitik, die sich zumindest mit Teilaspekten sozialer Akzeptanz befasst haben, dagegen selten und waren meist mit sehr spezifischen Fragen befasst (vgl. Braun 1972; von Friede-burg/Weltz 1958; Schmaltz 1969), sodass bis in die 1970er Jahre nur äußerst wenig über die Akzeptanz der sozialen Sicherung in Deutschland bekannt ist.

Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates als eigenständiger Erkenntnisgegenstand hat erst seit Ende der 1970er Jahre vermehrt Aufmerksamkeit in der politisch inter-

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3.1 Hintergründe und zentrale Ergebnisse der Akzeptanzforschung 57

essierten Öffentlichkeit und im wissenschaftlichen Diskurs erlangt. Den wissen-schaftshistorischen Hintergrund für diese Hinwendung zu Akzeptanzfragen im Bereich Sozialpolitik bilden der durch den »Ölschock« (1973) ausgelöste Abschied von einem geradezu »naiven« Wachstumsoptimismus und der damit verbundenen Einsicht, dass die expansive Dynamik der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung nicht un-gebremst bleiben kann.

Bestimmend war dabei zunächst der »linke« Diskurs um eine mögliche Legiti-mitätskrise des Wohlfahrtsstaates bzw. des »Spätkapitalismus«. Für diesen war die Annahme grundlegend, dass sich kapitalistische Wohlfahrtsstaaten (denen »echte« Legitimität verwehrt sei) durch umfangreiche sozialpolitische Zugeständnisse zu-mindest eine »Massenloyalität« sicherten (Narr/Offe 1975) – und dass gerade die Erfüllung dieser Funktion der Loyalitätsherstellung angesichts wachsender Finanzie-rungsprobleme durch das System der sozialen Sicherung zunehmend weniger erfüllt werden könne.

Durchaus ähnlich argumentierend, wenn auch mit umgekehrtem politischem Vorzeichen, diagnostizierte später die »Unregierbarkeitsthese« eine Dynamik wach-sender Wohlfahrtsansprüche, die zu einer Überforderung – und in der Konsequenz zur Handlungsunfähigkeit – demokratisch gewählter Regierungen führe (vgl. u.a von Beyme 1984; Heidorn 1982).

Gestützt sahen sich derartige Krisenszenarien insbesondere durch empirische Beobachtungen wie die als »welfare backlash« bekannt gewordenen Proteste gegen hohe Steuerbelastungen (vgl. Wilensky 1975: 28ff., 2002: 363ff.; vgl. a. Kap. 2.2.2).

Die Auseinandersetzung um die legitimatorische und, im engen Verbund da-mit, um die stabilitätsbildende Funktion der sozialen Sicherung wurde zunächst je-doch von theoretischen Argumenten und eher alltagsweltlichen Beobachtungen (etwa über eine vermeintliche »Anspruchsmentalität« der Bürger) bestimmt. Nur all-mählich setzte sich die Einsicht durch, dass die Frage der Akzeptanz oder Unter-stützung sozialer Sicherungssysteme (wie auch des gesamten Politischen Systems) nicht theoretisch deduziert werden kann, sondern – bei allen damit verbundenen Schwierigkeiten – empirisch untersucht werden muss.

Seit den 1980er Jahren liegen mittlerweile einige Untersuchungen zur Akzep-tanz westlicher Wohlfahrtsstaaten vor. Der Anteil vergleichender Studien ist dabei erheblich, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass seit Mitte der 1980er Jahre mit dem International Social Survey Programme (ISSP)46 und dem Eurobaro-meter47 deutlich bessere Möglichkeiten für vergleichende Untersuchungen zur Ak-zeptanz sozialer Sicherungssysteme bestehen.

Dass dabei in den einzelnen Untersuchen oft andere und unterschiedliche Begriffe (insbes. den der »politischen Unterstützung«) verwendet werden, ist grund- 46 Zentral sind hier die Module »Role of Government« I-III und »Social Inequality« I-III. 47 Akzeptanzindikatoren finden sich in vielen Eurobarometerumfragen, z.B. im Eurobarometer 40

»Poverty and Social Exclusion« (1993).

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58 3 Ergebnisse und Defizite der wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzforschung

sätzlich unproblematisch (vgl. 2.1.2). Unbefriedigend ist hingegen, dass auch mit der stärkeren Hinwendung zu Akzeptanzfragen eine theoretisch-konzeptionelle Präzi-sierung weitgehend ausblieb. »Akzeptanz« und die alternativ verwendeten Termino-logien bleiben meist undefiniert und werden unbestimmt mit einer nicht näher spe-zifizierten Zustimmung oder positiven Bewertung gleichgesetzt.

Die Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat ist zudem »räumlich« ungleich verteilt: Sie hat vor allem in den USA und in Großbritannien eine längere Tradition, während in jüngerer Zeit viele Arbeiten aus den skandinavischen Ländern und vor allem aus den Niederlanden kommen. Obwohl Roller immerhin schon 1992 ihre umfangreichere Arbeit vorgelegt hat, kann Deutschland weder zu den Vorreitern einer wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzforschung gezählt werden noch zu den Ländern, die sich in den letzten Jahren durch eine besonders intensive Bemühung um Akzeptanzfragen ausgezeichnet haben.

Neben der Akzeptanzforschung i.e.S. gibt es weitere Forschungsarbeiten, die zwar überwiegend an spezifischeren Fragestellungen interessiert sind, deren Ergeb-nisse aber dennoch Rückschlüsse über die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Systeme und Regelungen zulassen.

In erster Linie ist hier an meist von Ökonomen initiierte Studien zu denken, die die Reformbereitschaft und -fähigkeit der Bürger bzw. die Akzeptanz (stärker) markt-förmiger Absicherungsformen und entsprechender Steuerungsmittel (z.B. Selbstbeteili-gungen) untersuchen (vgl. u.a. Boeri et al. 2000; Bulmahn 2003; Föste/Janßen 1997; Wasem 2000; Zok 2003) oder auf die Beurteilung konkreter Reformalternativen zie-len (u.a. Börsch-Supan et al. 2004; Hallauer et al. 1996; Pappi/Shikano 2005; Ull-rich/Christoph 2006).

Zweitens sind hier empirische Studien zur Akzeptanz sozialer Ungleichheit (z.B. Haller 1986, 1987; Kluegel/Smith 1986; Mau 1997; Svallfors 1993) sowie Arbeiten aus dem Bereich der Gerechtigkeitssoziologie zu nennen, die im weiteren Sinne sozial-politische Fragen zum Gegenstand haben (u.a. Kluegel/Miyano 1995; Marshall et al. 1999; Lewin-Epstein et al. 2003). Beide Forschungsrichtungen haben einen engeren Interessenfokus als die Akzeptanzforschung – im ersten Fall hinsichtlich der abhän-gigen Variable (soziale Ungleichheit), im zweiten hinsichtlich des Spektrums mögli-cher oder als zentral angesehener Erklärungsfaktoren. Das Ziel der Verringerung sozialer Ungleichheit gehört jedoch ebenso zum Bereich der wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben wie Gerechtigkeitsorientierungen Akzeptanzurteile gegenüber dem Wohl-fahrtsstaat motivieren können.

Auch aus der »Steuerwiderstandsforschung« lassen sich Einsichten über die Akzep-tanz der sozialen Sicherung gewinnen (vgl. u.a. Brook et al. 1996; Confalonieri/New-ton 1995; Edlund 1999; Hadenius 1986; Sanders 1988). Sie ist jedoch nicht mit der Akzeptanz sozialer Sicherung gleichzusetzen, da der Erkenntnisgegenstand, die Fra-ge der gewünschten staatlichen Aktivität, einerseits weiter gefasst ist (nicht auf den

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3.1 Hintergründe und zentrale Ergebnisse der Akzeptanzforschung 59

Bereich der Sozialpolitik begrenzt), zugleich aber auf das Verhältnis Staat – Bürger fokussiert.

Als vierter Forschungszweig, der der Akzeptanzforschung zum Wohlfahrts-staat wichtige Einsichten vermitteln kann, können Arbeiten angesehen werden, die sich mit »Armutsbildern« befassen. Hier liegen mittlerweile einige Arbeiten zur Wahr-nehmung von Armen bzw. von Sozialhilfeempfängern vor, die vor allem an die be-kannte Unterscheidung von »deserving« und »undeserving poor« anschließen (vgl. u.a. Cook/Barrett 1992; van Oorshot/Halman 2000; Will 1993). Selten sind dage-gen Untersuchungen des »Leistungsempfängerbildes« in anderen Sicherungsberei-chen (zur Arbeitslosenversicherung vgl. Brenke/Peters 1985).

Einen spezifischen Beitrag zur Erklärung der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz leis-ten schließlich auch qualitative Arbeiten, die sich mit Akzeptanzaspekten befassen (vgl. hierzu a. Ullrich 2002). Allgemein kann von einer qualitativen Akzeptanzforschung die Erfassung eines differenzierteren Akzeptanzbildes und insbesondere ein Auslo-ten der »Grenzen des Akzeptablen« (z.B. die Solidaritätsbereitschaft gegenüber »stig-matisierten« Adressatengruppen), die »Entdeckung« neuer Erklärungsfaktoren und vor allem auch die Beschreibung und Analyse komplexer Handlungsmotive und ihrer Verwendungskontexte erwartet werden (vgl. u.a. Hamann et al. 2001; Ullrich 2000b).

Die folgende Darstellung allgemeiner Forschungsergebnisse konzentriert sich auf die wohlfahrtsstaatliche Akzeptanzforschung im engeren Sinne sowie auf einige zentrale und allgemeine Befunde. Eingehendere Darstellungen zu spezifischen Teil-fragen erfolgen in den einzelnen empirischen Abschnitten von Kapitel 6.

Bei aller Zurückerhaltung, die ein so allgemeiner Überblick erfordert, können vier zentrale Ergebnisse der internationalen Akzeptanzforschung festgehalten wer-den:

(1) Das wohl übergreifende Ergebnis fast aller Untersuchungen zur Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und Programmen ist das einer insgesamt hohen Zustimmung zu Systemen der sozialen Sicherung und sozialpolitischen Zielen. Im Grundsatz gilt dies für alle entwickelten Wohlfahrtsstaaten. So erwies sich die ge-messene Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme nicht nur in Arbeiten zur Akzeptanz des deutschen Wohlfahrtsstaats meist als groß (vgl. u.a. Andreß et al. 2001; BMAS 1980, 1983; Dehlinger/Brennecke 1992; Gangl 1997; Krüger 1999; Roller 1992, 2000). Eine eher hohe Akzeptanz wurde z.B. auch für Großbritannien (Taylor-Gooby 1982, 1985, 1991, 1995; Whiteley 1981), Österreich (Bacher/Stelzer-Orthofer 1997; Norden 1986), die Niederlande (van Oorschot 2000a, 2000b; van Oorschot/Halman 2000), Schweden (u.a. Svallfors 1995, 1999, 2004), Finnland (u.a. Ervasti 2001; Forma 1997; Pöntinen 1988; Sihvo/Uusitalo1995), Norwegen (Pettersen 2001), Dänemark (Andersen 1993, 1999), Italien (Ferrera 1997), Israel (Cnaan 1989), Tschechien (Sirovatka 2002), Australien (Papadakis 1993; Smith/Wearing 1987) und – wenn zum Teil auch mit widersprüchlichen Ergebnissen – für die USA (vgl. u.a. Cook/Barrett 1992; Coughlin 1979; Feldman/Steenbergen 2001; Shapiro/Young 1989) festgestellt.

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60 3 Ergebnisse und Defizite der wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzforschung

Auch vergleichende Untersuchungen haben immer wieder die allgemein hohe Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen bestätigt (vgl. Bonoli 2000; Evans 1996; Mau 1998; Newton 1995; Papadakis/Bean 1993; Pettersen 1995; Roller 1995; Svallfors 2003). Darüber hinaus werden mittlerweile über einen recht langen Zeit-raum hohe Akzeptanzwerte festgestellt, sodass von einer recht hohen zeitlichen Sta-bilität positiver Akzeptanz auszugehen ist (Andreß et al. 2001: 146ff.; Evans 1996).

(2) Neben einer insgesamt eher hohen Akzeptanz werden aber auch sehr große Unterschiede zwischen den einzelnen Wohlfahrtsstaaten festgestellt. So zeigt sich immer wieder, dass die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates in den USA deutlich gerin-ger ist als in fast allen europäischen Ländern (vgl. u.a. Papadakis 1993; Ringen 1987; Shapiro/Young 1989; Svallfors 2003). Darüber hinaus sind aber nur schwer einheit-liche Muster auszumachen. Dies gilt insbesondere für Versuche, Akzeptanzunter-schiede zwischen den von Esping-Andersen (1990) unterschiedenen Typen von Wohlfahrtsregimen nachzuweisen. Hier sind die Ergebnisse (bzw. deren Interpreta-tion) zwar nicht übereinstimmend (vgl. u.a. Arts/Gelissen 2001; Bonoli 2000; Evans1996; Linos/West 2003; Mau 1997; Mehrtens 2004; Papadakis/Bean 1993; Svallfors 1993, 1997, 2003). Insgesamt scheinen aber die »Binnenvariationen« innerhalb eines Wohlfahrtsstaatstyps zu groß und die Unterschiede zwischen den Regimetypen zu gering, um von stabilen Mustern wohlfahrtsstaatlicher Akzeptanz zu sprechen, die den von Esping-Andersen vorgeschlagenen Typen (oder alternativer Typenvor-schläge) entsprechen.

(3) Weitgehende Übereinstimmung scheint dagegen darüber zu bestehen, dass es Akzeptanzunterschiede zwischen Leistungssystemen gibt und dass die Alterssi-cherungssysteme, dicht gefolgt von den Gesundheitssystemen, in den meisten Wohl-fahrtsstaaten die stärkste Zustimmung erfahren. Die Akzeptanzwerte für Arbeits-losenversicherungen und vor allem für Mindestsicherungs- und Fürsorgeleistungen zur Armutsbekämpfung (wie die Sozialhilfe) sind dagegen deutlich niedriger. Von einer hohen Akzeptanz des gesamten Wohlfahrtsstaates kann daher nicht gespro-chen werden. Ein breiter gesellschaftlicher Konsens ist in den meisten Wohlfahrts-staaten nur für einzelne, besonders »beliebte« Sicherungssysteme festzustellen.

Zudem bleiben bei diesen Unterschieden zwischen Sicherungssystemen wichti-ge Fragen offen: Zum einen sind hier einige »Anomalien« zu beobachten, zu denen u.a. die ungewöhnlich geringen Akzeptanzwerte der Rentenversicherung in Deutsch-land im ISSP-Modul »Role of Government III« (vgl. Ullrich 2005b: 218) und die re-lativ großen Schwankungen im Zeitverlauf (etwa in Großbritannien) zu zählen sind.

Vor allem fehlt es an überzeugenden Erklärungsangeboten für die beobachte-ten Akzeptanzunterschiede. Einer schlüssigen Erklärung am nächsten kommen da-bei wohl Versuche, diese entweder auf spezifische Systemmerkmale (z.B. Universa-lität, Beitragsprinzip) oder auf die Wahrnehmung und die »Popularität« der jeweili-gen Leistungsempfänger zurückzuführen (vgl. u.a. Cook/Barrett 1992; Gevers et al. 2000; Gelissen 2001; Ullrich 2001). Akzeptanzunterschiede zwischen den einzelnen

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3.1 Hintergründe und zentrale Ergebnisse der Akzeptanzforschung 61

Sicherungsbereichen könnten aber auch auf unterschiedliche Sicherungsbedarfe bzw. Risikowahrnehmungen zurückzuführen sein oder schlicht auf ein stärkeres Eigeninteresse einer »größeren Zahl« potenzieller Leistungsempfänger.

(4) Eher geringe Übereinstimmung zwischen einzelnen Untersuchungen herrscht hinsichtlich der Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme in den einzelnen Bevölke-rungsteilen. Eindeutig, wenn auch wenig überraschend, scheint hier nur die höhere Akzeptanz bei den jeweils begünstigten Versorgungsklassen. Widersprüchlich sind dagegen die Ergebnisse hinsichtlich der Unterschiede zwischen verschieden sozialen Lagen (wie Schicht und Klasse, Einkommen, Alter und Geschlecht) sowie zwischen Anhängern unterschiedlicher Parteien.

Der alles in allem aber scheinbar so eindeutige (und »positive«) Befund einer hohen Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates wird schließlich dadurch relativiert, dass Leistungskürzungen und alternative, insbes. private Absicherungsformen nicht in gleichem Maße abgelehnt werden, wie den wohlfahrtsstaatlichen Sicherungsformen zugestimmt wird. Denn von einer alternativlosen Befürwortung der bestehenden Regelungen kann – soweit man dies aus den eher spärlichen empirischen Ergebnissen ablesen kann – nicht die Rede sein: Offenbar können sich viele Befragte ganz unterschiedli-che und gleichermaßen »akzeptable« Absicherungsformen vorstellen, auch wenn ein Teil der Autoren eine nach wie vor geringe Reformbereitschaft der Bürger beklagt.

Eine Bereitschaft, auch andere Formen der sozialen Sicherung zu akzeptieren, scheint dabei jedoch nicht nur gegenüber privaten – und wenn so man will: weniger solidarischen – Formen der Absicherung zu bestehen. Auch für Aufgaben, die zu-mindest in liberalen und konservativen Wohlfahrtsstaaten nicht zum wohlfahrts-staatlichen Selbstverständnis gehören (wie Mindestsicherungen, die Reduzierung von Einkommensungleichheit oder die staatliche Arbeitsbeschaffung) wurden in Umfra-gen wiederholt eine mehr oder weniger deutliche Zustimmung in der Bevölkerung festgestellt (vgl. u.a. Roller 2000).

Schwerer als diese hier nur angedeuteten Relativierungen des »positiven« Ak-zeptanzbildes wiegen jedoch methodische Einwände, die selbst beim allgemeinen Ergebnis einer hohen Akzeptanz Anlass zu massiven Zweifeln geben. Diese metho-dischen Einwände beziehen sich zum einen auf die Art, wie die Akzeptanz sozialer Sicherungsleistungen gemessen wird, und zum anderen auf die Faktoren, die zur Er-klärung der gemessenen Akzeptanz herangezogen werden.

3.2 Akzeptanzmessung und Akzeptanzerklärung: Defizite und Aporien

Probleme der Akzeptanzmessung

Die Akzeptanz oder Unterstützung sozialer Sicherungssysteme wird vorwiegend mit zwei Akzeptanzindikatoren gemessen, die mit Roller (1992) als Extensität und In-

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62 3 Ergebnisse und Defizite der wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzforschung

tensität wohlfahrtsstaatlicher Politik bezeichnet werden können.48 Mit »Extensität« ist die gewünschte staatliche Zuständigkeit für sozialpolitische Ziele gemeint. Dabei gilt ein hohes Maß an gewünschter staatlicher Zuständigkeit als hohe Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates. Wird von den Befragten also der Staat als primär zuständig für die Absicherung im Alter, bei Krankheit usw. wahrgenommen, wird dies als hohe Akzeptanz der bestehenden sozialpolitischen Renten- und Gesundheitssysteme in-terpretiert.

Als »Intensität« wird dagegen die Beurteilung des Leistungsniveaus bezeichnet, wobei eine Befürwortung von Leistungserhöhungen (genauer: höherer Ausgaben der Regierung) als positive Akzeptanz interpretiert wird. Während der Extensitätsin-dikator die gewünschte staatliche Zuständigkeit misst, geht es hier also um den ge-wünschten Grad dieser Zuständigkeit. Intensitätsindikatoren sind daher eher geeig-net, die Akzeptanz oder Beliebtheit einzelner Sicherungssysteme – und entsprechende Unterschiede zwischen den Sicherungssystemen – zu erfassen.

Betrachtet man jedoch etwas genauer, worauf diese Akzeptanzindikatoren zie-len (und vor allem: worauf nicht), kommen schnell Zweifel auf, ob hier auch tat-sächlich die Akzeptanz bestehender Wohlfahrtsinstitutionen gemessen wird:

So wird die staatliche Zuständigkeit (oder Verantwortung) meist »absolut« er-hoben, nur selten dagegen relativ, nämlich im Vergleich mit Alternativen, ins-bes. betrieblichen und privaten Absicherungsformen. Dadurch kann der fal-sche Eindruck entstehen, dass die entsprechenden Aufgaben nur vom Wohl-fahrtsstaat übernommen werden können. Vor diese falsche Alternative gestellt (entweder der Wohlfahrtsstaat erfüllt diese Funktion oder sie bleibt unerfüllt), wird manch ein Befragter einer staatlichen Zuständigkeit eher zustimmen als dies der Fall wäre, wenn ihm weitere Alternativen (z.B. betriebliche Vorsorge oder karitative Leistungen) angeboten worden wären.49

Fraglich ist zudem, ob mit der gewünschten Extensität sozialpolitischer Absi-cherung auch die Akzeptanz des bestehenden Wohlfahrtsstaates erfasst wird. Denn die gewünschte Zuständigkeit gibt ja zunächst nur Auskunft über den »idealen« Wohlfahrtsstaat; über die Akzeptanz des bestehenden Wohlfahrts-staates kann man nur indirekt – nämlich über einen Soll-Ist-Vergleich – Ver-mutungen anstellen.Ähnlich verhält es sich bei der Intensität. Auch bei der gewünschten Verände-rung der Ausgabenhöhe (die Regierung sollte mehr oder weniger für eine Auf-gabe ausgeben) darf bezweifelt werden, ob tatsächlich Akzeptanzurteile über

48 Seltener werden auch Indikatoren des Institutionenvertrauens (vgl. u.a. Dallinger 2003; Wendt

2003) und die Zufriedenheit mit der eigenen Absicherung (Bulmahn/Mau 1996) zur Beurteilung der Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme herangezogen.

49 Eine Ausnahme ist hier die im Wohlfahrtssurvey (1984, 1988) gewählte Form der Frageformulierung (vgl. Roller 1992: 113).

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3.2 Akzeptanzmessung und Akzeptanzerklärung: Defizite und Aporien 63

bestehende Sicherungssysteme erfasst werden. Beide Akzeptanzindikatoren mes-sen Idealvorstellungen oder ein »gewünschtes Maß an Wohlfahrtsstaatlichkeit«, nicht aber die Akzeptanz des wohlfahrtsstaatlichen Status quo.50 Man muss da-her davon ausgehen, dass durch diese Art der Akzeptanzmessung ein zu positi-ves Bild der Unterstützung bestehender Wohlfahrtsstaaten gezeichnet wird.51

Insbesondere in älteren Umfragen wurden beide Akzeptanzindikatoren zudem häufig ohne eine Verknüpfung mit den entsprechenden Kosten verwendet. Zudiesen Kosten gehören in erster Linie die direkten Belastungen der Adressaten in Form von Steuern und Beiträgen. Für die meisten Befragten dürfte es aber wohl außer Frage stehen, sich einen möglichst umfangreichen Sozialstaat mit hohem Leistungsniveau zu wünschen, solange damit keine Kostenerhöhungen verbunden sind. Wenn Leistungserhöhungen also »kostenlos« erscheinen, liegt der Verdacht nahe, dass vor allem Fragen nach dem gewünschten Ausgabenni-veau zu einem viel zu positiven Bild der Akzeptanz sozialer Sicherungsleistun-gen führen.52

Kritisch kann gegen die Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat schließlich auch eingewendet werden, dass die Bewertung der Extensität und Intensität wohlfahrtsstaatlicher Leistungen durch das »framing« der Fragen beeinflusst wird (Kangas 1997: 486ff.; Smith 1987). Zudem finden sich Belege für die »The-se der abnehmenden Zustimmung bei steigender Konkretisierung der Ziele« (Dehlinger/Brennecke 1992: 234). Demzufolge ist die Akzeptanz immer dann hoch, wenn Zielsetzungen sehr allgemein formuliert werden, aber zumindest deutlich geringer (oder gar »negativ«), wenn nach spezifischen Aufgaben oder Leistungsempfängergruppen gefragt wird (Kangas 1997: 483ff.).53

50 Zur Unterscheidung dieser beiden grundlegenden Akzeptanzdimensionen vgl. Abschnitt 4.2. 51 So ist etwa nicht einzusehen, warum die Befürwortung von Leistungserhöhungen eine positive

Akzeptanz einer Leistungsart anzeigen soll. Vielmehr kann hierin ein Ausdruck von Unzufriedenheit mit dem bestehenden Leistungsniveau gesehen werden. Dies verdeutlichen auch die durchgehend hohen Extensitäts- und Intensitätswerte in den osteuropäischen Wohlfahrtsstaaten, die im Durch-schnitt deutlich über denen westlicher Wohlfahrtsstaaten liegen.

52 Aufschlussreich ist, dass, wenn die Kosten in Form von Beitragserhöhungen in der Frageformulie-rung berücksichtigt werden, die Akzeptanzwerte deutlich niedriger sind. So sprachen sich in der Untersuchung von Cook und Barrett (1992: 63ff.) 73 Prozent der Befragten gegen Kürzungen von Sozialversicherungsleistungen aus, aber nur 58 Prozent erklärten sich zu höheren Steuern bereit, wenn dadurch Kürzungen vermieden werden.

53 Die hier nahe liegende Annahme einer besseren Qualität der Antworten auf spezifische Fragen und einer entsprechend »positiven« Verzerrung des Akzeptanzbildes bei allgemeinen Frageformu-lierungen ist jedoch voreilig. So kann eine höhere Zustimmung zu allgemeinen Zielen auch allein darin begründet sein, dass die Zahl der potenziellen Leistungsempfänger bei einer weiten Zieldefinition größer ist und daher mehr Befragte ein Eigeninteresse an den entsprechenden Leistungen haben.

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64 3 Ergebnisse und Defizite der wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzforschung

Insgesamt zeigt sich somit, dass die zumeist verwendeten Indikatoren der Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme sehr vorsichtig interpretiert werden müssen. Wenn überhaupt, so sind »Extensität« und »Intensität« Indikatoren der Wohlfahrts-staatlichkeit. In jedem Fall wäre es voreilig, aus der relativ großen Zustimmung für umfangreiche sozialpolitische Aktivitäten des Staates eine hohe Akzeptanz der be-stehenden Sicherungssysteme oder gar einen latenten öffentlichen Widerstand gegen sozialpolitische Reformen abzuleiten, die auf einen Rückbau des Sozialstaates hin-auslaufen.

Kritik der Akzeptanzerklärung

Ganz in der Tradition der politischen Einstellungsforschung werden zur Erklärung wohlfahrtsstaatlicher Akzeptanz sowohl Interessenindikatoren als auch kulturelle Faktoren herangezogen (vgl. u.a. Andreß et al. 2001; Roller 1992).

Individuelle Interessen werden dabei überwiegend aus der allgemeinen sozio-ökonomischen Lage und soziodemografischen Merkmalen (u.a. Alter, Schichtzuge-hörigkeit, Einkommen und Bildung) abgeleitet. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die individuelle soziale Position bereits grundlegende Interessen gegenüber den sozialen Sicherungssystemen bestimme (z.B. das Alter bei der Rentenversicherung). Zudem werden spezifische, erst durch das System der sozialen Sicherung definierte Interessenlagen herangezogen, vor allem das Eigeninteresse als Leistungsempfänger (Rentner, Arbeitsloser etc.). Vergleichsweise selten sind dagegen Versuche, Akzep-tanzurteile auf »subjektive Interessendefinitionen« wie Reziprozitätserwartungen (Bowles/Gintis 2000) oder den individuellen Sicherungsbedarf zurückzuführen.

Andere Erklärungsansätze stellen bei der Erklärung wohlfahrtsstaatlicher Ak-zeptanz demgegenüber zusätzlich auf grundlegende kulturelle Orientierungen ab. Dies können allgemeine, meist nationale, Ideologien wie (anglo-amerikanischer) Indi-vidualismus und (kontinentaleuropäischer) Kollektivismus sein (Coughlin 1979) oder aber spezifische Wertdimensionen mit individuell unterschiedlichen Ausprägungen wie politische Orientierungen, Postmaterialismus/Materialismus (Roller 1992) oder Gerechtigkeitsorientierungen (u.a. Kluegel/Miyano 1995; Marshall et al. 1999).

Sowohl die Interessenindikatoren als auch die kulturellen Orientierungen, die zur Erklärung sozialpolitischer Akzeptanzurteile herangezogen werden, weisen jedoch meist keinen spezifischen Bezug zu wohlfahrtsstaatlichen Aspekten auf. Die von ihnen erwarteten Kausalwirkungen sind entsprechend unspezifisch, wenn sie nicht sogar völlig unklar bleiben. Dies wirkt sich abträglich auf den Erklärungswert der einzelnen Erklärungsfaktoren aus. Entsprechend unbefriedigend sind die Ergebnis-se der Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat, wenn man die Befunde der Ak-zeptanzforschung in ihrer Gesamtheit betrachtet. Denn auch wenn in vielen Unter-suchungen kausale Zusammenhänge gefunden werden, sind die Ergebnisse insge-samt sehr widersprüchlich.

Page 65: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

3.2 Akzeptanzmessung und Akzeptanzerklärung: Defizite und Aporien 65

So konnte z.B. in einigen Untersuchungen ein Einfluss von Einkommens-, Bil-dungs-, Berufs- und Klassenunterschieden aufgezeigt werden (vgl. u.a. Dehlinger/Bren-necke 1992; Gangl 1997; Svallfors 1995, 2004), in anderen gelang ein solcher Nach-weis jedoch nicht (vgl. u.a. Cook/Barrett 1992: 155ff.; Roller 1992; Taylor-Gooby 1991).54 Dieser scheinbare Widerspruch könnte zum Teil auf die unterschiedlichen nationalen Voraussetzungen zurückzuführen sein. So haben Esping-Andersen (1990) und viele andere die These vertreten, dass nur in liberalen Wohlfahrtsstaaten Klas-sengegensätze in stärkerem Maße bestehen (bleiben), während ihre Bedeutung für die Unterstützung konservativer und sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaaten zumin-dest abnimmt.

Eindeutig scheint dagegen, dass sich das unmittelbare Eigeninteresse als Leis-tungsempfänger positiv auf die Beurteilung des entsprechenden Leistungssystems auswirkt (vgl. u.a. Blekesaune/Quadango 2003; Cook/Barrett 1992, Dehlinger/Bren-necke 1992; Gangl 1997; Gelissen 2000; Roller 1992; Svallfors 2003). Dies kann je-doch kaum überraschen, insbesondere wenn Akzeptanz als Befürwortung höherer Ausgaben gemessen wird. Überraschend(er) ist vielmehr, dass die Akzeptanz der meisten Sicherungssysteme auch bei Befragten hoch ist, die keine Leistungen erhal-ten und (z.B. aufgrund ihrer ökonomischen Situation oder ihres Berufes) auch nicht damit rechnen können, innerhalb eines überschaubaren Zeithorizonts Leistungen zu erhalten.

Auch für den Einfluss von Ideologien, politischen Orientierungen und Wert-überzeugungen ergeben die Forschungsarbeiten kein einheitliches Bild. So konnten in mehreren Untersuchungen Zusammenhänge zwischen spezifischen Wertorientie-rungen und Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat nachgewiesen werden (vgl. u.a. Ble-kesaune/Quadango 2003; Gangl 1997; Gelissen 2000; van Oorshot 2000). Häufig werden aber auch keine oder nur schwache Zusammenhänge gefunden (vgl. u.a Coughlin 1979, Feldman/Zaller 1992; Roller 1992; Taylor-Gooby 1983).

Ein möglicher Grund für diese widersprüchlichen Ergebnisse ist, dass unter-schiedliche Wertedimensionen verwendet werden. So lässt sich zumindest vermu-ten, dass für Wertorientierungen mit einem relativ engen Wohlfahrtsstaatsbezug (wie Solidaritätsvorstellungen und egalitaristische Gerechtigkeitsüberzeugungen) eher ein Einfluss auf Akzeptanzurteile gegenüber der sozialen Sicherungssystemen nach-gewiesen werden kann. Dagegen lässt sich ein solcher Einfluss für allgemeine Wert-

54 Eine Ausnahme ist hierbei die Altersvariable, für die zumindest in einigen Untersuchungen ein

relativ konsistenter Einfluss auf die Beurteilung »altersspezifischer« Programme (z.B. Rentenversi-cherung, Bildungsausgaben) gefunden werden konnte (vgl. Cook/Barrett 1992: 154; Dehlinger/-Brennecke 1992; Taylor-Gooby 1983), wobei das Alter hier jedoch deutlich mit dem Interesse als Leistungsempfänger kovariiert.

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66 3 Ergebnisse und Defizite der wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzforschung

haltungen (z.B. Postmaterialismus) und für politische Orientierungen, wie insbeson-dere für die Parteiaffinität, offenbar nicht bestätigen.55

Ingesamt ist zu konstatieren, dass der Kenntnisstand über die Bedeutung von Interessen- und Wertorientierungen für die Akzeptanzurteile gegenüber sozialen Sicherungssystemen unbefriedigend ist. Übereinstimmung hinsichtlich der Einfluss-faktoren besteht zwischen den einzelnen empirischen Untersuchungen nur bei Va-riablen, deren Erklärungswert – wie beim Eigeninteresse als Leistungsempfänger – nahezu selbstevident ist.

Eine Änderung dieser Situation scheint nur dadurch möglich, dass diese Er-wartungen über spezifische Kausalwirkungen jeweils explizit formuliert werden und dass nur solche Variablen zur Erklärung von Akzeptanzurteilen herangezogen wer-den, für die ein entsprechender Einfluss theoretisch begründet werden kann. Dar-über hinaus erfordert eine adäquate Erklärung der Akzeptanzurteile die Entwick-lung kontextspezifischer Erklärungsfaktoren wie die subjektive Risikoeinschätzung oder spezifische normative Orientierungen.

Die hier nur kursorisch dargelegten Probleme und Aporien der Akzeptanzfor-schung zum Wohlfahrtsstaat56 verdeutlichen, dass die Untersuchungen in ihrer Ge-samtheit kaum eindeutige und zuverlässige Aussagen über das Ausmaß und über die Ursachen der Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme zulassen. Zu kritisieren ist aber vor allem, dass aufgrund einseitiger Operationalisierungen (der Wohlfahrtsstaatlich-keit) ein wahrscheinlich unrealistisch »positives« Ergebnis erzeugt wird.

Der wichtigste Grund für die unbefriedigenden Ergebnisse der Forschungen zur Akzeptanz sozialer Sicherung ist vor allem das Fehlen geeigneter Indikatoren. Gezielte und umfassende Primärerhebungen wie von Cook und Barrett (1992) oder wie die niederländische TISSER-Studie (vgl. u.a. van Oorschot 2000a, 2000b; van Oorschot/Halman 2000) sind nach wie vor die Ausnahme. Arbeiten auf der Basis von Primärdaten liegen daher auch nur für wenige Wohlfahrtsstaaten vor und feh-len praktisch völlig für den Wohlfahrtsstaatsvergleich.

Gerade hier ist man ausschließlich Einstellungsmessungen im Rahmen des Eurobarometers, des International Social Survey Programme und anderer Umfrage-programme (z.B. der European Values Study) angewiesen. Die dort verwendeten Fragen sind jedoch meist zu unspezifisch und vor allem zu spärlich, um hinreichen-den Aufschluss über die Art und die Ursachen der sozialen Akzeptanz wohlfahrts-staatlicher Institutionen geben zu können.

Die erste Voraussetzung für eine tragfähige Akzeptanzforschung im Bereich der sozialen Sicherung ist daher die Erhebung von Primärdaten. Denn nur dies er-

55 Ähnlich wie bei der sozialen Position (bzw. Klassenlage) ist jedoch auch hier denkbar, dass der Ein-

fluss von politischen Orientierungen in den einzelnen Wohlfahrtsstaaten sehr unterschiedlich ist. Ent-scheidend dafür, ob die Parteiaffinität die Akzeptanzurteile beeinflusst, dürfte dabei sein, wie sehr pro- und anti-wohlfahrtsstaatliche Haltungen durch parteipolitische Gegensätze geprägt sind.

56 Für eine ausführlichere Auseinandersetzung vgl. insbes. Ullrich (2000a).

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3.2 Akzeptanzmessung und Akzeptanzerklärung: Defizite und Aporien 67

laubt eine differenzierte Erfassung von Akzeptanzurteilen durch die Verwendung von Akzeptanzindikatoren, die die unterschiedliche Aspekte oder Dimensionen von Akzeptanz erfassen. Auf eine solche gezielte Primärerhebung zur »Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« stützen sich die empirischen Analysen in den Kapiteln 5 und 6. Eine kurze Beschreibung der Studie und eine ausführliche Erläuterung der verwen-deten Akzeptanzindikatoren und Erklärungsfaktoren erfolgt im nächsten Kapitel.

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4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz

Dieses Kapitel befasst sich mit den allgemeinen technischen und konzeptionellen Voraussetzungen der empirischen Analysen in den Kapiteln 5 und 6. Im ersten Abschnitt werden zunächst einige Rahmendaten der Umfrage »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« vorgestellt. Im folgenden Abschnitt werden dann die Indikato-ren erläutert, mit denen die Wohlfahrtsstaatsakzeptanz erfasst wird (4.2). Zugleich wird hier das »Akzeptanzobjekt Wohlfahrtsstaat« näher bestimmt. In Abschnitt 4.3 werden schließlich die wichtigsten Faktoren dargelegt, die zur Erklärung der sozia-len Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen herangezogen werden.

4.1 Angaben zur Umfrage »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates«

Die Datengrundlage für die empirischen Analysen in den Kapiteln 5 und 6 bildet eine Umfrage zur Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen in der Bundesrepu-blik Deutschland, die im Rahmen des Forschungsprojektes »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« durchgeführt wurde.57 Diese Umfrage war direkt auf die Erfas-sung von Akzeptanzurteilen zu Systemen der sozialen Sicherung ausgerichtet. Zum einen sollte dadurch ein repräsentativeres Bild über die Akzeptanz wohlfahrtsstaatli-cher Institutionen in der Bundesrepublik Deutschland ermöglicht werden. Darüber hinaus zielte diese Umfrage auf die Erfassung eines breiten Spektrums möglicher Einflussfaktoren für die Erklärung der Akzeptanzurteile.

Die Erhebung fand im Sommer 2004 statt. Ingesamt wurden 1534 standardi-sierte face-to-face-Interviews im paper&pencil-Verfahren durchgeführt (davon 1218 in West- und 316 in Ostdeutschland).58 Das Erhebungsgebiet war die Bundesrepu-blik Deutschland, die Grundgesamtheit bildete die deutschsprachige erwachsene Wohnbevölkerung in privaten Haushalten. Der Befragung lag ein umfangreicher

57 Hierbei handelt es sich um ein von der Fritz Thyssen-Stiftung gefördertes Eigenprojekt, das von

Herbst 2002 bis Ende 2005 am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) durchgeführt wurde.

58 Die Erhebung wurde durch ein externes Forschungsinstitut im Random-Route-Verfahren (vgl. hierzu Diekmann 1999: 332ff.) durchgeführt.

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4.1 Angaben zur Umfrage »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« 69

Fragebogen zugrunde, der thematisch ausschließlich auf die verschiedenen Aspekte der sozialen Sicherung und entsprechende Akzeptanzurteile fokussierte.

Bei der Entwicklung des Fragebogens wurden in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) in Mannheim kognitive Pretests59 eingesetzt. Durch gezielte Nachfragen und das Protokollieren von »Spon-tanreaktionen« konnten die Verständlichkeit und der Schwierigkeitsgrad der Fragen überprüft und etwaige Mehrdimensionalitäten aufgedeckt und eliminiert werden.60

Aufgrund dieses Forschungsdesigns ist das Projekt »Die Akzeptanz des Wohl-fahrtsstaates« die erste Untersuchung für die Bundesrepublik Deutschland, die sich in größerem Umfang auf gezielt erhobene Primärdaten zur Akzeptanz wohlfahrts-staatlicher Sicherungssysteme stützen kann. Damit kann für den deutschen Wohl-fahrtsstaat erstmalig von einer sowohl »dichten«als auch »breiten« Erfassung der Akzeptanz sozialer Sicherungsinstitutionen ausgegangen werden: Sie ist »dicht«, weil jeweils ganze Sätze von Indikatoren, die auf jeweils andere Akzeptanzaspekte zielen, verwendet wurden; und sie ist »breit«, weil sie einen weiten Bereich sozialer Siche-rungseinrichtungen abdeckt. Insgesamt wurden zu fünf zentralen sozialpolitischen Bereichen Akzeptanzurteile erhoben. Im Einzelnen sind dies die Bereiche Alterssi-cherung (vornehmlich Gesetzliche Rentenversicherung), Gesundheitsversorgung und Gesetzliche Krankenversicherung, Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenversicherung, Armut und Sozialhilfe sowie der Bereich familienpolitischer Leistungen. Ergänzt wurden Fragen zu Aspekten der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« (vgl. 4.2).

Grundsätzlich müssen zur Untersuchung der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen drei konzeptionelle Fragen befriedigend gelöst werden: Dies sind die Bestimmung des Akzeptanzobjekts, die Frage der Akzeptanzmessung und die Festle-gung der möglichen Erklärungsfaktoren. Die beiden ersten Aspekte, die sich nur ana-lytisch trennen lassen, werden im folgenden Abschnitt, die möglichen Erklärungs-faktoren in 4.3 erörtert.

59 Zu den Verfahrensweisen in kognitiven Pretests vgl. Prüfer/Rexroth (1996). 60 Für die Entwicklung des Erhebungsinstruments konnte zudem auf umfangreiche Erkenntnisse aus

zwei qualitativen Forschungsprojekten zur Akzeptanz einzelner Sicherungsbereiche zurückgegriffen werden (vgl. u.a. Hamann et al. 2001; Karl et al. 2002; Ullrich 2000b, 2004, 2005a).

4.2 Indikatoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz

Wie in Kapitel 2.1.2 ausgeführt wurde, kann man als Akzeptanz allgemein die Zu-stimmung (positive Akzeptanz) oder Ablehnung (negative Akzeptanz) von Ent-scheidungen und institutionellen Regelungen bei den davon als »Objekte« (nicht als Entscheidungsträger) Betroffenen definieren. Die Erfassung von Akzeptanz ist da-bei nicht so einfach, wie man vielleicht auf den ersten Blick meinen könnte.

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70 4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz

So stellen sich mehrere Definitions- und Messprobleme. Vor allem ist Akzep-tanz im Allgemeinen nicht direkt messbar. Gilt dies noch grundsätzlich für alle Ak-zeptanzbereiche, so steht die Akzeptanzforschung zu wohlfahrtsstaatlichen (und anderen staatlichen) Bereichen vor dem zusätzlichen Problem, dass die jeweiligen Adressaten den Entscheidungen der staatliche Akteure meist ohne »realistische« exit-Möglichkeiten ausgesetzt sind und somit quasi zur »Hinnahme« der entspre-chenden Entscheidungen gezwungen werden. Während man also etwa bei der Tech-nik- oder Produktakzeptanz diese anhand der Diffusion (neuer Techniken) oder schlicht am Verkauf eines Produktes zumindest implizit messen kann, steht eine solche Option bei politisch bindenden Entscheidungen nicht zur Verfügung.

Zudem ist Akzeptanz – auch dies ging bereits aus der Darstellung in Abschnitt 2.1 hervor – ein mehrdimensionales Phänomen. So ist es zwar grundsätzlich mög-lich, von »der« Akzeptanz »des« Wohlfahrtsstaates zu sprechen – sinnvoller scheint es jedoch, von unterschiedlichen Akzeptanzdimensionen auszugehen. Wenn diese auch erst in ihrer Gesamtheit ein vollständiges Akzeptanzbild ergeben, so ist zu-nächst davon auszugehen, dass die einzelnen wohlfahrtsstaatlichen Bereiche und Organisationsprinzipien auf unterschiedliche Akzeptanz stoßen und dass für ihre Akzeptanz zudem jeweils unterschiedliche Erklärungen gefunden werden müssen. In der Umfrage »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« wurde dieser Mehrdimen-sionalität von Akzeptanz dadurch Rechnung getragen, dass mehrere, auf unter-schiedliche Akzeptanzaspekte zielende Indikatoren verwendet wurden.

Der Auswahl bzw. Konstruktion von Akzeptanzindikatoren und Erklärungs-faktoren lagen zwei Anforderungen zugrunde: Sie sollten möglichst plausibel und gegendstandsnah sein sowie unterschiedliche Akzeptanzdimensionen berücksichti-gen. Zugleich sollte ein Höchstmaß an Anschlussfähigkeit an die bisherige Akzep-tanzforschung gewährleistet werden. Sich daraus ergebende Zielkonflikte wurden jedoch meist zugunsten der theoretischen Plausibilität entschieden. Dies hat zwei wesentliche Konsequenzen: zum einen, dass »etablierte« Akzeptanzindikatoren zum Teil entscheidend modifiziert wurden, und zum anderen, dass zur Erfassung der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz weitere Indikatoren ergänzt wurden.

Von grundlegender Bedeutung ist die Unterscheidung von zwei Akzeptanzdi-mensionen, der Akzeptanz des Status quo und der Akzeptanz der Wohlfahrtsstaat-lichkeit. Die Akzeptanz des Status quo bezieht sich auf den Ist-Zustand, auf die kon-kret existierenden wohlfahrtsstaatlichen Institutionen, und damit auf das »Wie« des bestehenden Wohlfahrtsstaates. Mit der zweiten Akzeptanzdimension, der Wohlfahrts-staatlichkeit werden alle Präferenzen und Vorstellungen umschrieben, die sich auf das »richtige« Maß der Absicherung beziehen. Dies gilt sowohl für die »Breite« der so-

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4.2 Indikatoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz 71

zialen Sicherung – die Grenzen des Bereiches, der als wohlfahrtsstaatlich (oder so-zialpolitisch) gelten soll – als auch für das »Niveau« der Absicherung.61

Die Berücksichtigung dieser zwei Akzeptanzdimensionen ergibt sich zum einen aus der theoretischen Feststellung, dass Wohlfahrtsstaatsakzeptanz ganz wesentlich die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen ist (vgl. Abschnitt 2.1.2), und zum anderen aus der Kritik an der Akzeptanzforschung. Dieser wurde vorgehalten, dass sie sich zu sehr auf Einstellungen zu wohlfahrtsstaatlichen Zielen stützt, den Institu-tionenaspekt entsprechend vernachlässigt und aus diesem Grund zu einer Über-schätzung der Akzeptanz kommt (vgl. Abschnitt 3.2). Hier wird demgegenüber da-von ausgegangen, dass sich ein vollständiges Bild der sozialen Akzeptanz wohl-fahrtsstaatlicher Institutionen erst aus beiden Dimensionen zusammensetzt, also so-wohl aus der Akzeptanz bestehender Sicherungssysteme und Regelungen als auch aus den allgemeinen Präferenzen hinsichtlich der Wohlfahrtsstaatlichkeit.

Vordergründig weist die Unterscheidung von wohlfahrtsstaatlichem Status quo und Wohlfahrtsstaatlichkeit Ähnlichkeiten mit der von Roller (1992) vorgeschlage-nen Konzeption auf. Roller unterscheidet bekanntlich wohlfahrtsstaatliche Ziele, die sie in die wohlfahrtsstaatliche »Extensität« (staatliche Zuständigkeit) und »Intensität« (Leistungshöhe) unterteilt, Mittel (Programme und Institutionen), sowie Folgen (ein-schließlich der nicht-intendierten Nebenfolgen).62 Vor allem die Unterscheidung der »Extensität« und »Intensität« wohlfahrtsstaatlicher Ziele kann mittlerweile als in der Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat etabliert gelten. Zugleich ist darin aber auch der Ausdruck einer übermäßigen Fixierung auf die Zieldimension zu sehen. Nicht zuletzt wohl den Formulierungsanforderungen in internationalen Umfragen wie dem Eurobarometer und dem ISSP geschuldet, werden vor allem Items ver-wendet, die sehr allgemein – und das heißt immer auch: unabhängig von den kon-kreten wohlfahrtsstaatlichen Institutionen – formuliert sind. Dies führt zu einer Ver-engung der Akzeptanzperspektive auf die Zieldimension und zu einer entsprechen-den Vernachlässigung der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen (für eine diesbezüglich instruktive Übersicht vgl. a. Andreß et al. 2001: 24). Wie in Abschnitt 3.2 ausgeführt wurde, hat dies zur Folge, dass man in entsprechenden Untersuchungen vergleichs-weise viel über Wunschvorstellungen über den Wohlfahrtsstaat, aber kaum etwas über die Beurteilung der wohlfahrtsstaatlichen Wirklichkeit erfährt.63

61 Bei beiden Akzeptanzdimensionen handelt es sich m.E. nicht um »Einstellungen«, sondern um

»Bewertungen« bzw. um »Präferenzen« (vgl. hierzu auch Rohwer/Pötter 2002: 41ff.). 62 Roller (1992) verwendet hier jedoch nicht den Akzeptanzbegriff, sondern lehnt sich eng an die po-

litische Einstellungsforschung an. Konsequenterweise spricht sie daher auch von Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat sowie von Einstellungsobjekten. Hier kann nicht weiter erörtert werden, inwiefern neben dem terminologischen auch konzeptionelle Unterschiede bestehen. Es sei jedoch angemerkt, dass es zumindest als fraglich gelten muss, ob man, wie Roller anzunehmen scheint, Einstellungen gegenüber Folgen haben kann.

63 Auch der Versuch von Andreß et al. (2001: 86ff.), Rollers Unterscheidung von Extensität und In-tensität mit inhaltlichen Aspekten (Sozialpolitikbereichen) zu verknüpfen, stellt keinen Ausweg aus

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72 4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz

Aber auch über diese Perspektivenverengung hinaus wird die konzeptionelle Unterscheidung von wohlfahrtsstaatlichen Zielen, Mitteln und Folgen als einzelne Akzeptanzobjekte in der Forschungspraxis schnell problematisch. So sind die in Umfragen erhobenen Ziele – näher betrachtet – im Allgemeinen gar keine Ziele, sondern eher »Aufgabenzuschreibungen« an den Wohlfahrtsstaat (z.B. mehr Geld für etwas auszugeben).64 Entsprechende Präferenzen ermöglichen daher bestenfalls indirekte Rückschlüsse über die Akzeptanz der damit verbundenen Ziele – und dies auch nur mit hoher Unsicherheit, da solche Aufgabezuschreibungen nicht immer einwandfrei allgemeinen sozialpolitischen Zielsetzungen zugerechnet werden kön-nen. Bei den Folgen wäre zwischen den unmittelbaren »outputs« sozialer Sicherungs-systeme (z.B. Renten) und den weitreichenderen Wirkungen (oder »outcomes«) zu unterscheiden. Dabei stellt sich bei den »outputs« das Problem, dass sie bestenfalls analytisch von der Institutionenebene zu trennen sind. So macht es etwa wenig Sinn, von Renten als einer Folge der Rentenversicherung zu sprechen. In den »out-comes« ist dagegen eher eine Ursache für Akzeptanzurteile gegenüber Sicherungs-systemen als ein eigenständiges Akzeptanzobjekt zu sehen. Ein »angemessener Le-bensstandard älterer Menschen« ist z.B. eine Wirkung, die zu einer positiven Beur-teilung der Rentenversicherung führen kann, aber wohl kaum ein eigenständiges wohlfahrtsstaatliches Akzeptanzobjekt.

Akzeptanz der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Institutionen (Status quo)

Für die Akzeptanz der bestehenden Form der sozialen Sicherung (des wohlfahrts-staatlichen Status quo) stehen zwei Typen von Indikatoren zur Verfügung. Der erste zielt auf die Beurteilung des allgemeinen »gesellschaftlichen Wertes« bzw. Nut-zens der einzelnen sozialen Sicherungssysteme. Die Frage nach dem gesellschaftli-chen Wert kann dabei als »allgemeinstes« Maß der Akzeptanz sozialer Sicherungsin-stitutionen gelten, weil hier ohne eine spezifische Bezugnahme (z.B. auf die Wirkun-gen) zu einer allgemeinen Beurteilung aufgefordert wird. Dieser Indikator wird im Folgenden als allgemeine oder »Institutionenakzeptanz« bezeichnet.

Die Institutionenakzeptanz wurde für insgesamt fünf Leistungsbereiche (Ge-setzliche Krankenversicherung, Gesetzliche Rentenversicherung, Arbeitslosenversi-cherung, Sozialhilfe sowie Leistungen für Familien) erfasst. Der beigemessene »ge-sellschaftliche Wert« der Sicherungssysteme wurde dabei mit einer endpunktbe-schrifteten Skala von 0 (Beurteilung des Sicherungssystems als »sehr schlecht«) bis

dieser Verengung der Akzeptanzperspektive auf die Zielebene dar und ist konzeptionell insofern nicht weiterführend.

64 Dass allgemeine sozialpolitische Ziele gemeinhin kein Gegenstand der Akzeptanzforschung sind, dürfte in erster Linie auf die Schwierigkeit zurückzuführen sein, diese zu messen. Ziele wie »soziale Sicherheit«, »Chancengleichheit«, »gesellschaftliche Teilhabe« oder »soziale Gerechtigkeit« sind hierfür wohl auch zu vage und mehrdeutig.

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4.2 Indikatoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz 73

10 (»sehr gut«) erhoben (zur genauen Frageformulierung und Skalierung s. Anhang A2.1).

Die Institutionenakzeptanz war in dieser Form kein Bestandteil früherer Um-fragen zur Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme. Anders verhält es sich beim zwei-ten Indikator, dem Vertrauen in Sicherungssysteme.65 Das Systemvertrauen wurde für vier Sicherungssysteme – für die Gesetzliche Rentenversicherung, die Gesetzliche Krankenversicherung, die Arbeitslosenversicherung und die Sozialhilfe – mittels einer 4er-Skala (mit den Ausprägungen »ja, auf jeden Fall«, »eher ja«, »eher nein« und »nein, auf keinen Fall«) erfasst (vgl. Abbildung 4.1).

Wie Dallinger (2003: 5) für die Rentenversicherung hervorhebt, beziehen sich Vertrauensindikatoren im Unterschied zu den sonst meist verwendeten Extensitäts- und Intensitätsindikatoren stärker auf die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen. Während aber der Institutionenakzeptanz-Indikator – vor allem durch die Art der Frageeinleitung – dabei eher auf eine Beurteilung unabhängig von der individuellen »sozialpolitischen Situation« der Befragten abstellt, zielt der Vertrauens-Indikator zusätzlich auf die Berücksichtigung der individuellen Perspektive.66 Es kann inso-fern davon ausgegangen werden, dass die beiden Indikatoren der Akzeptanz des Status quo das gleiche Akzeptanzphänomen in leicht veränderter Perspektive und mit einer etwas anderen Akzentuierung erfassen.

Akzeptanz von Wohlfahrtsstaatlichkeit

Präferenzen hinsichtlich der Wohlfahrtsstaatlichkeit beziehen sich auf »Idealvorstel-lungen« vom Wohlfahrtsstaat. Dabei ist jedoch davon auszugehen, dass die entspre-chenden Präferenzen immer auch an den sozialpolitischen Realitäten orientiert sind, die ihnen gewissermaßen als Ankerpunkt dienen. Häufig werden sie daher auch als Wunsch nach einem »Mehr« oder »Weniger« im Vergleich zum Status quo der wohl-fahrtsstaatlichen Sicherung formuliert.

Vor allem wegen ihrer Berücksichtigung in den ISSP-Modulen »Role of Go-vernment« können dabei in der wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzforschung Indika-toren als etabliert gelten, die die gewünschte Leistungshöhe und Präferenzen hin-sichtlich des staatlichen Engagements in bestimmten Sicherungsbereichen zu erfas-sen versuchen. Seit Roller (1992) haben sich hierfür die Bezeichnungen »Intensität« (für die gewünschte Leistungshöhe bzw. gewünschte Richtung der Veränderung des Leistungsniveaus) und »Extensität« (für die gewünschte staatliche Zuständigkeit) eingebürgert. Auch in der Befragung »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« wur-

65 So enthielt z.B. der Allbus 2000 eine Frage zum Vertrauen in die Gesetzliche Rentenversicherung

(vgl. Dallinger 2003). 66 Dies ergibt sich bereits aus der Logik von »Vertrauensfragen«, denn wie sollte »man« vertrauen

können, wenn »man selbst« dies nicht tut (und vice versa). Diese allerdings eher feinen Unterschiede wurden im Übrigen auch durch die kognitiven Pretests bestätigt.

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74 4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz

den diese beiden Dimensionen der Wohlfahrtsstaatlichkeit erfasst, wobei jedoch versucht wurde, die bisher damit zusammenhängenden Probleme (vgl. a. 3.1) soweit wie möglich zu vermeiden.

(1) Eine häufige Kritik lautet, dass die gewünschte staatliche Zuständigkeit (»Exten-sität«) ohne entsprechende Alternativen erfragt wird (also z.B. private Vorsorge oder Hilfe durch karitative Organisationen), sodass der Eindruck entstehen kann, dass die zur Disposition stehenden Aufgaben entweder vom Staat übernommen werden oder aber überhaupt nicht ausgefüllt werden. Die meisten Indikatoren der staatlichen Zuständigkeit sind daher insofern unscharf, als geringe Werte auf der Extensitätsskala ebenso durch eine »anti-etatistische« Orientierung wie durch eine Geringschätzung der jeweiligen sozialpolitischen Aufgabe (oder auf beides) verur-sacht sein können.

Diesem Problem sollte durch die Verwendung eines Indikators entgegenge-wirkt werden, der die Alternative67 in der Frageformulierung und in den Antwortka-tegorien explizit anführt.68 Die Beantwortung erfolgt dabei auf einer 11er-Skala, bei der in 10-Prozent-Schritten eine unterschiedliche sozialpolitische Aufgabenvertei-lung angeboten wird, die von ausschließlich privater bis zu ausschließlich staatlicher Zuständigkeit reicht (vgl. Anhang A2.1).69 Diese Form eines Extensitätsindikators 67 Hierbei wurden allerdings die unterschiedlichen nicht-staatlichen Akteure zusammengefasst (Absi-

cherung bzw. Fürsorge durch Betriebe, Kirchen und Wohlfahrtsverbände sowie durch die Familie und durch individuelle Vorsorge).

68 Ein weiteres, mit Indikatoren der »Extensität« verbundenes Problem kann durch diese Form der Frageformulierung jedoch nicht behoben werden. So wird eine hohe Zustimmung zur staatlichen Zuständigkeit in der Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat üblicherweise als hohe Akzeptanz interpretiert. Dies scheint jedoch nur insoweit berechtigt, wie man von einer etatistischen Grund-haltung ausgeht, der zufolge Aufgaben desto eher an den Staat verwiesen werden, je größer die ihnen zugeschriebene Bedeutung ist. Durch das Anbieten einer Alternative (private bzw. nicht-staatliche Vorsorge) wird der Schwerpunkt dagegen von der Frage, ob eine sozialpolitische Aufgabe wichtig ist (und daher vom Staat ausgefüllt werden muss), auf die des Anteils des Staates bei der Aufgabenerfüllung verschoben. Eine deutliche Befürwortung staatlicher Zuständigkeit weist bei dieser Fassung des Extensitätsindikators daher immer auch auf eine stark etatistische Orientierung hin – eine Akzentverschiebung, die bei der unterschiedlichen Beurteilung der staatlichen Zuständigkeit durch Ost- und Westdeutsche klarer hervortritt (vgl. hierzu Kapitel 5). Diese »Vermischung« von Etatismus und Bedeutsamkeitszuschreibung sollte jedoch nicht überbewertet werden. Denn die Akzeptanz von Wohlfahrtsstaatlichkeit (wohlfahrtsstaatlicherAufgaben) setzt beide Aspekte – die Einschätzung einer Aufgabe als wichtig und deren Adressierung an den Staat – gleichermaßen voraus.

69 Streng genommen ist die Bezeichnung »staatliche Zuständigkeit« ungenau, weil hier offen bleibt, in welcher Form eine Zuständigkeit (Regulierung?, Finanzierung?, Leistungsorganisation?) erfüllt wird bzw. ab wann sie als erfüllt gilt. Jedenfalls zeigt die wohlfahrtsstaatliche Vielfalt, dass es sich hierbei nicht um eine Ja-Nein-Frage handelt, sondern dass nicht nur unterschiedliche Grade, sondern auch sehr unterschiedliche Formen einer wohlfahrtsstaatlichen Aufgabenübernahme möglich sind.

Zumindest für den deutschen Wohlfahrtsstaat ergibt sich das zusätzliche Problem, dass das Gros der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen nicht im eigentlichen Sinne staatlich ist. Es kann jedoch da-von ausgegangen werden, dass Institutionen wie die Gesetzliche Rentenversicherung und die Ge-

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4.2 Indikatoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz 75

steht insgesamt für sechs (potenzielle) sozialpolitische Aufgabenbereiche zur Verfü-gung, und zwar für die Bereiche Gesundheitsversorgung, Alterssicherung, Armut, Arbeitslosigkeit, Unterstützung von Studenten sowie für die Unterstützung von Fa-milien und Alleinerziehenden.

(2) An der Verwendung von Indikatoren sozialpolitischer »Intensität« (gewünsch-te Leistungshöhe70) wurde zum einen kritisiert, dass immer dann, wenn mögliche Kos-ten (höhere Leistungen/Ausgaben bei höheren Beiträgen/Steuern) nicht berücksich-tigt werden, aufgrund der vermeintlichen »getting something for nothing«-Logik un-realistisch hohe Akzeptanzwerte regelrecht »generiert« werden (vgl. Abschnitt 3.2).

Diese Verzerrung kann noch leicht durch entsprechende Hinweise in der Fra-geformulierung vermieden werden. Schwerer wiegt dagegen, dass die Art der Item-Formulierungen weder zum tatsächlichen noch zum vom Befragten wahrgenomme-nen Leistungsniveau einen Bezug herstellt. Dies führt dazu, dass z.B. der Wunsch nach höheren Leistungen sowohl Ausdruck einer hohen Unzufriedenheit mit dem bestehenden (niedrigen) Leistungsniveau sein kann als auch die Folge eines hohen Anspruchsniveaus (im Falle eines hohen Leistungsniveaus).71 Die verbreitete Inter-pretation, nach der die Befürwortung höherer Leistungen eine höhere Akzeptanz bedeutet, ist daher zumindest im ersten Fall eher abwegig.

Diesem Problem ist durch eine getrennte Messung der wahrgenommenen und der gewünschten Leistungshöhe begegnet worden. Beide wurden mit einer endpunkt-beschrifteten 11er-Skala von 0 (Beurteilung der Leistungshöhe als »sehr niedrig«) bis 10 (»sehr hoch«) erfasst (vgl. Abbildung 4.1). Dieses Verfahren führt zum einen zu einer »Verankerung« der gewünschten mit der jeweils unmittelbar davor erfragten wahrgenommenen Leistungshöhe, sodass die gewünschte relativ zur wahrgenom-menen Leistungshöhe erfasst wird. (Die Befragten können an den ihnen vorliegen-den Skalen gewissermaßen »sehen«, wie sehr ihre Wünsche vom wahrgenommen Ist-Zustand abweichen.)

Die Differenz zwischen gewünschter und wahrgenommener Leistungshöhe wird in den empirischen Analysen als Akzeptanzindikator verwendet und kurz als »Leistungsbewertung« bezeichnet. Sie kann als Zufriedenheit mit der Leistungshöhe

setzliche Krankenversicherung zumindest als »parastaatlich« wahrgenommen werden. (Zudem könnten die großen Sozialversicherungen ohne staatliche Rückendeckung bzw. Richtliniensetzung nicht existieren.) In der Befragung wurde diesem Problem dadurch entgegengewirkt, dass in der Eingangsformulierung explizit darauf hingewiesen wurde, dass bei der Aufgabenteilung zwischen privaten Kräften und dem Staat die Sozialversicherungen als staatlich gelten sollen.

70 Genauer müsste es eigentlich heißen: Die gewünschte (Richtung der) Änderung des Leistungsniveaus bzw. – wie in den ISSP-Modulen – die gewünschte (Richtung der) Änderung der Regierungsausgaben, deren Erhöhung sich bekanntlich nicht immer auch in einem höheren Leistungsniveau niederschlägt (ebenso wenig wie eine Kürzung immer zu niedrigeren Beiträgen führt). Der Einfachheit halber soll aber auch im Folgenden die Formulierung »gewünschte Leistungshöhe« verwendet werden.

71 Dies verdeutlichen die hohen Intensitätswerte in Wohlfahrtsstaaten mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen (z.B. Großbritannien und Russland) wie sie im ISSP-Modul »Role of Government III« deutlich werden.

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76 4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz

interpretiert werden, wobei ein höherer Wert (eine höhere Abweichung) eine größe-re Unzufriedenheit anzeigt – und zwar unabhängig davon, ob er ein positives oder negatives Vorzeichen hat.72 Wird der Skalenwert der gewünschten Leistungshöhe (Soll-Höhe) vom Skalenwert der wahrgenommenen Leistungshöhe (Ist-Höhe) sub-trahiert, bringt ein positiver Wert den Grad der gewünschten Leistungserhöhung, ein negativer dagegen den Grad der gewünschten Leistungskürzung zum Ausdruck.73

Ein so konstruierter Indikator der »Leistungsbewertung« steht insgesamt für vier Si-cherungssysteme (die Gesetzliche Krankenversicherung, die Gesetzliche Rentenver-sicherung, die Arbeitslosenversicherung und die Sozialhilfe) zur Verfügung.

Abbildung 4.1: Hauptindikatoren zur Messung der Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme und -bereiche

Akzeptanz-dimension

Akzeptanz-indikator Itemformulierung (Kurzform74) Sicherungssysteme und

-bereiche

Institutionen-akzeptanz

»Was meinen Sie: Wie gut oder wie schlecht sind alles in allem die folgenden Bereiche der sozialen Sicherung für unsere Gesellschaft?«

Gesetzl. Rentenversicherung; Gesetzl. Krankenversicherung; Arbeitslosenversicherung; Sozial-hilfe; Leistungen für Familien wohlfahrts-

staatlicherStatus quo

Systemver-trauen

»Wenn Sie die Situation in Deutschland insgesamt betrach-ten: Glauben Sie, dass wir uns in Zukunft auf die zentralen sozialen Sicherungssysteme verlassen können? Sagen Sie mir bitte für jedes der Sicherungssysteme auf der Liste, ob wir uns in Zukunft darauf verlassen können.«

Gesetzliche Rentenversiche-rung; Gesetzliche Krankenver-sicherung; Arbeitslosenversi-cherung; Sozialhilfe

staatliche Zuständigkeit

»Wir würden gerne von Ihnen wissen, für welchen Anteil der Staat und die Sozialversicherungen bei den folgenden Aufgaben zuständig sein sollten und welchen Anteil private Kräfte übernehmen sollten.«

Alterssicherung; Gesundheits-versorgung; Arbeitslose, Arme, Familien

Wohlfahrts-staatlichkeit

»Leistungs-bewertung«

Differenz aus: (a) wahrgenommener Leistungshöhe: »Wie beurteilen Sie, allgemein betrachtet, die [Leistungshöhe]?« und(b) gewünschter Leistungshöhe: »Wie hoch sollte [Leistung]Ihrer Ansicht nach sein? Bitte berücksichtigen Sie (...), dass sich Änderungen der [Leistungshöhe] auf [Kosten des Siche-rungssystems] auswirken.«

Rente (gesetzliche); Leistungen der Gesetzlichen Krankenversi-cherung; Arbeitslosengeld, So-zialhilfe (»Hilfe zum Lebensun-terhalt«)

72 Gegen die Interpretation der Differenzen zwischen wahrgenommener und gewünschter Leistungs-

höhe als Präferenzen für Leistungserhöhungen bzw. -kürzungen mag man einwenden, dass hierzu keine expliziten Aussagen vorliegen und die entsprechenden Präferenzen quasi »hinter dem Rücken« der Befragten konstruiert werden. Angesichts der expliziten Berücksichtung möglicher Kosten bei der Frage nach der gewünschten Leistungshöhe, scheint eine solche Interpretation doch nicht sehr riskant: Sie ist nicht mehr als die logische Konsequenz der beiden Teilpräferenzen.

73 Bei der Differenz zwischen Soll- und Ist-Höhe ergeben sich Werte zwischen -10 und +10.74 Diese Übersicht gibt immer nur die zentralen Frageformulierungen wieder. Die vollständigen For-

mulierungen (insbesondere auch die einleitenden Erläuterungen) und die Skalierungen finden sich im Anhang A2.1.

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4.2 Indikatoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz 77

Die Besonderheit dieses Akzeptanzindikators besteht darin, dass die »Leis-tungsbewertung« aus der Differenz zwischen wohlfahrtsstaatlichem Status quo (wahr-genommene Leistungshöhe) und der gewünschten Wohlfahrtsstaatlichkeit (präfe-rierte Leistungshöhe) gebildet wird und insofern beiden Akzeptanzdimensionen zu-zurechnen ist. Durch diese Relationierung der Präferenzen mit dem wahrgenom-menen Zustand lässt sich dieser Akzeptanzindikator besonders einfach interpretie-ren und scheint geeignet, auch kleinere Akzeptanzunterschiede und schwächere Einflüsse auf die Akzeptanzurteile sichtbar zu machen.

(3) Der Erfassung der Akzeptanz von Wohlfahrtsstaatlichkeit wären aber zu enge Grenzen gesetzt, beschränkte sich deren Messung auf die bereits bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Aufgabenbereiche (wie Alterssicherung und Armutsbekämp-fung) und auf die Intensität, mit der der Wohlfahrtsstaat diesen Aufgaben nach-kommt. Wünschenswert ist darüber hinaus die Eruierung der Grenzen der gewünsch-ten oder erwarteten Übernahme sozialpolitischer Aufgaben durch staatliche Instan-zen durch den Einbezug entsprechender Aufgabenbereiche.

Auch wenn der Phantasie hier grundsätzlich keine Grenzen gesetzt sind, so können potenzielle sozialpolitische Aufgabenbereiche doch nur sinnvoll erfasst wer-den, wenn sie »realitätsnah« sind. In der Studie »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaa-tes« wurden Fragen zu vier solcher Bereiche gestellt. Dabei handelt es sich um die Aufgaben bzw. Ziele »staatliche Sorge für Arbeitsplätze«, »Verringerung der Ein-kommensunterschiede«, »höhere Ausgaben für Familien und Alleinerziehende« so-wie »höhere Ausgaben für Kinderbetreuung«. Die Befragten konnten hier anhand einer endpunktbeschrifteten 6er-Skala äußern, inwiefern sie diese Aufgaben als staat-liche ansehen (zur Frageformulierung und Skalierung s. Anhang A2.1).

In Abgrenzung zu den Präferenzen hinsichtlich der Kerninstitutionen des Wohl-fahrtsstaates können diese Aufgaben zusammenfassend als »erweiterte Wohlfahrtsstaat-lichkeit« bezeichnet werden. Sie unterscheiden sich dabei erheblich in dem Maße, in dem sie gemeinhin zu den sozialpolitischen Aufgaben gerechnet werden. Darüber hinaus kann vermutet werden, dass über die Ziele »Arbeitsplatzgarantie« und »Ver-ringerung der Einkommensungleichheit« ein weitaus größerer gesellschaftlicher Dis-sens besteht als über die beiden »familienpolitischen«. Gemeinsam ist allen vier Auf-gaben dagegen ihre Randständigkeit (oder »Stiefmütterlichkeit«) in der sozialpoliti-schen Realität des deutschen Wohlfahrtsstaates.

Insgesamt werden in den empirischen Analysen (Kapitel 5 und 6) also vier Hauptindikatoren wohlfahrtsstaatlicher Akzeptanz verwendet75, die jeweils für meh-rere Sicherungssysteme bzw. sozialpolitische Aufgaben zu Verfügung stehen: die In-stitutionenakzeptanz (zugeschriebener gesellschaftlicher Wert), das Systemvertrau-en, die gewünschte staatliche Zuständigkeit für wohlfahrtsstaatliche Kernbereiche 75 Im Rahmen der Umfrage »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« wurden zudem noch weitere Ak-

zeptanzindikatoren (insbes. zu spezifischen Systemmerkmalen und zu Verhaltensweisen) erhoben, die im Weiteren jedoch nicht verwendet werden.

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78 4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz

und die »Leistungsbewertung« (Differenz von gewünschter und wahrgenommener Leistungshöhe).76 Sofern dies zur Vervollständigung des Akzeptanzbildes sinnvoll erschien, wurden zusätzlich auch die verschiedenen Aspekte der »erweiterten Wohl-fahrtsstaatlichkeit« in die Analysen einbezogen.

Die Bestimmung des Akzeptanzobjekts »Wohlfahrtsstaat«

Bei der Bestimmung des Akzeptanzobjekts geht es im Kern um die Frage, wie »Wohl-fahrtsstaat« zu definieren ist und welche Bereiche, Institutionen und Regelungen dem Wohlfahrtsstaat zuzurechnen sind. Dabei besteht immer auch die Gefahr, dass »Wohlfahrtsstaat« und »Wohlfahrtsstaatlichkeit« erst durch das Erhebungsinstru-ment »konstruiert« werden.

Für den Begriff Wohlfahrtsstaat gibt es bekanntlich keine einheitliche und all-seits geteilte Definition. Explizite Definitionen sehen sich daher meist sehr schnell einer Übermacht oft berechtigter Kritik ausgesetzt, unter deren Last sie kaum durch-zuhalten sind. Vor allem gegen operationale Definitionen lassen sich nur zu leicht Einwände formulieren, da diese notwendigerweise mehr oder minder willkürliche Vereinfachungen erfordern und sich bei der Auswahl der Definitionskriterien zu-dem auch von forschungspragmatischen Überlegungen leiten lassen müssen. So scheinen viele Definitionsversuche für die Erfassung der wohlfahrtsstaatlichen Wirklichkeit unzureichend, weil sie zu sehr auf einzelne Aspekte fokussieren oder einseitig an einem (nationalen) Wohlfahrtsstaatsmodell ausgerichtet sind. Auf der anderen Seite sind sie wiederum oft zu allgemein und undifferenziert, was insbeson-dere die Möglichkeiten vergleichender Analysen erheblich einschränkt.77

Diese hier nur angedeuteten Probleme ändern jedoch nichts an der Notwen-digkeit einer operationalen Definition, wenn man die Akzeptanz des Wohlfahrts-staates empirisch untersuchen möchte. Als Wohlfahrtsstaat soll hier daher die Ge-samtheit der als wohlfahrtsstaatlich (bzw. sozialpolitisch) definierten Institutionen und Politiken bezeichnet werden. Als »wohlfahrtsstaatlich« können dabei ganz allge-mein Institutionen bezeichnet werden, wenn sie, erstens, Funktionen der Existenz-sicherung, der sozialen Sicherung und der Gewährung von Chancengleichheit für alle oder einen Teil ihrer Adressaten unmittelbar erfüllen und wenn, zweitens, diese

76 Sowohl die Unabhängigkeit dieser vier Akzeptanzindikatoren als auch deren Gruppierung (Akzep-

tanz des Status quo und Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit) konnte mittels explorativer Fakto-renanalysen bestätigt werden.

77 Dies hat dazu geführt, dass Versuche einer exakten Definition des Wohlfahrtsstaates oftmals ganz unterlassen werden. Entsprechend häufig sind daher Klagen über den Mangel an Definitionen, zugleich aber auch über die Vergeblichkeit von Definitionsversuchen (vgl. etwa bereits Kaufmann 1977).

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4.2 Indikatoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz 79

Funktionen überwiegend (oder zumindest zu einem bedeutenden Teil) von staatli-chen oder öffentlichen Instanzen erfüllt werden.78

Grundsätzlich muss davon ausgegangen werden, dass mit dem Begriff Wohl-fahrtsstaat in der Bevölkerung häufig »falsche« oder widersprüchliche, oft aber auch gar keine Bedeutungen verbunden werden (vgl. hierzu auch Roller 1992: 68). Ein einheitliches »Akzeptanzobjekt Wohlfahrtsstaat« existiert insofern nicht.

Schon hieraus folgt, dass Versuche, eine allgemeine, von den einzelnen Wohl-fahrtsinstitutionen unabhängige Akzeptanz des gesamten Wohlfahrtsstaates zu ermitteln, wenig aussichtsreich sind, weil dieser als Akzeptanzobjekt zu diffus ist. Zu einem fundierten Bild der Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates gelangt man nur durch die Erfassung der Akzeptanz der für den Einzelnen »erfahrbaren« wohlfahrts-staatlichen Institutionen (wie »die Rentenversicherung«). Die Akzeptanz »des« Wohl-fahrtsstaates ist allein aus der Summe der Akzeptanzen seiner Teilelemente zu erschließen. Eine empirische Akzeptanzanalyse muss daher bei identifizierbaren Wohlfahrtsinstitutio-nen ansetzen.

Wünschenswert, aber forschungstechnisch ausgeschlossen wäre es, alle wohl-fahrtsstaatlichen Institutionen in die Analyse einzubeziehen. Es muss daher das Ziel einer operationalen Definition sein, die zentralen und »repräsentativen« wohlfahrts-staatlichen Institutionen zu bestimmen. Bereits aus der vorgeschlagenen Definition des Wohlfahrtsstaates ergibt sich die nicht unerhebliche Beschränkung auf materielleLeistungen und die Fokussierung auf relativ »institutionalisierte« (zeitstabile) Siche-rungssysteme. Dadurch werden zum einen nicht-materielle, insbesondere rechtliche Interventionsformen (z.B. Arbeits- oder Familienrecht; vgl. Kaufmann 1982) und zum anderen aktuelle und kurzfristige sozialpolitische Maßnahmen und Programme ausgeschlossen. Abgesehen von dieser Fokussierung auf die »ökonomische Inter-ventionsform« (Kaufmann 1982: 75ff.) und dem Ziel, Vergleichsmöglichkeiten mit früheren Untersuchungen zu ermöglichen, lässt sich die im Folgenden dargestellte Auswahl der einzelnen Akzeptanzobjekte von zwei Gesichtspunkten leiten.

Beim ersten steht die Frage im Mittelpunkt, welche Kombination von Wohl-fahrtsinstitutionen am ehesten den Wohlfahrtsstaat in seiner Gesamtheit repräsen-tiert, so dass aufgrund von Akzeptanzurteilen gegenüber einzelnen Akzeptanzobjek-ten auch auf die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates geschlossen werden kann. Als Auswahlkriterien wurden dabei die Zentralität der Leistungssysteme (gemessen am Ausgabevolumen und/oder der Zahl der Adressaten), ihr anzunehmender Bekannt-heitsgrad sowie ihre mutmaßliche Bedeutung für die Befragten herangezogen. Dem liegt die einfache Überlegung zugrunde, dass der Einfluss auf die Gesamtakzeptanz des Wohlfahrtsstaates mit der Zentralität und Bedeutsamkeit eines Sicherungssystems steigt.

78 Auch diese Definition ist zugegebener Maßen noch sehr vage und lässt vieles offen, reicht für den

hier vorliegenden Zweck jedoch aus.

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80 4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz

Theoretische Überlegungen zur Akzeptanz und Akzeptabilität von Sicherungs-systemen legen zudem eine systematische Berücksichtigung unterschiedlicher Systemmerk-male nahe (vgl. Karl et al. 1998; Ullrich 2001). Bei der Auswahl sollen daher mög-lichst alle Systemeigenschaften, von denen ein Einfluss auf die Akzeptanzurteile der Befragten erwartet werden kann, mehrfach und in unterschiedlichen Kombinatio-nen vorkommen. Zu diesen Systemmerkmalen sind vor allem die sozialpolitischen Zielsetzungen, die »Adressatendefinition« (wer erhält unter welchen Bedingungen Leistungen) und die Mittel oder Instrumente zu zählen, mit denen die jeweiligen Ziele erreicht werden sollen (z.B. Versicherungsprinzip, Bedürftigkeitsprüfungen).79

Wie bereits aus der Darstellung der Akzeptanzindikatoren hervorging, wurden in der Befragung »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« fünf sozialpolitische Berei-che ausgewählt, die jedoch unterschiedlich intensiv im Erhebungsinstrument thema-tisiert wurden. Von dieser Auswahl wird angenommen, dass sie den oben genann-ten Kriterien am besten entspricht und insofern beanspruchen kann, für den gesam-ten Wohlfahrtsstaat »repräsentativ« zu sein. Im Einzelnen wurden folgende Berei-che als Akzeptanzobjekte festgelegt (vgl. Abbildung 4.2):

Die drei großen Sozialversicherungen – Gesetzliche Rentenversicherung, GesetzlicheKrankenversicherung und Arbeitslosenversicherung – bilden mit der Sozialhilfe den Kern des deutschen Wohlfahrtsstaates. Zugleich repräsentieren sie zwei sehr unterschied-liche Varianten des Typus Sozialversicherung. So unterscheidet sich die Gesetzliche Krankenversicherung von der Arbeitslosen- und Rentenversicherung u.a. dadurch, dass das Gros der Leistungen nach dem Bedarfsprinzip gewährt wird, während die beiden anderen Sozialversicherungen eher am Äquivalenzprinzip (wer höhere Bei-träge gezahlt hat, bekommt auch höhere Leistungen) orientiert sind. Kranken- und Rentenversicherung unterscheiden sich von der Arbeitslosenversicherung wiederum dadurch, dass sie »Mehrheitsprogramme« sind, bei denen (fast) jeder auch Leis-tungsempfänger ist, während der Empfang von Arbeitslosengeld nur einer Minder-heit möglich ist. Bei der Arbeitslosenversicherung und der Gesetzlichen Rentenver-sicherung ist zudem die »Sichtbarkeit« der Leistungsempfänger hoch. In beiden Fäl-len sind die Leistungsempfänger (Rentner, Arbeitslose) soweit typisiert, dass von einem eigenständigen sozialen (oder Versorgungsklassen-) Status auszugehen ist.

79 Wegen ihrer hohen Variabilität, aber auch aufgrund kontroverser theoretischer Auffassungen, ist

insbesondere eine möglichst breite Berücksichtigung sozialpolitischer Organisationsformen anzu-streben. Dies gilt zunächst für die bekannten Unterscheidungen von selektiven und universellen Programmen (bzw. von Minderheits- und Mehrheitsprogrammen) sowie zwischen Sozialversiche-rungen, Versorgungssystemen und Fürsorgeleistungen. Oft eng verbunden mit diesen grundlegen-den Systemtypen sind zudem aber auch viele weitere Merkmale wie das Äquivalenzprinzip, die Versicherungspflicht oder das Bedarfsprinzip (vgl. Ullrich 2001).

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4.2 Indikatoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz 81

Abbildung 4.2: Systemmerkmale der einzelnen wohlfahrtsstaatlichen Akzeptanzobjekte

sozialpoliti-scher Aufga-benbereich

Institutiona-lisierungsgrad

»Sichtbarkeit« der Leistungs-

empfänger Mehrheits-programm

Kriterien der Leistungs-

vergabe

Gesetzliche Kranken-versicherung

Gesundheits-versorgung hoch eher gering ja Bedarf80

Gesetzliche Renten-versicherung Alterssicherung hoch hoch

(»typisiert«) ja Leistung

Arbeitslosen-versicherung Arbeitslosigkeit hoch hoch

(»typisiert«) nein Leistung > Bedarf

Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt) Armut hoch hoch

(»typisiert«) nein Bedarf

Leistungen fürFamilien

Besserstellungvon Familien gering eher gering ? Gleichheit >

Bedarf

Bis zur Einführung des »Arbeitslosengelds II« (2005) gehörte auch die »Sozialhilfe«(bzw. »Hilfe zum Lebensunterhalt«81) in Deutschland zu den Kerninstitutionen des Wohlfahrtsstaates. Anders als die Sozialversicherungen wird die Sozialhilfe jedoch aus Steuermitteln finanziert und ihre Gewährung ist von Bedürftigkeitsprüfungen abhängig. Wie die Arbeitslosenversicherung ist die Hilfe zum Lebensunterhalt ein »Minderheitsprogramm«, bei dem die Mehrheit der Beitrags- und Steuerzahler nicht in den »Genuss« eines Leistungserhalts kommt. Die Sozialhilfe stellte im Untersu-chungszeitraum somit einen eigenständigen Sicherungstyp dar, der als relativ anfällig für »negative Akzeptanz« gelten muss, zumal die »Sichtbarkeit« der Leistungsemp-fänger hoch ist.82

Ebenso wie die Sozialhilfe werden Leistungen für Familien (Kindergeld, Erzieh-ungsgeld) aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert. Sie werden jedoch eher nach dem Gleichheitsprinzip als nach Bedarfskriterien vergeben. Leistungen für Familien gehören zudem zu den »weichen« Sozialpolitikbereichen und in Deutsch-land traditionell nicht zum Kernbereich des wohlfahrtsstaatlichen Selbstverständnis-

80 Mit Ausnahme des Krankengeldes. 81 Wie durch kognitive Pretests bestätigt werden konnte, werden die Wahrnehmung der Sozialhilfe

(als »Institution«) und die der Sozialhilfeempfänger von der Hilfe zum Lebensunterhalt geprägt, auch wenn diese nur einen Teil der Sozialhilfeausgaben ausmacht. In der Befragung wurde zudem explizit gemacht, dass mit Sozialhilfeempfängern Personen gemeint sind, die aufgrund einer materiellen Notlage Sozialhilfe (bzw. Hilfe zum Lebensunterhalt) beziehen.

82 Hieran wird sich auch durch die Umwandlung zum »Arbeitslosengeld II« nichts geändert haben, da wesentliche Strukturprinzipien (z.B. Bedürftigkeitsprüfungen) übernommen oder gar verstärkt wurden.

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82 4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz

ses. Familienpolitik (oder ihr Unterbleiben) ist in jüngerer Zeit allerdings immer mehr in den Fokus des sozialpolitischen Interesses gerückt.

Der geringere Institutionalisierungsgrad und der daraus resultierende Mangel an organisatorisch-institutioneller Präsenz – im Bereich der Familienpolitik fehlen Institutionen, die denen der Arbeitsämter, Krankenkassen oder der Rentenversiche-rer vergleichbar wären – erschweren hier jedoch die Messung von Akzeptanz: Was institutionell nicht »erfahrbar« ist, kann auch nur schwer zum Gegenstand von Ak-zeptanzfragen werden. Aus diesem Grund musste bei einigen Indikatoren auf den Bereich der familienpolitischen Maßnahmen verzichtet werden (s. Abbildung 4.1).

4.3 Erklärungsfaktoren für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme

So wie die Indikatoren wohlfahrtsstaatlicher Akzeptanz nur vor dem Hintergrund explizierter Vorstellungen über die allgemeine Beschaffenheit von Akzeptanz ent-wickelt werden können, sind auch Erklärungsfaktoren nicht von den Annahmen über die für die Erklärung der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen rele-vanten Kausalbeziehungen zu trennen. Die genaue Begründung des vermuteten Einflusses der einzelnen Erklärungsfaktoren erfolgt daher jeweils erst im Kontext der spezifischen Fragestellungen, die den einzelnen Abschnitten von Kapitel 6 zu-grunde liegen.

Im Folgenden soll zunächst nur ein erster allgemeiner Überblick über die wich-tigsten Variablen gegeben werden, die als mögliche Erklärungsfaktoren zur Verfü-gung stehen. Die Klassifizierung und Charakterisierung der Erklärungsfaktoren ge-schieht dabei notwendig in grober und vorläufiger Form. Darüber hinaus wird in vie-len Fällen von kontextdifferenten Effekten ausgegangen. Je nach Sicherungssystem und Akzeptanzindikator können von den potenziellen Erklärungsfaktoren unter-schiedlich starke (oft auch keine), unterschiedlich gerichtete und unterschiedlich »geartete« (lineare oder nicht-lineare) Einflüsse auf die Akzeptanzurteile vermutet werden. Von einigen wird zudem angenommen, dass sie nur bei sehr spezifischen Fragen als Erklärungsfaktoren in Betracht kommen.83

Der »dichten«und »breiten« Erfassung der Akzeptanz entspricht eine umfang-reiche Berücksichtigung möglicher Erklärungsfaktoren. Allgemein können drei Fakto-rengruppen unterschieden werden, von denen angenommen wird, dass sie die Ak-zeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen erklären können. Alle Variablen dieser Faktorengruppen werden dabei als unabhängige Variablen aufgefasst, die jeweils un-mittelbar auf die Akzeptanzurteile einwirken. Neben den soziodemografischen Merk-malen und subjektiven Interessendefinitionen sind dies grundlegende Wert- und

83 Die Erläuterung dieser Variablen erfolgt dann in den jeweiligen Abschnitten.

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4.3 Erklärungsfaktoren für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme 83

Handlungsorientierungen sowie die Wahrnehmung der Leistungsempfänger (vgl. Ab-bildung 4.3).

(1) Indikatoren der »sozialpolitischen Lage« (Eigeninteresse)

Unterschiedliche Indikatoren der »sozialpolitischen Lage« bilden die größte und ver-mutlich auch wichtigste Gruppe von Einflussfaktoren, die alle, wenn auch in unter-schiedlicher Weise, Formen des Eigeninteresses messen. Für den vorliegenden Zweck der Erklärung von Akzeptanzurteilen können drei Ebenen unterschieden werden, auf denen die »sozialpolitische Lage« der Befragten erfasst werden kann: die Para-meter der allgemeinen sozialen Lage, die »objektive« sozialpolitische Lage, wie sie vor allem am Versorgungsklassenstatus abzulesen ist, und schließlich die subjektive Wahrnehmung des Eigeninteresses an Systemen der sozialen Sicherung.

(a) Parameter der sozialen Lage

Die allgemeine soziale Lage bestimmt ein eher mittelbares Interesse am Wohlfahrts-staat. Zum einen hat sie einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit des Leistungsbe-zugs (und, so kann man vermuten, darüber hinaus auch auf die Wahrnehmung die-ser Wahrscheinlichkeit): Je besser die soziale und ökonomische Position einer Per-son, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, auf das System der sozialen Sicherung angewiesen zu sein. Gleichzeitig steigen mit der Höhe der sozialen Position meist auch die Belastungen, die in Form von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen von den sozialen Sicherungssystemen ausgehen. Insbesondere von Klassen- und Schicht-merkmalen kann daher ein genereller Einfluss auf die Wahrnehmung und Beurtei-lung des Wohlfahrtsstaates angenommen werden. Aber auch vom Alter und der Art der Erwerbstätigkeit kann dies vermutet werden.

Der in den späteren Analysen (Kapitel 6) am häufigsten verwendete Indikator der Schichtzugehörigkeit ist die subjektive Einstufung auf einer Oben-Unten-Skala (endpunktbeschriftete Skala von 1 für »Unten« bis 10 für »Oben«; für die Fragefor-mulierung s. Abb. 4.3 sowie Anhang A2.2). Sie hat zwei wesentliche Vorteile: Anders als z.B. beim Einkommen sind Antwortverweigerungen relativ selten und durch den subjektiven Charakter wird dem Umstand Rechnung getragen, dass nicht der tatsächliche, sondern der wahrgenommene soziale Status für die Bildung von Akzeptanzurteilen über den Wohlfahrtsstaat ausschlaggebend ist.

Auch das Haushaltsnettoeinkommen steht als in mancher Hinsicht »verlässlichster« Indikator der sozialen Lage zur Verfügung.84 Aufgrund der relativ hohen Zahl an Antwortverweigerungen ergibt sich jedoch bei vielen Fragestellungen ein Problem zu geringer Fallzahlen. Das Haushaltseinkommen wird aus diesem Grund nur selek-tiv in den Analysen verwendet und meist nur zur Überprüfung und Erhärtung der

84 Gleiches gilt für das allerdings weniger aussagekräftige Bruttoeinkommen.

Page 84: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

84 4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz

Effekte der Selbsteinstufung auf der Oben-Unten-Skala. Zur Bedarfsgewichtung des Haushaltsnettoeinkommens wurde die alte OECD-Skala verwendet (vgl. An-hang A2.2).

Für die Bestimmung der Klassenlage wurde eine modifizierte Version des von Erikson und Goldthorpe (1992: 38ff.) eingeführten Klassenschemas verwendet.85 Ins-gesamt werden dabei sechs Klassenlagen unterschieden: Dienstklasse (service class), Angestellte mit Routinetätigkeiten (routine non-manual workers), Selbständige (pet-ty bourgeoisie), Facharbeiter und Meister (skilled workers), an- und ungelernte Ar-beiter (unskilled workers) sowie selbständige Landwirte und Arbeiter im primären Sektor (farmers & farm labourers).

Ein solcher Einfluss kann auch vom Alter86 erwartet werden, jedoch nicht für alle Sicherungsbereiche gleichermaßen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass das Al-ter nur in dem Maße wohlfahrtsstaatliche Interessenlagen strukturiert, wie die Siche-rungssysteme alters- bzw. lebensphasenspezifisch sind. Dafür sind zwei Fragen ent-scheidend: Ist ein Leistungsbezug erst ab einem bestimmten Alter möglich (z.B. Al-tersrente) oder ab einem bestimmten Alter ausgeschlossen (z.B. Leistungen der Ar-beitslosenversicherung für Rentner)? Und: Wie stark wird man ab oder bis zu einer Altersgrenze zur Finanzierung der Sicherungsleistungen durch Steuern und Beiträge herangezogen?

In diesem Sinne sind alle Sozialleistungen mehr oder weniger altersspezifisch, weil keine völlig gleichmäßig über alle Altersgruppen verteilt wird. Sicherungssyste-me unterscheiden sich aber im Grad ihrer Altersspezifität. Grundsätzlich kann wohl davon ausgegangen werden, dass insbesondere die Gesetzliche Rentenversicherung und, wenn auch etwas weniger deutlich, die Gesetzliche Krankenversicherung, einen »Altersbias« haben, der zu Umverteilungen von jüngeren zu älteren Versicher-ten (bzw. zu »intertemporalen« Umverteilungen) führt. In umgekehrter Richtung gilt dies in ähnlicher Weise für Leistungen für Familien (und für den hier allerdings nicht berücksichtigten Bildungsbereich), während Leistungen der Sozialhilfe und

85 Das von Erikson, Goldthorpe und Portocarero (1979) entwickelte Klassenschema – oft auch kurz als

EGP-Klassenschema bezeichnet – ist ein kategoriales Differenzierungsschema. Grundlage für die Unterscheidung unterschiedlicher Klassen ist dabei eine durch die Ähnlichkeit der beruflichen Tä-tigkeit begründete Gemeinsamkeit der Marklage und die dadurch bedingte Ähnlichkeit der Lebenschancen. Die ausführliche Version des Klassenschemas besteht aus insgesamt elf Kategorien (Erikson/Goldthorpe 1992: 36), die von Erikson und Goldthorpe (1992: 38ff.) zu sieben Kategorien zusammengefasst wurden. Das hier verwendete 6-stufige Schema entspricht weitgehend dem 7-stufigen Modell von Erikson und Goldthorpe, wobei jedoch die beiden Kategorien »selbständige Landwirte« und »Landarbeiter im primären Sektor« aufgrund der geringen Fallzahlen zu einer Kategorie zusammengefasst wurden (vgl. a. Anhang A2.2).

86 Hier ist natürlich das chronologische Lebensalter gemeint. Klarer lassen sich Kausalvermutungen allerdings beim wohlfahrtsstaatlich (vor allem durch Ruhestandsregelungen und gesetzliche Schul-pflicht) »definierten« oder »konstruierten« Alter formulieren. Die wohlfahrtsstaatlichen Altersgren-zen sind jedoch zunehmend aufgeweicht worden (z.B. durch Vorruhestandsregelungen) und haben zu einer allgemeinen Destandardisierung des Lebenslaufsregimes beigetragen.

Page 85: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

4.3 Erklärungsfaktoren für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme 85

der Arbeitslosenversicherung vor allem den mittleren Altersgruppen zugute kom-men. Das Alter wird daher vor allem dann als Erklärungsfaktor herangezogen, wenn eine durch das Lebensalter bedingte Interessenlage plausibel erscheint.

(b) Versorgungsklassenstatus

Die individuelle Versorgungsklassenposition des Befragten muss als der wichtigste Para-meter des Eigeninteresses am System der sozialen Sicherung angesehen werden, da sie darüber entscheidet, ob man zeitpunktbezogen oder dauerhaft durch die sozialen Sicherungssysteme belastet wird oder Leistungen bezieht. Vielleicht mit Ausnahme der Versorgungsklassenposition »Rentner«, die auch das Gesamtinteresse am Wohl-fahrtsstaat in gewisser Weise prästrukturieren dürfte, macht es jedoch wenig Sinn, von einem allgemeinen Versorgungsklassenstatus auszugehen. Vielmehr sollte der Versorgungsklassenstatus systemspezifisch aufgefasst werden, sodass ein Befragter in den einzelnen Sicherungssystemen unterschiedliche Versorgungsklassenpositio-nen einnehmen kann (privilegierte und nicht-privilegierte) und zu entsprechend un-terschiedlichen Akzeptanzurteilen bezüglich der einzelnen Sicherungssysteme kommt.

Zur Messung der Versorgungsklassenstatus stehen vor allem zwei Variablen zur Verfügung. Zum einen ist dies der Leistungsbezug des Befragten. Hierzu liegen differenzierte Informationen zu einzelnen Leistungsarten vor, und zwar sowohl über den aktuellen als auch über den früheren Leistungsbezug. Die zweite Variable zur Erfassung der Versorgungsklassenposition des Befragten ist der Erwerbsstatus. Mit diesem können nicht nur relativ dauerhafte Versorgungsklassenlagen erfasst werden (Rentner, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger), sondern auch der »Finan-zierungsklassenstatus«, bei dem auch zwischen »Finanzierern« (bei den Sozialversiche-rungen die beitragspflichtigen Erwerbstätigen) und »Neutralen« (bei den Sozialversi-cherungen z.B. Beamte) unterschieden werden kann (für eine genauere Darstellung vgl. Anhang A2.2).

(c) subjektive Interessendefinitionen

Als subjektive Interessendefinitionen können alle Einschätzungen, Erwartungen und Präferenzen der Befragten gelten, die sich auf die eigene sozialpolitische Inter-essenlage beziehen. Sie können erheblich von der objektiven sozialpolitischen Lage abweichen, sind aber auch dann nicht unbedingt als einfache Fehleinschätzungen aufzufassen. Vielmehr kommen hierin auch grundlegende und legitime Vorstellungen darüber zum Ausdruck, was man als notwendig oder wünschenswert erachtet. In der vorliegenden Untersuchung wird auf zwei solcher subjektiven Indikatoren des sozial-politischen Eigeninteresses zurückgegriffen.

Der erste ist die individuelle Risikoaversion der Befragten. Der Messung der Ri-sikoaversion liegt dabei die Überlegung zugrunde, dass es nicht allein die aktuelle Versorgungsklassenlage und die allgemeine soziale Lage sind, die das Interesse an

Page 86: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

86 4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz

den sozialen Sicherungssystemen bestimmen, sondern dass dieses auch durch die Erwartungen über den zukünftigen Leistungsbedarf (und eine entsprechende Ver-änderung der Verteilungsposition) beeinflusst wird.

Abbildung 4.3: Mögliche Erklärungsfaktoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz

Faktorengruppe Erklärungsfaktoren Erläuterungen/Beispiele

Oben-Unten-Skala wird als Schichtindikator verwendet

Haushalts(netto)einkommen dient vor allem der Kontrolle der Oben-Unten-Skala

Alter des Befragten insbes. bei stärker altersstrukturierten Sicherungssys-temen

Eigeninteresse(a) Soziale Lage

soziale Klasse vereinfachtes EGP-Schema

(b) Versorgungs-klassen

Versorgungsklassenposi-tion des Befragten

(positive, konkurrierende) Versorgungsklassen sowie Versorgungs- vs. Finanzierungsklasse(n)

»Risikoaversion« setzt sich aus subjektiver Wahrscheinlichkeit und Be-wertung eines längeren Leistungsbezugs zusammen

(c) subjektive Inter-essendefinitionen Reziprozitätserwartungen misst ein stark generalisiertes (subjektives) Interesse

Gerechtigkeitsüberzeugun-gen

drei Items: Gleichheit (egalitaristische Gerechtigkeits-überzeugung), Bedarfsgerechtigkeit und Leistungsge-rechtigkeit

Handlungs- und Wertorientierun-gen allgemeine Handlungs-

und Sozialorientierungenhier drei Items: Eigenverantwortung, Solidarität und Reziprozitätsverpflichtung

»Leistungsemp-fängerbild«

zugeschriebene Leistungs-empfängereigenschaften

fünf Eigenschaften: Bedürftigkeit, Anspruchsbe-rechtigung, Unterstützungswürdigkeit, Missbrauch und Victimisierung

Geschlecht -

Bildung drei Bildungsniveaus nach modifizierter CASMIN-Klassifikation; Interessen- oder kultureller Indikator

Kontextabhängige Erklärungsfaktoren,für die je nach Teil-fragestellung unter-schiedliche Erwar-tungen bestehen Landesteil Ost-/Westdeutschland (nach Erhebungsgebiet)

Die individuelle Risikoaversion wird anhand von zwei Variablen gemessen: der sub-jektiven Wahrscheinlichkeit eines Leistungsbezugs bzw. eines »Schadens«, der zu einem Wechsel der Verteilungsposition führen würde, sowie der subjektiven Bewer-tung dieses Schadens« (zur Verknüpfung vgl. Anhang A2.2). Zur Messung der sub-jektiven Wahrscheinlichkeit eines Leistungsbezugs wurden die Befragten gebeten, auf einer endpunktbeschrifteten 11er-Skala (von »sehr unwahrscheinlich« bis »sehr wahrscheinlich«) für die Risiken chronische Erkrankung, Arbeitslosigkeit und So-zialhilfebezug anzugeben, für wie wahrscheinlich sie es halten, dass diese »Ereignis-se« sie in den nächsten Jahren treffen. Die Bewertung der entsprechenden »Schä-

Page 87: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

4.3 Erklärungsfaktoren für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme 87

den« erfolgte ebenfalls auf einer endpunktbeschrifteten 11er-Skala, die von »sehr schlimm« bis »überhaupt nicht schlimm« reichte.

Ein weitaus generalisierteres Interesse wird durch Reziprozitätserwartungen er-fasst. Hier werden die Befragten danach gefragt, ob sie der Meinung sind, dass auch primäre Beitragszahler (Finanzierungsklasse) auf lange Sicht vom System der sozia-len Sicherung profitieren. Aufgrund der Geltung von Reziprozitätsnormen und da-ran anknüpfender Verpflichtungen bewegen sich Reziprozitätserwartungen im Grenz-bereich zwischen (reinen) Interessenorientierungen und normativen Überzeugun-gen. Durch ihre Eigenart, »anfällig« für stärkere Generalisierungen zu sein (und zwar sowohl in zeitlicher als auch in sozialer und sachlicher Hinsicht), ermöglicht eine Orientierung am Reziprozitätsprinzip zudem eine auch längere Zurückstellung un-mittelbarer Eigeninteressen. Wie ich an anderer Stelle verdeutlicht habe (Ullrich 1999), sind das Reziprozitätsprinzip und an soziale Sicherungssysteme geknüpfte Rezipro-zitätserwartungen nicht zuletzt wegen dieser Eigenschaft für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme zentral (für ähnliche Argumentationen s.a. Mau 2002 und Lesse-nich/Mau 2005).

Die Messung der Reziprozitätserwartungen erfolgte mit einem Indikator, der die soziale Sicherung gerichtete Reziprozitätserwartungen in generalisierter Form er-fasst. Diese bestehen dann nicht hinsichtlich konkreter Leistungen oder auch nur einzelner Sicherungsbereiche, sondern beziehen sich auf einen sowohl sachlich als auch zeitlich vagen Ausgleich im Rahmen der sozialen Sicherung (zur Frageformu-lierung s. Abb. 4.3). Die Reziprozitätserwartung wurde mittels einer endpunktbe-schrifteten 6er-Skala von »stimme überhaupt nicht zu« bis »stimme voll und ganz zu« erfasst.

(2) Handlungs- und Wertorientierungen

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Akzeptanzurteile gegenüber sozialen Si-cherungssystemen nicht nur von objektiven und subjektiven Eigeninteressen be-stimmt werden, sondern auch von Wertüberzeugungen und allgemeinen Hand-lungsorientierungen. Schon bei den zuvor erläuterten generalisierten Reziprozitäts-erwartungen kann strenggenommen nicht mehr von einem reinen subjektiven Eigeninteresse ausgegangen werden. So gehört es geradezu zu den Wesensmerkma-len der Reziprozität, unterschiedliche, wenn nicht gar widersprüchliche Handlungs-orientierungen zu kompatibilisieren (vgl. Gouldner 1960). Neben Reziprozitätser-wartungen, die aber zumindest der Form nach zu den subjektiven Interessendefini-tionen zu rechnen sind, werden zur Erklärung der Akzeptanzurteile zwei weitere Arten allgemeiner Handlungs- und Wertorientierungen herangezogen.

Zum einen sind dies Gerechtigkeitsüberzeugungen, die an unterschiedlichen Krite-rien der Verteilungsgerechtigkeit orientiert sind. Dass sich Gerechtigkeitsüberzeu-gungen auf die Akzeptanzurteile über wohlfahrtsstaatliche Institutionen auswirken

Page 88: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

88 4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz

können, scheint naheliegend. Denn soziale Sicherungssysteme berühren in vielfälti-ger Form Verteilungsfragen – und dies nicht nur bei der Leistungsgewährung, son-dern auch bei der Verteilung der Finanzierungslasten. Die Stärke des Einflusses auf die Akzeptanzurteile und vor allem, welche Gerechtigkeitsüberzeugungen einen Ein-fluss ausüben, wird dabei vermutlich variieren. Entscheidend dürften hierfür das Um-verteilungsvolumen und die jeweilige »Gerechtigkeitsstruktur« der Sicherungssysteme sein, die unterschiedlichen Verteilungslogiken folgen.

Zur Erfassung der Gerechtigkeitsüberzeugungen wurden drei Items verwen-det, die jeweils die Orientierung auf eines der drei zentralen Kriterien der Vertei-lungsgerechtigkeit »Gleichheit«, »Bedarf/Bedürftigkeit« und »Leistung« (vgl. a. Miller 1976) messen. Bei der Formulierung der Items wurde darauf geachtet, dass mit die-sen grundlegende, allgemeine Gerechtigkeitsorientierungen und nicht konkrete Ein-stellungen erfasst werden.87 Die Orientierung an Gerechtigkeitskriterien wurde mit einer endpunktbeschrifteten 6er-Skala (von »stimme überhaupt nicht zu« bis »stim-me voll und ganz zu«) gemessen.

Bei der zweiten Gruppe von grundlegenden Handlungsorientierungen handelt es sich um allgemeine Vorstellungen und Regeln über den Umgang mit anderen bzw. über das Verhältnis zu einem größeren Kollektiv. Sie bewegen sich im Bedeu-tungsfeld der Dimensionen »Individualismus – Kollektivismus« und »Egoismus – Solidarität« und werden im Folgenden zusammenfassend als Handlungs- und Sozial-orientierungen bezeichnet.

Ingesamt werden drei allgemeine Handlungs- und Sozialorientierungen in den späteren Analysen verwendet. Hierbei handelt es sich um die Betonung von Solida-rität (»Solidaritätsorientierung«), die Anerkennung des verpflichtenden Charakters von erhaltenen Leistungen (»Reziprozitätverpflichtung«) und die Befürwortung von »Eigenverantwortung«. Auch die Handlungs- und Sozialorientierungen wurden je-weils mit einer endpunktbeschrifteten 6er-Skala erfasst, die von »stimme überhaupt nicht zu« bis »stimme voll und ganz zu« reicht. Die Items wurden wiederum so for-muliert, dass grundlegende Handlungsorientierungen erfasst werden, die keinen Be-zug zur Akzeptanzthematik aufweisen.

Wie für die Gerechtigkeitsüberzeugungen kann auch für die allgemeinen Hand-lungs- und Sozialorientierungen angenommen werden, dass sie einen erheblichen Einfluss auf die Akzeptanzurteile gegenüber sozialen Sicherungssystemen ausüben können. Ebenso gilt aber auch hier, dass dieser Einfluss unterschiedlich stark sein kann und sowohl akzeptanzverstärkend oder -mindernd sein kann. So ist z.B. anzu-nehmen, dass eine starke »Solidaritätsorientierung« vor allem bei Sicherungssystemen, die stärker am Solidarprinzip orientiert sind (Gesetzliche Krankenversicherung, So-zialhilfe), zu einer höheren Akzeptanz führt.

87 Zur Unterscheidung von (grundlegenden) Gerechtigkeitsurteilen und (spezifischen, kontextnahen)

Gerechtigkeitseinstellungen vgl. Liebig (2002).

Page 89: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

4.3 Erklärungsfaktoren für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme 89

(3) Eigenschaften der Leistungsempfänger

Neben den unterschiedlichen Parametern des Eigeninteresses und allgemeinen Wert- und Handlungsorientierungen wird in dieser Untersuchung noch eine dritte Gruppe von Variablen als mögliche Erklärungsfaktoren wohlfahrtsstaatlicher Akzeptanz herangezogen. Hierbei handelt es sich um die Eigenschaften, die bei Leistungsemp-fängern wahrgenommen werden bzw. die ihnen zugeschrieben werden.88

Dass die Wahrnehmung von Leistungsempfängern einen Einfluss auf die Ak-zeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen hat, ist nicht nur theoretisch plausibel, sondern konnte bereits auch empirisch nachgewiesen werden (vgl. u.a. Cook/Bar-rett 1992). Unzweifelhaft scheint, dass sich ein positives Empfängerbild akzeptanz-förderlich, ein negatives dagegen akzeptanzabträglich auswirkt. Weniger klar ist da-gegen, welche wahrgenommenen oder zugeschriebenen Eigenschaften der Leis-tungsempfänger für deren Beurteilung und für die Akzeptanz sozialer Sicherungs-systeme entscheidend sind.

Aufgrund der vorliegenden empirischen Befunde sowie allgemeiner theoreti-scher Überlegungen, wurden zur Erfassung des Leistungsempfängerbildes folgende Eigenschaftsdimensionen einbezogen:

die allgemeine soziale Wertschätzung (Unterstützungswürdigkeit) der unter-schiedlichen »Leistungsempfänger-Grundgesamtheiten« (ältere Menschen, Kran-ke, Arme etc.); die Bedürftigkeit der Leistungsempfänger (Gelten diese als »wirklich« bedürf-tig?);die Frage der Anspruchsberechtigung (z.B. ein Anspruchserwerb durch Bei-tragszahlungen);die »Missbrauchsvermutung« (Vorkommen von Leistungsmissbrauch); die Victimisierung der Leistungsempfänger (Wird diesen eine Mitschuld an ihrer Situation gegeben?).

Mit Ausnahme des Bereichs »Familie«89 stehen für alle Sicherungssysteme Indi-katoren für mindestens vier dieser Eigenschaftsdimensionen zur Verfügung. Dazu

88 Allgemein betrachtet nehmen Leistungsempfängereigenschaften bei der Erklärung der Akzeptanz

sozialer Sicherungssysteme einen Sonderstatus als intervenierende (oder endogene) Variablen ein. Sie sind nicht nur wichtige Erklärungsfaktoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz, sondern selbst ein erklärungsbedürftiges Phänomen. Hier wird jedoch davon ausgegangen, dass die Wahrnehmung der Leistungsempfänger einen von den anderen Erklärungsfaktoren unabhängigen Einfluss auf die Akzeptanzurteile ausübt.

89 Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Familien (und Alleinerziehende) als Leistungsemp-fängertyp deutlich weniger in Erscheinung treten bzw. weniger typisiert sind als die Leistungsemp-fänger anderer Sicherungsbereiche. Wesentlich ist hierin auch eine Folge des geringeren Institutio-nalisierungsgrads familienpolitischer Leistungen zu sehen.

Page 90: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

90 4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz

wurden den Befragten Aussagen über die Leistungsempfänger vorlegt, zu denen sie auf einer endpunktbeschrifteten 6er-Skala (von »stimme überhaupt nicht zu« bis »stimme voll und ganz zu«) Stellung nehmen konnten (zu den Itemformulierungen s. Anhang A2.2).

Variablen, die »proxy« für unterschiedliche Erklärungsfaktoren sind

Neben den bisher genannten Faktoren werden zur Erklärung der Akzeptanzurteile gegenüber dem Wohlfahrtsstaat drei soziodemografische Merkmale herangezogen, die als »proxy« für unterschiedliche Einflussgrößen angesehen werden und daher in Abhängigkeit von der jeweiligen Fragestellung unterschiedlich interpretiert werden.

Das erste dieser Merkmale ist die formale Bildung. Die Höhe der formalen Bil-dung kann zum einen als Indikator für kulturelle Eigenschaften wie Toleranz, Em-pathiefähigkeit, Permissivität und soziales Bewusstsein angesehen werden (vgl. u.a. Bobo/Licari 1989; Coenders/Scheepers 2003). Die allgemeine Vermutung ist hier, dass diese Eigenschaften positiv mit dem Bildungsniveau korreliert sind und dass sie mit einer höheren Solidaritätsbereitschaft verbunden sind, die nicht durch das Eigeninteresse motiviert ist. Eine hohe Bildung sollte daher zu einer höheren Ak-zeptanz von Sicherungssystemen und Leistungsempfängergruppen führen, bei de-nen kein direktes Eigeninteresses (an den Empfang von Leistungen) besteht (z.B. bei Beamten und der Sozialhilfe).

Andererseits ist Bildung aber in erster Linie eine Variable des Humankapitals. Höhere Bildung sollte daher zum einen mit besseren Kenntnissen über sozialpoliti-sche Zusammenhänge und zum anderen mit einem höheren Selbsthilfepotenzial verbunden sein. Im ersten Fall würde dies bedeuten, dass mit höherer formaler Bil-dung bessere »Einsichten« über sozialpolitische Realitäten und Machbarkeiten ein-hergehen; der zweite bedeutet, dass mit dem Bildungsgrad auch die »Marktfähigkeit« steigt und dass daher Angehörige der Bildungsunterschichten ein stärkeres Interesse am Festhalten an wohlfahrtsstaatlichen Absicherungsformen haben müssten. Unab-hängig von anderen Schichtungsfaktoren wie dem Einkommen sollten beide Bil-dungskorrelate – bessere Kenntnisse sozialpolitischer Zusammenhänge und das grö-ßere Selbsthilfepotenzial – dazu führen, dass bei höherem Bildungsniveau ein hohes staatliches Engagement kritischer beurteilt wird und dass parallel dazu eine höhere Aufgeschlossenheit gegenüber »marktlichen« Elementen besteht als bei einem gerin-gen formalen Bildungsgrad.

Zur Bestimmung des Bildungsgrads wurde eine aktualisierte Version der CAS-MIN-Klassifikation90 verwendet (vgl. Brauns/Steinmann 1999). Insgesamt werden

90 Die CASMIN-Bildungsklassifikation wurde zur internationalen Vergleichbarkeit von Bildungsab-

schlüssen entwickelt (vgl. König et al 1987). Mittlerweile liegt eine aktualisierte Fassung der CAS-MIN-Klassifikation vor, in der neuere Veränderungen in den Bildungssystemen berücksichtigt werden (vgl. Brauns et al. 2003).

Page 91: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

4.3 Erklärungsfaktoren für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme 91

dabei neun Bildungsgradkategorien unterschieden, die hier zu analytischen Zwecken zu drei Kategorien zusammengefasst wurden. Diese entsprechen der übergeordneten Gliederungsebene der CASMIN-Klassifikation und werden als hohe, mittlere und niedrige Bildung bezeichnet (vgl. Anhang A2.2).

Die zweite Variable, für die die Eingangsbemerkungen zutreffen, ist der »Landes-teil« mit den beiden Ausprägungen Ost- und Westdeutschland. Zunächst gilt hier wie bei der Bildungsvariable, dass Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Befragten auch auf die unterschiedliche sozialstrukturelle Zusammensetzung der beiden Landesteile zurückzuführen sind.

Sofern diese sozialstrukturellen Unterschiede durch den Einbezug von Interes-senindikatoren, wie vor allem dem Versorgungsklassenstatus, kontrolliert werden können, lassen sich verbleibende Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Befragten am besten als kulturelle Unterschiede erklären. So wurde bereits auf die unterschiedlichen sozialpolitischen Traditionen in den beiden Landesteilen hinge-wiesen (Roller 1997). Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind dem-nach insbesondere bei der Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit (gewünschter Um-fang der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung) anzunehmen. Vor allem etatistische Neigungen, die im Staat den Hauptadressaten einer Risikoabsicherung sehen, sollten sich eher bei ostdeutschen Befragten finden lassen. Ähnliches lässt sich für die »er-weiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit« vermuten, nämlich dass Ostdeutsche im stärkeren Maße als Westdeutsche eine Ausweitung des Wohlfahrtsstaates auf Bereiche präfe-rieren, die nicht zum Kernbestand des (westdeutschen) Sozialversicherungsstaates gehören.91

Die dritte Variable, die als proxy für unterschiedliche Einflussfaktoren gelten kann, ist das Geschlecht der Befragten. Vor allem aufgrund der geringen Eingebun-denheit in den Arbeitsmarkt und durch die stärkere Belastung mit den Aufgaben der Kindererziehung unterscheiden sich die sozialpolitischen Interessenlagen von Män-nern und Frauen oft deutlich. Dabei sollten sich die geringere Arbeitmarktnähe und eine schwächere »Erwerbsbiografieorientierung« von Frauen insbesondere bei der Beurteilung erwerbsarbeitsabhängiger Leistungen auswirken. Komplementär kön-nen für Frauen auch eine »Familienorientierung« angenommen werden und entspre-chende Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei der Beurteilung familien-politischer Leistungen.

Männer und Frauen unterscheiden sich aber nicht nur in ihren allgemeinen so-zialpolitischen Interessenlagen. Durch geschlechtsspezifische Sozialisationserfah-rungen und Rollenerwartungen können sich auch geschlechtstypische Wertmuster entwickeln. Nach verbreiteten Vorstellungen sind Frauen z.B. eher an Werten wie »Fürsorge« und »Toleranz« orientiert, Männer demgegenüber an Werten wie »Ge-

91 Der »Landesteil« wurde durch das Bundesland erfasst (Ost- und Westberlin getrennt), in dem das

Interview durchgeführt wurde.

Page 92: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

92 4 Zur Operationalisierung und Erklärung von Akzeptanz

Wahrnehmung derLeistungsempfänger

sozialpolitische Interessenlage (allge-meine soziale Lage; Versorgungsklassen-status; subjektive Interessendefinitionen) Akzeptanz des

Wohlfahrtsstaates(1) Akzeptanz des wohl-

fahrtsstaatlichen Status quo

(2) Akzeptanz der Wohl-fahrtsstaatlichkeit

allgemeine Handlungs- und Wertorientierungen

rechtigkeit« und »Leistung«.92 Solche geschlechtstypischen Unterschiede bei grund-legenden Wertorientierungen sind umstritten und oft nur schwer nachzuweisen. Ohne hieraus spezifische Hypothesen ableiten zu wollen, sollte aber die Möglich-keit, dass sich geschlechtstypische Wertmuster auf die Akzeptanz wohlfahrtsstaatli-cher Sicherungssysteme auswirken, in Betracht gezogen und entsprechend »kontrol-liert« werden.

Mit der differenzierten Erfassung der verschiedenen sozialpolitischen Interes-senparameter, allgemeiner Handlungsorientierungen sowie der wahrgenommenen (bzw. zugeschriebenen) Eigenschaften der Leistungsempfänger sollten hinreichend viele potenzielle Erklärungsfaktoren für eine tragfähige Erklärung der Akzeptanzur-teile gegenüber den wohlfahrtsstaatlichen Institutionen zur Verfügung stehen. Bei der Behandlung spezifischer Fragen werden zudem selektiv weitere Erklärungsfak-toren ergänzt (für eine vollständige Übersicht der verwendeten Erklärungsfaktoren s. A2.2 und A2.3)

Alle hier beschriebenen Erklärungsfaktoren, und dies gilt ausdrücklich auch für die wahrgenommenen Leistungsempfängereigenschaften, werden dabei in den spä-teren Analysen zur Erklärung von Akzeptanzurteilen (Kapitel 6) gleichberechtigt als unabhängige Variablen verwendet. Die in Abbildung 4.4 dargestellte Gesamtstruk-tur ist dabei weniger im Sinne eines expliziten Erklärungsmodells, sondern als über-greifendes Orientierungsschema zu verstehen.

Abbildung 4.4: Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen: allgemeines Orientierungsschema

92 Ein bekanntes Beispiel ist hier die Kritik Gilligans (1982) an Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung.

Page 93: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland

Das Ziel der folgenden Abschnitte besteht darin, ein möglichst genaues und umfas-sendes Bild über die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates in Deutschland zu gewinnen. Zu diesem Zweck werden beide Akzeptanzdimensionen (vgl. Kap. 4.2), die Akzep-tanz des bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Arrangements (oder auch des »wohlfahrtsstaatli-chen Status quo«) und die Präferenzen bezüglich der Wohlfahrtsstaatlichkeit – analysiert. Beide Akzeptanzdimensionen werden für die fünf unterschiedlichen Sicherungssys-teme bzw. -bereiche (vgl. 4.1) untersucht. Darüber hinaus werden allgemeinere Ak-zeptanzurteile und Präferenzen bezüglich der Wohlfahrtsstaatlichkeit, die nicht ein-zelnen Aufgabenbereichen zugerechnet werden können, analysiert.

In Abschnitt 5.1 wird zunächst die Beurteilung der bestehenden wohlfahrts-staatlichen Institutionen betrachtet. Der zweite Abschnitt (5.2) befasst sich dann mit der Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit, wiederum unterteilt nach den unterschied-lichen Sicherungsbereichen. Allgemeinere, über den bereits institutionalisierten Kern-bestand hinausgehende Präferenzen hinsichtlich der Wohlfahrtsstaatlichkeit werden zusammenfassend in Abschnitt 5.3 erläutert.

Mit diesen auf drei Ebenen angelegten Akzeptanzanalysen sollte es gelingen, ein differenziertes Bild der Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates in Deutschland zu gewin-nen. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei Unterschieden zwischen Ost- und Westdeut-schen. Es wird untersucht, inwiefern bei der Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates Tren-nungslinien zwischen den beiden Landesteilen bestehen und ob man (immer noch?) von zwei unterschiedlichen Wohlfahrtskulturen in Deutschland auszugehen hat. An-dere Unterschiede oder gar Gegensätze zwischen Bevölkerungsteilen und sozialen Kategorien werden – wie beim Erwerbsstatus, der Schichtzugehörigkeit und dem Alter – in gesonderten Abschnitten (in Kapitel 6) behandelt.

5.1 Akzeptanz des »Status quo«

Wie in Kapitel 4.2 dargelegt wurde, kann bei der Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates zwischen zwei grundlegenden Dimensionen unterschieden werden: der Akzeptanz der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Institutionen und der gewünschten Wohl-fahrtsstaatlichkeit. Im Folgenden soll zunächst die Akzeptanz der bestehenden wohl-

Page 94: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

94 5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland

fahrtsstaatlichen Institutionen untersucht werden. Dies geschieht für die Bereiche Alterssicherung (bzw. Gesetzliche Rentenversicherung), Gesundheit (Gesetzliche Kran-kenversicherung), Arbeitslosigkeit (Arbeitslosenversicherung), Armut (Sozialhilfe) und Familie (u.a. Kindergeld und Erziehungsgeld).

Die Akzeptanzanalyse stützt sich in erster Linie auf die Verteilung der Häufig-keiten bei der Beurteilung der Sicherungssysteme, wobei in den Grafiken die Häu-figkeiten für Ost- und Westdeutsche jeweils getrennt dargestellt werden. Für den Vergleich zwischen den einzelnen Sicherungssystemen werden die »positiven« Ak-zeptanzwerte herangezogen. Ergänzend wird bei der Interpretation der Ergebnisse auch auf Mittelwerte und Mittelwertdifferenzen zwischen Ost- und Westdeutschen zurückgegriffen.

Zur Beurteilung der Akzeptanz des Status quo der wohlfahrtsstaatlichen Siche-rung stehen zwei Arten von Indikatoren zur Verfügung. Wie in Kapitel 4.2 erläutert wurde, handelt es sich dabei um Fragen nach dem gesellschaftlichen Wert der einzel-nen Sicherungssysteme (Institutionenakzeptanz) und zum allgemeinen Vertrauen in die sozialen Sicherungssysteme.

Institutionenakzeptanz

Zunächst zur Institutionenakzeptanz der sozialen Sicherungssysteme. Betrachtet man die Beurteilung des gesellschaftlichen Wertes der Gesetzlichen Krankenversicherung, fällt bei der Verteilung der Häufigkeiten (vgl. Abb. 5.1a) zunächst auf, dass die Institutionen-akzeptanz – zumindest in ihrer groben Struktur – annähernd »normalverteilt« ist. Dies bedeutet, dass die Gesetzliche Krankenversicherung bei diesem, die allgemeine Ak-zeptanz eines Sicherungssystems am besten erfassenden Indikator eher »durchschnitt-lich« beurteilt wird: Positive und negative Beurteilungen halten sich in etwa die Waa-ge, wenn auch bei einem leichten Übergewicht der positiven Einschätzungen. 48,3 Pro-zent der Befragten beurteilen den gesellschaftlichen Wert der GKV als gut, aber im-merhin 35,2 Prozent sind der gegenteiligen Ansicht; und nur 9,2 Prozent der Befrag-ten beurteilen die Gesetzliche Krankenversicherung als »sehr gut« (Werte 9 bis 10 auf Skala von 0 bis 10). Der Mittelwert93 beträgt 5,35 für Gesamtdeutschland und liegt da-mit nur wenig über dem theoretischen Mittelwert (5,00).

Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind dabei sehr gering. Die Mittelwertdifferenz beträgt nur 0,11 Skalenpunkte, wobei die Ostdeutschen die Gesetzliche Krankenversicherung insgesamt weniger günstig beurteilen als die West-deutschen.

Schon dieses erste Ergebnis zeigt, dass die Akzeptanz der Gesetzlichen Kran-kenversicherung nicht sehr hoch ist. Denn auch wenn es keine objektiven »Akzep-tanz(wert)grenzen« gibt, so lässt sich eine im Durchschnitt nur knapp positive Beur-teilung des gesellschaftlichen Wertes der Gesetzlichen Krankenversicherung kaum 93 Sofern nicht anders angegeben, ist hiermit immer das arithmetische Mittel gemeint.

Page 95: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

5.1 Akzeptanz des »Status quo« 95

als »überragende« Akzeptanz interpretieren. (So sind immerhin 4,5 Prozent der Be-völkerung sogar der Meinung, dass die Gesetzliche Krankenversicherung für die Gesellschaft »sehr schlecht« ist.) Dieses Ergebnis steht damit in einem deutlichen Kontrast zu den Ergebnissen früherer Untersuchungen, die für soziale Krankenver-sicherungen und nationale Gesundheitsdienste überwiegend eine hohe bis sehr ho-he Akzeptanz feststellen (vgl. Kap. 3).

Abbildung 5.1a: Gesetzliche Krankenversicherung: Institutionenakzeptanz (Angaben in Prozent)

4,1

1,3

2,7

4,8

7,06,4

11,911,2

9,3

12,8

15,7

19,8

11,612,1

15,8

10,5

12,4

13,4

5,7

4,53,9

3,2

0

2

4

6

8

10

12

14

16

18

20

Sehrschlecht

1 2 3 4 5 6 7 8 9 Sehr gut

WestdeutscheOstdeutsche

N=1519

Auch bei der Institutionenakzeptanz der Gesetzlichen Rentenversicherung fällt zunächst auf, dass die Häufigkeiten relativ gleichmäßig verteilt sind (vgl. Abb. 5.1b). Es besteht somit unter den Befragten alles andere als ein Konsens über den gesellschaftlichen Wert der Rentenversicherung. Die Beurteilung des gesellschaftlichen Wertes fällt hier insgesamt sogar noch etwas schlechter aus als bei der Gesetzlichen Krankenversi-cherung, sodass der Gesamtmittelwert (4,64) sogar unter dem theoretischen Mittel-wert liegt. Insgesamt gibt sich nur wenig mehr als ein Drittel der Befragten (37,2 %) vom gesellschaftlichen Wert der Gesetzlichen Rentenversicherung überzeugt, wäh-rend immerhin 47 Prozent meinen, dass die Gesetzliche Rentenversicherung eher »schlecht« für die Gesellschaft sei.94 Im Unterschied zur Beurteilung der Gesetzli-chen Krankenversicherung veranschlagen die westdeutschen Befragten dabei den gesellschaftlichen Wert der Rentenversicherung noch etwas geringer als die ostdeut- 94 Wie anhand der weiteren Akzeptanzindikatoren noch deutlich wird, ist diese kritische Sicht der Ren-

tenversicherung als Institution vermutlich auf die Wahrnehmung eines Leistungsdefizits zurückzufüh-ren, nicht aber auf Zweifel an der Notwendigkeit einer »staatlichen« Rentenversicherung.

Page 96: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

96 5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland

schen, wobei der Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschen wiederum unbe-deutend ist (Mittelwertdifferenz: 0,19).

Abbildung 5.1b: Gesetzliche Rentenversicherung: Institutionenakzeptanz (Angaben in Prozent)

5,8

3,6

7,2

5,8

11,4 11,4

12,7

11,010,5

13,0

15,1

18,2

11,3

9,49,8

13,0

10,1

8,1

3,5 3,22,6

3,2

0

2

4

6

8

10

12

14

16

18

20

Sehrschlecht

1 2 3 4 5 6 7 8 9 Sehr gut

WestdeutscheOstdeutsche

N=1483

Ein ähnliches Bild ergibt sich für die Institutionenakzeptanz der Arbeitslosenversiche-rung (Abb. 5.1c). Wiederum liegt der Gesamtmittelwert (4,85) unter dem theoretischen. Auch hier sind also mehr Befragte von einer »schlechten« Wirkung der Arbeitslo-senversicherung überzeugt (41,3 %) als von einer positiven (40,9 %), auch wenn der Unterschied hier sehr gering ist. Auffällig ist zudem der relativ große Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschen. Die ostdeutschen Befragten schätzen dabei den gesellschaftlichen Wert der Arbeitslosenversicherung deutlich niedriger ein. Nur knapp ein Drittel der ostdeutschen Befragten (33,1 %) ist von einer positiven Wirkung über-zeugt (bei den Westdeutschen sind es immerhin noch 42,9 Prozent).

Für die Sozialhilfe (Abb. 5.1d) ergibt sich eine ähnliche Verteilung wie bei der Arbeitslosenversicherung. Während 40,7 Prozent der Befragten ihr einen positiven Wert zubilligen, sind immerhin 41,3 Prozent vom Gegenteil überzeugt. Bei der Ein-schätzung der Sozialhilfe ist zudem eine noch größere Differenz zwischen ostdeut-schen und westdeutschen Befragten festzustellen. Bei einem insgesamt etwas höhe-ren Mittelwert (4,91) beträgt die Mittelwertdifferenz zwischen Ostdeutschen (4,26) und Westdeutschen (5,08) immerhin 0,82 Skalenpunkte. Der Sozialhilfe wird also etwas eher eine positive Funktion zuerkannt als der Renten- und der Arbeitslosen-versicherung. Wie die Ergebnisse zu den anderen Akzeptanzindikatoren zeigen (s.u.),

Page 97: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

5.1 Akzeptanz des »Status quo« 97

wäre es jedoch voreilig, hieraus auf eine größere Akzeptanz der Sozialhilfe zu schlie-ßen. Offensichtlich scheint aber, dass insbesondere die Unzufriedenheit mit der Rentenversicherung größer ist.

Abbildung 5.1c: Arbeitslosenversicherung: Institutionenakzeptanz (Angaben in Prozent)

4,2

7,26,5

7,2

8,2

10,7

8,5

10,311,3

15,9

18,4

15,514,9

13,112,1

8,69,2

6,2

3,3 3,1 3,4

2,1

0

2

4

6

8

10

12

14

16

18

20

Sehrschlecht

1 2 3 4 5 6 7 8 9 Sehr gut

WestdeutscheOstdeutsche

N=1421

Abbildung 5.1d: Sozialhilfe: Institutionenakzeptanz (Angaben in Prozent)

5,0

8,5

5,0

10,6

8,3

11,7

10,0

11,7

9,8

13,4

19,1

11,311,3

8,5

11,5 11,3

10,9

5,3

3,93,5

5,14,2

0

2

4

6

8

10

12

14

16

18

20

Sehrschlecht

1 2 3 4 5 6 7 8 9 Sehr gut

WestdeutscheOstdeutsche

N=1373

Page 98: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

98 5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland

Die Leistungen für Familien sind neben der Gesetzlichen Krankenversicherung der einzige Bereich, bei dem die positiven Einschätzungen die negativen überwiegen (Mittelwert: 5,68); und nur hier gibt es sogar eine »absolute Mehrheit« der Befragten (53,5 %), die von einem positiven gesellschaftlichen Wert ausgeht (vgl. Abb. 5.1e). Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind wiederum recht deutlich, wenn auch geringer als bei der Institutionenakzeptanz der Sozialhilfe oder der Ar-beitslosenversicherung. Sie zeigen, dass mit Ausnahme der Gesetzlichen Rentenver-sicherung durchgehende Muster einer kritischeren Einschätzung durch ostdeutsche (Mittelwert 5,46) als durch westdeutsche Befragte (5,73) zu erkennen sind.

Abbildung 5.1e: Leistungen für Familien: Institutionenakzeptanz (Angaben in Prozent)

2,9

2,1

4,85,2 5,4

7,6

8,8

10,4

9,2

9,7

14,2

16,3

11,4

9,7

14,0

12,5

14,2

15,3

6,9

5,6

8,1

5,6

0

2

4

6

8

10

12

14

16

18

Sehrschlecht

1 2 3 4 5 6 7 8 9 Sehr gut

WestdeutscheOstdeutsche

N=1444

Das Auffälligste an den Ergebnissen zur Institutionenakzeptanz ist zweifellos die äußerst geringe Einschätzung des gesellschaftlichen Wertes für alle hier erfragten Sicherungs-systeme. Bei drei der fünf Akzeptanzobjekte (Gesetzliche Rentenversicherung, Ar-beitslosenversicherung und Sozialhilfe) ist die Institutionenakzeptanz sogar negativ, d.h. eine relative Mehrheit der Befragten ist hier jeweils der Ansicht, dass diese Si-cherungssysteme für die Gesellschaft »schlecht« sind.

Dieses Ergebnis ist zumindest überraschend (und wenn man so will: auch »schockierend«). Gewiss spricht einiges dafür, die negativen Urteile nicht wörtlich zu nehmen und »schlecht für die Gesellschaft« im Sinne von »geringer Wert für die Gesellschaft« zu interpretieren. Aber nicht einmal dann kann angesichts des Um-standes, dass mit Ausnahme der Leistungen für Familien weniger als die Hälfte der

Page 99: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

5.1 Akzeptanz des »Status quo« 99

Befragten vom Wert der Sicherungssysteme überzeugt ist, nicht von einer hohen Akzeptanz der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen gesprochen werden.

Abbildung 5.1f: Positive Beurteilungen des »gesellschaftlichen Wertes« im Vergleich (Angaben in Prozent)

53,5

40,7

40,9

37,2

48,3

20 25 30 35 40 45 50 55 60

Leistungen für Familien

Sozialhilfe

Arbeitslosenversicherung

GesetzicheRentenversicherung

GesetzlicheKrankenversicherung

Auch die Unterschiede zwischen den Sicherungssystemen (Abb. 5.1f) entsprechen nicht den Erwartungen auf der Basis früherer Forschungsergebnisse. Überraschend ist dabei vor allem die sehr geringe Institutionenakzeptanz der Gesetzlichen Renten-versicherung, wo Alterssicherungssysteme sonst doch als besonders beliebt gelten (vgl. Ullrich 2000a).95 Auf der anderen Seite sind die Akzeptanzwerte für die Sozial-hilfe – sonst erfahren vergleichbare Sicherungssysteme die geringste Unterstützung (und dies meist mit deutlichem Abstand) – im Vergleich zu den anderen Siche-rungssystemen eher hoch. In beiden Fällen könnte eine mögliche Erklärung lauten, dass hier – ganz im Sinne der Intentionen bei der Entwicklung der Akzeptanzindi-katoren (vgl. 4.2) – tatsächlich die konkreten wohlfahrtsstaatlichen Institutionen be-urteilt werden und nicht Wunschvorstellungen vom Wohlfahrtsstaat; und deren Be-urteilung fällt womöglich umso schlechter aus, je weiter Wunsch und Wirklichkeit auseinander klaffen.

95 Als Hinweis auf eine skeptische Wahrnehmung der Gesetzlichen Rentenversicherung kann aber

die gerade im internationalen Vergleich geringe Zustimmung für höhere Ausgaben bei der Alterssi-cherung angesehen werden, die in den ISSP-Modulen »Role of Government I und II« (1990 und 1996) festzustellen ist.

Page 100: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

100 5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland

Mit Ausnahme der Gesetzlichen Rentenversicherung, die ohnehin die schlech-testen »Noten« bekommt, urteilen Ostdeutsche über die zentralen Wohlfahrtsinsti-tutionen stets kritischer als die Westdeutschen. Über die Gründe hierfür kann an dieser Stelle nur spekuliert werden. Denkbar sind u.a. enttäuschte Erwartungen, kul-turelle Traditionen und eine größere Abhängigkeit von Sozialleistungen. Zu beach-ten ist jedenfalls auch bei den Unterschieden zwischen ost- und westdeutschen Be-fragten, dass es bei der Institutionenakzeptanz um die Beurteilung des wohlfahrts-staatlichen Status quo geht und nicht um allgemeine Präferenzen hinsichtlich der sozialen Sicherung.

Systemvertrauen

Wie unterscheiden sich diese Ergebnisse nun von denen zum Vertrauen in soziale Sicherungssysteme, das für die vier hoch institutionalisierten Sicherungssysteme (Gesetzliche Krankenversicherung, Gesetzliche Rentenversicherung, Arbeitslosen-versicherung und Sozialhilfe) erfragt wurde?

Zunächst zum Vertrauen in die Gesetzliche Krankenversicherung. Beim Blick auf die Häufigkeitsverteilung (Abb. 5.2a) fällt hier auf, dass das Misstrauen das Vertrau-en offenbar überwiegt. Nur 42,6 Prozent der Befragten sind von der Zuverlässigkeit der Gesetzlichen Krankenversicherung überzeugt; entsprechend (da es keine Mittel-kategorie gibt) haben 57,4 Prozent kein Vertrauen in die Gesetzliche Krankenversi-cherung. Noch deutlicher wird dieses »Misstrauensvotum«, wenn man die Extrem-werte betrachtet: So beantworten die Frage, ob man sich in Zukunft auf die Gesetz-liche Krankenversicherung verlassen könne, nur 6,7 Prozent der Befragten mit »Ja, auf jeden Fall« und immerhin mehr als doppelt so viele (15,8 %) mit »Nein, auf keinen Fall«. Damit sind die Vertrauenswerte hier noch niedriger als bei der Beurtei-lung der Institutionenakzeptanz. Waren dort immerhin noch mehr von einem sol-chem Wert der Gesetzlichen Krankenversicherung überzeugt als vom Gegenteil, überwiegen bei der »Vertrauensfrage« ganz eindeutig die skeptischen Einschätzun-gen. Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind hier dagegen prak-tisch bedeutungslos.

Angesichts der kritischen Beurteilung des gesellschaftlichen Wertes der Renten-versicherung kann es nicht mehr sehr überraschen, dass auch das Vertrauen in die Gesetzliche Rentenversicherung überaus gering ist. Insgesamt bejaht nur ein knappes Vier-tel der Befragten die Frage, ob man sich auf die Gesetzliche Rentenversicherung verlassen könne (und nur 4,6 Prozent zeigen sich davon sehr überzeugt). Damit ist das Vertrauen in die Rentenversicherung noch deutlich geringer als das in die Ge-setzliche Krankenversicherung. Das Vertrauen (bzw. Misstrauen) ist dabei in Ost- und Westdeutschland ungefähr gleich groß.

Page 101: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

5.1 Akzeptanz des »Status quo« 101

Abbildung 5.2a: Systemvertrauen (Angaben in Prozent)

N = 1494N = 1498

15,2 17,9

41,8 40,936,6

33,1

6,4 8,1

0

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

55

nein, auf keinen Fall eher nein eher ja ja, auf jeden Fall

29,5

26,6

46,949,7

19,417,9

4,25,8

0

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

55

nein, auf keinen Fall eher nein eher ja ja, auf jeden Fall

Gesetzliche Krankenversicherung Gesetzliche Rentenversicherung

Westdeutsche Ostdeutsche

17,2

21,6

47,4

52,2

31,4

21,6

4,04,7

0

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

55

nein, auf keinen Fall eher nein eher ja ja, auf jeden Fall

15,8

23,7

42,5 43,1

35,9

27,1

5,7 6,0

0

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

55

nein, auf keinen Fall eher nein eher ja ja, auf jeden Fall

Westdeutsche OstdeutscheN = 1439 N = 1423

Arbeitslosenversicherung Sozialhilfe

Die Vertrauenswerte für die Arbeitslosenversicherung liegen zwischen denen der Ge-setzlichen Rentenversicherung und denen der Gesetzlichen Krankenversicherung. Ungefähr ein Drittel der Befragten meint, dass man sich in Zukunft auf die Arbeits-losenversicherung verlassen könne, zwei Drittel dagegen misstrauen auch der Ar-beitslosenversicherung. Anders als bei der Renten- und der Krankenversicherung gibt es beim Vertrauen in die Arbeitslosenversicherung jedoch deutliche Unterschie-de zwischen Ost- und Westdeutschen. Während immerhin 35,4 Prozent der West-deutschen der Arbeitslosenversicherung vertrauen, ist es in den östlichen Bundes-ländern nur ein gutes Viertel der Befragten (26,2 %).

Für die Sozialhilfe ist ähnliches festzustellen. Das Vertrauen in die Sozialhilfe (39,8 %) ist dabei geringfügig größer als das in die Arbeitslosenversicherung – und erreicht damit den »höchsten« Wert nach der Gesetzlichen Krankenversicherung. Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind hier insgesamt am stärk-sten ausgeprägt (vgl. Abb. 5.2a). So »vertrauen« der Sozialhilfe immerhin noch 41,6 Prozent der Westdeutschen, aber nur ein Drittel der Ostdeutschen (33,1 %).

Page 102: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

102 5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland

Abbildung 5.2b: Positive Vertrauenswerte im Vergleich (Angaben in Prozent)

39,8

33,5

23,6

42,6

0 10 20 30 40 50 60

Sozialhilfe

Arbeitslosenversicherung

GesetzlicheRentenversicherung

GesetzlicheKrankenversicherung

Auffälligstes Ergebnis ist hier gewiss das äußerst geringe Vertrauen, das allen Siche-rungssystemen entgegengebracht wird. Bei allen Sicherungssystemen, für die das Vertrauen gemessen wurde, überwiegt das Misstrauen. Selbst im »besten« Fall, der Gesetzlichen Krankenversicherung, sind weit über die Hälfte der Befragten nicht davon überzeugt, dass man sich in Zukunft auf sie verlassen könne (Abb. 5.2b). Welche Relativierungen man dabei auch immer für dieses »Misstrauensvotum« kon-zedieren mag: Über den Gesamteindruck, dass das Vertrauen in die zentralen wohl-fahrtsstaatlichen Institutionen in Deutschland als zutiefst erschüttert erscheint, kann dies nicht hinwegtäuschen.

Zwischenresümee: Die Akzeptanz der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Institutionen

Auch wenn die beiden bisher untersuchten Akzeptanzindikatoren schon aufgrund der unterschiedlichen Skalierungen nur begrenzt vergleichbar sind, so fällt doch auf, dass die Vertrauenswerte offenbar noch geringer sind (in allen Fällen überwiegt das Misstrauen) als die bei der Institutionenakzeptanz (Beurteilung des gesellschaftlichen Wertes).96 Wichtiger als dieser eher graduelle Unterschied ist aber, dass beiden Ak-zeptanzindikatoren zufolge die Akzeptanz der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Arrange-ments auch bei einer zurückhaltenden Interpretation als zumindest mäßig zu bezeich-nen ist.

Beim Vergleich der beiden Akzeptanzindikatoren des wohlfahrtsstaatlichen Sta-tus quo wird zudem deutlich, dass das »Ranking« der Sicherungssysteme in beiden Fällen gleich ist. So sind die Akzeptanzwerte der Gesetzlichen Krankenversicherung in 96 Dieses geringe Systemvertrauen mag zudem auch ein Grund für die geringe Institutionenakzeptanz

der Sicherungssysteme sein.

Page 103: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

5.1 Akzeptanz des »Status quo« 103

beiden Fällen die höchsten, gefolgt von denen der Sozialhilfe, der Arbeitslosenversi-cherung und der Gesetzlichen Rentenversicherung. Dies spricht für die Stabilität der Messung und für die Annahme (vgl. 4.2), dass beide Akzeptanzindikatoren mit leicht unterschiedlichen Akzentuierungen die Akzeptanz des Status quo der wohl-fahrtsstaatlichen Absicherung erfassen.

Auffällig ist dabei vor allem der erhebliche Unterschied zwischen den beiden großen Sozialversicherungen. Wird die Gesetzliche Krankenversicherung noch eini-germaßen gut (d.h. hier also »durchschnittlich«) beurteilt, muss die Gesetzliche Ren-tenversicherung nicht nur als das Sicherungssystem mit der relativ geringsten, son-dern auch als das mit einer besonders geringen Akzeptanz gelten.97

Dagegen sind die Werte der Sozialhilfe vergleichsweise hoch: Sowohl beim Vertrauen als auch beim gesellschaftlichen Wert genießt sie eine höhere Akzeptanz als die Arbeitslosenversicherung und die Rentenversicherung. Mögliche Erklärun-gen hierfür könnten insgesamt geringere Erwartungen (vgl. 5.2) und eine geringere potenzielle Angewiesenheit auf Sozialhilfe sein (vgl. hierzu 6.2).

Auffällig sind schließlich auch die Parallelitäten bei den Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschen. So besteht sowohl beim Institutionenvertrauen als auch bei der Einschätzung des gesellschaftlichen Wertes weitgehende Übereinstimmung bei der Kranken- und bei der Rentenversicherung. Da die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen hier eher gering sind, könnte man von einem »gesamtdeutschen Konsens« bei der noch »respektablen« Beurteilung der Gesetzlichen Krankenversi-cherung wie bei der äußerst skeptischen Wahrnehmung der Rentenversicherung sprechen. Demgegenüber unterscheiden sich ost- und westdeutsche Befragte erheb-lich bei der Beurteilung von Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe, die von den Ostdeutschen sowohl beim Vertrauensindikator als auch bei der Institutionenakzep-tanz deutlich schlechter beurteilt werden als von den Westdeutschen.98

97 So sehr dieses »schlechte« Ergebnis für die Rentenversicherung auch überraschen mag, so bestätigen

vor allem die geringen Vertrauenswerte doch frühere Forschungsergebnisse (vgl. Dallinger 2003: 6; Krüger 2001: 161).

98 Diese Konstanz bei den Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschen bestätigt erneut, dass mit den beiden Akzeptanzindikatoren des Status quo tatsächlich das gleiche Akzeptanzobjekt gemessen wird.

5.2 Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit

Auch zur Erfassung der Präferenzen hinsichtlich der Wohlfahrtsstaatlichkeit stehen je zwei bereichsspezifische Indikatoren zur Verfügung. Wie in Abschnitt 4.2 ausge-führt wurde, handelt es sich dabei zum einen um die »gewünschte staatliche Zustän-digkeit« für sozialpolitische Aufgaben (oder »wohlfahrtsstaatliche Extensität«), zum anderen um den aus der Differenz von gewünschter und wahrgenommener Leis-

Page 104: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

104 5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland

tungshöhe gebildeten Indikator »Beurteilung der Leistungshöhe« (oder »wohlfahrts-staatliche Intensität«).

Gewünschte staatliche Zuständigkeit (wohlfahrtsstaatliche Extensität)Der Akzeptanzindikator »gewünschte staatliche Zuständigkeit« für sozialpolitische Aufgaben, bei der die Befragten gebeten werden, die ihrer Meinung nach richtige Aufgabenteilung zwischen einer staatlichen und einer nicht-staatlichen Zuständig-keit anzugeben, weist keinen unmittelbaren Bezug zu konkreten Sicherungssyste-men auf. Wie in Abschnitt 4.2 erläutert wurde, ist die »gewünschte staatliche Zu-ständigkeit« daher vor allem ein Indikator für die Wichtigkeit, die die einzelnen Si-cherungsaufgaben für die Befragten haben.

Bei der Frage, wie die Verantwortung zwischen Staat (inkl. Sozialversicherun-gen) und »privaten Kräften« bei der Finanzierung der Gesundheitsversorgung verteilt sein soll, wird deutlich, dass eine überwiegend staatliche Zuständigkeit von den meisten Befragten präferiert wird (vgl. Abb. 5.3a). Zwei Drittel der Westdeutschen und sogar drei von vier Ostdeutschen wünschen sich, dass sich der Staat zu mindestens 60 Pro-zent um die Finanzierung der Gesundheitsversorgung kümmern soll. Und immer-hin 14,1 Prozent der Westdeutschen und 26,8 Prozent der Ostdeutschen sind sogar der Ansicht, dass die Gesundheitsversorgung ausschließlich in staatlicher Hand liegen sollte. Der Gesamtmittelwert liegt mit 6,82 deutlich über dem theoretischen Mittel-wert (5,00). Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind beim Wunsch nach einer staatlichen Zuständigkeit bei der Gesundheitsversorgung recht groß. Ost-deutsche (Mittelwert: 7,58) neigen weit mehr zur Befürwortung einer staatlichen Zu-ständigkeit als Westdeutsche. Die Mittelwertdifferenz beträgt immerhin 0,97 Skalen-punkte.

Bei der Frage der Alterssicherung fällt das Votum für einen hohen Staatsanteil noch deutlicher aus (Abb. 5.3b). 86,6 Prozent der Ost- und 72,8 Prozent der Westdeutschen sprechen sich dafür aus, dass der Staat den überwiegenden Teil der Alterssicherung übernimmt. Und fast jeder dritte Ostdeutsche (30,6 %) und immerhin noch jeder fünfte Westdeutsche (21,5 %) ist der Meinung, dass die Alterssicherung eine rein wohlfahrtsstaatliche Aufgabe ist. Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind hier etwas geringer als bei der Gesundheitsversorgung, weisen aber in die gleiche Richtung eines ausgeprägteren »Etatismus« in Ostdeutschland.

Page 105: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

5.2 Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit 105

Abbildung 5.3a: Gesundheitsversorgung: gewünschte staatlicheZuständigkeit/ Aufgabenteilung (Angaben in Prozent)

2,3

0,31,3

0,6

4,0

0,6

3,4 3,8

6,1

3,2

16,9

13,7

9,4

5,8

14,3 13,7

18,317,6

9,9

13,7 14,1

26,8

0

5

10

15

20

25

30

100%privateKräfte

50%Staat/50%

privateKräfte

100%Staat

WestdeutscheOstdeutsche

Staat undprivate Kräfte

gleich

nur Staatnur private Kräfte

N=1469

Abbildung 5.3b: Alterssicherung: gewünschte staatliche Zuständigkeit/ Aufgabenteilung (Angaben in Prozent)

1,50,6 1,3

0,3

2,1 2,23,93,5

4,2

1,6

14,1

5,1

7,6

4,8

12,211,1

20,622,0

10,9

18,2

21,5

30,6

0

5

10

15

20

25

30

35

nurprivateKräfte

50%Staat/50%

privateKräfte

nur Staat

WestdeutscheOstdeutsche

Staat undprivate Kräfte

gleich

N=1485

Auch für die finanzielle Unterstützung von Arbeitslosen ergibt sich ein ähnliches Bild (vgl. Abb. 5.3c): Fast zwei Drittel aller Befragten befürworten eine überwiegend staatli-che Zuständigkeit; und immerhin noch 15,4 Prozent vertreten die Auffassung, dass

Page 106: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

106 5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland

die finanzielle Unterstützung von Arbeitslosen ausschließlich eine staatliche Aufga-be sei. Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind hier wieder beträcht-lich, wenn auch etwas geringer als bei der Alterssicherung und der Gesundheitsver-sorgung. Die Mittelwertdifferenz beträgt aber immerhin noch 0,76 Skalenpunkte (bei einem Mittelwert für Westdeutsche von 6,39). Insgesamt befürworten 74,4 Pro-zent der Ostdeutschen (Westdeutsche: 61,8 %) eine überwiegende und 21,1 Prozent (Westdeutsche: 13,9 %) eine ausschließliche staatliche Zuständigkeit bei der finan-ziellen Unterstützung von Arbeitslosen.

Abbildung 5.3c: Unterstützung Arbeitsloser: gewünschte staatliche Zuständigkeit/Aufgabenteilung (Angaben in Prozent)

2,0

0,61,4 1,3

3,2

1,9

6,6

3,5

7,4

4,8

17,6

13,4

10,89,9

14,4

16,3

15,015,3

7,8

11,8

13,9

21,1

0

5

10

15

20

25

nurprivateKräfte

50%Staat/50%

privateKräfte

nur Staat

WestdeutscheOstdeutsche

Staat undprivate Kräfte

gleich

N=1473

Besonders stark ist die Präferenz für eine staatliche Zuständigkeit bei der »finanziellenAbsicherung bei Armut« (Abb. 5.3d). So sprechen sich 72,6 Prozent aller Befragten für eine überwiegend staatliche Zuständigkeit aus und jeder fünfte (20,8 %) sogar für eine alleinige Zuständigkeit des Staates. Die Unterschiede zwischen Ost- und West-deutschen sind hier – mit Ausnahme der alleinigen staatlichen Zuständigkeit, die immerhin von 27,1 Prozent der Ostdeutschen befürwortet wird – vergleichsweise gering. Die Mittelwertdifferenz liegt bei 0,68 Skalenpunkten (bei einem Mittelwert der westdeutschen Befragten von 6,95) und ist damit niedriger als bei den drei bis-her dargestellten Aufgabenbereichen.

Page 107: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

5.2 Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit 107

Abbildung 5.3d: Armut: gewünschte staatliche Zuständigkeit/Aufgabenteilung (Angaben in Prozent)

1,30,3 0,5 0,3

2,81,9

4,12,5

5,5

3,5

15,1

11,19,7

8,3

14,113,1

17,917,2

9,8

14,6

19,1

27,1

0

5

10

15

20

25

30

nurprivateKräfte

50%Staat/50%

privateKräfte

nur Staat

WestdeutscheOstdeutsche

Staat undprivate Kräfte

gleich

N=1472

Abbildung 5.3e: Hilfe für Familien: gewünschte staatliche Zuständigkeit/Aufgabenteilung (Angaben in Prozent)

1,20,3

1,30,0

2,11,0

2,8

1,0

3,82,5

12,7

8,9 9,07,6

14,0 13,4

18,518,2

13,0

16,6

21,6

30,6

0

5

10

15

20

25

30

35

nurprivateKräfte

50%Staat/50%

privateKräfte

nur Staat

WestdeutscheOstdeutsche

Staat undprivate Kräfte

gleich

N=1475

Auch bei der finanziellen Unterstützung von Familien (Abb. 5.3e) fällt die Präferenz für eine staatliche Zuständigkeit besonders deutlich aus. Gut drei Viertel aller Befragten

Page 108: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

108 5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland

(78,2 %) plädieren für eine überwiegende und ein knappes Viertel (23,5 %) sogar für eine ausschließliche staatliche Zuständigkeit. Der Mittelwert liegt mit 7,41 deutlich über dem theoretischen Mittelwert (5,00), wobei der Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschen vergleichsweise moderat (0,73 Skalenpunkte), wenn auch insbesondere bei der alleinigen staatlichen Zuständigkeit gut erkennbar ist.

Abbildung 5.3f: Befürwortung einer überwiegend staatlichen Zuständigkeit im Vergleich (zusammengefasste Werte in Prozent)99

16,8

51,7

23,4

52,4

15,4

49,1

20,8

51,8

23,5

54,7

0

10

20

30

40

50

60

70

80

Gesundheit Alterssicherung Arbeitslosigkeit Armut Familien

überwiegend staatlichnur staatlich

68,5

75,8

64,5

72,6

78,2

Schon dieser kurze Durchgang durch die wichtigsten Befunde macht deutlich, dass sich bei der Frage der staatlichen Zuständigkeit für sozialpolitische Aufgaben ein ganz anderes Bild ergibt als bei den zuvor betrachteten Akzeptanzindikatoren. Zu-mindest für die Frage der »wohlfahrtsstaatlichen Extensität« gilt insofern, dass dieAkzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit offenbar weit größer ist als die der konkreten wohlfahrts-staatlichen Institutionen. Bei allen Aufgabenbereichen wird von einer Mehrheit der Be-fragten eine überwiegend staatliche Zuständigkeit befürwortet. Dass die Werte insgesamt dennoch niedriger sind als in früheren Untersuchungen100, dürfte in erster Linie auf die veränderte Frageformulierung zurückzuführen sein, die stärker auf die

99 Als »überwiegend staatliche Zuständigkeit« sind hier alle Aufgabenteilungen zusammengefasst, die

eine staatliche Zuständigkeit zwischen 60 und 90 Prozent befürworten (zur Skala vgl. Anhang A2.1). 100 So sprachen sich im ISSP (1996) 80,4 Prozent der westdeutschen Befragten bei Arbeitslosigkeit,

96,6 Prozent bei der Finanzierung der Gesundheitsversorgung und 96,0 Prozent bei der Alterssi-cherung für eine staatliche Zuständigkeit aus.

Page 109: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

5.2 Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit 109

Aufgabenverteilung und entsprechend weniger auf die Frage, ob der Staat überhaupt zuständig sein soll, zielt (vgl. 4.2).

Ein Vergleich der Aufgabenbereiche macht deutlich, dass die Unterschiede bei der gewünschten staatlichen Zuständigkeit nicht unerheblich sind (vgl. Abb. 5.3f): Die Gesamtmittelwerte bewegen sich hier zwischen 7,41 (Unterstützung von Fami-lien und Alleinerziehenden) und 6,55 (Unterstützung von Arbeitslosen). Das »Ran-king« der Sicherungssysteme bei der Frage der staatlichen Zuständigkeit reflektiert dabei vermutlich zweierlei: zum einen die Einschätzung der Wichtigkeit der Aufga-ben, zum anderen aber auch die sozialpolitischen Realitäten bzw. »Machbarkeiten«.

Die zugeschriebene Bedeutung eines Ausgabenbereichs könnte z.B. für die hohen Werte für die Alterssicherung und für die Unterstützung von Familien ur-sächlich sein. Eng damit verbunden ist auch ein möglicherweise stärkeres Eigen-interesse, insbesondere bei der Alterssicherung. Insgesamt dürfte das potenzielle Eigeninteresse bei der gewünschten staatlichen Zuständigkeit aber wenig ins Ge-wicht fallen. Hierfür sprechen schon die vergleichsweise geringen Unterschiede zwi-schen Ost- und Westdeutschen bei der Arbeitslosigkeit und Armutsvermeidung (zur Bedeutung des Eigeninteresses vgl. a. Kapitel 6, insbes. die Abschnitte 6.1. und 6.2).

In der im Vergleich zur Unterstützung von Arbeitslosen und zur Gesundheits-versorgung größeren Präferenz für eine staatliche Zuständigkeit bei der Armutsver-meidung ist dagegen wohl kein Ausdruck einer besonders hohen Wertschätzung dieses Aufgabenbereichs zu sehen (und schon gar keiner, die auf subjektiven Inter-essendefinitionen beruht). Sie ist auf die eher geringen Möglichkeiten einer nicht-staatlichen Armutsvermeidung zurückzuführen und einer entsprechenden »Alterna-tivlosigkeit« staatlicher Armutspolitik.

Deutlich sind hier wiederum die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen.Letztere plädieren durchgehend für eine etwas geringere staatliche Zuständigkeit als die Ostdeutschen, wobei die Mittelwertdifferenz bei der Gesundheitsversorgung fast einen Skalenpunkt beträgt. Dies könnte zum einen auf die höheren Bedarfe in Ostdeutschland zurückzuführen sein. Durchaus komplementär zur kritischeren Sicht des gesellschaftlichen Wertes und des geringeren Vertrauens wird von den Ostdeut-schen ein starkes staatliches Engagement und – so darf man spekulieren – ein stär-keres als bisher gewünscht.

Gegen eine solche Interpretation spricht jedoch die relative Konstanz der Ost-West-Unterschiede bei der gewünschten staatlichen Zuständigkeit, die bei allen Auf-gaben relativ hoch ist. Wenn das stärkere Eigeninteresse der Ostdeutschen für de-ren höhere Befürwortung einer staatlichen Zuständigkeit ursächlich sein soll, müsste sich dies vor allem in Unterschieden in den Bereichen Armut und Arbeitslosigkeit auswirken – aber gerade hier sind die Unterschiede zwischen ost- und westdeut-schen Befragten geringer als z.B. bei der Gesundheitsversorgung. Daher ist zu ver-muten, dass dieses Ergebnis auch auf grundlegende Handlungsorientierungen zu-rückzuführen ist, dass also etatistische Haltungen im Osten Deutschlands verbreite-

Page 110: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

110 5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland

ter sind als bei den Westdeutschen. Aber auch insgesamt wird in den Ergebnissen zur gewünschten staatlichen Zuständigkeit ein ausgeprägter Etatismus deutlich. Da-bei ist allerdings zu beachten, dass sich zwar die meisten Befragten eine überwie-gend staatliche Aufgabenübernahme in allen Sicherungsbereichen wünschen, ander-erseits aber auch jeweils nur eine Minderheit eine alleinige staatliche Zuständigkeit präferiert. Den »privaten Kräften« (u.a. jeder Einzelne, Betriebe und Kirchen) wird somit zumindest eine ergänzende Funktion zugebilligt.

Leistungsbewertung (wohlfahrtsstaatliche Intensität)

Wie in Abschnitt 4.2 erläutert wurde, ist die »Leistungsbewertung« ein aus der Dif-ferenz von gewünschter und wahrgenommener Leistungshöhe konstruierter Akzep-tanzindikator, wodurch das gewünschte Niveau der Absicherung mit der wahrge-nommenen Leistungshöhe relationiert wird. Aus diesem Grund scheinen Akzep-tanzunterschiede hier besonders aussagekräftig.

Abbildung 5.4a: Gesetzliche Krankenversicherung: »Leistungsbewertung«(zusammengefasste Werte in Prozent101)

0,7 0,31,9 2,2

9,511,2

21,819,6

41,8

35,6

19,1

26,0

5,2 5,1

0

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

sehr viel geringer viel geringer etwas geringer genau gleich etwas höher viel höher sehr viel höher

Die Leistungen der GKV sollten sein:

WestdeutscheOstdeutsche

N=1494

Bei den Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. Abb. 5.4a) wird eine Befür-wortung von mehr Leistungen deutlich. Zwei Drittel der Befragten (66,3 %) haben eine Präferenz für höhere Leistungen, wenn auch nur eine Minderheit (5,2 %) der 101 Als »sehr viel höher/mehr« werden hier alle Skalenwerte von 7 bis 10 (auf einer Skala von -10 bis

+10) bezeichnet (als »viel höher« die Werte von 4 bis 6 und als »etwas höher« die Werte von 1 bis 3).

Page 111: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

5.2 Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit 111

Ansicht ist, dass die Leistungen der GKV sehr viel höher sein sollten. Die Unter-schiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind dabei verschwindend gering (Mit-telwertdifferenz: 0,21 Skalenpunkte).

Auch bei der Beurteilung der Rentenhöhe wird offensichtlich, dass die Mehrheit der Befragten diese als zu niedrig ansieht (vgl. Abb. 5.4b). Hier befürworten sogar 71,4 Prozent höhere Leistungen, 20,5 Prozent meinen, die Höhe der Rente sollte so bleiben, wie sie ist, und nur 8,1 Prozent sind für niedrigere Renten. Der Anteil der Befragten, die sehr viel höhere Leistungen präferieren, ist mit 6,6 Prozent allerdings hoch geringer. Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind bei der Frage der Beurteilung der Rentenhöhe gering.102

Abbildung 5.4b: Gesetzliche Rentenversicherung: »Leistungsbewertung« (zusammengefasste Werte in Prozent)

0,2 0,00,8 1,3

7,3 6,3

21,3

17,5

42,7

48,3

20,8 20,9

6,9 5,6

0

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

sehr viel geringer viel geringer etwas geringer genau gleich etwas höher viel höher sehr viel höher

Die Rente sollte sein:

WestdeutscheOstdeutsche

N=1444

Im Vergleich zu den beiden großen Sozialversicherungen fällt die »Mehrheit« für ein höheres Arbeitslosengeld etwas schwächer aus (Abb. 5.4c). Hier präferieren »nur« 53,5 Prozent der Befragten ein höheres Arbeitslosengeld (3,2 Prozent ein sehr viel höhe-res) und immerhin 19,4 Prozent ein niedrigeres. Auffällig ist zudem die hier sehr starke Befürwortung des Beibehaltens der aktuellen Leistungshöhe. Über ein Viertel aller Befragten (27,1 %) sind offenbar der Ansicht, dass sich bei der Höhe des Ar- 102 Dies gilt im Übrigen nicht nur für die Differenz von gewünschter und wahrgenommener Renten-

höhe, sondern auch für das »Prätentionsniveau«, also das Niveau, auf dem diese Differenz besteht.

Page 112: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

112 5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland

beitslosengeldes nichts ändern sollte. Anders als bei den GKV-Leistungen und der Rentenhöhe sind hier die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen wiede-rum relativ groß: Die Mittelwertdifferenz beträgt 1,20 Skalenpunkte. Die ostdeut-schen Befragten (67,9 %; westdeutsche: 49,6 %) sind also weit häufiger der Ansicht, dass das Arbeitslosengeld höher sein sollte. Dies gilt insbesondere für den Anteil derjenigen, die meinen, das Arbeitslosengeld sollte viel oder sehr viel höher sein (29,9 % der Ostdeutschen; 13,1 % der Westdeutschen).

Abbildung 5.4c: Arbeitslosenversicherung: »Leistungsbewertung« (zusammengefasste Werte in Prozent)

0,8 0,0

3,21,0

17,4

11,1

29,1

19,9

36,538,0

10,0

26,1

3,1 3,8

0

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

sehr viel geringer viel geringer etwas geringer genau gleich etwas höher viel höher sehr viel höher

Das Arbeitslosengeld sollte sein:

WestdeutscheOstdeutsche

N=1332

Auch bei der Sozialhilfe überwiegt der Wunsch nach einem höheren Leistungsniveau (Abb. 5.4d). Im Unterschied zu den drei anderen Sicherungssystemen gibt es hier aber keine »absolute Mehrheit« für Leistungserhöhungen. Denn nur 47,0 Prozent aller Befragten wünschen sich ein höheres Sozialhilfeniveau (4 Prozent ein sehr viel hö-heres), während immerhin 31,2 Prozent ein niedrigeres Leistungsniveau präferieren. Anders als bei den Sozialversicherungen kann hier also nicht von einem breiten »Erhöhungskonsens« gesprochen werden. Ebenso sind die Unterschiede zwischen ostdeutschen und westdeutschen Befragten hoch. Die Mittelwertdifferenz beträgt hier 1,56 Skalenpunkte, wobei der Mittelwert der Westdeutschen (0,20) nur knapp über dem theoretischen Mittelwert (0,00) liegt.

Page 113: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

5.2 Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit 113

Abbildung 5.4d: Sozialhilfe: »Leistungsbewertung« (zusammengefasste Werte in Prozent)

2,40,7

9,9

3,6

21,7

16,7

23,6

15,3

29,732,4

9,6

24,4

3,2

6,9

0

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

sehr viel geringer viel geringer etwas geringer genau gleich etwas höher viel höher sehr viel höher

Die Sozialhilfe sollte sein:

WestdeutscheOstdeutsche

N=1276

Die Beurteilungen der Leistungshöhen machen vor allem deutlich, dass die Zufrieden-heit mit dem bestehenden Leistungsniveau insgesamt gering ist. Die Leistungsbewertungen sind zugleich die Akzeptanzindikatoren mit dem höchsten Werten für die Akzep-tanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit. Denn in ihnen kommen gleichermaßen die Unzu-friedenheit mit dem bestehenden Leistungsniveau und die grundsätzliche Befür-wortung einer umfangreichen wohlfahrtsstaatlichen Absicherung zum Ausdruck.

Deutliche Unterschiede bestehen dabei allerdings zwischen den Sicherungssys-temen (Abb. 5.4e). Denn die starke und weitgehend konsensuelle Befürwortung hö-herer Leistungen beschränkt sich auf die Rente und auf die Leistungen der Kran-kenversicherung. Da mit der »Leistungsbewertung« die Distanz zwischen Präferen-zen hinsichtlich des Leistungsniveaus und der Wahrnehmung des wohlfahrtsstaatli-chen Status quo erfasst wird, lässt sich der Unterschied zwischen den beiden großen Sozialversicherungen auf der einen und der Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosen-geld) und der Sozialhilfe auf der anderen Seite am besten als Unterschiede in der Bedeutung und »Beliebtheit« dieser Sicherungsleistungen interpretieren. Die offen-bar große Unzufriedenheit mit der Rentenhöhe bietet zudem eine Erklärungsmög-lichkeit für die geringen Akzeptanzwerte der Rentenversicherung bei den beiden Ak-zeptanzindikatoren des Status quo.

Page 114: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

114 5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland

Abbildung 5.4e: »Leistungsbewertung«: Präferenzen für Leistungserhöhungen und Leistungskürzungen im Vergleich (Angaben in Prozent)

0

10

20

30

40

50

60

70

80

GKV GRV Arbeitslosenversicherung Sozialhilfe

Ostdeutsche: Erhöhung Westdeutsche:ErhöhungOstdeutsche: Kürzung Westdeutsche: Kürzung

Wenn also so etwas wie ein nationaler »Erhöhungskonsens« besteht, so ist dieser auf die GKV-Leistungen und die Rentenhöhe begrenzt. Die Präferenzen hinsicht-lich der Höhe von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe sind – im Unterschied zur Frage der staatlichen Zuständigkeit – offenbar deutlich divergenter als bei den beiden gro-ßen Sozialversicherungen.

Auffällig sind zudem die großen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeut-schen beim Arbeitslosengeld und bei der Sozialhilfe. Dabei zeigt ein Vergleich der Einzelvariablen (gewünschte Leistungshöhe und wahrgenommen Leistungshöhe), dass sich diese Differenz fast ausschließlich aus Unterschieden bei der Wahrneh-mung der aktuellen Leistungshöhe, die von den ostdeutschen Befragten deutlich nied-riger eingeschätzt wird, erklärt und nicht auf ein höheres Anspruchsniveau der Ost-deutschen zurückzuführen ist.

Zwischenresümee: Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit

Die empirischen Befunde zur Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit ergeben ein anderes Bild als bei der Beurteilung der bestehenden Wohlfahrtsinstitutionen. Insge-samt sind die Präferenzen für eine staatliche Zuständigkeit für sozialpolitische Auf-gaben und für höhere Leistungen sehr deutlich. Diese Einschätzung ist nur für die Präferenzen bezüglich der Sozialhilfehöhe einzuschränken.

In der hohen Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit muss kein Widerspruch zur geringen Akzeptanz des wohlfahrtsstaatlichen Status quo gesehen werden. Im Gegenteil: Die geringe Akzeptanz der bestehenden Wohlfahrtsinstitutionen kann zu

Page 115: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

5.2 Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit 115

einem guten Teil auf die starken Präferenzen für höhere Leistungen zurückgeführt werden. Hierfür sprechen vor allem die Ergebnisse für die Gesetzliche Rentenversi-cherung. Diese weist einerseits die geringste Akzeptanz auf (Institutionenakzeptanz und Systemvertrauen); andererseits sind hier die Präferenzen für höhere Leistungen am stärksten (wie auch für eine staatliche Zuständigkeit bei der Alterssicherung).

Ein Vergleich der beiden Akzeptanzindikatoren der Wohlfahrtsstaatlichkeit zeigt kaum Übereinstimmungen bei den Unterschieden zwischen den Sicherungssystemen. Nur für die Rentenversicherung bzw. Alterssicherung bestehen in beiden Fällen je-weils die stärksten Präferenzen. Während aber z.B. bei der Gesetzlichen Kranken-versicherung ebenfalls ein deutlicher Wunsch nach höheren Leistungen zum Aus-druck kommt, ist der Anteil der gewünschten staatlichen Zuständigkeit für die Ge-sundheitsversorgung im Vergleich zu anderen Sicherungssystemen eher gering. Für die Frage der staatlichen Zuständigkeit für die soziale Sicherung sind offenkundig andere Kriterien ausschlaggebend als bei der Beurteilung der Leistungshöhe. Die Vermutung, dass dabei die bestehende Aufgabenteilung eine Rolle spielt, wird zu-mindest durch eine Übereinstimmung der Präferenzen mit den sozialpolitischen Realitäten gestützt.

Eindeutig sind schließlich die Unterschiede zwischen ostdeutschen und west-deutschen Befragten. Ostdeutsche präferieren in stärkerem Maße als Westdeutsche sowohl eine höhere staatliche Zuständigkeit als auch höhere Leistungen. Auffällig ist dabei vor allem die deutliche Diskrepanz bei der Leistungsbewertung von Sozial-hilfe und Arbeitslosengeld.

5.3 »Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit« und allgemeine Wirkungen des Wohlfahrtsstaates

Wie in Kap. 4.2 erläutert wurde, ist der Wohlfahrtsstaat als Ganzes ein diffuses Ak-zeptanzobjekt. Eine unmittelbare Messung der Akzeptanz »des« Wohlfahrtsstaates und entsprechende Operationalisierungsversuche scheinen daher nicht möglich bzw. nicht sinnvoll. Zumindest in vager Form erfahr- und erfassbar ist der gesamte Wohl-fahrtsstaat jedoch in seinen allgemeinen Wirkungen (»outcomes«), sofern diese nicht einzelnen Sicherungssystemen zugerechnet werden können. Sie lassen daher, wenn auch nur in begrenzter Form, Rückschlüsse über die Akzeptanz des bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Arrangements zu.

Zur Vervollständigung des Akzeptanzbildes tragen auch die verschiedenen Optionen einer »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« bei. Wie die in Abschnitt 5.2 untersuchten Indikatoren der gewünschten Wohlfahrtsstaatlichkeit zielen sie auf allgemeine Präferenzen bezüglich der sozialen Sicherung. Sie unterscheiden sich von diesen jedoch dadurch, dass sie nicht auf institutionalisierte Sicherungsformen bezo-gen werden können.

Page 116: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

116 5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland

Beide Aspekte einer allgemeinen Wohlfahrtsstaatsakzeptanz – die wahrgenom-menen Wirkungen des Wohlfahrtsstaates und die Akzeptanz der »erweiterten Wohl-fahrtsstaatlichkeit« – werden im Folgenden untersucht.

Akzeptanz »erweiterter Wohlfahrtsstaatlichkeit«

Indikatoren »erweiterter Wohlfahrtsstaatlichkeit« erfassen die Akzeptabilität von so-zialpolitischen Aufgabenbereichen, die im bestehenden Wohlfahrtsstaat nicht oder nur in einem sehr geringen Maße umgesetzt sind und für die kein allgemeiner öf-fentlicher und politischer Konsens unterstellt werden kann (vgl. 4.2). Zu insgesamt vier dieser Bereiche einer potenziellen wohlfahrtsstaatlichen Aufgabenübernahme liegen Einschätzungen der Befragten dazu vor, ob diese Aufgaben vom Staat über-nommen werden sollten oder nicht.

Abbildung 5.5a: Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »Arbeitsplätze« (Angaben in Prozent)

9,1

3,86,0

2,5

7,6

2,9

12,9

4,8

18,9

15,9

45,5

70,1

0

10

20

30

40

50

60

70

Stimme überhauptnicht zu

2 3 4 5 Stimme voll undganz zu

WestdeutscheOstdeutsche

N=1512

Zunächst zur Frage der »Arbeitsplatzgarantie« bzw. zur Beurteilung der Aussage, der Staat solle »einen Arbeitsplatz für jeden bereitstellen, der arbeiten will«. Diese klas-sisch-sozialdemokratische Forderung erfährt eine überraschend hohe Zustimmung (80,1 %). Sogar etwas mehr als die Hälfte der Befragten stimmt dieser Aussage »voll und ganz« zu (vgl. Abb. 5.5a). Aber trotz dieses insgesamt eindeutigen Votums für eine »Arbeitsplatzgarantie« gibt es noch deutliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen. Die Mittelwertdifferenz beträgt hier 0,74 Skalenpunkte, bei einem Mittelwert für Ostdeutsche von 5,37. Insgesamt befürworten über 90 Prozent der

Page 117: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

5.3 »Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit« und allgemeine Wirkungen des Wohlfahrtsstaates 117

Ostdeutschen (Westdeutsche: 77,3 %) eine staatliche Zuständigkeit. Dass der Staat für jeden, der arbeiten will, einen Arbeitsplatz bereitstellen soll, wird also in Ost- und Westdeutschland so gesehen, aber im Osten Deutschlands doch noch etwas entschiedener.

Abbildung 5.5b: Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »Verringerung der Einkommensunterschiede« (Angaben in Prozent)

11,0

2,6

8,8

2,9

13,4

7,7

18,8

13,1

18,620,5

29,3

53,2

0

10

20

30

40

50

60

70

Stimme überhauptnicht zu

2 3 4 5 Stimme voll undganz zu

WestdeutscheOstdeutsche

N=1498

Die Verringerung von Einkommensunterschieden gehört noch weniger als die Bereitstel-lung von Arbeitsplätzen zum Selbstverständnis »konservativer« Wohlfahrtsstaaten. Insofern muss es auch hier als überraschend gelten, dass mehr als zwei Drittel der Befragten (71,0 %) es als eine staatliche Aufgaben ansehen, »Einkommensunterschie-de zwischen Arm und Reich ab(zu)bauen« (Abb. 5.5b). Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind hier noch größer als bei der »Arbeitsplatzgarantie« (Mittelwertdifferenz: 0,93 Skalenpunkte). So meinen 86,9 Prozent der Ostdeutschen, aber nur 66,8 Prozent der Westdeutschen, dass der Abbau von Einkommensunter-schieden eine staatliche Aufgabe sei, und über die Hälfte der Befragten in Ostdeutsch-land stimmt dieser Aussage »voll und ganz zu« (aber nur 29,3 Prozent der West-deutschen). Angesichts der Ergebnisse bei diesen beiden ersten Aufgabenbereichen kann man insgesamt also von einer breiten Verankerung des sozialdemokratischen Sozialpolitikverständnisses sprechen.

Neben der anderen inhaltlichen Ausrichtung der Fragen ist bei den »familien-politischen« Aufgaben zu beachten, dass die beiden Items nicht die generelle staatli-che Zuständigkeit zur Disposition stellen, sondern danach fragen, ob der Staat Fa-

Page 118: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

118 5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland

milien und Alleinerziehende finanziell stärker unterstützen und mehr Mittel für die Kinder-betreuung bereitstellen soll.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Items besteht darin, dass im ersten Fall eher eine traditionale Form von Familienpolitik angesprochen wird, die dem »konservativen« Wohlfahrtsstaatstyp mit seiner Orientierung am »male bread-winner«-Modell entspricht. Die Forderung nach mehr Mitteln für die Kinderbetreu-ung (»so dass jedes Kind einen Betreuungsplatz erhalten kann«) steht dagegen eher für eine Familienpolitik, die vor allem den Interessen berufstätiger Frauen bzw. von Doppelverdienerhaushalten entgegenkommt und eher für »sozialdemokratische« Wohlfahrtsstaaten charakteristisch ist.

Abbildung 5.5c: Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »mehr finanzielle Unterstützung von Familien« (Angaben in Prozent)

3,51,6

3,62,0

8,14,6

19,617,6

25,6 26,1

39,7

48,2

0

10

20

30

40

50

60

70

Stimme überhauptnicht zu

2 3 4 5 Stimme voll undganz zu

WestdeutscheOstdeutsche

N=1484

Beiden Anforderungen an wohlfahrtsstaatliches Handeln wird von einer deutlichen Mehrheit der Befragten zugestimmt (vgl. Abb. 5.5c und 5.5d). Der Grad der Zu-stimmung ist hier sogar noch etwas höher (86,3 % bzw. 89,7 %) als bei der »Ar-beitsplatzgarantie« und bei der Verringerung der Einkommensunterschiede. Die Unterschiede bei der gesamten Zustimmung sind bei den familienpolitischen Zielen gering und nur bei der höchsten Zustimmungskategorie (51,4 Prozent bei Kinder-betreuung, 41,4 Prozent bei finanzieller Unterstützung von Familien) und – hier wiederum vor allem bei den Ostdeutschen (61,7 % zu 48,2 %) – sind deutlichere Unterschiede erkennbar. Anders als bei den beiden »sozialdemokratischen« Zielen sind die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen hier jedoch insgesamt mo-derat, wobei sich die ostdeutschen Befragten noch etwas häufiger ein stärkeres staat-

Page 119: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

5.3 »Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit« und allgemeine Wirkungen des Wohlfahrtsstaates 119

liches Engagement bei der Unterstützung von Familien und bei den finanziellen Mit-teln für die Kinderbetreuung wünschen.103

Abbildung 5.5d: Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »Kinderbetreuungs-einrichtungen« (Angaben in Prozent)

2,70,6

3,41,6

5,5

2,9

15,6

9,0

24,0 24,1

48,7

61,7

0

10

20

30

40

50

60

70

Stimme überhauptnicht zu

2 3 4 5 Stimme voll undganz zu

WestdeutscheOstdeutsche

N=1485

Insgesamt ist die Akzeptanz der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« überaus hoch. Sie liegt nicht nur deutlich über der des wohlfahrtsstaatlichen Status quo, sondern übertrifft auch die in Abschnitt 5.2 dargelegte Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlich-keit in den Kernbereichen. Dies spricht erneut dafür, dass die Unzufriedenheit mit den bestehenden Wohlfahrtsinstitutionen zwar groß ist, aber nicht mit einer Abkehr vom Prinzip der Wohlfahrtsstaatlichkeit einhergeht. Mehr noch: Die Ergebnisse zur »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« zeigen, dass auf der Akzeptanzseite viel Spiel-raum für einen weiteren Ausbau der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung besteht.

Ostdeutsche präferieren dabei in allen vier Aufgabenereichen eine höhere Wohl-fahrtsstaatlichkeit als Westdeutsche. Insbesondere bei den Zielen »Abbau von Ein-kommensunterschieden« (Mittelwertdifferenz: 0,93) und »Bereitstellung von Ar-beitsplätzen« (Mittelwertdifferenz: 0,74) sind die Unterschiede sehr groß. Man kann insofern folgern, dass Ostdeutsche stärker als Westdeutsche an sozialdemokrati-schen Sozialpolitikmustern orientiert sind.

Angesichts der unterschiedlichen Erfahrungen und Traditionen in den beiden Landesteilen sind die Unterschiede bei den »Mitteln für Kinderbetreuung« demge-

103 Die Mittelwertdifferenzen liegen hier bei 0,30 bzw. 0,39 Skalenpunkten.

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120 5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland

genüber überraschend gering. Dass dies so ist, liegt jedoch nicht an einer geringen Akzeptanz dieser Aufgabe bei den ostdeutschen Befragten, sondern an der sehr ho-hen Unterstützung in den westlichen Bundesländern. Die auch im Westen hohen Zustimmungswerte machen offensichtlich, dass die sozialpolitischen Realitäten bei der staatlichen Sorge für die Kinderbetreuung auch im Westen immer weniger den Präferenzen in der Bevölkerung entsprechen.

Beurteilung allgemeiner Wirkungen des Wohlfahrtsstaates

Bei den allgemeinen Wirkungen des Wohlfahrtsstaates wurde um die Beurteilung von insgesamt vier möglichen Folgen gebeten. Zwei davon sind positiver (weniger sozia-le Konflikte; mehr soziale Gerechtigkeit) und zwei negativer Art (höhere Arbeitslo-sigkeit; sinkende Hilfsbereitschaft).

Die Auffassung, dass der Wohlfahrtsstaat durch redistributive und vor allem durch seine Sicherungsfunktion soziale Konfliktlagen (insbes. Klassenkonflikte) ab-schwäche und dadurch zum »sozialen Frieden« beitrage (wenn nicht gar eine Vor-aussetzung für die Integration moderner Gesellschaften sei104), gehört wohl zu den ältesten und zugleich am wenigsten ausformulierten Theoremen der wohlfahrtsstaatli-chen Apologetik. Wenn diese Sichtweise auch etwas aus der Mode gekommen ist, ihre Vertreter der Gefahr ausgesetzt sind, als »Wohlfahrtsstaatskonservative« abge-stempelt zu werden, und ein entsprechender Wirkungszusammenhang ohnehin nur schwerlich nachweisbar sein dürfte: In der vermeintlichen Integrationsfunktion des Wohlfahrtsstaates ist dennoch ein nach wie vor zentraler Legitimationsgrund für den Wohlfahrtsstaat zu sehen.

»Integration« ist ein abstraktes Konzept und daher für eine direkte Erfassung denkbar ungeeignet. Einer in der Soziologie bereits seit Durkheim (1988 [1893])] verbreiteten Auffassung zufolge kann Integration (bzw. Desintegration) jedoch indi-rekt an der Existenz bzw. dem Ausbleiben sozialer Konflikte und anderer Desinte-grationserscheinungen abgelesen werden.105 In der Befragung »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« wurde daher auch danach gefragt, ob die soziale Sicherung dazu führe, dass es »weniger Konflikte zwischen Armen und Reichen«106 gibt.

Die Häufigkeitsverteilung zeigt hier für Gesamtdeutschland zunächst keine po-sitive Beurteilung (Abb. 5.6). Nur 47,6 Prozent der Befragten halten die Aussage für richtig, dass das System der sozialen Sicherung zu »weniger Konflikten zwischen Armen und Reichen« führe (52,4 Prozent der Befragten teilen diese Auffassung also 104 Vgl. hierzu insbes. Kaufmann (1997b). 105 Auf diese Weise operationalisieren auch Goodin et al. (1999: 187ff.) die Integrationsfunktion des

Wohlfahrtsstaates.106 Diese Konkretisierung und zugleich Verengung auf die »vertikale Konfliktlinie« erwies sich

aufgrund der Ergebnisse der kognitiven Pretests als notwendig. Angesichts der redistributiven Intentionen des Wohlfahrtsstaates scheint hiermit aber auch die wesentliche Konflikt- bzw. Integrationslinie benannt.

Page 121: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

5.3 »Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit« und allgemeine Wirkungen des Wohlfahrtsstaates 121

nicht). Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind allerdings beträcht-lich: So ist immerhin über die Hälfte der Westdeutschen (51,0 %) von der konflikt-reduzierenden Wirkung des Wohlfahrtsstaates überzeugt, aber nur wenig mehr als ein Drittel der ostdeutschen Befragten (34,8 %). Die Mittelwertdifferenz beträgt 0,53 Skalenpunkte (bei einem Mittelwert für Ostdeutsche von 2,95 und für West-deutsche von 3,48). Auffällig ist auch, dass viele der ostdeutschen Befragten der Aussage, dass das System der sozialen Sicherung Konflikte zwischen Armen und Reichen reduziere, »überhaupt nicht« zustimmen (31,6 %).

In vielerlei Hinsicht ähnlich sind die Ergebnisse zur möglichen Folge (höherer) »sozialer Gerechtigkeit«. Wie die Verringerung sozialer Konflikte ist auch die soziale Ge-rechtigkeit eine der klassischen wohlfahrtsstaatlichen Legitimationsressourcen, war jedoch in weit stärkerem Maße Gegenstand theoretischer Reflexionen und politi-scher Auseinandersetzungen (vgl. u.a. Döring et al. 1995; Kersting 2000; Leisering 2004).

Auch die Aussage, dass das System der sozialen Sicherung zu mehr sozialer Gerechtigkeit führe, ist für etwa die Hälfte (49,5 %) der Befragten richtig (Abb. 5.6). Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind erneut groß: Während immerhin noch eine knappe Mehrheit der Westdeutschen der Ansicht ist, dass das System der sozialen Sicherung zu mehr sozialer Gerechtigkeit führe, ist dies nur bei 38,4 Prozent der Ostdeutschen der Fall.

Offensichtlich bestehen bei diesen beiden ersten Folgen deutliche Parallelen: Ostdeutsche sind hinsichtlich der positiven Wirkungen des Wohlfahrtsstaates weit skeptischer als die Westdeutschen. Möglicherweise ist dies darauf zurückzuführen, dass Ostdeutsche mit dem bestehenden Leistungsniveau unzufriedener sind (vgl. Abschnitt 5.2). Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass auch grundsätzliche Zweifel hinsichtlich des Konfliktreduzierungspotenzials und der »Gerechtigkeitsre-levanz« des Wohlfahrtsstaates in den östlichen Bundesländern verbreiteter sind.

Eine mögliche negative Folge des Wohlfahrtsstaates, die insbesondere von neokonservativen Kritikern betont wird, ist das Absterben lebensweltlicher Solidari-täts- und Hilfsantriebe (»crowding out«-Hypothese). Demnach untergrabe der Wohl-fahrtsstaat durch sein umfangreiches Leistungsangebot nicht nur die Selbsthilfefähig-keit und -bereitschaft der Leistungsempfänger, sondern auch die Unterstützungsbe-reitschaft im sozialen Umfeld.

Page 122: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

122 5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland

Abbildung 5.6: Zustimmung zu wohlfahrtsstaatlichen Wirkungen107

(zusammengefasste Werte in Prozent)

53,1

64,4

49,5

47,6

20 25 30 35 40 45 50 55 60 65

höhere Arbeitslosigkeit

sinkende Hilfsbereitschaft

mehr soziale Gerechtigkeit

weniger soziale Konflikte

Die Ansicht, dass das System der sozialen Sicherung zu einer sinkenden Hilfsbereitschaftführe, wird von fast zwei Dritteln der Befragten (64,4 %) geteilt (vgl. Abb. 5.6). Die Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Befragten sind hier wiederum groß. Im Westen neigen 67,3 Prozent zu dieser Ansicht; in den östlichen Bundesländern sind es dagegen nur 53,9 Prozent. Die Mittelwertdifferenz beträgt hier 0,52 Ska-lenpunkte (Mittelwert für Westdeutsche: 4,08). Auch bei der negativen Folge »sin-kende Hilfsbereitschaft« sind Ostdeutsche also von der Wirkung des Wohlfahrts-staates weniger überzeugt als Westdeutsche.

Am häufigsten wird die Forderung eines Abbaus wohlfahrtsstaatlicher Leistun-gen wohl damit begründet, dass sie die mit dem System der sozialen Sicherung ver-bundenen Belastungen die Arbeitskosten in die Höhe treiben und dadurch zu höhererArbeitslosigkeit führen. Zusätzlich wird behauptet, dass die als großzügig bewerteten Leistungen der Sozialhilfe und der Arbeitslosenversicherung sowie der vermeintlich 107 Die möglichen wohlfahrtsstaatlichen Wirkungen wurden mittels einer endpunktbeschrifteten 6er-

Skala erhoben (zur Itemformulierung s. Anhang A2.3). Als »Zustimmung« wurden hier die Skalen-werte von 3 bis 6 zusammengefasst. Aufgrund des Fehlens einer Mittelkategorie ergeben sich die zusammengefassten Prozentwerte der ablehnenden Einschätzungen aus der Differenz von Gesamtzahl und den Werten für die »Zustimmung«.

Page 123: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

5.3 »Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit« und allgemeine Wirkungen des Wohlfahrtsstaates 123

leichte Zugang zu diesen Leistungen falsche Anreize setzen. Dieser als disincentive-These bekannten Annahme zufolge bleiben Arbeitlose freiwillig arbeitslos, weil sie eine komfortable, wohlfahrtsstaatlich abgefederte Arbeitslosigkeit der Erwerbstätig-keit vorziehen.

Dass sich die Vorstellung, die soziale Sicherung führe zu höherer Arbeitslosig-keit, auch bei den wohlfahrtsstaatlichen Adressaten durchgesetzt hat, wird durch die Beurteilung der entsprechenden Aussage bestätigt. Ihr stimmt die Mehrheit der Be-fragten (53,1 %) zu (Abb. 5.6). Die Verhältnisse sind hier jedoch weniger eindeutig als noch bei der »sinkenden Hilfsbereitschaft«. Denn auch der Anteil der Befragten, der die Behauptung, das System der sozialen Sicherung führe zu mehr Arbeitslosig-keit, ablehnt, ist hoch. Zudem gibt es mehr Befragte, die dieser Aussage »überhaupt nicht« zustimmen, als solche, die ihr »voll und ganz« zustimmen, so dass der Ge-samtmittelwert (3,52) dem theoretischen Skalenmittel fast genau entspricht.

Hinsichtlich der Frage, ob der Wohlfahrtsstaat zu mehr Arbeitslosigkeit führt, besteht also keine eindeutige Tendenz unter den Befragten. Auch die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sind wiederum sehr groß. Nur 36,3 Prozent der Befragten aus Ostdeutschland, aber 57,5 Prozent der Westdeutschen sind der Mei-nung, dass das System der sozialen Sicherung zu einer höheren Arbeitslosigkeit füh-re. Dass der Wohlfahrtsstaat den Arbeitsmarkt stark belaste, ist also vor allem eine »westliche« Vorstellung.

Insgesamt fällt bei der Wahrnehmung allgemeiner Wirkungen der wohlfahrts-staatlichen Absicherung auf, dass die negativen Wirkungen mehr Zustimmung fin-den als die positiven. Im Kern entspricht dies den kritischen Beurteilungen der be-stehenden wohlfahrtsstaatlichen Institutionen (vgl. 5.1) ebenso wie den Präferenzen für höhere Leistungen und den dabei zu beobachtenden Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschen. Die Einschätzungen der allgemeinen Wirkungen des Wohl-fahrtsstaates bestärken damit den Gesamteindruck einer insgesamt mäßigen Akzep-tanz des bestehenden Systems der sozialen Sicherung. Bei der Beurteilung der wei-terreichenden Wirkungen gehen – mit Ausnahme der »sinkenden Hilfsbereitschaft« – die Meinungen aber offenbar weit auseinander. Weder bei den »Segnungen« des Wohlfahrtsstaates, noch bei seinen »perversen Effekten« besteht also ein Konsens in der Bevölkerung.108

Eine Besonderheit ist hier, dass die ostdeutschen Befragten sowohl von den ne-gativen als auch den positiven Wirkungen des Wohlfahrtsstaates weniger überzeugt sind als die westdeutschen. Man könnte daher fast den Eindruck gewinnen, dass im Osten Deutschlands die Skepsis hinsichtlich der wohlfahrtsstaatlichen Gestaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten generell größer ist. Wahrscheinlicher ist aber wohl eine andere Interpretation: nämlich dass die geringere Zustimmung zu den positiven

108 Bei dieser Einschätzung ist allerdings zu berücksichtigen, dass hier nicht das ganze Spektrum aller

denkbaren direkten und indirekten Wirkungen des Wohlfahrtsstaates erfasst werden konnte.

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124 5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland

Wirkungen von einer größeren Unzufriedenheit mit dem wohlfahrtsstaatlichen Sta-tus quo herrührt, während die geringere Zustimmung bei den Negativfolgen ihre Ursache in der höheren allgemeinen Präferenz für Wohlfahrtsstaatlichkeit hat.

5.4 Zusammenfassung: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates und der Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland

Die hier dargelegten Befunde zur Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates in der Bundes-republik Deutschland ergeben insgesamt ein zwiespältiges Bild. Einerseits sind die Akzeptanzwerte überraschend niedrig, wenn es um die Beurteilung konkreter wohl-fahrtsstaatlicher Institutionen geht. Anderseits bestehen deutliche Präferenzen für eine umfangreiche soziale Sicherung und sogar für »mehr Wohlfahrtsstaat«. Dass in der Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat oft wohl überzeichnete Bild einer ho-hen Akzeptanz muss entsprechend zurechtgerückt werden: Nicht die Akzeptanz des bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Arrangements ist hoch, sondern die der Wohlfahrtsstaatlichkeit.

Wie immer man dabei die Ergebnisse für die Institutionenakzeptanz und das Systemvertrauen im Einzelnen einschätzen mag109: Sie lassen sich jedenfalls nicht als ein überzeugendes Votum für die bestehende Ausgestaltung der sozialen Sicherung deuten. Aber auch für eine grundsätzliche Abkehr vom Wohlfahrtsstaat gibt es kei-ne Anzeichen. Die kritischen Beurteilungen sind vielmehr weitgehend auf die kon-kreten wohlfahrtsstaatlichen Institutionen beschränkt. Es bestehen fundamentale Zweifel an deren Funktionserfüllung, nicht aber am generellen Sinn der Wohlfahrtsstaatlichkeit.

In den unterschiedlichen Ergebnissen zur Akzeptanz der bestehenden wohl-fahrtsstaatlichen Institutionen und der Wohlfahrtsstaatlichkeit ist kein Widerspruch zu sehen. Beide Ergebnisse ergänzen sich durchaus und können sich zum Teil sogar wechselseitig erklären. Grundsätzlich gilt dabei: je größer die Differenz zwischen Präferenzen und wahrgenommener »Performanz«, desto kritischer die Beurteilung des wohlfahrtsstaatlichen Status quo.110

Dieses allgemeine Ergebnis zur Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates steht in einem zum Teil deutlichen Kontrast zu den Befunden vieler früherer Untersuchungen, die vorwiegend auf Indikatoren der Wohlfahrtsstaatlichkeit basieren.111 Sofern hier auf-grund der Verwendung unterschiedlicher Indikatoren ein Vergleich möglich ist, sind 109 Bereits in Abschnitt 5.1 wurde deutlich gemacht, dass die »negativen« Bewertungen nicht

unbedingt wörtlich zu interpretieren sind.110 So kann z.B. die im Vergleich zu anderen Sicherungssystemen relativ hohe »Institutionenakzeptanz«

der Sozialhilfe damit plausibilisiert werden, dass vergleichsweise geringe Leistungsdefizite wahrge-nommen werden (was wiederum womöglich auf ein gegenüber den Sozialversicherungen geringeres Anspruchsniveau zurückzuführen ist).

111 Beim Vertrauen in die Sicherungssysteme und bei der Zufriedenheit mit der eigenen Absicherung sind jedoch auch schon frühere Untersuchungen zu skeptischeren Einschätzungen gekommen (vgl. u.a. Bulmahn 1997; Dallinger 2003).

Page 125: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

5.4 Zusammenfassung 125

allerdings auch bei der gewünschten Wohlfahrtsstaatlichkeit die festgestellten Präfe-renzen nicht ganz so stark, wie dies insbesondere auf der Basis von ISSP- und Eu-robarometer-Daten wiederholt festgestellt worden ist.

Diese Unterschiede sind vermutlich gleichermaßen auf eine tatsächlich sinken-de Akzeptanz der Wohlfahrtsinstitutionen und auf die andere – und wie wir meinen realistischere – Art der Akzeptanzmessung zurückzuführen. Dieser »Realismus« be-steht zum einen in der stärkeren Fokussierung auf Akzeptanz der bestehenden wohl-fahrtsstaatlichen Institutionen (Institutionenakzeptanz, Systemvertrauen) und zum anderen in der Relationierung der beiden Indikatoren der Wohlfahrtsstaatlichkeit durch die Berücksichtigung von Sicherungsalternativen (staatliche Zuständigkeit) und durch die Verknüpfung mit der wahrgenommenen Leistungshöhe (»Leistungsbe-wertung«).

Bei den einzelnen Akzeptanzindikatoren wurden bereits Unterschiede zwischen ost-deutschen und westdeutschen Befragten deutlich, die sich als überaus konstant und konsis-tent erwiesen. Diese Unterschiede lassen sich zu zwei Mustern zusammenfassen. Das erste besteht beim gewünschten Umfang der staatlichen Zuständigkeit. Hier wird von den ostdeutschen Befragten nicht nur in höherem Maße als von westdeut-schen eine staatliche Zuständigkeit für die als Kernbereiche definierten sozialpoliti-schen Aufgaben präferiert. Entsprechende Differenzen sind vielmehr auch bei der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« festzustellen: Auch hier wünschen sich Ost-deutsche bei allen zur Disposition gestellten Aufgaben eher als Westdeutsche ein starkes staatliches Engagement.

Dass diese Unterschiede auf eine stärkere tatsächliche Angewiesenheit auf so-ziale Leistungen oder auch auf die größere Bedrohung durch die zentralen Risiken zurückgeführt werden kann, ist eher unwahrscheinlich. Dagegen sprechen vor allem die vergleichsweise geringen Ost-West-Unterschiede bei der Frage der »wohlfahrts-staatlichen Intensität« sowie die Gleichförmigkeit der Unterschiede bei der staatli-chen Zuständigkeit, die schließlich auch bei Aufgabenbereichen bestehen, bei denen nicht von einem stärkeren Eigeninteresse der ostdeutschen Befragten auszugehen ist (Gesundheitsversorgung, Alterssicherung). Plausibler ist es hier daher, von wohl-fahrtskulturellen Unterschieden auszugehen. Wie erwähnt bietet sich hier insbeson-dere ein bei Ostdeutschen deutlich stärkerer Etatismus als Erklärung an. Hierin kann wiederum ein »sozialistisches Erbe« gesehen werden, das auch der Grund für die geringe Akzeptanz von Einkommensunterschieden sein dürfte.112

Das zweite grundlegende Muster bei den Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschen sind die differenten Beurteilungen von Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe. Ostdeutsche unterscheiden sich in diesen beiden Bereichen von den 112 Dies bestätigen im Übrigen auch Forschungsergebnisse von Roller (1997). So führt Roller (1997: 138)

Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen bei der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutio-nen vor allem auf »Sozialisationsfaktoren« zurück, während sie für »ökonomische Einflussfaktoren« keine signifikanten Effekte feststellen kann.

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126 5 Höhe und Verteilung der Akzeptanz in der Bundesrepublik Deutschland

westdeutschen Befragten durch eine geringere Institutionenakzeptanz, ein geringe-res Systemvertrauen sowie durch Präferenzen für eine höhere wohlfahrtsstaatliche Extensität und Intensität.

Noch mehr als bei den allgemeinen Präferenzen bezüglich der Wohlfahrts-staatlichkeit erscheint es hier nahe liegend, diese Unterschiede auf eine höhere Be-troffenheit von Arbeitslosigkeit und eine stärkere Angewiesenheit auf diese beiden Sicherungssysteme zurückzuführen. Auch die stärkere Präferenz der ostdeutschen Befragten für eine »Arbeitsplatzgarantie«, ließe sich so erklären. Erneut kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass auch unterschiedliche kulturelle Traditionen und landesteilspezifische Sozialisationserfahrungen dazu beitragen, dass sich Ost- und Westdeutsche bei ihren Akzeptanzurteilen über die Sozialhilfe und die Arbeitslosen-versicherung und bei den entsprechenden Präferenzen unterscheiden.113

Neben den zwischen Ost- und Westdeutschen bestehenden Unterschieden sind auch allgemeine Unterschiede bei der Akzeptanz der einzelnen Sicherungssysteme zu erken-nen. So ist bei der Gesetzlichen Rentenversicherung die Unzufriedenheit offenbar am größten. Sie weist die niedrigste Institutionenakzeptanz aller Sicherungssysteme auf und ihr wird das geringste Vertrauen entgegengebracht. Gleichzeitig bestehen hier die stärksten Präferenzen für höhere Leistungen und für eine staatliche Zustän-digkeit für die Alterssicherung.

Die Gesetzliche Krankenversicherung steht demgegenüber am anderen Ende des Spektrums, wenn man die Ergebnisse für die Institutionenakzeptanz und das Systemvertrauen zugrunde legt. Wie gezeigt schließt dies jedoch nicht aus, dass auch hier deutliche Präferenzen für ein höheres Leistungsniveau bestehen.

Ganz ähnlich fällt auch die Beurteilung der Leistungen für Familien aus, für die allerdings weniger Akzeptanzindikatoren vorliegen. Auch hier wird trotz einer ver-gleichsweise hohen Institutionenakzeptanz ein deutlich stärkeres finanzielles Enga-gement des Wohlfahrtsstaates gewünscht. Die Beurteilung dieser beiden wohlfahrts-staatlichen Bereiche macht deutlich, dass auch eine Parallelität von gewünschter Wohl-fahrtsstaatlichkeit und Akzeptanz der bestehenden Wohlfahrtsinstitutionen möglich ist.

Leistungen für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger nehmen im Vergleich zu den anderen Sicherungsbereichen eine mittlere Position ein. Weder ist die Unzufrie-denheit mit der bestehenden Form der Sicherung so groß wie bei der Gesetzlichen Rentenversicherung, noch sind die Forderungen nach höheren Leistungen so ausge-prägt wie bei den beiden großen Sozialversicherungen. Die Sozialhilfe und das Ar-beitslosengeld sind zudem die einzigen Leistungsarten, bei denen sich ein bedeuten-

113 Dass sich die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen in der Tat nicht auf Unterschiede in

den sozialpolitischen Interessenlagen reduzieren lassen, zeigen die entsprechenden Analysen in den Kapiteln 6.1 und 6.2. In diesen erweisen sich die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen als weitgehend stabil, wenn die soziale Lage und insbesondere der Versorgungsklassenstatus kontrolliert werden.

Page 127: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

5.4 Zusammenfassung 127

der Teil der Befragten auch für ein geringeres Leistungsniveau ausspricht. Bei der Sozialhilfe kann sogar von einem »Patt« zwischen Befürwortern einer höheren So-zialhilfe und solchen, die eine Absenkung des Leistungsniveaus präferieren, ausge-gangen werden.

Diese Unterschiede zwischen den einzelnen Sicherungssystemen und Leistungs-arten lassen sich dabei nicht ohne weiteres in ein »Beliebtheitsranking« übersetzen. Wohl aber zeigen die starken Präferenzen für höhere Renten und umfassendere GKV-Leistungen, dass die beiden großen Sozialversicherungen bzw. die entspre-chenden sozialpolitischen Aufgabenbereiche von besonderer Bedeutung für das Si-cherheitsempfinden sind. Hierüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass dies sehr unterschiedliche und vor allem kritische Beurteilungen der konkreten Wohlfahrtsin-stitutionen nicht ausschließt.

Page 128: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«: Mögliche Erklärungsfaktoren von Akzeptanzurteilen und Akzeptanzunterschieden

Schon bei der Darstellung der wohlfahrtsstaatstheoretischen Ansätze (Kapitel 2.2) wurde deutlich, dass sich aus den konkurrierenden Erklärungen der Entstehung und Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten auch unterschiedliche Annahmen über die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen gewinnen lassen. In den folgenden Abschnitten sollen mehrere dieser Annahmen einer genaueren empirischen Prüfung unterzogen werden. Dies geschieht in fünf Abschnitten, wobei in jedem dieser Abschnitte eine übergreifende Fragestellung verfolgt wird, die sich zum Teil wieder in mehrere Einzelfragen unterteilt.

Vor allem in einer konflikttheoretischen Perspektive (vgl. Abschnitt 2.2.2) las-sen sich mehrere Hypothesen über Akzeptanzursachen und -unterschiede entwic-keln: Die klassische Annahme vor allem interessen- und machttheoretischer Ansät-ze ist hier, dass der Klassengegensatz zwischen »Kapital« und »Arbeit« auch und ge-rade in der sozialpolitischen Arena ausgetragen wird. Dementsprechend wird in Ka-pitel 6.1 zunächst untersucht, inwiefern bei der Beurteilung der sozialen Sicherungs-systeme und sozialpolitischen Aufgaben Hinweise auf traditionale Klassengegensätze zu finden sind.

Neben der Frage, ob diese klassischen »cleavages« im Bereich der Wohlfahrts-staatsakzeptanz (noch) nachweisbar sind, wird in Anlehnung an die »Mittelklassen-these« auch untersucht, ob, soweit dies an Akzeptanzurteilen abgelesen werden kann, die Integration der Mittelklassen in den Wohlfahrtsstaat gelungen ist oder ob sich die mittleren Schichten – im Sinne der Annahme eines »welfare backlash« – durch eine kritischere oder gar ablehnende Haltung gegenüber dem Wohlfahrtsstaat auszeich-nen. Schließlich wird in diesem ersten Kapitel untersucht, in welchem Maße die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme durch die parteipolitischen Orientierungen erklärt werden kann. Hierzu wird der Einfluss der Parteiaffinität114 auf die Akzep-tanzurteile analysiert.

114 Als »Parteiaffinität« wird hier eine Operationalisierungsvariante des Konzepts der »Parteiidentifika-

tion« bezeichnet (vgl. Anhang A2.3), ohne dass dessen theoretischen Implikationen hier übernom-men werden (zur »Parteiidentifikation« vgl. a. Schoen/Weins 2005: 206ff.).

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6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness« 129

Als eine besondere Form von Konfliktpotenzial können Interessengegensätze gelten, die sich erst aus der umfassenden sozialen Absicherung und vor allem infol-ge der damit verbundenen redistributiven Wirkungen ergeben. Denn vor allem zeit-punktbezogen, aber auch in der »Lebenslaufbilanz« begünstigt und benachteiligt der Wohlfahrtsstaat einzelne Bevölkerungsgruppen. Offensichtlich wird dies insbeson-dere dann, wenn soziale Sicherungssysteme zur Herausbildung von Versorgungs-klassen führen.

Im zweiten Abschnitt (6.2) wird daher vor allem der Frage nachgegangen, wie sich der Versorgungsklassenstatus bzw. die sozialpolitische Verteilungsposition auf die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme auswirkt. Dies geschieht in einer doppelten Perspektive: zum einen für die unterschiedlichen »positiv privilegierten« Versorgungs-klassen (Rentner, Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose), zum anderen für mögliche Gegensätze zwischen positiven Versorgungsklassen und »Finanzierungsklassen«. Da davon auszugehen ist, dass die Akzeptanzurteile nicht nur von den objektiven, durch die Klassen- oder sozialpolitische Verteilungsposition bestimmten Interessen-lagen beeinflusst werden, wird zusätzlich untersucht, welche Bedeutung subjektive Interessendefinitionen für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme haben.

Die Möglichkeit einer neuen Konfliktlinie ergibt sich aus den intergeneratio-nellen Verteilungswirkungen des Wohlfahrtsstaates. Ob ungleiche Belastungen und Begünstigungen durch soziale Sicherungssysteme wahrgenommen werden und wie sie gegebenenfalls beurteilt werden, wird in Kapitel 6.3 untersucht. An den Beispie-len der Gesetzlichen Rentenversicherung und von Leistungen für Familien und Al-leinerziehende wird vor allem der Frage nachgegangen, inwiefern sich in den Ak-zeptanzurteilen zu diesen beiden Sicherungsbereichen Gegensätze zwischen unter-schiedlichen Generationen oder Altersgruppen widerspiegeln, aus denen auf einen latenten Generationenkonflikt geschlossen werden kann.

Im Gegensatz zu interessen- und konflikttheoretischen Wohlfahrtsstaatstheo-rien betonen wohlfahrtskulturelle Ansätze (vgl. Abschnitt 2.2.3) die Bedeutung, die Ideologien, Deutungsmuster und Wertorientierungen sowie die öffentlichen Diskur-se, in denen konkurrierende Deutungen durchgesetzt und verändert werden, für die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung haben. Dazu gehören zum einen hier nicht zu be-handelnde Aspekte nationaler Ideologien und nationalstaatlicher Diskursverläufe, zum anderen aber auch kulturelle Unterschiede und »Verwerfungen« auf der Mikro-ebene der wohlfahrtsstaatlichen Adressaten. Insofern ist zu vermuten, dass sich auch normative Orientierungen auf die Beurteilung sozialer Sicherungssysteme auswir-ken. Aus diesem Grund wird in Abschnitt 6.4 untersucht, welche Bedeutung nor-mative Orientierungen für die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates haben. Hierzu wird der Einfluss betrachtet, den Gerechtigkeitsüberzeugungen und grundlegende Hand-lungs- und Sozialorientierungen auf die Akzeptanzurteile haben.

Sowohl auf wohlfahrtskulturelle als auch auf institutionalistische Überlegungen (vgl. Abschnitt 2.2.4) stützen sich Erklärungen, die die Unterschiede zwischen Wohl-

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130 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

fahrtsstaaten und die offenkundige Variabilität wohlfahrtsstaatlicher Institutionen auf moralökonomische Faktoren zurückführen. Ein wichtiger Bestandteil der »wohlfahrts-staatlichen Moralökonomie« sind Vorstellungen eines »legitimen« Leistungsemp-fangs sowie daraus abgeleitete Wahrnehmungen und Be- bzw. Verurteilungen der un-terschiedlichen Leistungsempfängertypen. Zentral ist hierbei die Kategorie der »de-servingness«. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass die »Leistungs-empfängerbilder« einen erheblichen Einfluss auf die Akzeptanz sozialer Sicherungs-systeme haben. Im abschließenden Kapitel des analytischen Teils (6.5) wird daher untersucht, wie sich Typisierungen von Leistungsempfängern auf die Akzeptanz der korrespondierenden Sicherungssysteme auswirken.

In den detaillierten Analysen zur Bedeutung, die die unterschiedlichen Fakto-ren für die Erklärung der Akzeptanzurteile über wohlfahrtsstaatliche Institutionen haben, werden für die einzelnen Themenbereiche jeweils unterschiedliche Siche-rungssysteme und unterschiedliche Akzeptanzindikatoren verwendet. Bereits auf-grund rein pragmatischer Erwägungen ist klar, dass nicht alle Akzeptanzindikatoren für alle Sicherungsbereiche und für jeden Schwerpunkt untersucht werden können. Angesichts der großen Zahl möglicher Kombinationen – allein für den Kernbereich wären 90 Einzelanalysen erforderlich – würde die Darstellung schnell ins Uferlose gehen. Welche Akzeptanzindikatoren und Sicherungsbereiche im Einzelnen heran-gezogen werden, ergibt sich dabei aus der Relevanz für die jeweilige Fragestellung. In einigen Fällen ist eine solche Auswahl fast »selbstevident«115, in anderen muss sie nach genauer Abwägung der einzelnen Vor- und Nachteile – und bei einem gewis-sen Maß an unvermeidbarer Kontingenz – getroffen werden.116 Eine genaue Erläu-terung der Auswahl findet sich in den jeweiligen Kapiteln (für eine Gesamtübersicht über die verwendeten Akzeptanzindikatoren und untersuchten Sicherungssysteme vgl. Anhang A1).

115 So kann z.B. die Bedeutung von Versorgungsklassen (6.2) nur für Sicherungssysteme untersucht

werden, in denen es auch zur Herausbildung derart stabiler Verteilungslagen kommt. Der Frage, ob sich ein Generationenkonflikt um die soziale Sicherung abzeichnet (6.3), wird dagegen am Beispiel der Sicherungssysteme nachgegangen, bei denen ein Gegensatz zwischen Altersgruppen am wahrscheinlichsten ist (Rentenversicherung und Leistungen für Familien).

116 Ganz verzichtet wird auf das Systemvertrauen. Der Grund hierfür ist denkbar einfach: Zum einen haben die Häufigkeitsanalysen gezeigt, dass die Unterschiede zwischen dem Systemvertrauen und der Institutionenakzeptanz immer nur gering sind. Da das Systemvertrauen zudem ein niedrigeres Skalenniveau aufweist als die Institutionenakzeptanz, scheint es gerechtfertigt, bei der Akzeptanz des Status quo ausschließlich auf die Institutionenakzeptanz zurückzugreifen. Darüber hinaus ist Systemvertrauen ein vergleichsweise enges Konzept und daher für einige Fragestellungen weniger geeignet als die Institutionenakzeptanz.

Page 131: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.1 Klassen, Parteien und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 131

6.1 Klassen, Parteien und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.1.1 Einleitung

Der Wohlfahrtsstaat ist wesentlich ein Produkt von Klassenauseinandersetzungen und die verschiedenen Wohlfahrtsstaatstypen können entsprechend als unterschied-liche Versionen eines »Kompromisses« der gegensätzlichen Klasseninteressen zwi-schen Unternehmern und Arbeiterbewegung angesehen werden – oder aber auch als Erfolg einer sozialreformerisch ausgerichteten Arbeiterbewegung (vgl. u.a. Baldwin 1990; Esping-Andersen 1990; Heimann 1980). Arbeiter – zumindest alle in nicht-re-volutionären Arbeiterparteien jeglicher Couleur organisierten Arbeiter – und ihnen nahe stehende Bevölkerungsgruppen gelten daher auch als Hauptunterstützer des Wohlfahrtsstaates und der sozialreformerische Teil der Arbeiterbewegung als wich-tigster Motor des weiteren Ausbaus der sozialen Sicherung. Als traditionale Wohlfahrts-staatsgegner standen ihnen vor allem die Unternehmerschaft, der »alte Mittelstand« und die selbständigen Landwirte gegenüber. Die Gründe für eine wohlfahrtsfeindli-che Haltung dieser Bevölkerungsgruppen sind dabei durchaus unterschiedlich; haupt-sächlich dürfte sie aber durch die materiellen Nachteile (Belastung der Unternehmer durch Sozialversicherungsbeiträge) und durch die Distinktionsbedürfnisse von An-gestellten und Beamten gegenüber der Arbeiterklasse motiviert (gewesen) sein.

Die Vermutung einer höheren Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme bei Ar-beitern basiert weniger auf der gewiss zutreffenden Überlegung, dass wohlfahrts-staatliche Prinzipien in der »Arbeiterkultur« stärker verankert sind als in anderen so-zialen Milieus. Ihr liegt vielmehr die allgemeine Annahme zugrunde, dass die Akzep-tanz bei den Bevölkerungsgruppen am höchsten ist, die den größten Risiken (vor al-lem denen des Arbeitsmarktes) ausgesetzt sind und in geringem Maße über die mate-riellen und kognitiven Ressourcen für eine private Vorsorge verfügen; kurz: die am stärksten auf eine staatlich organisierte und garantierte Absicherung angewiesen sind. Demzufolge müssten u.a. Arbeiter und Bezieher niedriger Einkommen den Wohlfahrtsstaat stärker unterstützen als insbesondere Selbständige (inkl. Freiberuf-ler) und abhängig Beschäftigte in privilegierten Positionen (Beamte, leitende Ange-stellte).

Die sozialstrukturelle Entwicklung hat insbesondere nach 1945 zu einer Verän-derung des Kräfteverhältnisses zwischen Unterstützern und Gegnern des Wohlfahrts-staates geführt. So ist die Zahl der traditionellen Wohlfahrtsstaatsgegner (Landwirte, kleine Selbständige) deutlich zurückgegangen. Parallel haben die neuen »Mittelklas-sen« (oder Mittelschichten) zunehmend an Gewicht gewonnen. Im Unterschied

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132 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

zum »alten Mittelstand« setzen diese sich in erster Linie aus Angestellten und Beam-ten zusammen, von denen ein großer Teil im öffentlichen Sektor beschäftigt ist.117

Die Angehörigen der neuen Mittelschichten sind den Risiken der modernen Arbeitsmarktexistenz meist in ähnlicher Weise ausgesetzt wie die Arbeiter, unter-scheiden sich von diesen jedoch durch die im Durchschnitt günstigere ökonomische Lage und eine dadurch bedingte größere Selbsthilfefähigkeit. Anders als beim »alten Mittelstand« kann bei ihnen daher ein grundsätzliches, wenn auch im Vergleich zu den Arbeitern schwächeres Interesse an einer wohlfahrtsstaatlichen Sicherung vor-ausgesetzt werden.

Wie in Kapitel 2.2 dargelegt wurde, gehen die Einschätzungen darüber, wie Angehörige der »neuen Mittelkassen« über den Wohlfahrtsstaat denken, auseinan-der. Während Vertreter der »Mittelklassenthese« (Baldwin1990; Goodin/Dryzek 1987) deren erfolgreiche, vor allem durch die Berücksichtigung spezifischer Mittelklassen-interessen gelungene Integration in den Wohlfahrtsstaat annehmen, sehen andere Beobachter in den Mittelklassen das größte wohlfahrtsstaatsfeindliche Protestpoten-zial. Einiges spricht jedoch dafür, dass die Evidenz für diese gegenläufigen Annah-men mit den nationalen wohlfahrtsstaatlichen Rahmenbedingungen variiert (vgl. Ab-schnitt 2.2.2).

Die Zweifel daran, ob sozialstrukturanalytisch relevante Klassenunterschiede (noch) bestehen bzw. inwieweit sie grundlegende politisch-weltanschauliche Demar-kationslinien darstellen (Rokkan/Lipset 1967), sind jedoch immer lauter geworden, ohne dass die Kontroverse über den Nutzwert von Klassenbegriffen für die sozio-logische Forschung und Theoriebildung in irgendeiner Weise als abgeschlossen gel-ten könnten (vgl. zusammenfassend: Berger 1998).

Unterschiedliche Einschätzungen der jetzigen und zukünftigen Bedeutung von Klassenunterschieden wirken sich dabei auch auf Annahmen über klassenbasierte Unterschiede bei der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen aus (vgl. a. Svall-fors 2004). So nimmt ein Teil der Beobachter an, dass Klassenunterschiede schon deshalb zunehmend weniger auf die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates durchschla-gen, weil mit steigendem Wohlstand die Angewiesenheit auf eine wohlfahrtsstaatli-che Absicherung in allen Bevölkerungsgruppen dramatisch zurückgegangen sei und die mit dem Wohlfahrtsstaat verbundenen Nachteile (Steuer-/Beitragslast; staatliche Bevormundung) gleichzeitig immer mehr in den Vordergrund gerückt seien. Ent-sprechend wird ein allgemeiner Rückgang der Akzeptanz angenommen (vgl. u.a. Inglehart 1990; Offe 1997).

117 Aufgrund ihrer zahlenmäßigen Stärke, aber auch wegen der strategisch günstigen Position als

»Mehrheitsbeschaffer« wird häufig angenommen, dass den Mittelschichten für den Ausbau des Wohlfahrtsstaates entscheidende Bedeutung zukam. Sofern deren Einbezug erfolgreich gelungen war, konnte das System der sozialen Sicherung deutlich stärker ausgebaut werden als dort, wo sich die Mittelklassen in einer latenten oder offenen Opposition zum Wohlfahrtsstaat befanden.

Page 133: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.1 Klassen, Parteien und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 133

Diese auch als »Sättigungsthese« bekannte Annahme findet jedoch wenig em-pirische Unterstützung (vgl. explizit: Ervasti 2001; Evans 1996): Weder schwinden bei der Beurteilung des Wohlfahrtsstaates die Unterschiede zwischen den Klassen völlig, noch sind sie in Wohlfahrtsstaaten mit hohem Wohlstandsniveau besonders gering. Auch die »Mittelklassenthese«, nach der die Klassenunterschiede bei der Un-terstützung des Wohlfahrtsstaates zurückgehen, weil die Abhängigkeit von sozialen Sicherungssystemen aller Erwerbstätigen sehr hoch ist bzw. sich die Risikolagen klassenübergreifend angeglichen haben, wird in diesem Sinne (einer Angleichung der Akzeptanzwerte auf hohem Niveau) kaum durch die Ergebnisse der Umfrage-forschung gestützt (vgl. a. Papadakis 1993; Svallfors 1999). Gleiches gilt jedoch auch für die gegenläufige und nur selten vertretene Auffassung einer zunehmenden Be-deutung von Klassenunterschieden bei der Unterstützung des Wohlfahrtsstaates. So geht z.B. Breen (1997) von einer »Rekommodifizierung« (erneut wachsenden Markt-abhängigkeit) und einem entsprechenden Anwachsen von Klassengegensätzen im Kontext der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung aus.118

Wie sich die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates in einzelnen Klassen und Schich-ten verändert hat, kann im Folgenden nicht geklärt werden. Vielmehr soll unter-sucht werden, ob sich überhaupt Auswirkungen der Klassenpositionen auf die Ak-zeptanzurteile nachweisen lassen.

Wie schon in Abschnitt 3.2 betont wurde, ergeben die Befunde der Akzeptanz-forschung hier in ihrer Gesamtheit für Klassen-, Schicht- und Einkommenseffekte kein einheitliches Bild. Während einige Autoren eine höhere Unterstützung des Wohl-fahrtsstaates bei Arbeitern insbesondere im Verhältnis zu Selbständigen feststellen (u.a. Evans 1996; Gangl 1997; Svallfors 1995, 2004), schätzen andere die Akzeptanz-unterschiede zwischen Klassen- und Schichtpositionen als eher unerheblich ein (u.a. Cook/Barrett 1992; Roller 1992; Papadakis 1993).

Häufig wird daher auch vermutet, dass Klassendifferenzen bei der Beurteilung der sozialen Sicherung in den einzelnen Wohlfahrtsstaatstypen unterschiedlich stark »durchschlagen«. Nach Esping-Andersen (1990) ist der stärkste Klassengegensatz in liberalen Wohlfahrtsstaaten zu erwarten, während er in sozialdemokratischen all-mählich verschwinde und in konservativen zunehmend durch die Trennlinie zwi-schen »Insidern« (voll gesicherten Lohnabhängigen) und »Outsidern«, die nicht oder nur teilweise durch den Sozialstaat erfasst werden, ersetzt werde. Auch die Gefahr

118 Alle diese Vermutungen über sinkende oder wachsende Klassenunterschiede bei der Unterstützung

des Wohlfahrtsstaates basieren auf Annahmen über Veränderungen in der Abhängigkeit von der so-zialen Sicherung. Denkbar ist aber auch, dass klassenspezifische Präferenzen bestehen, die nicht auf das kollektive Sicherungsinteresse zurückzuführen sind, etwa wenn Arbeiter auch angesichts einer ge-ringeren Angewiesenheit auf staatliche Absicherungsformen an wohlfahrtsstaatlichen Prinzipien und Überzeugungen festhalten und sich aus diesem Grunde hinsichtlich der Akzeptanz wohlfahrtsstaat-licher Institutionen von anderen Bevölkerungssegmenten unterscheiden.

Page 134: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

134 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

eines »welfare-state backlash« der Mittelklassen sieht er nur für die liberalen Wohl-fahrtsstaaten.119

Die empirischen Anhaltspunkte für derartige Unterschiede zwischen Wohl-fahrtsstaatstypen sind allerdings gering. Schon Evans (1996) konnte in seinem Ver-gleich von acht Wohlfahrtsstaaten nur eher allgemeine Unterschiede zwischen an-glo-amerikanischen und europäischen Wohlfahrtsstaaten feststellen; die Akzeptanz-unterschiede zwischen den sozialen Klassen ergeben dabei kein konsistentes Muster (1996: 200ff.). Auch Svallfors (2004) findet Esping-Andersens Annahmen nicht be-stätigt. So stellt er z.B. in seinem Vergleich von Schweden, Deutschland, den USA und Großbritannien für Schweden die größten Unterschiede zwischen sozialen Klas-sen fest.

Für die anschließenden Analysen soll daher auch an den in Abschnitt 2.2.2 skiz-zierten Annahmen festgehalten werden. Demnach ist für den »konservativen« deut-schen Wohlfahrtsstaat durchaus davon auszugehen, dass sich der Konflikt zwischen »Kapital« und »Arbeit« auch in Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat wiederfinden lässt. Dies wurde in erster Linie auf die zentrale Bedeutung der Sozialversicherun-gen zurückgeführt, bei denen die »Arbeitgeber« unmittelbar an der Finanzierung be-teiligt sind. Ein »welfare state backlash« der Mittelklassen ist aufgrund der starken Mittelschichtorientierung der sozialen Sicherung (Beitragsfinanzierung; Äquivalenz-prinzip; Aufrechterhaltung von Statusunterschieden) dagegen unwahrscheinlich. Zwar sind Unterschiede zwischen Arbeitern und Angehörigen der Mittelklassen insbeson-dere bei der Akzeptanz von Leistungen zu erwarten, die traditionell durch eine ge-wisse »Mittelklassenferne« gekennzeichnet sind (z.B. Sozialhilfe)120, durchaus vor-stellbar – nicht jedoch eine grundlegende Abkehr der Mittelklassen vom Wohlfahrts-staat.

Für die Frage, wie sehr sich politische Orientierungen auf die Beurteilung der sozialen Sicherung auswirken, ist ähnlich wie für die sozialen bzw. Klassenpositio-nen festzustellen, dass die Ergebnisse der Akzeptanzforschung hierzu bisher unein-heitlich und insgesamt unbefriedigend sind.121 Einerseits ist davon auszugehen, dass sich Unterschiede in der Parteipräferenz in dem Maße auswirken, wie wohlfahrts-staatliche Leistungen Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzungen sind oder waren.122 Je nachdem, ob und wie der grundsätzliche strukturelle Gegensatz von »Kapital« und »Arbeit« gelöst bzw. institutionalisiert wurde, wurde auch die soziale 119 »The risks of welfare-state backlash depend not on spending, but on the class character of welfare

states. Middle-class welfare states, be they social democratic (as in Scandinavia) or corporatist (as in Germany), forge middle-class loyalties. In contrast, the liberal, residualist welfare states found in the United States, Canada and, increasingly, Britain, depend on the loyalties of a numerically weak, and often politically residual, social stratum« (Esping-Andersen 1990: 33).

120 Grundsätzlich gilt dies auch für den umgekehrten Fall von »mittelklassennahen« Leistungen z.B. für Bildung und Kultur, die hier jedoch nicht untersucht werden.

121 Zu unterschiedlichen Einschätzungen für die Bundesrepublik vgl. u.a. Roller (1992) und Gangl (1997). 122 Hier ist dann allerdings die Frage von Ursache und Wirkung nicht mehr genau zu klären.

Page 135: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.1 Klassen, Parteien und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 135

Sicherung zum Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzungen zwischen Links-parteien auf der einen und liberalen und konservativen Parteien auf der anderen Seite.

Vor allem in liberalen Wohlfahrtsstaaten bzw. in zwischen liberalen und sozial-demokratischen Wohlfahrtsstaatsmodellen changierenden Wohlfahrtsstaaten des »lib-lab-Pfades« (Hicks et al. 1995; vgl. a. Borchert 1998) ist daher ein deutlicherer Niederschlag parteipolitischer Präferenzen auf die Beurteilung der sozialen Siche-rung zu erwarten. In konservativen Wohlfahrtsstaaten ist dagegen eher von einem breiten parteipolitischen Konsens auszugehen – nicht zuletzt auch aufgrund des großen Einflusses christlicher und christdemokratischer Parteien auf die wohlfahrts-staatliche Entwicklung (vgl. u.a. Kaufmann 1988, van Kersbergen 1995).

Auch für Deutschland scheint die Annahme eines breiten Konsenses über den Wohlfahrtsstaat zutreffend: Der Wohlfahrtsstaat (oder nach einem in der alten Bun-desrepublik verbreiteten Verständnis: der Sozialstaat) wurde, zumindest was seine Kerninstitutionen betrifft, lange von einem parteiübergreifenden Konsens getragen. Andererseits hat sich die wohlfahrtsstaatliche Agenda dramatisch gewandelt und es ist alles andere als klar, ob in Zeiten des wohlfahrtsstaatlichen Rückbaus weiterhin von einem parteiübergreifenden Konsens bezüglich der wohlfahrtsstaatlichen Basis-institutionen ausgegangen werden kann. Es ist daher durchaus möglich, dass sich die Bedingungen für eine »Politisierung« der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung verän-dert haben.

Erste »Auflösungserscheinungen« des (westlichen) Nachkriegskonsenses sind seit den 1990er Jahren zu beobachten, wofür vor allem die »Neoliberalisierung« der FDP und die Erweiterung des Parteienspektrums (PDS) Anhaltspunkte sind.123 Ein Einfluss von Parteiaffinitäten auf die Akzeptanzurteile ist aber wohl vor allem bei nicht institutionalisierten Leistungsarten und Absicherungsformen zu erwarten so-wie bei konkreteren Reformvorhaben, die zumindest in Teilen Parteien und Partei-blöcken zugerechnet werden können (vgl. z.B. Ullrich/Christoph 2006). Für den deutschen Wohlfahrtsstaat ist daher allgemein anzunehmen, dass die Unterschiede zwischen den Anhängern verschiedener Parteien bei der Beurteilung des Kernbe-reichs der sozialen Sicherung insgesamt gering sind. Größere Unterschiede können dagegen bei Fragen der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« erwartet werden.

Zur Untersuchung der Frage, ob bei der Beurteilung der sozialen Sicherung Unterschiede zwischen Klassen bzw. sozialen Positionen sowie nach Parteiaffinität bestehen, wird in den folgenden Analysen auf zwei Arten von Akzeptanzindikato-ren zurückgegriffen (für eine ausführliche Beschreibung vgl. Abschnitt 4.2): Zum einen sind dies die Beurteilungen der Leistungshöhe von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe, zum 123 Inwiefern sich hier aber ein grundlegender wohlfahrtsstaatlicher Dissens zwischen den Parteien ab-

zeichnet (oder schon besteht), ist nur schwer zu beurteilen. Zumindest scheinen – wie u.a. die Dis-kussion um Grundeinkommen und Bürgergeld zeigt – die »Binnenvariationen« oftmals größer als die Differenzen zwischen den Parteien.

Page 136: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

136 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

anderen die staatliche Zuständigkeit für Arbeitsplätze und für die Verringerung der Ein-kommensunterschiede, zwei sozialpolitische Zielsetzungen, die der »erweiterten Wohl-fahrtsstaatlichkeit« zugerechnet wurden, weil sie nicht zum institutionalisierten Kern-bestand des deutschen Wohlfahrtsstaates gehören.

Das Arbeitslosengeld und die Sozialhilfe sind die zwei Leistungsarten des Kern-bereichs der sozialen Sicherung, die bei der Wahrscheinlichkeit einer Angewiesen-heit die größten Unterschiede zwischen Klassen- und Einkommenslagen aufweisen. Im Gegensatz zur Renten- und zur Krankenversicherung sind sie zudem Minder-heitsprogramme. Es ist daher anzunehmen, dass bei der Beurteilung dieser Siche-rungsbereiche eher Klassenunterschiede zu finden sind. Grundsätzlich ist jedoch auch für die Arbeitslosenversicherung und die Sozialhilfe von einem eher hohen Konsens über die generelle wohlfahrtsstaatliche Absicherung dieser Ziele auszuge-hen (vgl. auch Sachweh et al. 2006). Nennenswerte Unterschiede zwischen sozialen Lagen oder nach Parteiaffinität sind daher erst bei der Frage nach dem Umfang der Absicherung (Präferenzen bezüglich der Leistungshöhe) zu erwarten.

Auch hinsichtlich der Ziele »staatliche Sorge für Arbeitsplätze« und »Abbau von Einkommensunterschieden« ist eher als bei anderen wohlfahrtsstaatlichen Auf-gaben und Bereichen von einem Einfluss der sozialen Lage und der Parteiaffinität auf die Beurteilung auszugehen – zum einen, weil die Vorteile (und zumindest, was die Frage der Reduzierung von Einkommensunterschieden betrifft, auch die Nach-teile) sozial sehr unterschiedlich verteilt sind, und zum anderen, weil es sich um nicht-konsensuelle Ziele handelt.

Diese Auswahl von Akzeptanzindikatoren und Sicherungsleistungen stellt somit den Versuch einer Fokussierung auf die Bereiche dar, bei denen am ehesten mit Klassenunterschieden zu rechnen ist. Sollten selbst hier keine Unterschiede zwi-schen Angehörigen unterschiedlicher sozialer Klassen und Lagen zu finden sein, so kann dies auch für andere Sicherungsziele und -bereiche ausgeschlossen werden.

Von der allgemeinen, der Auswahl der Akzeptanzindikatoren zugrunde liegen-den Annahme ausgehend, dass sich Unterschiede zwischen sozialen Klassen und Lagen sowie zwischen Anhängern unterschiedlicher Parteien vor allem dann finden lassen müssten, wenn es um den Umfang der sozialen Sicherung (Höhe der Leistun-gen) oder um Leistungen geht, bei denen der potenzielle Nutzen (etwa die Chancen eines Leistungsbezugs) klassen- oder lagespezifisch ungleich verteilt sind, werden den nachstehenden Analyen (6.1.2) folgende Annahmen zugrunde gelegt:

Wegen der höheren potenziellen Angewiesenheit auf Arbeitslosengeld und So-zialhilfe wird bei Arbeitern eine stärkere Präferenz für höhere Leistungen erwartet (H1). Dabei sollte der Unterschied zu den Selbständigen, die beim Arbeitslosengeld noch zusätzlich durch die Arbeitgeberbeiträge belastet werden, besonders deutlich sein. Solche durch die soziale Lage und die Art der Erwerbstätigkeit bestimmten Un-terschiede sind grundsätzlich zunächst einmal unabhängig vom Einkommen. Ent-

Page 137: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.1 Klassen, Parteien und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 137

sprechend wird daher angenommen, dass Unterschiede zwischen sozialen Klassen auch bei Kontrolle des Einkommens bestehen bleiben (H1.1).

Die Unterschiede entlang von Klassen- und Einkommensgrenzen sollten beim beitrags- bzw. einkommensabhängigen Arbeitslosengeld stärker sein als bei der So-zialhilfe (H2). Bei der Sozialhilfe ist zu vermuten, dass zusätzlich eine Trennlinie zwischen Erwerbstätigen und Nicht-Erwerbstätigen – bzw. zwischen Personen in »Normalarbeitsverhältnissen« und solchen in prekärer Beschäftigung und mit dis-kontinuierlichen Erwerbsbiografien – verläuft (vgl. hierzu auch Abschnitt 6.2).

Die Akzeptanz der traditional-materialistischen Aspekte der »erweiterten Wohl-fahrtsstaatlichkeit« (»Arbeitsplätze« und »Abbau von Einkommensunterschieden«) sollte bei Arbeitern (Facharbeiter und ungelernte) und den unteren Einkommens-gruppen größer sein (H3). Die wichtigsten Gründe für diese Annahme sind der hö-here potenzielle und unmittelbare Nutzen (höheres Arbeitslosigkeitsrisiko und ge-ringeres Einkommen).

Aufgrund der starken »Mittelschichtorientierung« des deutschen Wohlfahrts-staates, wird – trotz Unterschieden im Vergleich zu den Arbeiterklassen – insgesamt eine positive Akzeptanz der »Mittelklassen« erwartet (H4). Wegen der vergleichswei-se hohen Befürwortung von Leistungskürzungen bei der Sozialhilfe (vgl. Kap. 5; Abb. 5.4e) und aufgrund der für Angehörige der Mittelkassen deutlich geringeren Sozialhilfewahrscheinlichkeit wird diese allgemeine Annahme jedoch für die Höhe der Sozialhilfe relativiert. Wenn es zumindest so etwas wie »Ressentiments« (wenn vielleicht auch keinen »welfare backlash«) der Mittelklassen gegen die soziale Siche-rung gibt, dann sollten sich diese bei der »Leistungsbewertung« der Sozialhilfe nach-weisen lassen (H4.1).

Im Unterschied zu Wohlfahrtsstaaten, in denen die soziale Sicherung in stärke-rem Maße Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzungen war (oder ist), ist für Deutschland ein geringer Einfluss der Parteineigung auf die Beurteilung des Wohl-fahrtsstaates anzunehmen. Aufgrund des lange Zeit breiten, parteiübergreifenden Konsenses sollten sich die Anhänger unterschiedlicher Parteien bei der Beurteilung sozialer Sicherungssysteme insgesamt nicht allzu sehr unterscheiden, wenn für so-zialstrukturelle Faktoren kontrolliert wird (H5).

Dies gilt jedoch nur für die Kerninstitutionen der sozialen Sicherung (hier also für die Beurteilung der Leistungshöhe von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe). Deut-lichere Unterschiede sollten dagegen bei der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« erkennbar sein. Denn sowohl bei der staatlichen Sorge für Arbeitsplätze als auch beim Abbau von Einkommensunterschieden handelt es sich um klassische »sozial-demokratische« Ziele (vgl. a. Roller 2002). Ihre Akzeptanz sollte unter den Anhän-gern der SPD (und der PDS) größer sein als bei denen anderer Parteien (H6).

Page 138: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

138 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

6.1.2 Arbeiter und »Mittelklassen«: Unterschiede zwischen sozialen Klassen bei der Beurteilung sozialer Sicherungssysteme

Ein erster Blick auf die Häufigkeitsverteilungen bei der Beurteilung der Leistungshöhe von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe macht für die Frage von Unterschieden zwi-schen Angehörigen unterschiedlicher soziale Klassen – hier wird ein auf sechs Klassen verdichtetes Klassenschema nach Erikson und Goldthorpe (1992) verwendet (im Folgenden auch als EGP abgekürzt; vgl. 4.3) – zweierlei deutlich (vgl. Abb. 6.1.1):

Erstens sind bereits auf der deskriptiven Ebene Unterschiede erkennbar, die den allgemeinen Erwartungen zumindest grob entsprechen. Angehörige der Dienst-klassen und Selbständige befürworten deutlich häufiger ein geringeres Arbeitslosen-geld und eine niedrigere Sozialhilfe als Arbeiter.124 So sprechen sich nur 40,8 Pro-zent der Angehörigen der Dienstklassen für eine höhere Sozialhilfe aus, aber im-merhin 57,4 Prozent der ungelernten Arbeiter. Die Unterschiede zwischen »Fachar-beitern« und »an- und ungelernten Arbeitern« bei der Befürwortung höherer Leis-tungen sind allerdings jeweils relativ groß.

Abbildung 6.1.1: »Leistungsbewertung« (Präferenzen für Leistungskürzungen und -erhöhungen) von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe nach sozialen Klassen (Häufigkeiten in Prozent)125

25,0

17,0

21,9

7,414,0 15,6

31,529,8

25,018,5

29,0

19,9

43,5

53,1 53,1

74,1

57,0 64,5

0

10

20

30

40

50

60

70

80

Kürzung Niveau beibehalten Erhöhung

Arbeitslosengeld

Dienstklasse

Nichtmanuelle Routinetätigkeit

Selbstständige

Landwirte, Landarbeiter

Facharbeiter, Techniker,MeisterUn- und angelernte Arbeiter

N=1151

124 Die »selbständigen Landwirte und Arbeiter im primären Sektor« werden aufgrund der (trotz des Zu-

sammenlegens der beiden Klassen) insgesamt geringen Fallzahl nicht in die Analysen einbezogen.125 Für den Zweck der Darstellung wurden die Werte der Variablen zusammengefasst. Als

»Erhöhung« wurden dabei alle positiven Werte der Differenz von gewünschter und wahrgenommener Leistungshöhe definiert, als »Kürzung« entsprechend alle negativen.

Page 139: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.1 Klassen, Parteien und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 139

34,6 32,9 34,529,6

28,326,1 24,7 24,4

17,218,5 20,9

16,5

40,842,6

48,3

51,9 50,8

57,4

0

10

20

30

40

50

60

70

80

Kürzung Niveau beibehalten Erhöhung

Sozialhilfe

Dienstklasse

Nichtmanuelle Routinetätigkeit

Selbstständige

Landwirte, Landarbeiter

Facharbeiter, Techniker, Meister

Un- und angelernte Arbeiter

N=1105

Andererseits kommt in diesen Unterschieden bei der Beurteilung der Leistungshöhe kein grundlegender Gegensatz zwischen den einzelnen sozialen Klassen zum Aus-druck. So befürworten auch Angehörige der Dienstklassen und Selbständige eher höhere als niedrigere Leistungen bei der Arbeitslosenversicherung und der Sozial-hilfe, während immerhin ungefähr ein gutes Viertel der Arbeiter sich für Kürzungen bei der Sozialhilfe ausspricht (26,1 und 28,3 Prozent).

Ein ähnliches Bild ergibt sich für die staatliche Sorge um Arbeitsplätze und für die Reduzierung von Einkommensunterschieden (Abb. 6.1.2). So überwiegt in allen sozialen Klassen die Zustimmung zu den genannten wohlfahrtsstaatlichen Zielen ganz deutlich. Die zusammengefassten Werte der Zustimmung schwanken zwischen 70,6 Prozent (Selbständige) und 90,1 Prozent (ungelernte Arbeiter) bei der staatlichen Sorge für Arbeitplätze und zwischen 58,5 Prozent (Dienstklasse) und 82,5 Prozent (ungelernte Arbeiter) beim Abbau von Einkommensunterschieden. Andererseits sind jedoch auch hier die Unterschiede im Grad der Zustimmung unverkennbar. Die ablehnenden Haltungen sind insbesondere bei den Angehörigen der Dienstklas-sen und bei den Selbständigen deutlich häufiger als bei Arbeitern.

Insgesamt verdeutlichen die Häufigkeitsverteilungen, dass Unterschiede zwi-schen sozialen Klassen bei den Präferenzen hinsichtlich des Leistungsniveaus und des Umfangs des Wohlfahrtsstaates bestehen und dass diese Unterschiede der Er-wartung entsprechen, dass Arbeiter stärker als Angehörige anderer sozialer Klassen eine umfassende und generöse Wohlfahrtsstaatlichkeit präferieren. Die Unterschie-de zwischen den Klassen sind jedoch nicht so groß, dass hier von einem grundle-genden Gegensatz bei der Beurteilung der sozialen Sicherung ausgegangen werden kann. Auch bei den Mittelklassen (vor allem »Angestellte mit Routinetätigkeiten«) ist

Page 140: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

140 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

keine grundsätzliche Ablehnung des Wohlfahrtsstaates zu erkennen. Auch hier überwiegt – wie bei allen Befragten – der Wunsch nach einem stärkeren Wohl-fahrtsstaat.

Abbildung 6.1.2: Befürwortung staatlicher Zuständigkeit: »Arbeitsplätze« und »Abbau von Einkommensunterschieden« nach sozialen Klassen (Häufigkeiten in Prozent)

29,3

17,5

29,4

12,9

21,1

9,9

70,7

82,5

70,6

87,1

78,9

90,1

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

Ablehnung Zustimmung

Arbeitsplätze

Dienstklasse

Nichtmanuelle Routinetätigkeit

Selbstständige

Landwirte, Landarbeiter

Facharbeiter, Techniker, Meister

Un- und angelernte Arbeiter

N=1276

41,5

25,9

38,2

21,927,6

17,5

58,5

74,1

61,8

78,172,4

82,5

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

Ablehnung Zustimmung

Einkommensunterschiede

Dienstklasse

Nichtmanuelle Routinetätigkeit

Selbstständige

Landwirte, Landarbeiter

Facharbeiter, Techniker, Meister

Un- und angelernte Arbeiter

N=1267

Page 141: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.1 Klassen, Parteien und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 141

Welche Bedeutung diese Unterschiede zwischen den Klassen für die Erklärung der Akzeptanzurteile haben, soll im Folgenden untersucht werden. Dazu werden Re-gressionsanalysen verwendet, die jeweils drei Modelle umfassen: Im ersten wird nur der Effekt der sozialen Klassen (nach dem EGP-Schema) betrachtet, im zweiten dann auch für weitere sozialstrukturelle Variablen kontrolliert. Im dritten Modell werden schließlich auch das Haushalts(netto)einkommen126 und die Beschäftigung im Öffentlichen Dienst einbezogen. Das Haushaltseinkommen wird dabei als zum Klassenschema konkurrierender Prädiktor der sozialen Lage verstanden.127 Eine Be-schäftigung im Öffentlichen Dienst dient hier dagegen als zusätzlicher Mittelklas-senindikator, der die »Mittelklassenthese« gewissermaßen zur »öffentlichen Sektor«-These zuspitzt.128

Zunächst zur »Leistungsbewertung« von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe. Die im ersten Modell für das Arbeitslosengeld dargestellten Effekte der sozialen Klassen (Abb. 6.1.3) entsprechen zunächst den formulierten Erwartungen und bestätigen damit den Eindruck aus den Häufigkeitsverteilungen. Vor allem Arbeiter, aber auch einfache Angestellte (»nicht-manuelle Routinetätigkeiten«) befürworten im stärkeren Maße als Angehörige der Dienstklassen ein höheres Arbeitslosengeld, während der Effekt für die Selbständigen nicht signifikant ist. Der R²-Wert ist hier jedoch sehr klein, so dass insgesamt von einem schwachen Einfluss der Klassenlage auf die Be-urteilung der Höhe des Arbeitslosengeldes auszugehen ist.

Dies bestätigt das zweite Modell. Wenn für die Variablen Bildung, Alter, Ge-schlecht und Landesteil (Ost-/Westdeutschland) kontrolliert wird, reduziert sich der Einfluss der Klassenzugehörigkeit auf die Präferenzen hinsichtlich der Höhe des Arbeitslosengeldes. Hier ergeben sich nur noch für die beiden Arbeiterkategorien (schwach) signifikante Effekte. Sehr deutlich ist dagegen der Einfluss des Landes-teils: Ostdeutsche sprechen sich auch unabhängig von der Klassenzugehörigkeit eher für ein höheres Arbeitslosengeld aus als Westdeutsche. Von den anderen soziode-mografischen Variablen gehen dagegen keine signifikanten Wirkungen aus. Der R²-Wert ist im zweiten Modell dennoch höher (0,066).

126 Das Haushaltseinkommen wurde hier nach der alten OECD-Skala bedarfsgewichtet (vgl. Anhang

A2.2). 127 Da beim Haushaltseinkommen die Anzahl der Antwortverweigerungen relativ hoch ist, wurde auf

ein Konstanthalten der Fallzahlen verzichtet, wenn das Haushaltseinkommen zusätzlich in die Re-gressionsmodelle aufgenommen wurde.

128 Beschäftigte im Öffentlichen Dienst sind zwar überwiegend den Mittelschichten zuzurechnen, weisen aber die für die Frage der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen wichtige Besonderheit auf, dass sie weniger auf Systeme der sozialen Sicherung angewiesen und in geringerem Maße an ihrer Finanzierung beteiligt sind als andere Angehörige der Mittelschichten. Dies gilt natürlich insbesondere für Beamte, in abgeschwächter Form aber auch für Angestellte.

Page 142: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

142 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

Abbildung 6.1.3: »Leistungsbewertung« (Präferenzen für Leistungskürzungen und -erhöhungen): Arbeitslosengeld – Klassen, soziale Lage (OLS-Regressionen)

Modell 1 Modell 2 Modell 3 Soziale Klassen (EGP) (Ref.Kat.: Dienstklasse129)

Nicht-manuelle Routinetätigkeiten 0,081* 0,019 0,041 Selbstständige (ohne Landwirte) 0,024 0,012 0,048 selbst. Landwirte/Arbeiter im prim. Sektor 0,091** 0,056 0,052 Facharbeiter, Techniker, Meister 0,135*** 0,096* 0,133**Un- und angelernte Arbeiter 0,133*** 0,092* 0,091

Bildung (Ref.Kat.: niedrig) mittel -0,006 0,021 hoch -0,070 -0,009

Alter des Befragten -0,048 -0,064 Geschlecht: Frau 0,053 0,047 Landesteil: Ostdeutschland 0,188*** 0,167***Beschäftigung im Öffentlichen Dienst 0,002 Haushaltsnettoeinkommen (bedarfsgewichtet; pro 1000 €) -0,070

R²(korrigiertes R²)

0,024(0,019)

0,066(0,057)

0,067(0,052)

N 1121 765

* p<0,05; ** p<0,01; ***p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; standardisierte Regressionskoeffizienten

Werden auch die Beschäftigung im Öffentlichen Dienst und das Haushaltseinkom-men in die Analyse einbezogen (Modell 3), bleibt nur für die Facharbeiter ein signifi-kanter Effekt bestehen.130 Dabei weisen das (bedarfsgewichtete) Haushaltseinkommen und die Beschäftigung im Öffentlichen Dienst selbst keine signifikanten Effekte auf. Ihre Aufnahme in das Regressionsmodell stellt insofern keine Verbesserung dar.

Die Anhaltspunkte für klassenförmige Akzeptanzunterschiede sind bei der Beur-teilung der Höhe der Sozialhilfe (Abb. 6.1.4) noch schwächer als bei der des Arbeits-losengeldes. Bereits ohne die Kontrolle weiterer Variablen kann nur für die un- und angelernten Arbeiter eine im Vergleich zur Dienstklasse signifikant höhere Befür-wortung eines höheren Leistungsniveaus festgestellt werden (Modell 1).

129 Vor allem aufgrund der geringen Zellenbesetzung bei den Selbständigen wurde(n) hier die Dienst-

klasse(n) als Referenzkategorie gewählt.130 Der Effekt für die un- und angelernten Arbeiter ist nur noch auf dem 10 %-Niveau signifikant.

Page 143: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.1 Klassen, Parteien und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 143

Abbildung 6.1.4: »Leistungsbewertung« (Präferenzen für Leistungskürzungen und -erhöhungen): Sozialhilfe – Klassen, soziale Lage (OLS-Regres-sionen)

Modell 1 Modell 2 Modell 3 Soziale Klassen (EGP) (Ref.Kat.: Dienstklasse)

Nicht-manuelle Routinetätigkeiten 0,022 -0,001 0,001 Selbstständige (ohne Landwirte) 0,029 0,030 0,054 selbst. Landwirte/Arbeiter im prim.Sektor 0,044 0,035 -0,019 Facharbeiter, Techniker, Meister 0,066 0,055 0,012 Un- und angelernte Arbeiter 0,105** 0,118** 0,063

Bildung (Ref.Kat.: niedrig) mittel 0,079* 0,085 hoch 0,010 0,097*

Alter des Befragten -0,091** -0,104**Geschlecht: Frau 0,005 -0,007 Landesteil: Ostdeutschland 0,192*** 0,157***Beschäftigung im Öffentlichen Dienst -0,053Haushaltsnettoeinkommen (bedarfsgewichtet; pro 1000 €)

-0,159***

R²(korrigiertes R²)

0,011(0,006)

0,070(0,061)

0,086(0,071)

N 1067 722 * p<0,05; ** p<0,01; ***p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; standardisierte Regressionskoeffizienten

Erweist sich dieser Effekt bei Hinzuziehung weiterer sozialstruktureller Variablen noch als stabil (Modell 2), so verschwinden die Unterschiede zwischen den Klassen völlig, wenn auch für das Haushaltseinkommen und die Beschäftigung im öffentli-chen Dienst kontrolliert wird (Modell 3). Insgesamt zeigen sich zwar recht deutliche Effekte der sozialstrukturellen Variablen, so dass allgemein davon ausgegangen wer-den kann, dass die soziale Position die Präferenzen der Befragten hinsichtlich der Höhe der Sozialhilfe beeinflusst. Mit Ausnahme der un- und angelernten Arbeiter gilt dies jedoch nicht für die Klassenlage. Zudem erweist sich das Haushaltseinkom-men hier als besserer Prädiktor für die Akzeptanzurteile.

Insgesamt zeigt sich, dass die Unterschiede zwischen sozialen Klassen bei den Präferenzen bezüglich der Höhe von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe eher gering oder sogar gar nicht vorhanden sind. Auch Anzeichen für eine besondere Positio-nierung der Mittelklassen, geschweige denn für einen »welfare backlash«, sind nicht

Page 144: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

144 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

zu erkennen. Insofern ist hier, durchaus erwartungsgemäß, eher von einer erfolgrei-chen Mittelschichtintegration auszugehen.

Etwas stärkere Unterschiede zwischen den sozialen Klassen werden bei den beiden hier untersuchten Aspekten der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« deut-lich (Abbildung 6.1.5). Sowohl bei der staatlichen Sorge für Arbeitsplätze als auch bei der Verringerung von Einkommensunterschieden sind die Effekte für die ein-zelnen sozialen Klassen recht deutlich und gehen in die erwartete Richtung (Model-le A1 und B1): Arbeiter und »einfache« Angestellte präferieren eine höhere staatli-che Zuständigkeit als die Dienstklasse. Auch der Erklärungswert der Modelle ist hier etwas höher als bei der »Leistungsbewertung« des Arbeitslosengeldes und der Sozialhilfe, wenn auch immer noch auf einem eher geringen Niveau.

Abbildung 6.1.5: Staatliche Zuständigkeit: »Arbeitsplätze« und »Einkommens-unterschiede« – Klassen, soziale Lage (Ordinale logistische Regressionen)

»Arbeitsplätze« »Einkommens-unterschiede«

Modell A1

ModellA2

Modell B1 Modell B2

Soziale Klassen (EGP) (Ref.Kat.: Dienstklasse)Nicht-manuelle Routinetätigkeiten 1,770*** 1,057 1,893*** 1,556**Selbstständige (ohne Landwirte) 0,932 0,662 1,106 0,908 selbst. Landwirte/Arbeiter im prim. Sektor 1,930 0,901 3,112** 1,761Facharbeiter, Techniker, Meister 1,709** 1,149 2,080*** 1,556*Un- und angelernte Arbeiter 2,263*** 1,378 2,436*** 1,793**

Bildung (Ref.Kat.: niedrig) mittel 0,778 0,782 hoch 0,378*** 0,579**

Alter des Befragten 0,993* 0,996 Geschlecht: Frau 1,466** 1,014 Landesteil: Ostdeutschland 3,351*** 3,282***Pseudo R² (Nagelkerke) Pseudo R² (McFadden)

0,0290,010

0,1120,039

0,0400,012

0,1060,032

N 1256 1248

* p<0,05; ** p<0,01; ***p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; Odds-Ratios

Bei den Präferenzen für eine staatliche Sorge für Arbeitsplätze sind die Effekte der sozialen Klassen jedoch nicht mehr signifikant, wenn für weitere sozialstrukturelle Variablen kontrolliert wird (Modell A2). Dagegen erweisen sich die Effekte der so-zialen Klassen bei der staatlichen Zuständigkeit für die Verringerung von Einkom-mensunterschieden als stabil (mit Ausnahme des Effekts für Landwirte/Landarbeiter).

Page 145: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.1 Klassen, Parteien und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 145

Auch bei Einbezug der soziodemografischen Variablen befürworten beide Arbeiter-klassen und die Angestellten mit »nicht-manuellen Routinetätigkeiten« stärker als die Dienstklassen eine staatliche Reduzierung der Einkommensunterschiede (Modell B2).

Für beide Indikatoren der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« zeigt sich somit, dass andere Parameter der sozialen Lage einen weitaus größeren Einfluss auf die Präferenzen der Befragten haben als die Klassenposition. Besonders stark ist in beiden Fällen der positive Effekt der Herkunft aus Ostdeutschland. Hier zeigt sich erneut, dass die in Kapitel 5 dargelegten Unterschiede zwischen Ost- und Westdeut-schen nicht (immer) auf sozialstrukturell determinierte Interessenlagen zurückge-führt werden können. Signifikante Effekte hat in beiden Fällen auch das höhere Bil-dungsniveau (Personen mit hohem Bildungsniveau sprechen sich seltener für eine staatliche Zuständigkeit aus als solche mit niedriger formaler Bildung). Bei der Frage einer staatlichen Sorge für Arbeitsplätze besteht zudem ein positiver Effekt für Frauen131 und ein negativer für das Alter.

Insgesamt lässt sich zur Bedeutung sozialer Klassen für die Beurteilung der zur Disposition gestellten Sicherungsleistungen und -aufgaben festhalten:

1. Der Einfluss der Klassenposition auf die Akzeptanzurteile ist eher gering, aber zumindest in den Modellen ohne weitere Variablen oft nachweisbar.

2. Bei den Indikatoren der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit«, und insbesonde-re bei der Verringerung von Einkommensunterschieden, ist der Einfluss der sozialen Klassenlage etwas größer und stabiler als bei der »Leistungsbewer-tung« von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe.

3. Der Einfluss anderer sozialstruktureller Merkmale ist stärker als der von Klas-senlagen. Dies gilt insbesondere für das höhere Bildungsniveau und die Her-kunft aus den ostdeutschen Bundesländern, die beide bessere Prädiktoren für die hier untersuchten Präferenzen sind als die Klassenposition.

Die eingangs formulierten Hypothesen sind damit nur in geringem Maße be-stätigt worden. Zwar bestehen zwischen Arbeitern und privilegierten Klassen (Dienst-klassen, Selbständige) bei den sozialpolitischen Präferenzen die erwarteten Unter-schiede: Arbeiter präferieren etwas mehr als Angehörige anderer Klassen höhere Leistungen bei Arbeitslosengeld und Sozialhilfe (H1) und sind eher der Ansicht, dass die Bereitstellung von Arbeitsplätzen und die Verringerung von Einkommensunter-schieden eine staatliche Aufgabe sind (H3). Diese Unterschiede zwischen Arbeitern und anderen sozialen Klassen sind aber insgesamt eher schwach und erweisen sich bei Kontrolle weiterer Interessenparameter überwiegend als nicht stabil.

131 Dieser Effekt ist vermutlich auf die größere »Arbeitsmarktferne« von Frauen zurückzuführen. Ge-

nerell höhere Präferenzen für eine staatliche Zuständigkeit lassen sich für Frauen aber auch in anderen Bereichen nachweisen (vgl. Abschnitt 6.5).

Page 146: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

146 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

Ein Vergleich von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe zeigt dagegen, dass Klassen-unterschiede beim Arbeitslosengeld etwas größer sind als bei der Sozialhilfe. Dies ent-spricht zumindest der Annahme, dass Unterschiede zwischen den Klassen eher bei er-werbsarbeitsabhängigen Leistungen auftreten (H2). Das Ergebnis bei der Sozialhilfe spricht zudem eher für die These einer Trennung von »Insidern« und »Outsidern« (Exklusion) als für den traditionalen Klassengegensatz zwischen Arbeitern und ande-ren sozialen Klassen (vgl. hierzu auch 6.2).132

Den Erwartungen entsprechend sind keine Anzeichen für einen »welfare back-lash« der Mittelklassen zu erkennen (H4): So ist hier die Akzeptanz zwar immer etwas geringer als bei den Arbeiterklassen, aber stets »positiv«. Aber auch für die Beschäftigung im Öffentlichen Dienst konnten keine (positiven) Effekte festgestellt werden. Die beiden konträren Annahmen über die Mittelklasse (Integrations- vs. »welfare backlash«-These) konnten mit dem EGP-Schema und der Beschäftigung im öffentlichen Dienst allerdings nur in Grenzen untersucht werden.

Insgesamt gibt es damit nur wenig Anhaltspunkte für einen stabilen Einfluss der Klassenposition auf die Präferenzen bezüglich der Wohlfahrtsstaatlichkeit. Klas-senunterschiede sind zwar vorhanden, aber – mit der Ausnahme der »Verringerung der Einkommensunterschiede« – nicht entscheidend für die hier untersuchten wohl-fahrtsstaatlichen Präferenzen. Kurz: Es bestehen Klassenunterschiede; aber aus diesen lassen sich keine Klassengegensätze ableiten.

6.1.3 Politisierte Gegensätze? Zum Einfluss der Parteiaffinität auf die Akzeptanzurteile

Bei den Häufigkeitsverteilungen für die Beurteilung der Leistungshöhe von Arbeits-losengeld und Sozialhilfe (Abb. 6.1.6) fällt sogleich der Unterschied zwischen den Anhängern der PDS und denen der anderen Bundestagsparteien auf. Während sich 69,6 Prozent der PDS-Anhänger für eine höhere Sozialhilfe aussprechen und sogar 72,3 Prozent für ein höheres Arbeitslosengeld, liegen die Werte der Anhänger ande-rer Bundestagsparteien bei der Präferenz für ein höheres Arbeitslosengeld zwischen 35,6 Prozent (Grüne) und 45,6 Prozent (SPD) und bei der für eine höhere Sozialhil-fe zwischen 35,8 Prozent (CDU/CSU-Anhänger) und 43,2 Prozent (Grüne). Bei der »Leistungsbewertung« der Sozialhilfe sieht man zudem, dass das knappe Überg-ewicht der Befürworter einer höheren Sozialhilfe auf die Anhänger der PDS und der

132 Dieser Unterschied zwischen der Beurteilung der Leistungshöhe von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe

entspricht im Übrigen auch Annahmen über einen »Arbeiterkonservatismus« oder -autoritarismus (vgl. u.a. Houtman 2000; Lipset 1959; Svallfors 2004), nach denen qualifizierte Arbeiter mindestens ebenso stark wie die Mittelklassen am Zusammenhang von Erwerbstätigkeit und sozialer Sicherung festhalten, was in einer vergleichsweise kritischen Sicht der Sozialhilfe, von Sozialhilfeempfängern so-wie von Grundeinkommenskonzepten zum Ausdruck kommt.

Page 147: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.1 Klassen, Parteien und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 147

Grünen zurückzuführen ist. Unter den FDP-Anhängern gibt es sogar deutlich mehr Befürworter von Leistungskürzungen.

Die Unterschiede zwischen den Anhängern der alten Bundestagsparteien (inkl. der Grünen-Anhänger) sind hier insgesamt vergleichsweise gering. Dies gilt vor al-lem für die beiden »Volksparteien«. Ein Gegensatz zwischen Anhängern konservati-ver und liberaler Parteien auf der einen und linker Parteien auf der anderen Seite ist daher nicht zu erkennen. Vielmehr besteht eine gewisse Kluft zwischen den Anhän-gern der PDS und denen der anderen Bundestagsparteien.133

Abbildung 6.1.6: »Leistungsbewertung« (Präferenzen für Leistungskürzungen und -erhöhungen) von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe nach Partei-affinität (Häufigkeiten in Prozent)

26,0 24,821,4

31,1

8,5

16,1

29,3 29,635,7

33,3

19,1

25,6

44,7 45,642,9

35,6

72,3

58,4

0

10

20

30

40

50

60

70

80

Kürzung Niveau beibehalten Erhöhung

Arbeitslosengeld

CDU/CSUSPDFDPB90/GrünePDSkeine/andere Partei

N=1151

133 Nur Befragte, die sich kleineren Parteien nahe fühlen oder keine Präferenz für eine Partei angaben,

äußern sich annähernd ähnlich unzufrieden mit der Leistungshöhe von Arbeitslosengeld und So-zialhilfe wie die PDS-Anhänger.

Page 148: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

148 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

37,9 36,9

44,4

34,1

15,2

27,3 26,3 25,118,5 22,7

15,2 19,9

35,837,9 37,0

43,2

69,6

52,8

0

10

20

30

40

50

60

70

80

Kürzung Niveau beibehalten Erhöhung

Sozialhilfe

CDU/CSUSPDFDPB90/GrünePDSkeinei/andere Partei

N=1105

Bei den Zielen der staatlichen Bereitstellung von Arbeitsplätzen und vor allem bei der Verringerung von Einkommensunterschieden sind dagegen eher klassische Rechts-Links-Unterschiede zu erkennen (Abb. 6.1.7). So wird das Ziel der Reduzierung von Einkommensunterschieden am stärksten von Anhängern der PDS und der SPD un-terstützt (93,9 % bzw. 74,6 %). Am stärksten abgelehnt wird es dagegen von Anhän-gern der FDP (59,4 %) und der CDU/CSU (39,0 %). Die Anhänger der FDP sind zu-dem die einzige Gruppe, die den Abbau von Einkommensunterschieden als staatli-ches Ziel mehrheitlich ablehnt. Bei der Aufgabe der Arbeitsplatzschaffung sind diese Unterschiede zwischen den politischen Lagern weit weniger ausgeprägt, lassen aber das gleiche Grundmuster erkennen.134 Trotz dieser Unterschiede darf nicht übersehen werden, dass mit einer Ausnahme (FDP-Anhänger/Einkommensunterschiede) beide Ziele von einer Mehrheit der Anhänger aller Parteien unterstützt werden.

Insgesamt ergeben die Häufigkeitsverteilungen also kein einheitliches Bild. Nur bei den Indikatoren der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« finden sich Hinweise auf gegensätzliche Präferenzen der Anhänger linker und konservativ-liberaler Parteien. Bei der Beurteilung der Leistungshöhe verläuft die Trennungslinie dagegen zwischen den Anhängern der PDS (und von Befragten mit keiner oder »anderer« Parteiaffinität) und denen der »Altparteien« der Bundesrepublik. Aber selbst bei den beiden Indikatoren der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« ist der Abstand zwi-

134 Ausnahme sind hier die Grünen-Anhänger. Die Grüne Partei fügt sich im Bereich Sozialpolitik al-

lerdings auch nicht sehr gut in das Rechts-Links-Schema ein.

Page 149: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.1 Klassen, Parteien und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 149

schen PDS- und SPD-Anhängern oft größer als zwischen den Anhängern der SPD und denen der »bürgerlichen« Parteien.

Abbildung 6.1.7: Befürwortung staatlicher Zuständigkeit: »Arbeitsplätze« und »Abbau von Einkommensunterschieden« nach Parteiaffinität (Häufigkeiten in Prozent)

23,7 20,328,1

37,7

10,016,9

76,379,7

71,9

62,3

90,083,1

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

Ablehnung Zustimmung

Arbeitsplätze

CDU/CSUSPDFDPB90/GrünePDSkeine/andere Partei

N=1302

39,0

25,4

59,4

35,8

6,1

26,3

61,0

74,6

40,6

64,2

93,9

73,7

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

Ablehnung Zustimmung

Einkommensunterschiede

CDU/CSU

SPD

FDP

B90/Grüne

PDS

keine/andere Partei

N=1289

Page 150: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

150 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

Diese Eindrücke aus den Häufigkeitsverteilungen werden durch die Regressionsanaly-sen weitgehend bestätigt. Bei der »Leistungsbewertung« (Präferenzen bezüglicher Leistungshöhe) sind sowohl beim Arbeitslosengeld als auch bei der Sozialhilfe bereits in den einfachen Modellen, in denen nur die Parteineigungen aufgenommen wurden (Abb. 6.1.8, Modelle A1 und B1), allein für die PDS-Präferenz (und für Befragte ohne oder mit »anderer« Parteiaffinität) signifikante Effekt nachweisbar (Referenz-kategorie sind hier die CDU/CSU-Anhänger).

Abbildung 6.1.8: »Leistungsbewertung«: Arbeitslosengeld und Sozialhilfe; Einfluss der Parteiaffinität (OLS-Regressionen)

Arbeitslosengeld Sozialhilfe Modell A1 Modell A2 Modell B1 Modell B2

Parteiaffinität (Ref.Kat.: CDU/CSU)FDP -0,024 -0,023 -0,026 -0,036SPD 0,011 -0,006 0,011 -0,004 B90/Grüne -0,020 -0,023 0,030 0,013 PDS 0,128*** 0,051 0,132*** 0,049 andere/keine Parteiaffinität 0,156*** 0,083* 0,166*** 0,081*

Bildung (Ref.Kat.: niedrig) mittel -0,048 0,030 hoch -0,086** -0,011

Alter des Befragten -0,029 -0,060Geschlecht: Frau 0,016 -0,043 Oben-Unten-Skala -0,163*** -0,167***Landesteil: Ostdeutschland 0,131*** 0,126***R²(korrigiertes R²)

0,034(0,030)

0,095(0,084)

0,035(0,030)

0,088(0,079)

N 1108 1064 * p<0,05; ** p<0,01; *** p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; standardisierte Regressionskoeffizienten

Diese werden aber insignifikant, sobald sozialstrukturelle Variablen und vor allem der Landesteil (Ost-/Westdeutschland) einbezogen werden. Der relativ starke Ef-fekt für Ostdeutschland zeigt, dass nicht die PDS-Präferenz, sondern die Herkunft aus den »neuen« Bundesländern für die »Leistungsbewertung« von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe wichtig ist. Ostdeutsche (und nicht nur Anhänger der PDS) präferie-ren höhere Leistungen beim Arbeitslosengeld und bei der Sozialhilfe.135 Ein starker Effekt geht zudem von der Selbstverortung auf der Oben-Unten-Skala aus. Mithin sind für die hier untersuchten wohlfahrtsstaatlichen Präferenzen die subjektive so- 135 Zu den Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschen bei der »Leistungsbewertung« von Ar-

beitslosengeld und Sozialhilfe vgl. a. Abbildungen 5.4c und 5.4d.

Page 151: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.1 Klassen, Parteien und die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates 151

ziale Lage und die Herkunft aus Ost- oder Westdeutschland entscheidend, nicht aber Unterschiede in den parteipolitischen Orientierungen.136

Auch bei der Frage, ob der Staat dafür Sorge tragen soll, dass jeder Arbeitswil-lige eine Arbeit bekommt, ist das Gleiche zu beobachten wie bei der »Leistungsbe-wertung« (Abb. 6.1.9): Ein anfänglich bestehender Effekt für die Anhänger der PDS (Modell A1) wird durch die Hereinnahme der soziodemografischen Variablen insig-nifikant (Modell A2). Neben dem starken Effekt für Ostdeutsche, die fast 3,5mal so häufig wie Westdeutsche eine staatliche Arbeitsplatzgarantie befürworten, sind hier auch ein deutlicher (negativer) Einfluss des Bildungsgrads sowie ein positiver Effekt für Frauen festzustellen.

Abbildung 6.1.9: Staatliche Zuständigkeit: »Arbeitsplätze« und »Abbau von Ein-kommensunterschieden«; Einfluss der Parteiaffinität (Ordinale logistische Regressionen)

»Arbeitsplätze« »Einkommens-unterschiede«

Modell A1 Modell A2 Modell B1 Modell B2 Parteiaffinität (Ref.Kat.: CDU/CSU)

FDP 0,703 0,686 0,562 0,635SPD 1,063 1,036 1,726** 1,670**B90/Grüne 0,762 0,808 1,319 1,585 PDS 2,098* 0,867 4,996*** 2,396**andere/keine Parteiaffinität 1,644*** 1,303 1,854*** 1,512**

Bildung (Ref.Kat.: niedrig) mittel 0,694** 0,661**hoch 0,352*** 0,430***

Alter des Befragten 0,996 0,999Geschlecht: Frau 1,366** 1,074 Oben-Unten-Skala 1,004 0,939 Landesteil: Ostdeutschland 3,473*** 2,748***Pseudo R² (Nagelkerke) Pseudo R² (McFadden)

0,0240,008

0,1100,038

0,0430,013

0,1150,035

N 1248 1235 * p<0,05; ** p<0,01; ***p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; Odds-Ratios

Für das Ziel der Verringerung von Einkommensunterschieden sind dagegen Un-terschiede zwischen Parteineigungen zu erkennen, die dem Rechts-Links-Schema folgen und sich als stabil erweisen (Abb. 6.1.9; Modell B2). Nicht nur Anhänger der PDS, sondern auch die der SPD wünschen sich deutlich häufiger als CDU/CSU-

136 Eine Ausnahme ist hier der stabile, wenn auch schwache Effekt für die Kategorie »andere/keine

Parteiaffinität«. Da es sich hierbei um eine »Restkategorie« handelt, lässt sich dieser jedoch nicht problemlos interpretieren.

Page 152: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

152 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

Anhänger, dass der Staat sich um eine Verringerung der Einkommensunterschiede bemüht. Diese Effekte schwächen sich bei Einbezug der soziodemografischen Va-riablen zwar deutlich ab (PDS), bleiben aber signifikant. Ähnlich wie beim Ziel »Ar-beitsplätze« weisen auch der Bildungsgrad (negativ) und die Herkunft aus Ost-deutschland (positiv) signifikante Effekte auf. Bemerkenswert ist zudem, dass hier für die Selbstverortung auf der Oben-Unten-Skala kein signifikanter Effekt besteht.Ähnlich wie für die sozialen Klassen lässt sich auch für politische Orientierungen (Parteineigungen) nur ein geringer Einfluss auf die Akzeptanzurteile feststellen. Bei-de Hypothesen über die Bedeutung der Parteiaffinität können dabei im Prinzip als bestätigt gelten: Wie erwartet bestehen bei der »Leistungsbewertung« von Arbeitslo-sengeld und Sozialhilfe keine Unterschiede zwischen den Anhängern unterschiedli-cher Parteien, wenn für sozialstrukturelle Faktoren kontrolliert wird (H5). Die zwi-schen Anhängern der PDS und denen der anderen Parteien bestehenden Unter-schiede können entsprechend auf Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sowie auf Parameter der sozialen Lage (Bildung, Selbstverortung auf der Oben-Un-ten-Skala) zurückgeführt werden.Die wohlfahrtsstaatliche Aufgabe »Verringerung von Einkommensunterschieden« findet dagegen bei den Anhängern der Linksparteien (SPD und PDS) größere Un-terstützung. Dies entspricht der Annahme eines Rechts-Links-Gegensatzes (H6), der allerdings auch hier von Ost-West-Unterschieden überlagert wird (größere Dif-ferenz zwischen PDS- und SPD-Anhängern). Für das Ziel »staatliche Sorge für Ar-beitsplätze« konnten entsprechende Unterschiede zwischen Links- und Rechtspar-teien jedoch nicht nachgewiesen werden; hier sind ähnliche Effekte wie bei der »Leistungsbewertung« zu beobachten.

Von »politisierten« Gegensätzen im Sinne klassischer Schemata kann daher bei den hier untersuchten Akzeptanzindikatoren allgemein nicht gesprochen werden. Dafür sind die Unterschiede zwischen den etablierten Bundestagsparteien trotz eini-ger Besonderheiten insgesamt zu gering. Die wesentlichen Unterschiede bestehen vielmehr zwischen ostdeutschen und westdeutschen Befragten, wobei sich die Men-schen in den neuen Bundesländern – wie auch schon in Kapitel 5.2 gesehen – durch-gängig ein größeres Maß an Wohlfahrtsstaatlichkeit wünschen. Zumindest für die »al-te« Bundesrepublik gilt daher, dass – mit Ausnahme der »Einkommensunterschie-de« – zwischen den Anhängern unterschiedlicher Parteien eher von einem Konsens über das »rechte Maß« der sozialen Sicherung auszugehen ist.

Page 153: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.2 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (I): Versorgungsklassen 153

6.2 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (I): Versorgungsklassen

6.2.1 Einleitung

In diesem Kapitel werden zwei Themenbereiche behandelt. Zum einen wird unter-sucht, wie sich die erst durch die sozialen Sicherungssysteme konstituierten, relativ zeitstabilen Interessenlagen (Versorgungsklassen) auf die Akzeptanzurteile gegenüber dem Wohlfahrtsstaat auswirken. Parallel dazu wird der Frage nachgegangen, welche Bedeutung subjektive Interessendefinitionen für die Herausbildung sozialpolitischer Präferenzen und allgemeiner Akzeptanzurteile haben.

Als Versorgungsklasse (auch als »positive« oder »positiv privilegierte« Versor-gungsklasse) bezeichnet man Bevölkerungsgruppen, die ihren Lebensunterhalt vor-wiegend und über einen längeren Zeitraum aus Sozialtransfers bestreiten (bzw.: die Transferzahlungen sowie Sach- und Dienstleistungen erhalten, die ausreichend zur Bestreitung des Lebensunterhalts sind).137 Im Wohlfahrtsstaat der Bundesrepublik Deutschland sind Rentner, Pensionäre, Arbeitslose (Empfänger von Arbeitslosen-geld) und – im Zeitraum der Untersuchung – Sozialhilfeempfänger (seit 2005 Emp-fänger von Arbeitslosengeld II) die wichtigsten positiven Versorgungsklassen.

Als »Finanzierungsklassen« (auch »negative« oder »negativ privilegierte« Ver-sorgungsklassen) können demgegenüber sozialpolitisch geformte Lagen bezeichnet werden, die vorwiegend oder ausschließlich zur Finanzierung sozialer Sicherungs-systeme herangezogen werden. Überwiegend sind dies die sozialversicherungspflich-tigen Erwerbstätigen.

Bereits in Abschnitt 2.2.2 wurden drei Aspekte deutlich: erstens, dass es in Wohlfahrtsstaaten zu latenten Gegensätzen, wenn nicht gar manifesten Konflikten zwischen Versorgungsklassen kommen kann; zweitens, dass hierbei zwei grundle-gende Formen zu unterscheiden sind, nämlich Gegensätze zwischen Versorgungs-klassen und »Finanzierungsklassen« und solche zwischen unterschiedlichen »positiv privilegierten« Versorgungsklassen (z.B. zwischen Rentnern und Sozialhilfeempfän-gern). Schließlich wurde erläutert, warum die Wahrscheinlichkeit von Gegensätzen zwischen Versorgungsklassen in konservativen Wohlfahrtsstaaten insgesamt vergleichs-weise gering ist.

Darüber wie sich diese möglichen Gegensätze auf die Akzeptanz des Wohlfahrts-staates auswirken, ist erst relativ wenig bekannt. Als sicher kann aber wohl gelten, dass Angehörige von (positiven) Versorgungsklassen in stärkerem Maße Leistungs-erhöhungen in »ihren« Sicherungssystemen unterstützen als andere Bevölkerungs-

137 Vgl. aber auch die zugleich genauere und weitere Ur-Definition von Lepsius: »'Versorgungsklasse'

soll eine Klasse insoweit heißen, als Unterschiede in sozialpolitischen Transfereinkommen und Unterschiede in der Zugänglichkeit zu öffentlichen Gütern und Dienstleistungen die Klassenlage, d.h. die Güterversorgung, die äußere Lebensstellung und das innere Lebensschicksal bestimmen« (Lepsius 1979: 179).

Page 154: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

154 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

gruppen (vgl. 3.2). Eine systematische Untersuchung von Unterschieden zwischen Versorgungsklassen und Finanzierungsklassen sowie zwischen »konkurrierenden« Versorgungsklassen steht aber bisher noch aus.138

Grundlegend ist davon auszugehen, dass die Haltung gegenüber wohlfahrts-staatlichen Institutionen nicht nur durch die objektive individuelle Situation – also vor allem durch die soziale Lage (Klasse, Einkommen, Bildung) und durch die Ver-sorgungsklassenposition – geprägt sind, sondern vor allem auch von subjektiven Inter-essendefinitionen beeinflusst werden.

Zwei Aspekte individueller Interessenwahrnehmung scheinen hier besonders wich-tig: Dies ist zum einen das individuelle Sicherungsbedürfnis, das auch bei gleicher »ob-jektiver Lage« unterschiedlich stark sein kann. Daneben wird, so ist zu vermuten, die Akzeptanz eines Sicherungssystems und des Wohlfahrtsstaates insgesamt auch durch die Erwartung beeinflusst, auf lange Sicht von einer umfassenden sozialen Sicherung zu profitieren. Das erste Motiv markiert dabei das aktuelle, das zweite das prospektive oder langfristige Interesse an einer sozialen Absicherung.

Auf die allgemeine Bedeutung beider Interessenmotive ist in der Literatur wie-derholt hingewiesen worden. So ist im Anschluss an Kaufmanns grundlegender Ar-beit (Kaufmann 1973) immer wieder hervorgehoben worden, dass ein individuelles Sicherungsbedürfnis eine grundlegende Voraussetzung sowohl für die Legitimie-rung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen als auch für deren Unterstützung durch die Bevölkerung ist (vgl. u.a. De Swaan 1988; Esping-Andersen 1999; Möhle 2001: 129ff.; Schönbäck 1980). Ebenso wurde auf die im Zuge fortschreitender Individualisie-rung vermeintlich zunehmenden Sicherungsbedarfe hingewiesen (Bonß 1995; Zapf et al. 1987).

Im Vergleich zur Sicherheitsthematik ist die theoretische Reflexion des Bedin-gungsverhältnisses von Wohlfahrtsstaat und Reziprozitätsprinzip noch nicht sehr weit vorangeschritten und erweckt einen eher »sporadischen« Eindruck. Dennoch ist die Bedeutung von Reziprozitätsnormen und -vorstellungen als motivationale und legitimatorische Ressource keineswegs unentdeckt geblieben (vgl. u.a. Lessenich 1999; Lessenich/Mau 2005; Mau 2002; Wynne 1980), wenn ein expliziter Bezug zu Ak-zeptanzfragen auch selten ist (vgl. aber Bowles/Gintis 2000; Ullrich 1999).

Subjektive Interessendefinitionen sind nur selten als mögliche Einflussfaktoren für Akzeptanzurteile gegenüber wohlfahrtsstaatlichen Institutionen in Betracht ge-zogen worden. Ihre Bedeutung für die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates muss daher als weitgehend unerforscht gelten. In einzelnen Untersuchungen wurden jedoch auch subjektive Interessendefinitionen zur Erklärung von Akzeptanzurteilen herangezo-gen. In allen Fällen wurden dabei signifikante Effekte der (allerdings unterschiedlich

138 Für einen der äußerst seltenen Versuche, den Zusammenhang von Versorgungsklassenlage und

der Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates zu untersuchen, vgl. a. Papadakis (1993), dessen Ergebnisse aber eher skeptisch stimmen (1993: 265f.).

Page 155: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.2 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (I): Versorgungsklassen 155

operationalisierten) subjektiven Interessendefinitionen festgestellt.139 Dass sowohl individuelle Sicherungsbedürfnisse als auch Reziprozitätserwartungen sich erheblich auf die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme auswirken können, konnte zudem in einer qualitativen Untersuchung zur Akzeptanz der Gesetzlichen Krankenversiche-rung gezeigt werden (vgl. Ullrich 1999; 2000b).

Da positive Versorgungsklassen nur durch drei der hier untersuchten Siche-rungssysteme gebildet werden, und zwar durch die Gesetzliche Rentenversicherung, die Arbeitslosenversicherung und durch die Sozialhilfe, werden sich die Analysen im folgenden Abschnitt auch auf diese drei Sicherungssysteme bzw. auf die korrespon-dierenden Versorgungsklassen (Rentner, Arbeitslose140 und Sozialhilfeempfänger) kon-zentrieren. Ähnlich wie für die soziale Klassenlage (Abschnitt 6.1.2) wird dabei an-genommen, dass Konflikte zwischen Versorgungs- und Finanzierungsklassen als auch zwischen unterschiedlichen Versorgungsklassen in erster Linie bei den Präfe-renzen für Leistungserhöhungen bzw. für Kürzungen zu erkennen sein müssten.

Zur Untersuchung der Unterschiede zwischen Versorgungsklassen141 bei der Beurteilung sozialer Sicherungssysteme sowie des Einflusses subjektiver Interessen-definitionen wird daher vor allem auf die Beurteilungen der Leistungshöhe der gesetzli-chen Renten, des Arbeitslosengeldes und der Sozialhilfe zurückgegriffen. Für die Versorgungsklassen »Arbeitslose« und »Sozialhilfeempfänger« wird ergänzend der Indikator »staatliche Zuständigkeit für die Bereitstellung von Arbeitsplätzen« hinzugezogen, da dieses wohlfahrtsstaatliche Ziel einen unmittelbaren Bezug zu den Interessenla-gen der beiden Versorgungsklassen aufweist.

Der Einfluss der Versorgungsklassenposition sowie subjektiver Interessendefi-nitionen wird zudem auch für die Institutionenakzeptanz der drei genannten Sicherungs-systeme untersucht. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Angehörige der Versor-gungsklassen und Personen mit einem hohen Sicherungsbedürfnis die jeweiligen Si-cherungssysteme »in besonderer Weise« – aber nicht unbedingt »besser« – beurtei-len (s.u.). Ergänzend wird schließlich auch der Frage nachgegangen, welchen Ein-fluss subjektive Interessendefinitionen auf die Institutionenakzeptanz der Gesetzli-chen Krankenversicherung haben.

Je nach Sicherungssystem und Akzeptanzindikator können unterschiedliche Annahmen zur Bedeutung von Versorgungsklassen formuliert werden: Für alle drei positiven Versorgungsklassen (Rentner, Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose) soll zunächst grundlegend angenommen werden, dass sie stärkere Präferenzen für höhere

139 Vgl. u.a. Taylor-Gooby (1983) für ein »felt interest«, Norden (1986) für die »Erwartung eigener

Angewiesenheit«, Gangl (1997) für die Einschätzung der wirtschaftlichen Lage, van Oorshot (2000) für die Einschätzung der sozialen Sicherung als individuell vorteilhaft oder abträglich und Pettersen (2001) für die Sorge um die eigene Alterssicherung.

140 Als Arbeitslose werden im Folgenden stets die Empfänger von Arbeitslosengeld und Arbeitslosen-hilfe bezeichnet, nicht jedoch arbeitslose Sozialhilfeempfänger.

141 Zur Operationalisierung der Versorgungsklassenlage vgl. Abschnitt 4.3.

Page 156: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

156 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

Leistungen der jeweiligen Sicherungssysteme haben (H1.1). Für Arbeitslose und So-zialhilfeempfänger wird zudem angenommen, dass sie stärker als andere Bevölke-rungsgruppen eine staatliche Zuständigkeit für die Schaffung von Arbeitsplätzen be-fürworten (H1.2).

Interessengegensätze, die sich auf Akzeptanzurteile über soziale Sicherungssys-teme auswirken, sind aber sowohl zwischen unterschiedlichen positiven Versorgungs-klassen als auch zwischen (positiven) Versorgungsklassen und Finanzierungsklassen unterschiedlich wahrscheinlich. Sie scheinen eher für die Arbeitslosenversicherung und vor allem für die Sozialhilfe plausibel und sollten vor allem zwischen den positiv privilegierten Versorgungsklassen und allen übrigen auftreten (vgl. Abbil-dung 6.2.1). Aufgrund der starken »Mittelschichtorientierung« der Rentenversiche-rung, vor allem aber weil auch die meisten Angehörigen anderer Versorgungsklas-sen (insbes. sozialversicherungspflichtige Erwerbstätige, aber z.B. auch Arbeitslose) zu einem späteren Zeitpunkt selbst der Versorgungsklasse der Rentner angehören werden, ist die allgemeine Hypothese (H1.1) für die Gesetzliche Rentenversicherung zu relativieren. Für die Beurteilung der Rentenhöhe wird daher angenommen, dass die Unterschiede zwischen den Versorgungsklassen (und insbes. zwischen Rentnern und den »Finanzierungsklassen«) gering (oder gar nicht vorhanden) sind und sich bei Kontrolle des Alters des Befragten weiter verringern bzw. verschwinden (H1.3).

Abbildung 6.2.1: Wahrscheinlichkeit von Versorgungsklassengegensätzen

»konkurrierende« Versorgungsklassen

Versorgungsklassen vs.Finanzierungsklassen

GesetzlicheRentenversi-cherung

gering, weil/sofern Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger später auch Rente beziehen (wollen); (Ausnahme evtl. Pensionäre)

gering, weil auch sozialversicherungs-pflichtige Erwerbstätige später Rent-ner sind und aufgrund des Status-prinzips

Arbeitslosen-versicherung

möglich: Rentner und Sozialhilfe-empfänger können selbst kein Ar-beitslosengeld erhalten

möglich, wenn die Wahrscheinlich-keit eines eigenen Leistungsbezugs für gering gehalten wird

Sozialhilfe möglich: Rentner (eigener Bezug un-möglich bzw. unerwünscht142)eher unwahrscheinlich: Arbeitslose (Gefahr zukünftigen Sozialhilfebezugs)

eher hoch wegen der geringen Wahr-scheinlichkeit eines eigenen Leis-tungsbezugs

Spezifische Gegensätze zwischen konkurrierenden Versorgungsklassen sind insge-samt nicht sehr wahrscheinlich (Abb. 6.2.1). Zumindest bei den Präferenzen bezüg-lich der Leistungshöhe besteht aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass deutliche-

142 Auch eine ergänzende oder aufstockende Sozialhilfe für Rentner bedeutet hier keinen Wechsel der

Versorgungsklasse.

Page 157: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.2 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (I): Versorgungsklassen 157

re Unterschiede zwischen Rentnern auf der einen und Arbeitslosen und Sozialhilfe-empfängern auf der anderen Seite auftreten.

Zum Nachweis eines solchen Gegensatzes konkurrierender Versorgungsklas-sen müssten die Rentner allerdings nicht nur weniger stark höhere Leistungen beim Arbeitslosengeld und der Sozialhilfe präferieren als Arbeitslose und Sozialhilfeemp-fänger, sondern auch weniger als »neutrale« Versorgungsklassen, also als Gruppen, die durch das jeweilige Sicherungssystem weder als Leistungsempfänger noch als (primäre) Finanzierer betroffen sind (z.B. Beamte bei der Arbeitslosenversicherung).

Es wird daher angenommen, dass Rentner nicht nur eine geringere Präferenz für ein höheres Arbeitslosengeld und für eine höhere Sozialhilfe haben als Arbeits-lose bzw. Sozialhilfeempfänger, sondern dass diese auch geringer ist als die (ver-meintlich) nicht betroffener sozialer Gruppen (H2). Für die Rentenhöhe wird jedoch an der zuvor formulierten Annahme (H1.3) festgehalten, nach der sich die Präferen-zen von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern von denen der Rentner kaum und von denen der sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigen gar nicht unterscheiden.

Hinsichtlich der Institutionenakzeptanz der Sicherungssysteme sind gegenläu-fige Annahmen ableitbar: Aufgrund ihrer »Privilegierung« kann einerseits angenom-men werden, dass die Sicherungssysteme durch die jeweiligen positiven Versorgungs-klassen (also z.B. die Rentenversicherung durch die Rentner) besser beurteilt wer-den. Andererseits ist vorstellbar, dass die Leistungsempfänger »ihre« Sicherungssys-teme kritischer beurteilen als andere Versorgungsklassen, wenn sie mit der System-performanz – und hierbei mag die Leistungshöhe ein wichtiger, aber nicht der einzi-ger Grund sein – oder aber mit der Situation als Leistungsempfänger insgesamt unzufrieden sind.

Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, dass beide Wirkungen auftreten und sich gegenseitig aufheben (H3.0). In diesem Fall hätte die Versorgungsklassenlage keine Auswirkung auf die Institutionenakzeptanz. Sofern dies nicht der Fall ist, wird für die Rentenversicherung vermutet, dass diese von Rentnern günstiger beurteilt wird als von anderen Versorgungs- und Finanzierungsklassen (H3.1). Grundlage hierfür ist die Annahme, dass Rentner aufgrund des eher hohen Leistungsniveaus und der geringen Stigmatisierung ihres Status zu einem »positiven Saldo« kommen. Umge-kehrt stellt sich die Situation für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger dar, für die weit eher von einer höheren Unzufriedenheit auszugehen ist. Daher wird hier ange-nommen, dass Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger die Arbeitslosenversicherung und die Sozialhilfe schlechter bewerten als alle anderen Versorgungsklassen (H3.2).

Trotz der insgesamt »dünnen« Befundlage zur Bedeutung subjektiver Interessen-definitionen für die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates können aus der grundlegenden Annahme, dass sich subjektive Interessendefinitionen auch unabhängig von der ob-jektiven Interessenlage auf die Beurteilung sozialer Sicherungssysteme auswirken, fol-gende Annahmen entwickelt werden:

Page 158: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

158 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

Grundsätzlich wird angenommen, dass ein hohes Sicherungsbedürfnis zu stär-keren Präferenzen für Leistungserhöhungen (bzw. für ein hohes Leistungsniveau) führt sowie zu einer stärkeren Befürwortung einer staatlichen Zuständigkeit für Arbeitsplät-ze (H4.1). Demgegenüber kann die Wirkung auf die Institutionenakzeptanz – ähn-lich wie bei den Versorgungsklassen – gegensätzlich sein: Je nach wahrgenommener Performanz könnte ein hohes Sicherungsbedürfnis zu einer höheren oder niedrige-ren Akzeptanz führen. Da die Zufriedenheit mit den Sicherungssystemen, für die der Einfluss des subjektiven Sicherungsbedürfnisses untersucht werden soll (Arbeits-losenversicherung, Sozialhilfe und Gesetzliche Krankenversicherung), eher gering ist (vgl. Kap. 5.1), wird im Folgenden von einem akzeptanzabträglichen Effekt eines hohen Sicherungsbedürfnisses ausgegangen (H4.2).

Von (generalisierten) Reziprozitätserwartungen – der Erwartung, dass man zu-künftig in irgendeiner Form vom System der sozialen Sicherung profitieren wird – wird dagegen ein positiver Einfluss auf die Institutionenakzeptanz vermutet (H5). Anders formuliert: Wer derartige Reziprozitätserwartungen nicht hegt, wird soziale Sicherungssysteme entsprechend kritischer beurteilen.143

Den theoretischen Ausführungen folgend werden die subjektiven Interessen-definitionen hauptsächlich mit zwei Indikatoren gemessen: Für das Sicherungsbedürf-nis geschieht dies mit der individuellen »Risikoaversion« für die Bereiche Arbeitslo-sigkeit, Armut/Sozialhilfebezug und Krankheit, die wiederum aus je zwei Variablen, der subjektiven Wahrscheinlichkeit, von einem Risiko betroffen zu werden, und der Beurteilung des »Schadens«, gebildet wird. Generalisierte Reziprozitätserwartungen wurden mit einem allgemeinen, systemunabhängigen Indikator erfasst (vgl. für beide Abschnitt 4.3).

6.2.2 Versorgungsklassenstatus und subjektive Interessendefinitionen

Die folgende Darstellung der empirischen Befunde zur »Leistungsbewertung« und zur Institutionenakzeptanz gliedert sich anhand der Sicherungssysteme. Zunächst wird für die Arbeitslosenversicherung (bzw. für das Arbeitslosengeld) und die Sozialhilfe untersucht, welche Unterschiede zwischen Versorgungsklassen zu erkennen sind und wie sich subjektive Interessendefinitionen auf die Akzeptanzurteile auswirken. In die-sem Zusammenhang werden auch die Präferenzen bezüglich einer staatlichen Zustän-digkeit für die Schaffung von Arbeitsplätzen analysiert. Im Anschluss daran werden die »Leistungsbewertung« und die Institutionenakzeptanz für die Rentenversicherung untersucht. Auch hier geschieht dies parallel für Versorgungsklassen und subjektive Interessendefinitionen. Abschließend wird die Bedeutung subjektiver Interessende-

143 Der Einfluss von Reziprozitätserwartungen wird im Folgenden nur für die Institutionenakzeptanz

untersucht.

Page 159: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.2 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (I): Versorgungsklassen 159

finitionen für die allgemeine Beurteilung (Institutionenakzeptanz) der Gesetzlichen Krankenversicherung analysiert. Wie dort näher ausgeführt wird, erfordert der Um-stand, dass die Gesetzliche Krankenversicherung keine klare Trennlinie zwischen Begünstigten und Nettozahlern zulässt, eine besondere Behandlung der Indikatoren des subjektiven Interesses.

Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosengeld) und SozialhilfeBei den Präferenzen für ein höheres oder niedrigeres Leistungsniveau zeigt bereits die Verteilung der Häufigkeiten144 auffällige Unterschiede zwischen den einzelnen Versorgungsklassen145 (vgl. Abb. 6.2.2): Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger befür-worten in deutlich stärkerem Maße sowohl ein höheres Arbeitslosengeld als auch eine höhere Sozialhilfe. So sprechen sich 74,0 Prozent der Arbeitslosen und 72,3 Pro-zent Sozialhilfeempfänger für eine höhere Sozialhilfe aus, aber nur 46,7 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigen und gar nur 38,6 Prozent der Rent-ner. Sehr ähnlich sind die Werte beim Arbeitslosengeld: Hier präferieren 73,5 Pro-zent der Arbeitslosen und 69,8 Prozent der Sozialhilfeempfänger ein höheres Leis-tungsniveau, während dies bei den sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigen nur 53,5 Prozent und bei den Rentnern nur 55,1 Prozent der Befragten tun.

Insbesondere bei der Sozialhilfe kann man von einer klaren Zweiteilung zwi-schen Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern auf der einen und den übrigen Ver-sorgungsklassen auf der anderen Seite sprechen: Während die Mehrheiten für eine Leistungserhöhung sonst moderat (Arbeitslosengeld) oder gar knapp (Sozialhilfe) aus-fallen, lassen die betroffenen Versorgungsklassen meist keinen Zweifel daran, dass sie das gegenwärtige Leistungsniveau für unzureichend halten. Die Unterschiede zwi-schen Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern sind dabei bei beiden Leistungsarten eher gering. Sowohl beim Arbeitslosengeld als auch bei der Sozialhilfe sprechen sich Arbeitslose etwas stärker als Sozialhilfeempfänger für höhere Leistungen aus.

Hinweise auf einen spezifischen Gegensatz zwischen positiven Versorgungs-klasssen und Finanzierungsklassen sind hier nicht zu erkennen. So liegen die Werte für die sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigen insgesamt sogar noch etwas über denen der Rentner und der übrigen Gruppen (u.a. Beamte, Pensionäre und Hausfrauen/-männer).

144 Die entsprechenden Variablen wurden für den Zweck einer übersichtlichen Darstellung zu drei Werten

rekodiert, wobei die Kategorie »kürzen« alle negativen Werte und die Kategorie »erhöhen« alle positiven Werte der Differenz von gewünschter und wahrgenommener Leistungshöhe umfasst (vgl. 4.2).

145 Hier sind nur die Werte für Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, Rentner und sozialversicherungs-pflichtige Erwerbstätige aufgeführt. Die übrigen und, was die eigene Interessenlage betrifft, vermeint-lich eher »neutralen« Gruppen wurden zur Vereinfachung der Darstellung zu einer »Restkategorie« zusammengefasst.

Page 160: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

160 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

Abbildung 6.2.2: »Leistungsbewertung« (Präferenzen für Leistungskürzungen und -erhöhungen) nach Versorgungsklassen: Arbeitslosengeld und Sozialhilfe (Häufigkeiten in Prozent)

4,4

18 ,614 ,9

19 ,1

29 ,3

22 ,1

11 ,6

30 ,1

27 ,3 28 ,1

73 ,569 ,8

55 ,1 53 ,5

42 ,6

0

10

20

30

40

50

60

70

80

K ü rzu ng N ive a u b e ib e h a lte n E rh ö h un g

Arb e its lo se n g e ld

A rb e its lo se

S o z ia lh ilfe e m p fä n g e r

R e n tn e r

so z ia lve rs ich e ru n g sp flich tig eE rw e rb s tä tig e

S o n s tig e ( in k l. B e a m te ,S e lb s ts tä n d ig e , P e n s io n ä re )

N=1255

14,6

8 ,5

36 ,232 ,1

33 ,7

11 ,5

19 ,1

25 ,221 ,2

24 ,0

74 ,072 ,3

38 ,6

46 ,742 ,2

0

10

20

30

40

50

60

70

80

K ürzu ng N ive a u b e ib e h a lte n E rh ö h un g

S o z ia lh ilfe

A rb e its lo se

S o z ia lh ilfe e m p fä n g e r

R e n tn e r

so z ia lve rs ich e ru n g sp flich tig eE rw e rb s tä tig eS o n s tig e ( in k l. B e a m te ,S e lb s ts tä n d ig e , P e n s io n ä re )

N=1203

Wie wirken sich diese Unterschiede nun auf die Akzeptanzurteile aus? Erwartungs-gemäß ergeben sich für die Präferenzen hinsichtlich der Höhe des Arbeitslosengeldes zu-nächst eindeutig signifikante Effekte. Mit Ausnahme der Sozialhilfeempfänger prä-ferieren alle anderen Versorgungsklassen weniger stark ein höheres Arbeitslosengeld als Arbeitslose (Abb. 6.2.3; Modell A1). Zusätzlich sind zum Teil recht deutliche und erwartete Effekte höherer Bildung und der Selbstverortung auf der Oben-Un-ten-Skala (beide negativ) sowie für ostdeutsche Befragte (positiv) vorhanden. Trotz

Page 161: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.2 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (I): Versorgungsklassen 161

dieser recht eindeutigen Effekte von Interessenlagen erreicht der R²-Wert (0,084) je-doch nur ein eher mäßiges Niveau.

Für die gewünschte Leistungsveränderung bei der Sozialhilfe ergibt sich ein ähnliches Bild (Abb. 6.2.3; Modell B1). Sozialhilfeempfänger präferieren mehr als andere Versorgungsklassen (mit Ausnahme der Arbeitslosen) höhere Leistungen der Sozialhilfe. Wie beim Arbeitslosengeld sind auch hier deutliche Effekte der Selbst-verortung auf der Oben-Unten-Skala (negativer Effekt) und für ostdeutsche Befrag-te (positiver Effekt) festzustellen sowie ein etwas höherer R²-Wert (0,096).

Abbildung 6.2.3: »Leistungsbewertung«: Höhe des Arbeitslosengeldes und der Sozialhilfe – Versorgungsklassen und subjektive Interessendefinitionen (OLS-Regressionen) Arbeitslosengeld Sozialhilfe Modell A1 Modell A2 Modell B1 Modell B2

VersorgungsklassenErwerbstätige (sozialversicherungspflichtige) -0,094* -0,119*Rentner -0,135** -0,173***Sozialhilfeempfänger -0,017 (Ref.kat)Arbeitslose (Ref.kat) 0,047 Sonstige -0,157*** -0,089

»Risikoaversion« (Arbeitslosigkeit bzw. Sozial-hilfebezug)

0,124** 0,226***

Bildung (Ref.Kat.: niedrig) mittel -0,034 -0,071 0,039 0,008 hoch -0,077** -0,085 -0,015 -0,038

Alter des Befragten -0,002 -0,022 -0,014 -0,014 Geschlecht: Frau 0,018 0,046 -0,039 -0,018 Oben-Unten-Skala -0,143*** -0,093* -0,149*** -0,072*Landesteil: Ostdeutschland 0,135*** 0,114** 0,132*** 0,156***R²(korrigiertes R²)

0,084(0,077)

0,062(0,052)

0,096(0,089)

0,119(0,112)

N 1275 650 1221 820 * p<0,05; ** p<0,01; ***p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; standardisierte Regressionskoeffizienten

Damit kann für beide Sicherungssysteme festgehalten werden,dass die erwarteten Unterschiede zwischen Versorgungsklassen bestehen; dass die Unterschiede zwischen den beiden (positiven) Versorgungsklassen aber nicht signifikant sind: Arbeitslose sprechen sich selbst bei der Sozialhilfe etwas mehr für ein höheres Leistungsniveau aus als Sozialhilfeempfänger; dass die »Trennlinie« daher nicht zwischen der jeweils positiven Versorgungs-klasse und den Finanzierungsklassen (sozialversicherungspflichtige Erwerbstä-tige) verläuft, sondern zwischen Arbeitslosen (inkl. Sozialhilfeempfängern) und allen anderen Bevölkerungsgruppen; und schließlich

Page 162: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

162 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

dass es Anhaltspunkte für einen Gegensatz zwischen Rentnern und Arbeitslo-sen gibt: Rentner sprechen sich sogar noch deutlich seltener für ein höheres Arbeitslosengeld und für höhere Sozialhilfeleistungen aus als sozialversiche-rungspflichtige Erwerbstätige.

Auch für die hier als »Risikoaversion«146 operationalisierten Interessendefinitio-nen ergeben sich die erwarteten Effekte (vgl. Abb. 6.2.3; Modelle A2 und B2): Je mehr man sich von Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfebezug bedroht fühlt, desto ausgeprägter sind die Präferenzen für ein höheres Leistungsniveau in den entsprechenden Siche-rungssystemen. Bei der Sozialhilfe ist der Effekt der Risikoaversion sogar so stark, dass das Gesamtmodell – die Effekte der Selbstverortung auf der Oben-Unten-Ska-la und der Herkunft aus Ostdeutschland bleiben auch hier bestehen – insgesamt so-gar etwas besser ist als beim Modell mit den Versorgungsklassen (B1). Jenseits der objektiven Versorgungsklassenposition lässt sich hier also ein Einfluss subjektiver Interessendefinitionen nachweisen. Nicht nur der tatsächliche Erhalt von Leistun-gen, sondern auch die Befürchtung, in Zukunft auf Arbeitslosengeld oder Sozial-hilfe angewiesen zu sein, führt zu stärkeren Präferenzen für höhere Leistungen.

Ein anderes Bild ergibt sich bei der Institutionenakzeptanz von Arbeitslosen-versicherung und Sozialhilfe (Abb. 6.2.4). Wenn für die sozialstrukturellen Variab-len kontrolliert wird, ergibt sich bei der Arbeitslosenversicherung kein Effekt für die positiven Versorgungsklassen: Weder Arbeitslose noch Sozialhilfeempfänger unter-scheiden sich bei ihrer Gesamtbeurteilung der Arbeitslosenversicherung signifikant von den anderen Versorgungsklassen; sie beurteilen die Arbeitslosenversicherung also weder »besser« noch »schlechter«. Ausnahme ist hier der (schwach signifikante) negative Effekt für Arbeitslose bei der Beurteilung der Sozialhilfe (B1).

Bei den subjektiven Interessendefinitionen ist für die allgemeine Beurteilung der Arbeitslosenversicherung nur für die Reziprozitätserwartungen ein signifikanter (und starker) Effekt festzustellen, nicht jedoch für die Risikoaversion. Bei der So-zialhilfe geht dagegen auch von der Risikoaversion ein Einfluss auf die Gesamtbe-wertung aus, der jedoch negativ ist. Je bedrohlicher also das Szenario eines eigenen Sozialhilfebezugs erscheint, desto kritischer fällt die allgemeine Beurteilung der So-zialhilfe aus. Reziprozitätserwartungen haben dagegen, wie vermutet, einen positi-ven Effekt: Wer meint, langfristig nicht durch das System der sozialen Sicherung benachteiligt zu sein oder gar von ihm zu profitieren, dem erscheinen auch die So-zialhilfe und die Arbeitslosenversicherung in einem günstigeren Licht.

146 Die »Risikoaversion« wurde jeweils nur für Befragte erfasst, für die ein realistisches Risiko besteht,

arbeitslos zu werden bzw. in den Sozialhilfebezug zu geraten. Nicht einbezogen wurden also vor allem Rentner, Pensionäre, Beamte sowie Befragte, die zum Zeitpunkt des Interviews arbeitslos (nur bei »Risikoaversion Arbeitslosigkeit«) oder im Sozialhilfebezug waren. Dies ist auch der Grund für die geringen Fallzahlen in den Modellen A2 und B2.

Page 163: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.2 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (I): Versorgungsklassen 163

Abbildung 6.2.4: Institutionenakzeptanz: Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe – Versorgungsklassen und subjektive Interessendefinitionen (OLS-Regressionen) Arbeitslosenversicherung Sozialhilfe Modell A1 Modell A2 Modell B1 Modell B2

Versorgungsklassen (Ref.Kat.: alle anderen) Arbeitslose -0,035 -0,057*Sozialhilfeempfänger -0,004 0,009

»Risikoaversion« (Arbeitslosigkeit bzw. Sozial-hilfebezug) -0,024 -0,154***

allgemeine Reziprozitätserwartungen 0,244*** 0,217***Bildung (Ref.Kat.: niedrig)

mittel 0,010 0,011 -0,035 -0,011 hoch 0,038 0,031 -0,007 -0,002

Alter des Befragten 0,042 0,016 0,020 0,023 Geschlecht: Frau -0,008 -0,092* -0,015 -0,037 Oben-Unten-Skala 0,097** 0,112** 0,153*** 0,115**Landesteil: Ostdeutschland -0,064* -0,065 -0,072* -0,059 R²(korrigiertes R²)

0,025(0,019)

0,097(0,085)

0,045(0,039)

0,117(0,108)

N 1356 644 1312 824

* p<0,05; ** p<0,01; ***p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; standardisierte Regressionskoeffizienten

Noch deutlicher als bei der Beurteilung der Leistungshöhen erweisen sich die sub-jektiven Interessendefinitionen hier als bessere Prädiktoren der Akzeptanzurteile als die Versorgungsklassenlage, die bestenfalls eine marginale Bedeutung für die Insti-tutionenakzeptanz hat. Auch der Einfluss anderer Interessenparameter ist hier eher gering: Nur für die Selbstverortung auf der Oben-Unten-Skala sind durchgehend stabile (immer positive) Effekte festzustellen. Eine höhere Selbsteinschätzung der eigenen sozialen Lage führt also zu einer höheren Institutionenakzeptanz von Ar-beitslosenversicherung und Sozialhilfe.

Die Frage, ob der Staat einen »Arbeitsplatz für jeden bereitstellen (soll), der ar-beiten will«, berührt die Interessenlagen von Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen unmittelbar. Ähnlich wie bei der Beurteilung der Leistungshöhe von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe sollten sich Versorgungsklassenpositionen daher auf die Beurteilung dieser Frage auswirken. Und in der Tat unterstützen Arbeitslose und Sozialhilfeemp-fänger – isoliert betrachtet – diese staatliche Aufgabe mehr als andere Versorgungs-klassen (Abb. 6.2.5, Modell 1). Sobald jedoch soziodemografische Faktoren, die mit Ausnahme der Selbstverortung auf der Oben-Unten-Skala alle signifikante Effekte

Page 164: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

164 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

aufweisen147, in das Modell aufgenommen werden, verschwinden diese ohnehin eher schwachen Effekte der Versorgungsklassen jedoch wieder (Modell 2). Demgegen-über hat die »Risikoaversion« (Arbeitslosigkeit) der »potenziell Betroffenen« den von ihr erwarteten Einfluss. Befragte, die sich eher von Arbeitslosigkeit bedroht fühlen, sehen in der »Bereitstellung von Arbeitsplätzen« eher eine staatliche Aufgabe als Be-fragte mit einer geringen Risikoaversion.

Abbildung 6.2.5: Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »Arbeitsplätze« – Versorgungsklassen und subjektive Interessendefinitionen (Ordinale logistische Regressionen)

Modell 1 Modell 2 Modell 3 Versorgungsklassen (Ref.Kat.: alle anderen)

Sozialhilfeempfänger 1,977*** 1,402 Arbeitslose 1,784* 1,403

»Risikoaversion« (Arbeitslosigkeit) 1,233**Bildung (Ref.Kat.: niedrig)

mittel 0,702** 0,648*hoch 0,341*** 0,259***

Alter des Befragten 0,993* 0,995Geschlecht: Frau 1,419** 1,504**Oben-Unten-Skala 1,018 1,115*Landesteil Ostdeutschland 3,173*** 2,813***Pseudo R² (Nagelkerke) Pseudo R² (McFadden)

0,0120,004

0,1010,035

0,1180,040

N 1439 714 * p<0,05; ** p<0,01; ***p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; Odds-Ratios

Insgesamt lässt sich für die fünf Akzeptanzindikatoren, bei denen stärkere Präferen-zen bzw. eine spezifische Beurteilung seitens der Versorgungsklassen »Arbeitslose« und »Sozialhilfeempfänger« erwartet wurden, festhalten, dass stabile und konsistente Effekte nur bei der Frage der Leistungshöhe nachweisbar sind. Dabei sind aber kaum Unterschiede zwischen Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern zu beobach-ten, die sich in ihren Präferenzen und Urteilen nur unmerklich unterscheiden. Für die beiden subjektiven Interessendefinitionen lassen sich dagegen fast durchgehend Einflüsse auf die Akzeptanzurteile nachweisen. Dies legt den Schluss nahe, dass sie für die Erklärung der Akzeptanz von Sozialhilfe und Arbeitslosenversicherung ins-gesamt von größerer Bedeutung sind als die Versorgungsklassenlage.

147 Vom negativen Einfluss der Bildung abgesehen lassen sich diese Effekte der soziodemografischen

Merkmale aber kaum als interessenstrukturierte Haltung zur Frage der staatlichen Zuständigkeit für die Bereitstellung von Arbeit deuten.

Page 165: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.2 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (I): Versorgungsklassen 165

Gesetzliche Rentenversicherung

Bereits die deskriptiven Befunde (Kap. 5) legten die Vermutung nahe, dass bei der Akzeptanz der Gesetzlichen Rentenversicherung eher von einem breiten gesell-schaftlichen Konsens auszugehen ist – und zwar sowohl bei der eher geringen Insti-tutionenakzeptanz (und dem noch geringeren Systemvertrauen) als auch bei den Präferenzen für höhere Leistungen. Unterschiede zwischen den Versorgungsklassen sind daher nicht unbedingt wahrscheinlich. Dies bestätigt auch ein Blick auf die gruppenspezifischen Häufigkeiten bei den Präferenzen für höhere oder niedrigere Renten. Anders als bei der Höhe der Sozialhilfe und des Arbeitslosengeldes sind die Unterschiede zwischen den Versorgungsklassen hier überaus gering. So liegt der Anteil der Rentner, der sich für ein höheres Rentenniveau ausspricht (72,8 %), nur unwesentlich über dem Durchschnitt aller Befürworter höherer Renten (71,2 %). Auch Arbeitslose (72,0 %) und sozialversicherungspflichtige Erwerbstätige (71,2 %) unterscheiden sich hierin kaum von den Rentnern, während der Anteil der Befür-worter höherer Renten bei den Sozialhilfeempfängern sogar etwas über dem der Rentner liegt (78,0 %).148

Effekte der Versorgungsklassenposition auf die Akzeptanzurteile sind ange-sichts dieser Häufigkeiten bei der Rentenversicherung nicht zu erwarten. Dies bestä-tigen die Regressionsanalysen sowohl für die Präferenzen bezüglich der Rentenhöhe als auch für die Institutionenakzeptanz (Abb. 6.2.6), bei denen neben den Versor-gungsklasssen und den soziodemografischen Variablen auch die Gesamtzahl der privaten Vorsorgemaßnahmen für die Alterssicherung149 (als Indikator der indivi-duellen Angewiesenheit auf eine gesetzliche Rentenversicherung) und Reziprozitäts-erwartungen (nur für die Institutionenakzeptanz) einbezogen wurden.150

So zeigt das Modell A für die Rentenhöhe, bei dem bereits die private Alters-vorsorge und die soziodemografischen Merkmale einbezogen sind, keine signifikan-ten Effekte für die Versorgungsklassen. Nur für die private Altersvorsorge ist ein, wenn auch eher schwacher, Einfluss festzustellen: Je höher die private Altersvorsor-ge, desto geringer fallen die Präferenzen für eine höhere staatliche Rente aus. Das Gesamtmodell ist dabei allerdings sehr schwach (R²=0,022).

148 Der Durchschnittswert ist auf die etwas geringeren Werte der übrigen Versorgungsklassen (insbes.

der Pensionäre) zurückzuführen, deren zusammengefasster Wert für Rentenerhöhung bei »nur« 68,6 Prozent liegt.

149 Die Variable »private Altersvorsorge« wurde aus der Summe einzelner Vorsorgemaßnahmen (im Einzelnen: »Riester-Rente«; »Betriebsrente/Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes«, »Kapitalle-bensversicherung«, »sonstige Privatrente«, »Wohneigentum«, »Aktien, Fondsanlagen oder andere Wert-papiere«, »sonstige Ersparnisse« und »Andere (Vorsorgemaßnahmen)«) gebildet (vgl. Anhang A2.3).

150 Für den Kontext der Alterssicherung steht keine »Risikoaversion«-Variable oder ein entsprechendes Äquivalent zur Verfügung. Dies ergibt sich aus dem Charakter des »Risikos« Alter, das – im Unter-schied zu den Risiken Arbeitslosigkeit und Armut – gemeinhin nicht als »Schaden« empfunden wird.

Page 166: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

166 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

Abbildung 6.2.6: »Leistungsbewertung« (Rentenhöhe) und Institutionenakzeptanz (GRV) – Versorgungsklassen und subjektive Interessendefinitionen (OLS-Regressionen)

Rentenhöhe InstitutionenakzeptanzModell A Modell B1 Modell B2

Versorgungsklassen (Ref.Kat.: Rentner)Erwerbstätige (sozialversicherungspflichtige) 0,044 -0,115*** -0,008Arbeitslose -0,018 -0,075* -0,017Sozialhilfeempfänger 0,016 -0,072* -0,046Sonstige 0,000 -0,098** -0,030

Private Altervorsorge (Summenindex) -0,080** 0,010 -0,021 allgemeine Reziprozitätserwartungen 0,291***Bildung (Ref.Kat.: niedrig)

mittel -0,028 0,011 hoch -0,113*** 0,025

Alter des Befragten 0,003 0,105**Geschlecht: Frau -0,005 -0,027 Oben-Unten-Skala 0,012 0,045 Landesteil: Ostdeutschland -0,011 0,035 R²(korrigiertes R²)

0,022(0,014)

0,014(0,010)

0,117(0,108)

N 1335 1243 * p<0,05; ** p<0,01; ***p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; standardisierte Regressionskoeffizienten

Insgesamt können also für die Gesetzliche Rentenversicherung keine Gegensätze zwischen Versorgungs- und Finanzierungsklassen oder zwischen konkurrierenden Versorgungsklassen festgestellt werden. Es bestätigt sich vielmehr die Vermutung, dass Unterschiede zwischen Versorgungsklassen bei der Rentenversicherung margi-nal sind (H1.3), was nicht zuletzt auf die allgemeine Unzufriedenheit mit der Ren-tenhöhe (vgl. 5.2) und auf die insgesamt geringe Institutionenakzeptanz zurückzu-führen sein dürfte.

Gesetzliche KrankenversicherungDie Gesetzliche Krankenversicherung unterscheidet sich dadurch von den zuvor betrachteten Bereichen der sozialen Sicherung, dass sie keinen Versorgungsklassen-status generiert, der denen der Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger und Rentner ver-gleichbar wäre. Denn die Gesetzliche Krankenversicherung ist so konstruiert, dass es nicht möglich ist, über einen längeren Zeitraum seinen Lebensunterhalt mit Leis-tungen der Krankenkassen zu bestreiten. Das Krankengeld macht zudem nur einen

Page 167: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.2 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (I): Versorgungsklassen 167

geringen Teil der Gesamtausgaben aus, die vor allem medizinische Sach- und Dienst-leistungen umfassen.

Auf der Ebene subjektiver Beurteilungen können sich GKV-Versicherte aber dennoch als durch die Verteilungswirkungen der Gesetzlichen Krankenversicherung Begünstigte oder aber als benachteiligte Nettozahler wahrnehmen. Für eine entspre-chende Einschätzung ist die retrospektive »Bilanzierung« des individuellen Verhält-nisses von erhaltenen Gesundheitsleistungen und gezahlten Krankenversicherungs-beiträgen entscheidend sowie die Extrapolation dieses Verhältnisses in die Zukunft. Eine solche Gegenüberstellung von Leistungen und Beiträgen ist jedoch allein schon deshalb äußerst schwierig, weil sie genauere Kenntnisse über Behandlungskosten er-fordert. Insbesondere die Einschätzung des zukünftigen Verhältnisses bzw. einer Gesamtbilanz im Lebensverlauf dürfte aber mit erheblichen Unsicherheiten verbun-den sein und eher auf allgemeinen Orientierungen und Deutungsmustern beruhen als auf rational kalkulierenden Abwägungen.

Nichtsdestotrotz kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sich die Bilanzierung der eigenen Situation als GKV-Versicherter und die Erwartung, ob es im Fall einer negativen Bilanz langfristig zu einem Ausgleich kommen wird, auf die Akzeptanzurteile über die Gesetzliche Krankenversicherung auswirken werden. Im Folgenden soll daher untersucht werden, welchen Einfluss eine solche Bilanzie-rung151 und die individuelle Risikoaversion auf die Institutionenakzeptanz der Ge-setzlichen Krankenversicherung haben.152 Um einen zusätzlichen objektiven Inter-essenindikator zu gewinnen, wurde auch kontrolliert, ob mindestens eine weitere Person über den Befragten mitversichert ist (dummy-Variable). Da sowohl eine »Bi-lanzierung« als auch eine Mitversicherung von Familienangehörigen nur Versicher-ten möglich ist, die selbständig in einer gesetzlichen Krankenkasse versichert sind, beschränkt sich die folgende Analyse auf diese Teilgruppe, worauf auch die geringen Fallzahlen in den Regressionsmodellen zurückzuführen sind.

Sowohl für die »Bilanzierung« als auch für die »Risikoaversion« ergeben sich bei der Institutionenakzeptanz der Gesetzlichen Krankenversicherung signifikante Effekte. Wie zu erwarten war, wirken sich eine positive Bilanz ebenso wie eine ne-gative Bilanz, für die ein Ausgleich erwartet wird, akzeptanzförderlich aus (Abb. 6.2.7; Modell 1). Der Effekt der Erwartung eines langfristigen Ausgleichs ist sogar etwas stärker als der einer positiven Bilanz. Dies ist jedoch nicht wirklich überra-schend: Vermutlich ist die zukünftig positive Bilanz (denn nur so kann ein Aus-gleich der jetzt negativen erreicht werden) ein »besseres Argument« für die Akzep-

151 Die Variable »Bilanzierung« setzt sich aus mehreren Items zusammen: Zunächst wurden die Befrag-

ten dazu aufgefordert, ihr individuelles Verhältnis von Leistungen und Beitragen einzuschätzen und dabei auch etwaige Mitversicherte zu berücksichtigen. Bei einer »negativen Bilanz« wurde dann um die Einschätzung gebeten, ob man langfristig einen Ausgleich erwartet oder nicht. (vgl. Anhang A2.3).

152 Auf eine Analyse der Präferenzen bezüglich der Leistungshöhe (»Leistungsbewertung«) wird hier verzichtet, weil die Effekte der Bilanzierung nur schwer zu interpretieren wären.

Page 168: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

168 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

tanz der Gesetzlichen Krankenversicherung als eine bisher positive Bilanz, bei der schließlich offen bleibt, wie sich das Verhältnis von Beiträgen und Leistungen in der Zukunft gestaltet.

Abbildung 6.2.7: Institutionenakzeptanz: Gesetzlichen Krankenversicherung – subjektive Interessendefinitionen (OLS-Regressionen)

Modell 1 Modell 2 »Bilanzierung« (Ref.Kat.: GKV-Bilanz negativ ohne Ausgleich)

GKV-Bilanz positiv 0,131**GKV- Bilanz negativ; Erwartung eines Ausgleichs 0,192***

GKV-Versicherte mit Mitversicherten (Ref.Kat.: ohne) -0,071»Risikoaversion« (Krankheit) -0,114**Bildung (Ref.Kat.: niedrig)

mittel -0,035 -0,031 hoch 0,014 -0,003

Alter des Befragten 0,039 0,010 Geschlecht: Frau -0,037 -0,056 Oben-Unten-Skala 0,105** 0,117**Landesteil: Ostdeutschland -0,004 -0,017 R²(korrigiertes R²)

0,042(0,030)

0,036(0,025)

N 743 595 * p<0,05; ** p<0,01; *** p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; standardisierte Regressionskoeffizienten

Wie bei der Sozialhilfe (Abb. 6.2.4) wirkt sich die »Risikoaversion« negativ auf die Institutionenakzeptanz aus (Modell 2). Bei höherem subjektivem Sicherungsbedürfnis wird die Gesetzliche Krankenversicherung also kritischer beurteilt. Dagegen hat die Frage, ob ein Befragter weitere Familienmitglieder in seiner Krankenkasse mitversichert hat, keinen nachweisbaren Einfluss auf die Institutionenakzeptanz der Gesetzlichen Krankenversicherung. Damit zeigt sich auch für die Gesetzliche Krankenversiche-rung, dass subjektive Interessenfaktoren einen erheblichen Einfluss auf die Akzep-tanzurteile haben.

6.2.3 Fazit

Überwiegend können die für die Versorgungsklassen formulierten Hypothesen als bestätigt angesehen werden. Dies gilt vor allem für die Präferenzen bezüglich der Leistungshöhe, wo sowohl für die Sozialhilfe als auch für das Arbeitslosengeld ent-

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6.2 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (I): Versorgungsklassen 169

sprechende Effekte für die spezifischen Versorgungsklassen nachgewiesen werden konnten (H1.1). Drei Relativierungen sind hier jedoch wichtig:

Erstens besteht ein solcher Einfluss des Versorgungsklassenstatus nicht für die Präferenzen bezüglich der Rentenhöhe. Wie vermutet wurde (H1.3), sind hier keine nennenswerten Gegensätze zwischen den Versorgungsklassen zu erkennen – und zwar weder zwischen Rentnern und sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigen noch zwischen Rentnern und »konkurrierenden« Versorgungsklassen. Zweitens be-stehen keine Gegensätze zwischen Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen, was an-gesichts der insgesamt doch sehr ähnlichen sozialpolitischen Interessenlagen nicht allzu sehr überraschen sollte. Schließlich konnte, drittens, die Erwartung eines posi-tiven Einflusses der Versorgungsklassen »Arbeitslose« und »Sozialhilfeempfänger« bei der staatlichen Zuständigkeit für Arbeitsplätze überraschend nicht bestätigt wer-den (H1.2). Entsprechende Effekte erwiesen sich nicht als stabil.

Die Gegensätze zwischen den Versorgungsklassen reduzieren sich insofern auf

solche zwischen Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern auf der einen und so-zialversicherungspflichtigen Erwerbstätigen (Finanzierungsklasse) auf der an-deren Seite bei den Präferenzen bezüglich der Höhe von Sozialhilfe und Ar-beitslosengeld; und auf einen Gegensatz zwischen Rentnern einerseits und Arbeitslosen und Sozialhilfe-empfängern andererseits (konkurrierende Versorgungsklassen) bei der Höhe des Arbeitslosengeldes, wobei die Anhaltspunkte hier allerdings nur dünn sind (H2).

Damit ergibt sich eine auffällige Asymmetrie zwischen den drei konkurrierenden Versorgungsklassen. Wenn man überhaupt von einem latenten Interessengegensatz sprechen mag, besteht dieser nur zwischen Rentnern und den beiden anderen posi-tiven Versorgungsklassen und nur bei »deren« Sicherungssystemen. Der vermeintli-che Interessengegensatz spielt sich damit auch nur in »deren« Arena ab: Es sind die Rentner, die ein signifikant geringeres Leistungsniveau beim Arbeitslosengeld und bei der Sozialhilfe befürworten. Spiegelbildliche Differenzen bei den Präferenzen be-züglich der Rentenhöhe gibt es nicht.

In der Trennlinie zwischen Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern auf der einen und allen anderen Versorgungs- und Finanzierungsklassen auf der anderen Seite, kann erneut ein Hinweis darauf gesehen werden (vgl. a. 6.1.3), dass es nicht so sehr die allgemeinen Klassenlagen und die sozialpolitisch geformten Interessenlagen sind, die die zentralen Demarkationslinien bei der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen (und darüber hinaus) bilden, sondern die vielfach vermutete Spaltung zwischen »Insidern« (insbes. Vollerwerbstätigen, Rentnern und Pensionären) und »Outsidern« (Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern) des deutschen Sozialstaats-modells.

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170 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

Bei der Institutionenakzeptanz wurden die skeptischen Erwartungen (H3.0) bestätigt.153 Weder ist die Institutionenakzeptanz der Rentenversicherung bei Rent-nern höher (H3.1), noch die der Sozialhilfe und der Arbeitslosenversicherung bei Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen niedriger (H3.2). Eine einzige kleinere Aus-nahme ist hierbei der negative Effekt für Arbeitslose bei der allgemeinen Beurtei-lung der Sozialhilfe.

Insgesamt muss der Einfluss der Versorgungsklassen auf die Akzeptanzurteile gegenüber dem Wohlfahrtsstaat als mäßig eingeschätzt werden. Nur dort, wo ein solcher Einfluss nahezu »selbstverständlich« anmutet (bei der Beurteilung der Leis-tungshöhe), kann auch von einem stabilen Einfluss der Versorgungsklassenposition ausgegangen werden – und auch dann nicht bei allen Sicherungssystemen. Eine nur marginale Bedeutung hat der Versorgungsklassenstatus dagegen bei der allgemeinen Beurteilung der Sicherungssysteme (Institutionenakzeptanz).

Für die subjektiven Interessendefinitionen konnten fast alle Hypothesen bestä-tigt werden. Einzige Ausnahme ist hier der erwartete, aber nicht nachweisbare nega-tive Einfluss der »Risikoaversion« auf die Institutionenakzeptanz der Arbeitslosen-versicherung. Für die »Leistungsbewertung« und die Frage einer staatlichen Zustän-digkeit für Arbeitsplätze konnte gezeigt werden, dass eine stärkere »Risikoaversion« auch stets zu Präferenzen für höhere Leistungen bzw. zu einer stärkeren Befürwor-tung einer staatlichen Verantwortlichkeit führt (H4.1). Gleiches gilt für den erwarte-ten negativen Einfluss auf die Institutionenakzeptanz der Sozialhilfe und der Gesetz-lichen Krankenversicherung (H4.2).154

Allgemein kann damit festgehalten werden, dass ein höheres Sicherungsbe-dürfnis zu Präferenzen für höhere Leistungen und zu einer größeren Unzufrieden-heit mit den bestehenden Institutionen führt. Den negativen Effekt der Risikoaver-sion auf die Institutionenakzeptanz kann man dabei als subjektives Sicherungsdefizit deuten.

Reziprozitätserwartungen haben sogar in allen Fällen (Institutionenakzeptanz der Arbeitslosenversicherung, der Sozialhilfe und der Rentenversicherung) den erwartet positiven Effekt (H5). Reziprozitätserwartungen tragen zudem in einem erheblichen Maße zur Erklärung der Akzeptanzurteile bei. Auch für den »Sonderfall« der Ge-setzlichen Krankenversicherung ist für die »Bilanzierung« – und insbesondere für die Erwartung eines reziproken Ausgleichs – ein erkennbarer Einfluss auf die Institutio-nenakzeptanz festzustellen.

153 Ob dies, wie vermutet, eine Folge sich gegenseitig aufhebender Wirkungen ist oder ob die Versor-

gungsklassenposition einfach keine Bedeutung für die Institutionenakzeptanz hat, kann hier nicht ent-schieden werden. Die zweite Alternative erscheint angesichts der großen (objektiven) Bedeutung, die soziale Sicherungssysteme für ihre Leistungsempfänger haben, aber zumindest unwahrscheinlich.

154 Diese beiden negativen Effekte sind allerdings unterschiedlich zu bewerten, vor allem weil die sub-jektive Bewertung von »Krankheit« unabhängiger von der sozialen Absicherung ist als bei den Risi-ken Arbeitslosigkeit oder Armut.

Page 171: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.2 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (I): Versorgungsklassen 171

Insgesamt können die Ergebnisse zu den subjektiven Interessendefinitionen als Nachweis dafür gelten, dass Interessendefinitionen auch unabhängig von objek-tiven Interessenlagen einen Einfluss auf die Akzeptanzurteile ausüben. Legt man die Gesamtmodelle (R²-Werte) zugrunde, wird überdies deutlich, dass dieser Einfluss beträchtlich ist und dass Interessendefinitionen insofern oft bessere Prädiktoren der Akzeptanzurteile über den Wohlfahrtsstaat sind als die Versorgungsklassenposition und andere objektive Interessenparameter.

6.3 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (II): Generationenkonflikte

In Kapitel 2.2.3 wurde bereits darauf hingewiesen, dass es neben den vermuteten Konflikten zwischen Versorgungsklassen bzw. zwischen Versorgungs- und Finan-zierungsklassen auch zur Herausbildungen einer weiteren neuen Konfliktlinie im (und durch den) Wohlfahrtsstaat gekommen sein könnte, nämlich zu der zwischen unterschiedlichen Generationen oder Altersgruppen. Ob und welche Generationen-konflikte im Kontext der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung bestehen, wird in diesem Kapitel untersucht.

Neben der Wahrnehmung von Generationenkonflikten und der Beurteilung des Konfliktpotenzials im Zusammenhang mit der Gesetzlichen Rentenversiche-rung werden vor allem latente Interessengegensätze besonders alters- bzw. lebens-phasenrelevanter Sicherungsbereiche (Rentenversicherung, Leistungen für Familien) untersucht. Der folgende Abschnitt wird sich jedoch zunächst mit der Frage befas-sen, welche sozialen Konstellationen man als Generationenkonflikt bezeichnen kann und welche Generationenkonflikte im Wohlfahrtsstaat bestehen können.

6.3.1 Zur Möglichkeit von Generationenkonflikten im Wohlfahrtsstaat

Im sozialwissenschaftlichen Gebrauch des Begriffs Generationenkonflikt lassen sich zwei grundlegende Verwendungsweisen ausmachen. Zum einen wird dieser Begriff auf Konflikte bezogen, die sich auf der Mikroebene zwischen den Generationen einer Familie abspielen. Zum anderen werden aber auch – und das scheint die in jüngerer Zeit zunehmend gebräuchliche Verwendungsweise zu sein – Konflikte oder Konfliktlagen auf der Makroebene zwischen Angehörigen unterschiedlicher Alterskohorten bzw. »Generationslagen« als Generationenkonflikte charakterisiert. In Anlehnung an Kaufmann (1993) kann man hier von Generationenkonflikten auf der Ebene der Generationenbeziehungen und von Generationenkonflikten auf der Ebene der Generationenverhältnisse sprechen.

Weiterhin können Generationenkonflikte sowohl Interessen- als auch Wertkon-flikte sein und – wie alle sozialen Konflikte – den beteiligten Akteuren latent oder ma-

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172 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

nifest sein. Lässt man die konzeptionell nicht sehr weit führende Unterscheidung von Interessen- und Wertkonflikten beiseite, ergeben sich immerhin noch vier Ty-pen oder Ausprägungen von Generationenkonflikten: latente und manifeste Gene-rationenkonflikte auf der Ebene der Generationenbeziehungen sowie latente und manifeste Generationenkonflikte auf der Ebene der Generationenverhältnisse.

Gegenstand der folgenden Analysen sind primär (mögliche) latente Generatio-nenkonflikte auf der Ebene der Generationenverhältnisse, nämlich im Kontext wohl-fahrtsstaatlicher Sicherung. Zusätzlich wird der Frage nachgegangen, inwiefern von wohlfahrtsstaatlichen Adressaten ein offener (manifester) Generationenkonflikt wahr-genommen wird.

Warum aber sollte es einen Generationenkonflikt im Bereich der wohlfahrts-staatlichen Sicherung geben? Zunächst kann davon ausgegangen werden, dass Ge-nerationenkonflikte (auf der Ebene der Generationenverhältnisse) bzw. die Annah-me, dass es zu derartigen Konflikten kommen werde, im öffentlichen oder zumin-dest im massenmedialen Diskurs sehr präsent sind. So wurde, insbesondere seit Ver-änderungen in der Altersstruktur als »Überalterung« in das öffentliche Bewusstsein gerückt sind, die Befürchtung einer Aufkündigung des Generationenvertrages – wenn nicht gar eines »Krieges der Generationen« – zu einem festen Bestandteil sozialpoli-tischer Diskurse und öffentlicher Debatten (vgl. u.a. Bäcker/Koch 2003; Schmähl 2001; Wolf 1990). Auch aufgrund »objektiver« oder vermeintlicher Sachzwänge, vor allem infolge von Finanzierungsproblemen, wurde in der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung ein zentrales intergenerationelles Konfliktfeld ausgemacht. Entschei-dend für die »Konfliktfähigkeit« des wohlfahrtsstaatlichen Generationenverhältnis-ses dürften aber das beträchtliche intergenerationelle Umverteilungsvolumen sein sowie die dadurch hervorgerufenen Zweifel an der »Generationengerechtigkeit« der sozialen Sicherung.

Diesem hier nur angedeuteten Konfliktszenario wurde entgegengehalten, dass es zu einer Stärkung der Generationenbeziehungen gekommen sei (vgl. u.a. Kohli 1994; Wolf/Kohli 1998). So gibt es mittlerweile gute empirische Belege dafür, dass der Umfang und die Intensität privater sozialer Unterstützung (wieder?) gewachsen sind (vgl. u.a. Kohli et al. 2000; Künemund/Hollstein 2000). Ob wohlfahrtsstaatliche Verteilungsverhältnisse durch Transfers und Dienstleistungen auf der Mikroebene der Generationsbeziehungen so weit kompensiert werden können, dass makrostruk-turell angelegte Konfliktlagen nicht virulent werden, darf aber wohl bezweifelt wer-den und muss zumindest als offene Frage gelten.

Es bleibt in jedem Fall festzuhalten, dass sowohl objektive als auch »sozial kon-struierte« Verteilungsfragen und Interessengegensätze ausreichend Anlass für die Annahme von Generationenkonflikten geben. Die durch Altersgruppen- und Gene-rationszugehörigkeiten bedingten sozialpolitischen Interessenlagen bilden zumin-dest für einen latenten Generationenkonflikt eine hinreichende Grundlage und soll-ten sich auch auf die Akzeptanz der sozialen Sicherungssysteme auswirken. Bei der

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6.3 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (II): Generationenkonflikte 173

Beurteilung altersspezifischer bzw. lebensphasenrelevanter Sicherungssysteme wie der Rentenversicherung sollten daher deutliche Alterseffekte auftreten.

Bisher scheint es jedoch kaum empirische Anhaltspunkte für Generationen-konflikte zu geben, die wohlfahrtsstaatliche Verteilungsfragen zum Gegenstand ha-ben (vgl. u.a. Wolf/Kohli 1998). Zumindest weisen die hohen Akzeptanzwerte, die für den Wohlfahrtsstaat insgesamt und insbesondere für die Rentenversicherung im-mer wieder festgestellt wurden, in diese Richtung (vgl. Kohl 2002; Ullrich 2000a). Schon die äußerst raren Untersuchungen aus den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten unterstützen für den deutschen Wohlfahrtsstaat155 die Annahme einer hohen Ak-zeptanz der Gesetzlichen Rentenversicherung quer durch alle Bevölkerungsteile und Altersgruppen, wobei vor allem das Prinzip der Pflichtversicherung und die Ein-kommensabhängigkeit der Renten auf hohe Zustimmung stießen (vgl. Braun 1972; von Friedeburg/Weltz 1958; Schmaltz 1969).

Auch jüngere Untersuchungen kommen meist zu ähnlichen Resultaten. So stellt Krüger (2001: 160f.) eine sehr hohe Akzeptanz des Generationenvertrages und ein relativ großes, wenn auch zwischen 1982 und 1994 sinkendes Vertrauen in die Ren-tenversicherung fest. Kohl (2003) findet in seiner vergleichenden Untersuchung, dass in Deutschland und in anderen EU-Ländern deutliche Bevölkerungsmehrhei-ten den Generationenvertrag und das Äquivalenzprinzip befürworten. Er stellt dar-über hinaus zwar die »Existenz gewisser altersspezifischer Differenzierungen« fest, die aber »erstaunlich gering« seien (2003: 4). Zumindest bis in die 1990er Jahre hinein gibt es auch für die Wahrnehmung eines Generationenkonflikts eher wenig An-haltspunkte. Zwischen 1980 und 1990 (drei Messpunkte) war sie insgesamt sogar rückläufig (Krüger 2001: 160).

Auf der Ebene der Einstellungen zur Rentenversicherung und ihrer grundle-genden Systemmerkmale (Umlageverfahren, Äquivalenzprinzip, Pflichtversicherung) scheint es demnach wenig Hinweise auf einen Generationenkonflikt zu geben. So folgert Dallinger noch 2001 unter Bezugnahme auf unterschiedliche Datenquellen, dass es keinen Grund zur Annahme eines Generationenkonflikts gebe (Dallinger 2001:131).

Einer allgemein hohen Akzeptanz der Gesetzlichen Rentenversicherung wider-sprachen jedoch schon die in Kapitel 5 dargestellten Häufigkeitsverteilungen. Die Gesetzliche Rentenversicherung erwies sich dabei sogar als das Sicherungssystem, das am schlechtesten beurteilt und dem am wenigsten vertraut wird. Anlass zu Zwei-feln an der hohen Akzeptanz der Gesetzlichen Rentenversicherung und an besten-falls marginalen Unterschieden zwischen Altersgruppen geben auch das geringe Vertrauen in die Rentenversicherung und die dabei bestehenden Altersdifferenzen. Aus diesen schließt Dallinger (2003: 7) – im Gegensatz zu ihrer früheren Einschät-

155 Für entsprechende Untersuchungen für die USA vgl. u.a. Cook/Barrett (1992: 149ff.), Huddy et al.

(2001) sowie Silverstein et al. (2000).

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174 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

zung (s.o.) – nun auf einen Generationenkonflikt, allerdings ohne hierfür ein Ent-scheidungskriterium156 anzugeben. Dallinger und Liebig (2004) finden zudem auch deutliche Unterschiede zwischen Altersgruppen bei der wahrgenommenen (Un)Ge-rechtigkeit der Gesetzlichen Rentenversicherung (2004: 119f.) sowie bei der (insge-samt aber hohen) Akzeptanz des Äquivalenzprinzips (2004: 122).

Schließlich wurden auch bei der Beurteilung der eigenen Alterssicherung und der Beitragslast sowie beim Umfang der privaten Altersvorsorge mehr oder minder deutliche Unterschiede zwischen Altersgruppen festgestellt (vgl. Bulmahn 2003; Kohl 2002; Krüger 2001; Lippl 2001; Rinne/Wagner 1996). Insofern könnte also zumindest eine objektive materiale Basis für einen (latenten) Generationenkonflikt bestehen.

In den folgenden Abschnitten wird der Frage nachgegangen, ob Generations- bzw. Altersunterschiede bei der Beurteilung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen zu er-kennen sind, die auf einen latenten oder gar manifesten Generationen- bzw. Alters-gruppenkonflikt schließen lassen.157 Es wird untersucht, ob die generationelle Lasten-verteilung und »Begünstigungsstruktur« als problematisch empfunden werden und worauf sich mögliche Unterschiede in der Beurteilung zurückführen lassen.

Der Frage nach möglichen Generationenkonflikten wird für zwei Sicherungsbe-reiche untersucht, von denen angenommen werden kann, dass sie besonders alters-spezifisch sind. Als altersspezifisch (oder lebensphasenrelevant) können alle Siche-rungsleistungen bezeichnet werden, bei denen der Leistungsempfang maßgeblich durch das Alter bzw. durch die (wohlfahrtsstaatlich oft erst entscheidend mit defi-

156 Für die Diagnose eines Generationenkonflikts reicht die Feststellung von Altersunterschieden (oder

deren Vergrößerung) bei der Beurteilung von Alterssicherungs- und anderen wohlfahrtsstaatlichen Systemen allein nicht aus. Für eine Minimaldefinition müsste zumindest angegeben werden, ab wel-cher Differenz von einem Generationenkonflikt ausgegangen werden kann und welche Altersunter-schiede als nicht-konfliktär gelten sollen. Die Begründung eines solchen Grenzwertes dürfte allerdings schwer fallen.

157 Im Folgenden werden die Begriffe Generation/Generationenkonflikt und Altersgruppe/Altersgrup-penkonflikt synonym verwendet. Strenggenommen sind Konflikte zwischen Altersgruppen aber nicht mit Generationenkonflikten identisch. Ein Altersgruppenkonflikt kann ein Konflikt zwischen Ge-nerationen sein oder aber auch nur ein von immer wieder neuen Generationen ausgetragener Konflikt zwischen unterschiedlichen »Alterslagen«. Bei einer starken Altersorientierung eines Sicherungs-systems ist durchaus vorstellbar, dass die jeweils Jungen mit den jeweils Alten in Konflikt geraten und dass eine Generation mit der Zeit quasi »die Fronten wechselt«. Ein Generationenkonflikt i.e.S. besteht dagegen zwischen zwei oder mehreren Generationen, und zwar unabhängig von deren Alter. Ein solcher Generationenkonflikt kann daher im Zeitverlauf von unterschiedlichen Altersgruppen (aber den gleichen Generationen) ausgetragen werden. (Der Variabilität von Alter und Generationen sind allerdings durch die Abhängigkeit von der natürlichen Lebensspanne enge Grenzen gesetzt.) Andererseits ist jedoch jeder Altersgruppen- immer auch ein Generationenkonflikt, weil er (notwendig) zwischen unterschiedlichen Generationen besteht. Für die Beurteilung der folgenden Analysen ergibt sich hieraus die wichtige Einschränkung, dass mit einer Querschnittsbetrachtung na-türlich kein Vergleich von mehreren aufeinander folgenden Generationen, wie etwa in Thomsons (1989) Untersuchung zur Generationenungerechtigkeit, möglich ist.

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6.3 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (II): Generationenkonflikte 175

nierte) Lebensphase bestimmt wird.158 Dies trifft zum einen für den naheliegenden, »klassischen« Fall der Gesetzlichen Rentenversicherung zu, zum anderen aber auch für Leistungen für Familien und Alleinerziehende159, die vor allem mittleren und jüngeren Altersgruppen zugute kommen und bei denen daher vielleicht am besten untersucht werden kann, ob es so etwas wie einen »umgekehrten« Generationen-konflikt gibt.

Die Analysen werden sich für beide Bereiche sowohl auf die Institutionenak-zeptanz als auch auf die Beurteilungen der Leistungshöhe stützen. Für die Gesetzli-che Rentenversicherung werden zudem einige weitere Indikatoren herangezogen, mit deren Hilfe eine etwas bessere Beurteilung der Frage möglich sein sollte, ob in der Bundesrepublik Deutschland ein wohlfahrtsstaatlicher Generationenkonflikt be-steht.160 Hierbei handelt es sich um

die Wahrnehmung einer Benachteiligung Jüngerer und eines daraus resultieren-den Generationenkonflikts in der Rentenversicherung;die Beurteilung der Frage, inwiefern die heutigen Rentner sich durch frühere Beitragszahlungen einen Anspruch auf Leistungen erworben haben; und umdie Einschätzung der eigenen Absicherung im Alter.

Es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass den folgenden Analysen die all-gemeine Annahme zugrunde liegt, dass bei der Beurteilung alters- bzw. lebenspha-senspezifischer Sicherungsbereiche Unterschiede zwischen Altersgruppen erkennbar werden. So wird aufgrund der unterschiedlichen, auch, aber nicht nur interessen-geleiteten Perspektiven von Personen unterschiedlichen Alters angenommen, dass Jüngere eher als Ältere davon überzeugt sind, dass »es sich für die jüngere Genera-tion viel weniger als für die ältere (lohnt), in der Gesetzlichen Rentenversicherung zu sein« (H1.1).

Für die Wahrnehmung eines dadurch verursachten Generationenkonflikts wird dagegen – wegen der Filterfunktion der »Benachteiligungsfrage« (nur wer dieser Aussage zustimmt, wurde zur Wahrnehmung eines Generationenkonflikts befragt) – kein Alterseffekt erwartet (H1.2). Vielmehr wird hier eine unterschiedslos hohe Zustimmung angenommen (wer eine Benachteiligung Jüngerer wahrnimmt, erwar-tet auch einen Generationenkonflikt).

Bei der Frage der »Anspruchsberechtigung« von Rentnern wird dagegen – ganz im Sinne der generellen Generationenkonfliktsvermutung – von einem recht deutli-chen Alterseffekt ausgegangen, und zwar in der Form, dass Jüngere die Legitima-tionsgrundlage der Rentner eher in Zweifel ziehen als Ältere (H2). 158 Grundsätzlich sind alle sozialen Sicherungssysteme zu einem gewissen Grad altersspezifisch. Es geht bei

der »Altersspezifität« daher immer nur um graduelle Unterschiede, die allerdings erheblich sein können. 159 Im Folgenden immer kurz als Leistungen für Familien oder Familienleistungen bezeichnet.160 Für den Bereich der Familienleistungen stehen entsprechende Indikatoren leider nicht zur Verfügung.

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176 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

Entsprechende Alterseffekte werden auch für die Institutionenakzeptanz und für die Beurteilung der Rentenhöhe erwartet: Ältere sollten die Gesetzliche Renten-versicherung positiver beurteilen als Jüngere (H3.1)161, gleichzeitig aber auch eher Leistungserhöhungen favorisieren (H3.2). Mindestens zwei Gründe sprechen für diese Annahmen, und zwar

die aktuelle sozialpolitische Interessenlage: Ältere sind entweder Rentner und profitieren bereits von den Leistungen der Rentenversicherung oder erwarten, in absehbarer Zeit verrentet zu werden162; und die intergenerationelle Verteilungsposition: Jüngere sind gegenüber den Älteren generationell benachteiligt, weil für sie die Gesetzliche Rentenversicherung eher ein »Verlustgeschäft« sein wird.

Noch klarere Alterseffekte werden für die subjektive Beurteilung der individu-ellen Absicherung angenommen, die hier als Indikator für einen latenten Interessen-gegensatz fungiert. Es wird davon ausgegangen, dass Ältere ihre eigene Alterssiche-rung deutlich positiver beurteilen als Jüngere (H4).

Die Erwartungen bezüglich der Familienleistungen sind dagegen zwiespältig. Einerseits werden Leistungen für Familien, wie die Ergebnisse aus Kapitel 5 zeigen, überaus positiv beurteilt, sodass man kaum mit Unterschieden zwischen Alters- oder anderen Bevölkerungsgruppen rechnen kann. Nimmt man jedoch die Annah-me eines Generationenkonflikts ernst, ist auch hier mit einem »umgekehrten« Al-terseffekt zu rechnen, der vor allem bei Fragen nach höheren Ausgaben für Fami-lienleistungen auftreten sollte (H5).163

Wichtig ist schließlich, dass Alterseffekte nicht immer linear verlaufen müssen. Die stärksten und entscheidenden Unterschiede werden nicht in allen Fällen zwi-schen der jüngsten und der ältesten Altersgruppe bestehen und sie müssen sich auch nicht immer am Versorgungsklassenstatus – der war bereits Gegenstand von Kapitel 6.2. – festmachen.164 Um derartige nicht-lineare Alterseffekte erfassen zu 161 Wie schon im Zusammenhang mit den Versorgungsklassen (Kapitel 6.2.) erläutert wurde, ist auch die

gegenteilige Annahme einer geringeren Akzeptanz der Rentenversicherung bei den Älteren denkbar. Voraussetzung hierfür ist aber eine deutliche Unzufriedenheit mit dem Leistungsniveau, die zwar insgesamt besteht, aber kein zwischen Altersgruppen diskriminierendes Merkmal zu sein scheint.

162 Zum engeren sozialpolitischen Interesse als Rentner (Versorgungsklasse) vgl. a. Abschnitt 6.2. 163 Mit einigem Recht könnte man hier sogar stärkere Unterschiede zwischen Altersgruppen vermuten

als bei der Beurteilung der Alterssicherung. Während ein junger Mensch noch darauf hoffen kann, später einmal von der Rentenversicherung zu profitieren, wenn vielleicht auch weit weniger als die heutigen Rentner, gilt dies im umgekehrten Fall nicht. Leistungen für Familien oder Bildung sind für die älteren Altersgruppen fast ausnahmslos »Fremdhilfe«.

164 So ist gut möglich, dass z.B. die Sorge um die Rente bei denen, die kurz vor der Verrentung stehen, am höchsten ist, und dass sich dies auf die Beurteilung der Leistungshöhe entsprechend auswirkt. Ebenso könnten kritische (»sozialneidische«) Haltungen gegenüber den jetzigen Rentnern bei den mittleren Altersgruppen ausgeprägter sein als bei den jüngeren, noch nicht voll in den Arbeitsmarkt

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6.3 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (II): Generationenkonflikte 177

können, wird in den nachstehenden Analysen auf eine metrische Verwendung der Altersvariable zugunsten von Altersgruppen verzichtet.

Die empirische Analyse erfolgt in insgesamt fünf Schritten: In Abschnitt 6.3.2 wird zunächst die Frage im Mittelpunkt stehen, ob und in welchem Maße die Befragten eine Benachteiligung Jüngerer und einen Generationenkonflikt in der Rentenversicherung wahrnehmen. Daran anschließend werden die moralökonomi-schen Grundlagen des Generationenvertrages untersucht. Dazu werden Altersun-terschiede bei der Beurteilung der »Anspruchsberechtigung« von Rentnern analy-siert. Die beiden folgenden Abschnitte befassen sich mit Altersunterschieden bei der allgemeinen Beurteilung der Rentenversicherung und der Leistungshöhe sowie mit der subjektiven Einschätzung der eigenen Absicherung. In Abschnitt 6.3.3 wird dann für die Familienleistungen der Frage nachgegangen, ob es Anzeichen für einen »umge-kehrten Generationenkonflikt« gibt.

6.3.2 Generationenkonflikte um die Gesetzliche Rentenversicherung?

Zunächst zur Frage, ob eine Benachteiligung Jüngerer in der Rentenversicherung wahrgenommen wird und ob die Befragten meinen, dass eine solche Benachteili-gung zu einem Konflikt zwischen den Generationen führt.165 Zur Beurteilung dieser Frage stehen zwei Indikatoren zur Verfügung, von denen der eine die Wahrneh-mung einer Benachteiligung der jüngeren Generation in der Gesetzlichen Renten-versicherung misst. Das zweite Item zielt direkt auf die Wahrnehmung eines Gene-rationenkonflikts und wurde nur den Befragten vorgelegt, die eine Benachteiligung Jüngerer wahrnehmen (vgl. Anhang A2.3 für die genaue Itemformulierung).

Bei der Wahrnehmung einer Benachteiligung Jüngerer in der Rentenversicherung zeigt die Verteilung der Häufigkeiten über die Altersgruppen zunächst (Abb. 6.3.1), dass rund zwei Drittel der Befragten der Aussage, dass es eine solche Benachteiligung gibt, zustimmen und dass ihr immerhin ein knappes Drittel (31,5 %) sogar »voll und ganz« zustimmt.

Deutliche Unterschiede zeigen sich bei der Betrachtung nach dem Alter. Er-wartungsgemäß nehmen ältere Befragte seltener eine Benachteilung der Jüngeren in der Rentenversicherung wahr als jüngere Befragte. Die Werte für die einzelnen Al-tersgruppen unterscheiden sich dabei recht deutlich. Bei der jüngsten Altergruppe der bis 35jährigen sind 69,5 Prozent (36,6 % »voll und ganz«) der Meinung, sie wer-

integrierten (und daher weniger belasteten) Altersgruppen. Schließlich könnte mit der disengagement-These argumentiert werden, dass die ältesten Altersgruppen sich weniger stark als die etwas jüngeren »exponieren«.

165 Im Folgenden werden die Ergebnisse für alle Befragten dargestellt. Es ergeben sich nur geringfügige Abweichungen, wenn nur Rentenversicherte (inkl. Rentnern) einbezogen werden.

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178 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

den in der Gesetzlichen Rentenversicherung benachteiligt. Unter den über 65jährigen teilen diese Sicht dagegen nur 59,9 Prozent (und nur 26,9 % »voll und ganz«).166

Abbildung 6.3.1: Wahrnehmung einer »Benachteiligung Jüngerer« und eines Generationenkonflikts in der Gesetzlichen Rentenversicherung (Zustimmung in Prozent)

eher zustimmen voll und ganz zustimmen

36,6

32,9

37,1

33,6

29,2

36,7

25,5

35,5

26,9

33,0

0

10

20

30

40

50

60

70

80

bis 35 Jahre 36 bis 45 Jahre 46 bis 55 Jahre 56 bis 65 Jahre über 66 Jahre

Wahrnehmung einer Benachteiligung Jüngerer

69,5 70,7

65,9

61,0 59,9

eher zustimmen voll und ganz zustimmen N = 1279

15,9

49,2

17,5

56,1

22,3

42,4

29,5

47,4

29,4

40,5

0

10

20

30

40

50

60

70

80

bis 35 Jahre 36 bis 45 Jahre 46 bis 55 Jahre 56 bis 65 Jahre über 66 Jahre

Wahrnehmung eines Generationenkonflikts

65,1

73,6

64,7

76,9

69,9

eher zustimmen voll und ganz zustimmen N = 788

166 Diese Altersunterschiede bei der Wahrnehmung einer ungleichen Generationenbelastung in der Ren-

tenversicherung bestätigen damit indirekt ähnliche Ergebnisse von Dallinger und Liebig (2004: 118ff.)zur wahrgenommenen »Ungerechtigkeit« des Rentensystems.

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6.3 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (II): Generationenkonflikte 179

Die Verteilung der Häufigkeiten zeigt auch bei der Wahrnehmung eines Generationenkon-flikts ein relativ deutliches Bild. Auch hier lehnen weniger als ein Drittel der Befrag-ten die Aussage, dass es zu einem Generationenkonflikt kommt, ab. Der Gesamt-mittelwert liegt jedoch etwas niedriger als bei der »Benachteiligung«. Da hier nur diejenigen befragt wurden, die eine Benachteiligung Jüngerer wahrnehmen, hätte man eine höhere Zustimmung erwarten können. Aber offenbar gibt es viele Befrag-te, die zwar eine Benachteiligung der Jüngeren in der Rentenversicherung wahrneh-men, aber dennoch keinen Generationenkonflikt.167

Die Unterschiede zwischen den einzelnen Altersgruppen sind hier insgesamt etwas geringer und vor allem uneinheitlicher als bei der Wahrnehmung einer Be-nachteiligung Jüngerer (Abb. 6.3.1). So ist z.B. der Unterschied zwischen der jüng-sten Altersgruppe (65,1 %) und der ältesten (69,9 %) bei der gesamten Zustimmung nur gering. Aber aufgrund der deutlicheren Unterschiede in der höchsten Zustim-mungskategorie (älteste Altersgruppe: 29,4 %; jüngste: 15,9 %) bestehen im Mittel dennoch relativ klare Differenzen zwischen den Altersgruppen. Anders als bei der Wahrnehmung einer Benachteiligung Jüngerer weisen sie jetzt jedoch in die entge-gengesetzte Richtung: Ältere Befragte, die eine Benachteiligung Jüngerer wahrneh-men, gehen auch eher davon aus, dass es wegen dieser Benachteiligung zu Konflik-ten zwischen den Generationen kommt.168

Hinsichtlich der Wahrnehmung eines Generationenkonflikts im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung kann man somit festhalten,

dass ein Großteil der Befragten eine Benachteiligung Jüngerer in der Renten-versicherung vermutet und dass von denen, die eine Benachteiligung wahrneh-men, die meisten auch einen Generationenkonflikt vermuten. Die jüngeren Altersgruppen unter den Befragten nehmen dabei häufiger eine Benachteiligung Jüngerer in der Rentenversicherung wahr als ältere Befragte. Wenn aber ältere Befragte eine Benachteiligung Jüngerer wahrnehmen, sehen oder befürchten sie auch etwas eher einen Generationenkonflikt. Insgesamt sind die Altersunterschiede aber vor allem bei der direkten Generationenkon-fliktfrage nicht sehr groß und sollten daher auch nicht überbewertet werden.

Von einer mehr oder minder offenen Problematisierung des Generationenver-hältnisses im Kontext der Gesetzlichen Rentenversicherung kann auch dann gespro-chen werden, wenn die normative Basis dieses Verhältnisses, der Generationenver-trag, bei Teilen der Bevölkerung auf Ablehnung stößt. Nun besteht dieser Genera-tionenvertrag weder in engeren, juristischen Sinne noch in einer konkreten Ausfor- 167 In abgeschwächter Form gilt dies auch für den umgekehrten Fall: Oftmals wird ein starker

Konflikt wahrgenommen, aber nur eine geringe Benachteiligung der Jüngeren.168 Entsprechende Alterseffekte konnten auch in (hier nicht ausgewiesenen) Regressionsanalysen be-

stätigt werden.

Page 180: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

180 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

mulierung. Es ist aber sicher nicht abwegig, ihn als aus zwei komplementären Ele-menten bestehend zu definieren: Dies sind zum einen die Verpflichtung der jeweils jüngeren, im Erwerbsleben stehenden Generationen zur Aufbringung der Mittel für die Renten für die nicht mehr erwerbstätigen Generationen und zum anderen »An-sprüche« auf einen Rentenbezug, die sich aus dem Nachkommen eben dieser Ver-pflichtung ableiten. Die Frage der Anerkennung von Leistungsansprüchen aufgrund von Vorleistungen, die in der Form von Beitragszahlungen erbracht wurden, berührt inso-fern den normativen Kern der Gesetzlichen Rentenversicherung unmittelbar. Sie soll im Folgenden näher betrachtet werden.

Abbildung 6.3.2: Anspruchserwerb durch Rentner nach Alterskategorien (Zustimmung in Prozent)

67,1

26,6

69,9

25,3

70,5

26,1

77,4

19,8

79,6

16,3

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

bis 35 Jahre 36 bis 45 Jahre 46 bis 55 Jahre 56 bis 65 Jahre über 65 Jahre

eher zustimmen

voll und ganzzustimmen

93,7 95,2 96,6 97,2 95,9

N=1501

Die Häufigkeitsverteilung nach Altersgruppen (s. Abb. 6.3.2) zeigt hier zum einen eine geradezu überdeutliche Zustimmung. Rentner gelten offenbar in besonderem Maße als legitime Leistungsempfänger. Zum anderen wird deutlich, dass trotz dieser allgemein hohen Zustimmung geringe, aber erkennbare Unterschiede zwischen den Altersgruppen bestehen. So anerkennen unter den jüngsten Befragten »nur« 67,1 Prozent einen Leistungsanspruch der Rentner »voll und ganz«, während es bei den über 65-jährigen sogar 79,6 Prozent sind.

Page 181: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.3 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (II): Generationenkonflikte 181

Dass Altersunterschiede bei der Beurteilung der Anspruchsberechtigung von Rentnern bestehen, bestätigen auch die Regressionsanalysen (Abb. 6.3.3). Das erste Modell einer ordinalen logistischen Regressionen, in dem nur die Altersgruppen auf-genommen wurden (Modell 1), zeigt hier eine signifikant geringere Zustimmung zum Anspruchserwerb bei den jüngeren Altersgruppen im Vergleich zu den über 65jähri-gen (Referenzkategorie).

Bei Einbezug der anderen soziodemografischen Variablen bestehen nur noch für die beiden jüngsten Altersgruppen (schwach) signifikante Effekte (Modell 2). Einen nachweisbaren Einfluss auf die Anerkennung eines Leistungsanspruchs von Rentnern haben zudem die Herkunft aus Ostdeutschland (höhere Anerkennung als Westdeut-sche) und das mittlere Bildungsniveau (geringere Anerkennung). Der Erklärungswert des Gesamtmodells ist insgesamt aber sehr gering (Pseudo R² [Nagelkerke]: 0,029). Er erhöht sich erst, wenn mit der Orientierung am Prinzip der Leistungsgerechtigkeit ein Erklärungsfaktor in das Modell aufgenommen wird, der einen engeren Bezug zur »Logik« des Anspruchserwerbs in der Gesetzlichen Rentenversicherung aufweist (Mo-dell 3). Hier ist der Effekt für die zweitjüngste Altersgruppe allerdings nicht mehr sig-nifikant.

Abbildung 6.3.3: Anspruchserwerb durch Rentner (Ordinale logistische Regressionen) Modell 1 Modell 2 Modell 3

Alter des Befragten (Ref.Kat.: über 65jährige) unter 36 0,530** 0,606* 0,650*36 bis 45 0,586** 0,674* 0,78046 bis 55 0,616* 0,677 0,732 56 bis 65 0,856 0,878 0,901

Bildung (Ref.Kat.: niedrig) mittel 0,687** 0,702*hoch 0,876 0,829

Geschlecht: Frau 0,967 0,988 Oben-Unten-Skala 0,959 0,929 Landesteil: Ostdeutschland 1,561** 1,705**Leistungsgerechtigkeit 1,650***Pseudo R² (Nagelkerke) 0,014 0,029 0,081 Pseudo R² (McFadden) 0,007 0,014 0,040 N 1423* p<0,05; ** p<0,01; ***p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; Odds-Ratios

Auch wenn Altersunterschiede bei der Frage des »Anspruchserwerbs« nachweisbar sind, kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch in den jüngeren Alters-gruppen eine große Mehrheit der Befragten einen »Anspruchserwerb« der Rentner

Page 182: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

182 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

anerkennt. Sofern sie als Indikator für die Akzeptanz des Generationenvertrags gel-ten kann, zeigen die hohe Zustimmung zum »Anspruchserwerb« der aktuellen Ren-tenbezieher und der insgesamt breite Konsens in der Bevölkerung, dass diese nicht gefährdet ist. Wenn es also auch gute Anhaltspunkte dafür gibt, dass generationelle Ungerechtigkeiten in der Rentenversicherung und ein daraus resultierender Genera-tionenkonflikt vermutet werden, so bedeutet dies nicht, dass auch die normative Grundlage des Generationenvertrages in Frage gestellt wird. Man könnte also sagen: Als problematisch gilt nicht das Grundprinzip, sondern die konkreten Verteilungs-wirkungen, die sich aus einer spezifischen und daher kontingenten Ausgestaltung dieses Grundprinzips ergeben.

Trotz Unterschieden zwischen den Altersgruppen haben die bisherigen Analy-sen gezeigt, dass zwar ein hohes Problembewusstsein für eine ungleiche Begünsti-gung von Altersgruppen in der Rentenversicherung und für mögliche Generatio-nenkonflikte besteht, dass dies aber nicht dazu führt, dass die normative Grundlage der Rentenversicherung in Frage gestellt wird. Insofern kann auf der »manifesten« Ebene zwar eine Sensibilisierung für intergenerationelle Verteilungsfragen festge-stellt werden, nicht aber eine Aufkündigung des Generationenvertrages durch die jüngeren Altersgruppen. Davon unbenommen können aber latente Generationen-konflikte oder Interessengegensätze im wohlfahrtsstaatlichen Kontext bestehen. Von einem latenten wohlfahrtsstaatlichen Generationenkonflikt kann man sprechen, wenn signifikante Unterschiede zwischen Altersgruppen oder Generationen bei der allge-meinen Beurteilung besonders altersspezifischer Sicherungsleistungen bestehen bzw. wenn entsprechende Differenzen bei den Interessenlagen und Präferenzen erkenn-bar sind, die zur Grundlage für einen manifesten Generationenkonflikt werden kön-nen. Keine wohlfahrtsstaatlichen Generationenkonflikte wären demnach Konflikte um altersrelevante Regelungen, die zwischen anderen sozialen Kategorien und Grup-pierungen (etwa zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern) bestehen, sowie al-tersgruppenspezifische Differenzen bei der Beurteilung wohlfahrtsstaatlicher Berei-che, die nur eine geringe Altersspezifität aufweisen (s. Abbildung 6.3.4).

Abbildung 6.3.4: Mögliche Konfliktlagen im Kontext wohlfahrtsstaatlicher Sicherung

geringe Altersspezifität des Sicherungssystems

hohe Altersspezifität desSicherungssystems

Gegensätze zwischen Altersgruppen

andere soziale Konfliktlage mit altersgruppenspezifischer

Ausprägung

wohlfahrtsstaatlicherGenerationenkonflikt

Gegensätze zwischen anderen gesellschaftli-chen Gruppen

andere soziale Konfliktlage andere soziale Konfliktlage

(auch) über intergenerationelle Fragen

Page 183: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.3 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (II): Generationenkonflikte 183

Latente wohlfahrtsstaatliche Generationenkonflikte können also sowohl auf der Ebene der objektiven Interessenlagen als auch bei den subjektiven Präferenzen und Einstellungen deutlich werden. Im Folgenden soll daher in einem ersten Schritt un-tersucht werden, ob Alters- bzw. Generationsunterschiede bei der allgemeinen Be-wertung der Gesetzlichen Rentenversicherung und der Beurteilung der Rentenhöhe festzustellen sind. Im Anschluss daran wird der Frage möglicher »objektiver« Inter-essendivergenzen am Beispiel der subjektiven Einschätzung der eigenen Alterssiche-rung nachgegangen.

Wie einleitend erläutert können sich latente Generationenkonflikte sowohl aus der sozialpolitischen Interessenlage als auch der intergenerationellen Verteilungspo-sition ergeben. Sie sollten sich daher bereits bei der allgemeinen Beurteilung der Gesetzlichen Rentenversicherung (Institutionenakzeptanz) nachweisen lassen.

Abbildung 6.3.5: Institutionenakzeptanz der Gesetzlichen Rentenversicherung nach Altersgruppen (positive Werte in Prozent)

5,1

26,4

5,1

28,7

5,4

29,5

6,2

34,6

8,9

37,7

0

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

bis 35 Jahre 36 bis 45 Jahre 46 bis 55 Jahre 56 bis 65 Jahre über 66 Jahre

gut

sehr gut

31,5

33,8 34,9

40,8

46,6

N=1474

Die Verteilung der Häufigkeiten nach Altersgruppen bestätigt zunächst das aus Ka-pitel 5 bekannte Bild einer geringen Institutionenakzeptanz der Gesetzlichen Ren-tenversicherung (Abb. 6.3.5). Darüber hinaus sind hier die bisher größten Unter-schiede zwischen den Altersgruppen zu erkennen. So meint unter den bis 35jähri-gen nur knapp ein Drittel (31,5 %), dass die Gesetzliche Rentenversicherung für die Gesellschaft gut sei, und nur jeder Zwanzigste, dass sie »sehr gut« sei (5,1 %). Dage-

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184 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

gen geben sich bei den über 65jährigen 46,6 Prozent, also fast die Hälfte, vom Wert der Gesetzlichen Rentenversicherung überzeugt, wenn auch nur ganze 8,9 Prozent sie für »sehr gut« halten.169 Die Altersunterschiede entsprechen damit den formu-lierten Erwartungen.

Wie die Regressionsanalysen zeigen (Abb. 6.3.6), ist dieser Alterseffekt relativ stabil, allerdings nur für die beiden ältesten Altersgruppen (im Vergleich zur Jüng-sten): Zumindest Befragte im Rentenalter und relativ kurz davor beurteilen die Ge-setzliche Rentenversicherung also positiver als die jüngste Altersgruppe (Modell A1). Die einzige weitere soziodemografische Variable mit einem nachweisbaren Einfluss ist die Selbstverortung auf der Oben-Unten-Skala: Je höher diese ausfällt, desto höher ist auch die Institutionenakzeptanz der Gesetzlichen Rentenversicherung.

Abbildung 6.3.6: Gesetzliche Rentenversicherung: Institutionenakzeptanz und »Leistungsbewertung« (OLS-Regressionen) Institutionenakzeptanz

Modell A1 Modell A2 Modell A3

Leistungs-bewertung (Modell B)

Alter des Befragten (Ref.Kat.: unter 36jährige) 36 bis 45 0,053 0,055 0,100* 0,002 46 bis 55 0,061 0,054 0,111* -0,00656 bis 65 0,120*** 0,108** 0,138** 0,005über 65 0,184*** 0,170*** 0,169*** -0,052

Bildung (Ref.Kat.: niedrig) mittel 0,021 0,032 0,070 -0,043 hoch 0,030 0,038 0,037 -0,127***

Geschlecht: Frau -0,039 -0,045 -0,051 0,004 Oben-Unten-Skala 0,082** 0,076* 0,088* -0,018Landesteil: Ostdeutschland 0,054 0,046 0,038 0,002

Wahrnehmung Benachteiligung Jüngerer -0,144***Wahrnehmung eines Generationenkonflikts -0,076*

R²(korrigiertes R²)

0,038(0,031)

0,058(0,050)

0,042(0,029)

0,017(0,011)

N 1209 744 1381

* p<0,05; ** p<0,01; *** p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; standardisierte Regressionskoeffizienten

Der Einbezug der Wahrnehmung einer Benachteiligung Jüngerer in der Renten-versicherung bewirkt keine Veränderung bei den Alterseffekten (Modell A2). Die Wahrnehmung einer Benachteiligung Jüngerer hat dabei selbst einen signifikanten 169 Als »gut« und »sehr gut« für die Gesellschaft werden hier die Werte ab (einschließlich) 6 bzw. ab 9

auf der 11er-Skala bezeichnet.

Page 185: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.3 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (II): Generationenkonflikte 185

negativen Effekt. Das Erklärungsmodell verbessert sich dadurch deutlich, wenn auch auf einem eher niedrigen Niveau (R²=0,058).

Das dritte Modell (A3) bezieht sich nur auf die Befragten, die der Meinung sind, dass Jüngere in der Rentenversicherung benachteiligt sind. Im Unterschied zu den beiden anderen Modellen sind hier jetzt durchgehend signifikante Alterseffekte zu erkennen. Die Wahrnehmung eines Generationenkonflikts ist ebenfalls signifi-kant und führt wie die Wahrnehmung einer Benachteiligung Jüngerer zu einer gerin-geren Institutionenakzeptanz.

Noch deutlicher als bei der allgemeinen Bewertung der Gesetzlichen Renten-versicherung sollten latente Interessenkonflikte zwischen einzelnen Altersgruppen bei der Beurteilung der Rentenhöhe hervortreten. Wie jedoch die Regressionsanalyse für die Präferenzen für höhere oder niedrigere Renten zeigt (Abb. 6.3.6; Modell B), hat das Alter bei Kontrolle anderer soziodemografischer Faktoren (wie diese überwie-gend selbst) keinen signifikanten Effekt. Für die Präferenzbildung bezüglich der Rentenhöhe sind andere Faktoren und Konfliktlinien (z.B. Unterschiede bei den Wertorientierungen und bei der Wahrnehmung der Rentner) offenbar wichtiger (vgl. u.a. Kapitel 6.4 und 6.5).

Ausgerechnet beim wohl wichtigsten Indikator für einen zumindest latenten Generationenkonflikt im Sinne eine »Verteilungskampfes« sind also keine Gegensät-ze zwischen Altersgruppen festzustellen. Da die hier fehlenden Alterseffekte für die Möglichkeit eines Generationenkonflikts als wichtiger einzuschätzen sind als die oft deutlichen Unterschiede zwischen Altersgruppen bei der Institutionenakzeptanz, gibt es auf der Ebene der Akzeptanzurteile eher wenig Anzeichen für eine Genera-tionenkonflikt in der Rentenversicherung.

Womöglich bestehen bei der Alterssicherung aber zumindest »objektive« (la-tente) Interessengegensätze zwischen den unterschiedlichen Altersgruppen. Zur Un-tersuchung der Frage nach entsprechenden intergenerationellen Interessendivergen-zen wird die subjektive Beurteilung der eigenen Alterssicherung170 herangezogen.

Die Regressionsanalysen zeigen hier noch deutlichere Altersunterschiede als bei der Institutionenakzeptanz der Rentenversicherung (Abb. 6.3.7). In allen Alters-gruppen wird die eigene Absicherung im Alter ungünstiger eingeschätzt als in der äl-testen Altersgruppe (Referenzkategorie). Zudem sinkt die Chance, dass die eigene Alterssicherung positiv beurteilt wird, kontinuierlich von den älteren zu den jünge-ren Altersgruppen. Diese Unterschiede bleiben auch dann bestehen, wenn für den Umfang der zusätzlichen Altersvorsorge171 kontrolliert wird, die selbst wiederum stark durch das Alter der Befragten beeinflusst wird (Modell 2). Die private Alters-vorsorge hat dabei ebenso wie die Selbstverortung auf der Oben-Unten-Skala einen deutlichen und erwarteten Einfluss auf die Einschätzung der eigenen Alterssiche-

170 Für den genauen Wortlaut der Itemformulierung s. Anhang A2.3. 171 Zur Bildung der Variable »private Altersvorsorge« s. Anhang A2.3.

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186 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

rung. Eine stärkere zusätzliche Vorsorge und eine hohe Selbstverortung führen bei-de zu einer optimistischeren Einschätzung der eigenen Alterssicherung.172

Abbildung 6.3.7: Einschätzung der eigenen Absicherung im Alter (Ordinale logistische Regressionen)

Modell 1 Modell 2 Alter des Befragten (Ref.Kat.: über 65jährige)

unter 36 0,235*** 0,263***36 bis 45 0,333*** 0,286***46 bis 55 0,491*** 0,415***56 bis 65 0,677** 0,626**

Bildung (Ref.Kat.: niedrig) mittel 0,822 hoch 0,964

Geschlecht: Frau 0,854 Oben-Unten-Skala 1,311***Landesteil: Ostdeutschland 0,783*private Altersvorsorge 1,209***Pseudo R² (Nagelkerke) 0,081 0,172 Pseudo R² (McFadden) 0,024 0,053 N 1417 * p<0,05; ** p<0,01; *** p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; Odds-Ratios

Zur Interessengrundlage eines Generationenkonfliktes in der Alterssicherung kann damit festgehalten werden, dass einerseits zwar deutliche Altersunterschiede bei der Beurteilung der eigenen Absicherung zu erkennen sind, dass diese sich aber, wie zuvor gesehen, nicht in Interessengegensätzen bei der gewünschten Rentenhöhe niederschlagen. Die alles in allem eher »moderaten« Wünsche nach Leistungserhö-hungen bei den älteren Altersgruppen können dabei als eine gewisse Zufriedenheit mit dem Leistungsniveau interpretiert werden – oder auch als Einsicht in »sozialpo-litische Realitäten«.

6.3.3 Generationsunterschiede bei der Beurteilung von Familienleistungen

Wie einleitend bereits begründet wurde, müssen sich Altersgruppen- und Genera-tionenkonflikte nicht auf Sicherungsbereiche beschränken, die ältere Menschen stär-ker begünstigen als jüngere. Da viele sozialpolitische Leistungen auch in dem Sinne 172 Die Effekte für die Altersgruppen erweisen sich im Übrigen auch dann als stabil, wenn statt der Oben-

Unten-Skala das Haushaltseinkommen in das Modell aufgenommen wird (hier nicht ausgewiesen).

Page 187: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.3 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (II): Generationenkonflikte 187

altersspezifisch sind, dass sie überwiegend den Jüngeren zugute kommen, besteht durchaus auch die Möglichkeit eines »umgekehrten« Generationenkonflikts. Zu den Leistungen, von denen eher die jüngeren Altersgruppen profitieren, gehören vor al-lem Leistungen für Familien bzw. Kinder. An diesem Beispiel soll daher untersucht werden, ob es Anzeichen für einen »umgekehrten« Generationenkonflikt gibt.

Bei der allgemeinen Beurteilung des »gesellschaftlichen Wertes« von Familienleistungen (In-stitutionenakzeptanz) zeigt sich zunächst eine eher hohe Akzeptanz der wohlfahrts-staatlichen Leistungen für Familien (vgl. a. Kapitel 5). Dies impliziert auch einen re-lativen Konsens zwischen den Altersgruppen. So sind z.B. 53,8 Prozent der über 65jährigen und 51,8 Prozent der bis 30jährigen der Ansicht, dass die Leistungen für Familien für die Gesellschaft »gut« sind. Auch die Mittelwertdifferenzen zwischen den Altersgruppen sind überaus gering, so dass bei der allgemeinen Beurteilung von Familienleistungen keine signifikanten Unterschiede beim Alter festzustellen sind.

Abbildung 6.3.8: Staatliche Unterstützung für Familien und für die Kinder-betreuung (Ordinale logistische Regressionen)

(mehr Geld für) Familien Kinderbetreuung Modell A1 Modell A2 Modell B1 Modell B2

Alter des Befragten (Ref.Kat.: unter 36) 36 bis 45 1,049 0,948 0,822 0,800 46 bis 55 0,935 0,933 0,809 0,805 56 bis 65 0,603** 0,704* 0,688* 0,720über 65 0,653** 0,786 0,728 0,766

Bildung (Ref.Kat.: niedrig)mittel 0,633*** 0,617*** 0,797 0,790*hoch 0,775 0,755 0,993 0,985

Geschlecht: Frau 1,119 1,092 1,316** 1,306*Oben-Unten-Skala 0,911** 0,910** 0,945 0,945Landesteil: Ostdeutschland 1,514** 1,547** 1,812*** 1,828***Kinder 1,575*** 1,139Pseudo R² (Nagelkerke) 0,042 0,052 0,033 0,034 Pseudo R² (McFadden) 0,014 0,017 0,012 0,012 N 1413 1415 * p<0,05; ** p<0,01; *** p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; Odds-Ratios

Ein anderer Befund ergibt sich bei den Fragen, ob der Staat generell mehr Leistungen für Familien bereitstellen soll und ob er mehr für die Kinderbetreuung tun soll (s. Abb. 6.3.8).173 So erwies sich die Zustimmung zu mehr Leistungen für Familien und für die Kinderbetreuung bei allen Altersgruppen als sehr hoch. Im Unterschied zur all-

173 Zu den Itemformulierungen vgl. Anhang A2.1.

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188 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

gemeinen Beurteilung von Familienleistungen lassen sich für diese beiden Indikato-ren jedoch teilweise deutliche Unterschiede zwischen den Altersgruppen feststellen. So sprechen sich auch die über 65jährigen (83,9 %) für höhere Familienleistungen aus, aber nicht ganz in dem Maße, wie dies die jüngeren Altersgruppen tun (bis 35-jährige: 89,4 %). Ähnlich sind die Unterschiede bei der Kinderbetreuung, bei der sich »nur« 86,9 Prozent der über 65jährigen und 94,1 Prozent der bis 35jährigen für höhere Ausgaben aussprechen.

Die Regressionsanalysen (Abb. 6.3.8) zeigen jedoch für beide Variablen, dass diese eher geringen Altersunterschiede zumindest zum Teil signifikant sind. Vor allem die 56-65jährigen sprechen sich demnach seltener für höhere Leistungen für Familien und für die Kinderbetreuung aus als die jüngste Altersgruppe (Modelle A1 und B1). Mit einer Ausnahme werden diese Alterseffekte jedoch insignifikant, wenn zusätzlich noch für die Variable »Kinder«174 kontrolliert wird. Bei den »Leistungen für Familien« hat die Frage, ob Kinder im Haushalt leben, dabei selbst einen deutli-chen Effekt. Weitere Einflüsse gehen hier von der Selbstverortung auf der Oben-Unten-Skala, vom Landesteil (höhere Zustimmung bei Ostdeutschen) und vom mittleren Bildungsniveau (geringere Zustimmung) aus.

Bei den Präferenzen bezüglich staatlicher Leistungen für Kinderbetreuung fällt auf, dass neben den Ostdeutschen vor allem Frauen in diesem Bereich höhere Aus-gaben befürworten. Das Alter ist dagegen bei Einbezug der weiteren soziodemogra-fischen Variablen ebenso wenig signifikant wie die Frage, ob im Haushalt des Be-fragten Kinder leben. Insgesamt gibt es damit für einen »umgekehrten« Generationen-konflikt einige, wenn auch nur schwache Anhaltspunkte.

6.3.4 Fazit

Die Analysen unterschiedlicher Variablen, die Hinweise auf manifeste oder latente Generationenkonflikte im Kontext der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung geben kön-nen, lassen keine einfachen Schlussfolgerungen zu. Einerseits konnte gezeigt wer-den, dass von einem erheblichen Teil der Befragten eine Benachteiligung Jüngerer in der Rentenversicherung wahrgenommen und ein daraus resultierender Genera-tionenkonflikt für möglich gehalten wird. Zudem bestehen bei den Akzeptanzurtei-len und Interessenlagen häufig Unterschiede zwischen den Altersgruppen, die oft auch recht deutlich ausfallen. Dies trifft insbesondere für die allgemeine Beurteilung der Gesetzlichen Rentenversicherung und für die Einschätzung der eigenen Absi-cherung zu. In anderen Fällen sind die Unterschiede zwischen den Altersgruppen dagegen gering oder überhaupt nicht signifikant.

174 Diese dummy-Variable misst, ob ein Kind im Haushalt des Befragten lebt (vgl. Anhang A2.3).

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6.3 Neue Konfliktlinien im Wohlfahrtsstaat (II): Generationenkonflikte 189

Die meisten der zu Beginn dieses Kapitels formulierten Annahmen können da-bei als bestätigt gelten. So hat sich erwiesen, dass die erwarteten Altersunterschiede bei der Frage, ob Jüngere in der Gesetzlichen Rentenversicherung benachteiligt sind, bestehen (H1.1). Nicht erwartet wurden dagegen die Altersunterschiede bei der Wahr-nehmung eines Generationenkonflikts (H1.2), der von Älteren etwas häufiger wahr-genommen oder befürchtet wird. Die Unterschiede zwischen den Altersgruppen sind hier allerdings nur gering und verlaufen nicht immer linear.

Auch bei der Frage eines Anspruchserwerbs von Rentnern durch die geleiste-ten Beiträge (H2) und bei der Institutionenakzeptanz der Gesetzlichen Rentenversi-cherung (H3.1) konnten die erwarteten Alterseffekte nachgewiesen werden. Glei-ches kann nicht für die Präferenzen bezüglich der Rentenhöhe (H3.2) und nur zum Teil für Leistungen für Familien (H5) behauptet werden. Deutliche Altersunter-schiede bestehen dagegen, wie auch vermutet, bei der subjektiven Einschätzung der eigenen Absicherung (H4).

Insgesamt kann also kein Zweifel daran bestehen, dass Personen unterschiedli-chen Alters altersspezifische Programme und ihre Wirkungen unterschiedlich wahr-nehmen und auch unterschiedlich beurteilen. Die entscheidende Frage ist jedoch: Rechtfertigen diese Unterschiede zwischen Altersgruppen bei den Akzeptanzurteilen über die Rentenversicherung, bei der Einschätzung der eigenen Absicherung und bei der Beurteilung von Leistungen für Familien die Annahme eines Generationen-konflikts (und sei es auch nur eines latenten)? Wohl eher nicht. Vielmehr legen die hier dargelegten Forschungsergebnisse zwar ein gesteigertes Problembewusstsein für intergenerationelle Verteilungseffekte und womöglich auch für eine entspre-chende Sensibilisierung für Fragen der Generationengerechtigkeit nahe, lassen aber kaum Anzeichen für einen Generationenkonflikt im Kontext der wohlfahrtsstaatli-chen Absicherung erkennen – und schon gar nicht für dessen unmittelbar bevorste-hende »Manifestierung«.

Für diese Interpretation spricht zunächst vor allem zweierlei: zum einen, dass bei der wichtigsten verteilungspolitischen Frage, der nach der Rentenhöhe, gerade keine signifikanten Altersunterschiede auftreten; und zum anderen, dass trotz signi-fikanter Altersunterschiede die Anerkennung erworbener Leistungsansprüche von Rentnern auch bei den jüngeren Befragten überaus hoch ist, sodass von einer soli-den Verankerung der Generationenvertragslogik im »normativen Haushalt« der jün-geren Generationen auszugehen ist.

Schließlich sind die Unterschiede zwischen den Altersgruppen auf der Ebene der Akzeptanzurteile und Präferenzen zwar oft signifikant, aber meist vergleichswei-se gering. Insgesamt sollte man bei altersspezifischen Leistungen, die so deutlich auf bestimmte Lebensphasen ausgerichtet sind und entsprechende Interessen struktu-rieren, weit größere Unterschiede zwischen den Altersgruppen erwarten können. Zumindest sind die eher mäßige Akzeptanz der Gesetzlichen Rentenversicherung in allen Bevölkerungsteilen und die breite Zustimmung zum Anspruchserwerb von

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190 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

Rentnern augenfälliger als Unterschiede, die dabei zwischen Altersgruppen auftre-ten. So kommt es auch in keinem Fall zu gegensätzlichen Einschätzungen. Dies wird insbesondere bei den Fragen nach gewünschten Leistungsänderungen deutlich: Weder wollen die jüngeren Altersgruppen mehrheitlich die Renten kürzen, noch befürworten die älteren mehrheitlich eine Kürzung von Familienleistungen.

Auch die recht deutlichen Unterschiede zwischen den Altersgruppen bei der Einschätzung der eigenen Alterssicherung können die Annahme eines zumindest »latent angelegten« Generationenkonflikts nicht wirklich stützen. Denn auch wenn man davon ausgeht, dass diese Selbsteinschätzungen realistisch sind und Ältere tat-sächlich über eine bessere Alterssicherung verfügen, so ist die nahe liegende Inter-pretation dieses Unterschieds, dass es sich hierbei nicht um einen Generationen-, sondern nur um einen reinen Alters- bzw. Lebenslaufseffekt handelt: d.h., die jetzt Jüngeren werden später ebenfalls über eine umfassendere Alterssicherung verfügen, weil sie mit zunehmenden Alter auch mehr Altersvorsorge betreiben werden.

Insgesamt führt dies zu dem scheinbar paradoxen Ergebnis, dass es im Kon-text der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung mehr Anhaltspunkte für die Wahrnehmung eines Generationenkonflikts als für diesen selbst gibt. Dies allerdings mit einer we-sentlichen Einschränkung – nämlich der, dass es bisher keine theoretisch-konzep-tionell befriedigende Definition des Generationenkonflikts gibt (vgl. Fußnote 156).

6.4 Eine Frage der Moral? Zum normativen Fundament der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz

6.4.1 Wohlfahrtsstaatliche Prinzipien und normative Orientierungen

In diesem Kapitel wird der Einfluss untersucht, den Gerechtigkeitsüberzeugungen und andere normative Orientierungen auf die Beurteilung sozialer Sicherungssysteme haben. Wie in Kapitel 2.2.3 dargelegt wurde, werden die wohlfahrtsstaatliche Ent-wicklung sowie Unterschiede zwischen Wohlfahrtsstaaten häufig auch auf kulturelle Faktoren wie Ideologien, Werthaltungen und Deutungsmuster zurückgeführt. Für die Frage der gesellschaftlichen Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen haben sich dabei vor allem »moralökonomische« Analysen als fruchtbar erwiesen.

Ein breiter Konsens kann hierbei darüber unterstellt werden, dass normative Orientierungen einen Einfluss auf die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen haben (können). Wenig Übereinstimmung besteht dagegen darüber, welche normativen Orientierungen hierbei ausschlaggebend sind und wie diese sich auf die Akzeptanz-urteile auswirken (förderlich oder abträglich).175 Diese Uneinmütigkeit bei der Frage, 175 Zu den wohl häufigsten Missverständnissen insbesondere im Grenzbereich von sozialwissenschaftli-

cher Analyse und Politikberatung gehört dabei die irrige Vorstellung, Werte und moralische Grund-haltungen müssten sich immer akzeptanzsteigernd auswirken. Natürlich ist auch das Gegenteil mög-

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6.4 Eine Frage der Moral? Zum normativen Fundament der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz 191

von welchen normativen Orientierungen welche Wirkungen auf die Akzeptanzur-teile erwartet werden können, ist darauf zurückzuführen, dass es im Fall normativer Orientierungen noch weit schwieriger als bei Interessenparametern ist, einen ein-deutigen, möglichst linearen Kausalzusammenhang zu begründen.

Dieses Phänomen, das Feldman und Zaller (1992) mit Bezug auf die USA als »political culture of ambivalence« beschrieben haben, ist zum einen darauf zurück-zuführen, dass soziale Sicherungssysteme (und erst recht der Wohlfahrtsstaat als Ganzes) strukturell überaus komplexe und daher auch normativ »inkonsistente« Ge-bilde sind. Zum anderen ist davon auszugehen, dass Menschen (und erst recht Be-völkerungen) gleichzeitig an unterschiedlichen und scheinbar »konkurrierenden« Prinzipien und Werten orientiert sind. Dies kann dazu führen, dass sich die Einflüs-se der einzelnen Wertorientierungen gegenseitig relativieren oder gar aufheben.176

In dieser Vielzahl sich überschneidender und in ihren Wirkungen möglicher-weise kompensierender Kausalbeziehungen zwischen normativen Orientierungen und der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen liegt die wesentliche Ursache für die Gefahr einer gewissen »Beliebigkeit« bei der theoretischen Herleitung und empirischen Operationalisierung kultureller Erklärungsfaktoren, auf die bereits in Kapitel 2.2.3 hingewiesen wurde. Ihr ist nur durch eine möglichst präzise und »kon-textnahe« Begründung der einzelnen Hypothesen zu begegnen.

Im Folgenden wird für zwei Arten von Wertorientierungen untersucht, welche Bedeutung sie für die Erklärung von Akzeptanzurteilen über wohlfahrtsstaatliche Institutionen haben: Zum einen sind dies Gerechtigkeitsüberzeugungen, die sich auf die unterschiedlichen Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit (Leistung, Bedarf/Be-dürftigkeit und Gleichheit) beziehen, zum anderen allgemeine Handlungs- und So-zialorientierungen (Solidarität, Eigenverantwortung und Reziprozitätsverpflichtung). Die erwarteten Kausaleinflüsse sind dabei unterschiedlich und werden für jede Wert- und Handlungsorientierung einzeln begründet.

»Gerechtigkeit« und SozialpolitikDie wohlfahrtsstaatliche Sicherung berührt an vielen Punkten Fragen der Gerechtig-keit. Denn nicht nur der Wohlfahrtsstaat insgesamt, sondern auch die einzelnen so-zialpolitischen Bereiche und Regelungen weisen aufgrund ihrer Verteilungswirkun-gen zahlreiche Gerechtigkeitsbezüge auf. Einerseits liegen ihnen häufig bestimmte Normen der Verteilungsgerechtigkeit zugrunde; andererseits verletzen sie häufig (und oft notwendig) einzelne Gerechtigkeitsintuitionen, insbesondere solche der Leis-

lich, etwa bei einer stark individualistischen und Aspekte der Eigenverantwortung betonenden Orien-tierung.

176 Die Akzeptanz stark redistributiver Sicherungssysteme kann z.B. trotz einer ausgeprägten Solidari-tätsorientierung eher mäßig sein, wenn zugleich die Prinzipien der Leistungsorientierung und Eigenverantwortung befürwortet werden.

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192 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

tungsgerechtigkeit. Dass der Wohlfahrtsstaat zu mehr sozialer Gerechtigkeit führe oder zumindest führen solle, ist zudem eine verbreitete Vorstellung, auch wenn dabei meist offen bleibt, welche Art von Gerechtigkeit angestrebt wird oder ange-strebt werden sollte. Vor allem aufgrund ihrer Umverteilungswirkungen ist anzu-nehmen, dass Gerechtigkeitsüberzeugungen die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Si-cherungsformen in der Bevölkerung (mit)bestimmen. Sie wird, ceteris paribus, in dem Maße steigen, wie die sozialen Sicherungssysteme für gerecht gehalten werden.

Soziale Sicherungssysteme inkorporieren unterschiedliche – und sich scheinbar ausschließende – Gerechtigkeitsprinzipien (oder freundlicher formuliert: stellen einen Kompromiss zwischen konkurrierenden Gerechtigkeitsprinzipien dar). Sie »bedie-nen« und »verletzten« daher meist zugleich mehrere Gerechtigkeitsprinzipien. So kann man, ohne dass dies hier im Detail ausgeführt werden kann, für alle untersuch-ten Sicherungssysteme zwischen primären (dominanten) und sekundären Gerechtig-keitsprinzipien unterscheiden (s. Abbildung 6.4.1). Dies kann dazu führen, dass stark ausgeprägte Gerechtigkeitsüberzeugungen auch bei einer Übereinstimmung mit dem dominanten Gerechtigkeitsprinzip zu einer Ablehnung führen, weil die relevanten Ge-rechtigkeitskriterien als nicht ausreichend erfüllt erscheinen.177

Dass Gerechtigkeitsüberzeugungen einen Einfluss auf die Beurteilung sozialer Sicherungssysteme haben können, scheint unmittelbar einleuchtend, ist aber erst vergleichsweise wenig untersucht worden. Immerhin konnte in mehreren Studien ein positiver Einfluss egalitaristischer Orientierungen auf die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme aufgezeigt werden (vgl. u.a. Blekesaune/Quadango 2003; Dallin-ger/Liebig 2004), wenn auch häufig nur für Einstellungen zu Umverteilungen (vgl. Kluegel/Miyano 1995; Lewin-Epstein et al. 2003), bei denen ein Bezug zu Gerech-tigkeitsvorstellungen besonders naheliegend scheint. Gangl (1997) konnte zudem positive Effekte einer Orientierung am Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit und negati-ve für eine Orientierung am Prinzip der Leistungsgerechtigkeit nachweisen. Auch in vergleichender Perspektive wurde immer wieder auf die Bedeutung grundlegender Gerechtigkeitsorientierungen im Sinne dominanter nationaler Ideologien hingewie-sen (Arts/Gelissen 2001; Mau 1997; Svallfors 1997).

177 So entspricht etwa die Arbeitslosenversicherung dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit eher als

anderen Gerechtigkeitsprinzipien und vor allem stärker als z.B. die Sozialhilfe oder die Gesetzliche Krankenversicherung; zugleich enthält die Arbeitslosenversicherung aber auch Elemente anderer Gerechtigkeitsprinzipien (z.B. die Berücksichtigung von Bedürftigkeitskriterien), in denen eine Verletzung des Prinzips der Leistungsgerechtigkeit gesehen werden kann. Daher kann sich also eine Orientierung des Befragten am Prinzip der Leistungsgerechtigkeit sowohl förderlich als auch abträglich auf seine Akzeptanz der Arbeitslosenversicherung auswirken.

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6.4 Eine Frage der Moral? Zum normativen Fundament der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz 193

Abbildung 6.4.1: Wohlfahrtsstaatliche Bereiche und inkorporierte Gerechtigkeits-prinzipien

Dominantes Gerechtigkeitsprinzip

SekundäreGerechtigkeitsprinzipien

GesetzlicheKrankenversicherung Bedarf Leistung, Gleichheit

GesetzlicheRentenversicherung Leistung Bedarf, Gleichheit

Arbeitslosen-versicherung Leistung Bedarf

Sozialhilfe Bedarf Gleichheit ?

Leistungen fürFamilien Gleichheit Bedarf

Zur Messung von Gerechtigkeitsüberzeugungen wurden drei Items verwendet, um die drei zentralen Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit – Gleichheit, Bedarf/Bedürf-tigkeit und Leistung (vgl. a. Deutsch 1975; Miller 1976) – zu erfassen. Bei der For-mulierung der Items wurde darauf geachtet, dass mit diesen grundlegende Gerech-tigkeitsorientierungen und nicht konkrete Einstellungen erfasst werden (vgl. a. An-hang A2.2):

1. Bedarfsgerechtigkeit: »Es wäre gerecht, wenn alle Menschen das bekommen, was sie zum Leben brauchen, auch wenn Leute mit höherem Einkommen dafür et-was abgeben müssen«;

2. Leistungsgerechtigkeit: »Es ist gerecht, wenn Menschen, die viel leisten, mehr ver-dienen als andere«;

3. Gleichheit (Egalitarismus): »Es wäre gerecht, Einkommen und Vermögen so zu verteilen, dass alle den gleichen Anteil erhalten«.178

Grundlegende Handlungs- und Sozialorientierungen

Überwiegend geteilt wird auch die Ansicht, dass neben Gerechtigkeitsüberzeugun-gen weitere normative Orientierungen einen Einfluss auf die Beurteilung der sozia-len Sicherung haben können. Darüber welche Eigenschaften und Wertorientierun-gen hier relevant sind, herrscht dagegen keine Übereinstimmung, geschweige denn so etwas wie konzeptionelle Klarheit.

178 Alle drei Aussagen wurden auf einer endpunktbeschrifteten 6er-Skala von »Stimme überhaupt

nicht zu« bis »Stimme voll und ganz zu« beurteilt.

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194 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

So wurden die verschiedensten Konzeptionalisierungen normativer Grundorien-tierungen zur Erklärung von Akzeptanzurteilen über wohlfahrtsstaatliche Program-me herangezogen. Hierzu gehören individualistische vs. kollektivistische (z.B. Cough-lin 1978), materialistische vs. postmaterialistische (z.B. Roller 1992) sowie solidari-sche vs. egoistische Orientierungen (z.B. van Oorschot 2000b). Darüber hinaus wur-den auch religiöse und politische Orientierungen, der Arbeitsethos (z.B. Williamson 1974), humanitaristische Werte (Feldman/Steenberg 2001) und rassistische Vorur-teile (z.B. Gilens 1995) – wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg – zur Erklärung von Akzeptanzurteilen herangezogen.179

Für drei solcher Handlungs- und Sozialorientierungen soll im Folgenden un-tersucht werden, welchen Beitrag sie zur Erklärung von Akzeptanzurteilen leisten können. Zwei von ihnen ist gemeinsam, dass sie eine prominente Rolle in der öf-fentlichen wie wissenschaftlichen Diskussion um das moralische Fundament des Wohlfahrtsstaates spielen. Gemeint sind die Betonung der Eigenverantwortung und die Solidaritätsorientierung. Grundsätzlich ist bei einer starken Befürwortung eigenverant-wortlichen Handelns eher von einer wohlfahrtsstaatskritischen (bzw. allgemein anti-etatistischen), bei einer hohen Solidaritätsorientierung dagegen eher von einer wohl-fahrtsstaatsfreundlichen Haltung auszugehen – dies allerdings bei wesentlichen Dif-ferenzierungen (s.u.).

Als dritte Sozialorientierung wird in den folgenden Analysen eine Handlungs-orientierung berücksichtigt, die hier als Reziprozitätsverpflichtung bezeichnet wird. Mit ihr soll erfasst werden, wie sehr sich jemand verpflichtet fühlt, aufgrund selbst erhaltener Hilfe eine eigene Hilfsbereitschaft zu zeigen. Allgemein wird vermutet, dass die »normative Kraft der Reziprozität« sich vor allem auf die Akzeptanz von Sozialver-sicherungen förderlich auswirkt, weil diese stärker als z.B. die Sozialhilfe an (allerdings generalisierte) Reziprozitätsvorstellungen anknüpft (vgl. hierzu auch Ullrich 1999).

Zur Messung der drei Sozialorientierungen wurde ebenfalls jeweils ein Item verwendet. Die Formulierungen wurden wiederum so gewählt, dass grundlegende Handlungs- und Sozialorientierungen und keine spezifischen Einstellungen erfasst werden. Wie die Gerechtigkeitsüberzeugungen weisen sie auch keinen direkten Bezug zu Aspekten der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung auf (vgl. a. Anhang A2.2):

1. Eigenverantwortung: »Letztendlich ist jeder selbst für sein eigenes Wohlergehen ver-antwortlich«;

2. Solidarität: »Der Stärkere sollte dem Schwächeren helfen«;

179 Aufgrund dieser theoretisch wie konzeptionell unübersichtlichen Lage schien es nicht angeraten, un-

mittelbar an bestehende Operationalisierungen normativer Orientierungen anzuknüpfen. Bei der Operationalisierung der grundlegenden Sozialorientierungen im Rahmen des Projekts »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« sind dennoch Erfahrungen mit älteren Umsetzungsversuchen eingeflossen.

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6.4 Eine Frage der Moral? Zum normativen Fundament der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz 195

3. Reziprozitätsverpflichtung: »Wer Hilfe von anderen erhalten hat, sollte sich verpflich-tet fühlen, selbst Hilfe zu leisten«.180

Welche Bedeutung Wertorientierungen für die Akzeptanz sozialer Sicherungssyste-me haben, wird in erster Linie am Beispiel der Gesetzlichen Rentenversicherung und der Sozialhilfe untersucht. Das Ziel der folgenden Analysen geht dabei über den einfa-chen Nachweis eines Einflusses normativer Orientierungen hinaus. Vielmehr soll auch geklärt werden, ob die Effekte normativer Orientierungen sich nach der insti-tutionellen Struktur der Sicherungssysteme unterscheiden.

Eine Gegenüberstellung von Gesetzlicher Rentenversicherung und Sozialhilfe bietet hier den Vorteil, dass diese beiden Sicherungssysteme in mehrfacher Hinsicht Gegenpole darstellen (vgl. Abb. 4.2 und 6.4.1). So ist die Sozialhilfe vorwiegend am Kriterium der Bedarfsgerechtigkeit orientiert, ein Minderheitsprogramm und das Si-cherungssystem mit den geringsten Präferenzen für höhere Leistungen (vgl. Abb. 5.4e). Die Gesetzliche Rentenversicherung ist demgegenüber eher am Prinzip der Leistungsgerechtigkeit orientiert und ein Mehrheitsprogramm. Bei der Rente ist der Wunsch nach höheren Leistungen am deutlichsten; zugleich erwies sich die Renten-versicherung aber auch als ein Sicherungssystem, dem besonders wenig Vertrauen entgegengebracht wird (Abb. 5.2e).

In beiden Fällen (Sozialhilfe und Rentenversicherung) werden die Effekte nor-mativer Orientierungen für die Institutionenakzeptanz und für die »Leistungsbewer-tung« (Präferenzen bezüglich des Leistungsniveaus) untersucht. Diese Auswahl be-ruht auf der allgemeinen Überlegung, dass einzelne Wertorientierungen (Bedarfsge-rechtigkeit, Solidarität) bei den Leistungspräferenzen sich besonders deutlich aus-wirken müssten und dass die Effekte hier einfach und linear sein werden. Anders verhält es sich bei der Beurteilung des »gesellschaftlichen Wertes«, für die gegensätz-liche Wirkungen der Wertorientierungen und kurvlineare Effekte erwartet werden (zu den einzelnen Hypothesen s.u.).

Ergänzend wird auch für zwei Bereiche der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit«(»Abbau von Einkommensunterschieden« und »Bereitstellung von Arbeitsplätzen«) die Bedeutung normativer Orientierungen untersucht. Hierfür gibt es zwei Gründe: Erstens konnte schon in früheren Untersuchungen insbesondere für die Akzeptanz von Einkommensungleichheit (bzw. allgemeiner für die sozialer Ungleichheit) ein Einfluss von Gerechtigkeitsüberzeugungen aufgezeigt werden, der nun systematisch für die drei grundlegenden Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit überprüft werden kann.

Wichtiger ist aber, dass Aufgaben der sozialen Sicherung, die auch öffentlich kontrovers diskutiert werden, vermutlich weit stärker unter »moralischen« Gesichts-

180 Auch hier wurden alle drei Aussagen auf einer endpunktbeschrifteten 6er-Skala von »Stimme über-

haupt nicht zu« bis »Stimme voll und ganz zu« beurteilt.

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196 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

punkten beurteilt werden als solche, die in Deutschland zum mehr oder minder konsensuellen Kernbestand des Wohlfahrtsstaates gerechnet werden können. Ne-ben der »absoluten« Bedeutung von Wertorientierungen dürfte beim »Abbau von Einkommensunterschieden« und bei der »Bereitstellung von Arbeitsplätzen« aber auch das relative Gewicht normativer Orientierungen steigen, da unmittelbare Eigen-interessen (etwa als Leistungsempfänger) hier in geringerem Maße bestehen.

Der folgenden Analyse des Einflusses von Gerechtigkeitsüberzeugungen und Sozialorientierungen auf die Beurteilung sozialer Sicherungssysteme liegen drei über-greifende Hypothesen zugrunde:

Die erste ist die der Kontextabhängigkeit des Einflusses normativer Orientierun-gen auf die Akzeptanzurteile (H1). Demnach variiert die Bedeutung der einzelnen Gerechtigkeitsüberzeugungen und Sozialorientierungen bei der Beurteilung sozialer Sicherungssysteme. Dieser Annahme entsprechend müssten normativ unterschied-lich strukturierte Sicherungssysteme anhand unterschiedlicher Gerechtigkeitskrite-rien beurteilt werden. Es wird also angenommen, dass die Befragten erkennen und anerkennen, dass Sicherungssystemen unterschiedliche Gerechtigkeitsprinzipien zu-grunde liegen, und dass sie ihre Akzeptanzurteile entsprechend differenzieren. Ähn-lich, wenn auch nur in abgeschwächter Form, sollten sich auch die Handlungs- und Sozialorientierungen unterschiedlich auf die Beurteilung der Sicherungssysteme aus-wirken. Für die einzelnen Sicherungsbereiche und Akzeptanzindikatoren wird dabei von folgenden Annahmen ausgegangen:

Hinsichtlich des Einflusses von Gerechtigkeitsüberzeugungen auf die Akzep-tanzurteile wird zunächst erwartet, dass bei der Beurteilung sozialer Sicherungssys-teme den jeweils primären (dominanten) Gerechtigkeitsprinzipien (vgl. Abb. 6.4.1) eine besondere Bedeutung zukommt. Es wird daher angenommen, dass bei der Gesetzli-chen Rentenversicherung eine Orientierung am Prinzip der Leistungsgerechtigkeit und bei der Sozialhilfe eine Orientierung am Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit zu einer höheren Akzeptanz führen (H1.1).

Zusätzlich werden bei der Beurteilung der Institutionenakzeptanz stärkere Ef-fekte des primären Gerechtigkeitsprinzips erwartet als bei der Beurteilung der Leis-tungshöhe, die allerdings nicht linear sind. Von einer sehr starken Orientierung an den Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit und der Bedarfsgerechtigkeit werden daher akzeptanzmindernde Effekte für die Institutionenakzeptanz der Gesetzlichen Ren-tenversicherung bzw. der Sozialhilfe vermutet (H1.2).181

181 Grundsätzlich wird also erwartet, dass eine stärkere Orientierung am Prinzip der Leistungsgerechtig-

keit zu einer höheren Akzeptanz der Rentenversicherung führt, weil diese Kriterien der Leistungsge-rechtigkeit erfüllt. Ist die Orientierung aber sehr stark ausgeprägt, kann auch ein entgegengesetzter Ef-fekt vermutet werden: Die starke Orientierung am Prinzip der Leistungsgerechtigkeit könnte zu einer Ablehnung der Rentenversicherung führen, weil diese Kriterien der Leistungsgerechtigkeit auch ver-letzt.

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6.4 Eine Frage der Moral? Zum normativen Fundament der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz 197

Neben den spezifischen Annahmen über die Effekte der jeweils primären Ge-rechtigkeitsprinzipien wird für die Gerechtigkeitsüberzeugungen erwartet, dass sich eine starke Orientierung an der Leistungsgerechtigkeit (mit Ausnahme der Rentenversi-cherung) eher negativ auf die Akzeptanz auswirkt (H1.3), während egalitaristische Ge-rechtigkeitsüberzeugungen und eine Orientierung am Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit bei allen Akzeptanzindikatoren und Sicherungsbereichen eher zu einer höheren Akzep-tanz führen (H1.4).

Insbesondere für die beiden Bereiche der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« wird dabei ein starker positiver Einfluss der Bedarfsgerechtigkeit sowie egalitaristischer Gerechtigkeitsüberzeugungen erwartet. Für das Ziel »Abbau von Einkommensun-terschieden« ist zudem ein akzeptanzverringernder Einfluss einer Orientierung am Prinzip der Leistungsgerechtigkeit anzunehmen, während bei der »Bereitstellung von Arbeitsplätzen« hier eher kein oder sogar ein positiver Effekt erwartet werden kann (H1.5).

Anders als bei den Gerechtigkeitsüberzeugungen werden für die grundlegen-den Handlungs- und Sozialorientierungen vor allem allgemeine, für alle Sicherungs-bereiche im Kern gleich lautende Annahmen gemacht. So wird für die Eigenverant-wortung ein in allen Fällen akzeptanzmindernder Einfluss erwartet, wobei jedoch an-genommen wird, dass sich eine stärkere Befürwortung von Eigenverantwortung auf die Akzeptanz der Sozialhilfe besonders abträglich auswirkt (H1.6). Eine genau ent-gegengesetzte Wirkung – höhere Akzeptanz und starker positiver Einfluss auf die Beurteilung der Sozialhilfe – wird für eine starke Solidaritätsorientierung vermutet (H1.7). Auch von einer stärkeren Reziprozitätsverpflichtung wird angenommen, dass sie insge-samt zu einer höheren Akzeptanz führt. Eine solche Wirkung wird aber hauptsäch-lich für die Rentenversicherung erwartet. Der Einfluss auf die Beurteilung der So-zialhilfe und die beiden Bereiche der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« sollte da-gegen bestenfalls gering sein (H1.8).

Zu den »Kontexten« gehören schließlich auch die beiden Akzeptanzdimensio-nen. So kann vermutet werden, dass eine Orientierung an der Bedarfsgerechtigkeit und Solidaritätsorientierungen für die gewünschte Wohlfahrtsstaatlichkeit (hier die Leistungshöhe der Rente und der Sozialhilfe sowie die Indikatoren der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit«) eine größere Bedeutung haben als bei der Institutionenak-zeptanz (H1.9).

Die zweite übergreifende Hypothese kann als Annahme einer grundsätzlichen (wenn auch begrenzten) Kompatibilität bezeichnet werden (H2). Insbesondere von Gerechtigkeitsüberzeugungen wird häufig angenommen, dass sie sich wechselseitig ausschließen. Demgegenüber wird hier davon ausgegangen, dass Gerechtigkeitsüber-zeugungen nicht zwangsläufig in einem unversöhnlichen Gegensatz oder Ausschließ-lichkeitsverhältnis zueinander stehen (H2.1). Es wird erwartet, dass unterschiedliche Gerechtigkeitsüberzeugungen gleichgerichtete Effekte haben können, dass also z.B. sowohl eine Orientierung an Kriterien der Leistungsgerechtigkeit als auch eine an

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198 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

Kriterien der Bedarfsgerechtigkeit zu einer positiven (oder negativen) Beurteilung von Sicherungssystemen führen kann. Zugleich besteht aber auch die umgekehrte Möglichkeit, dass gleichgerichtete Gerechtigkeitsüberzeugungen in Abhängigkeit von der Stärke ihrer Ausprägung zu unterschiedlichen Bewertungen führen.

Auch für die drei grundlegenden Handlungs- und Sozialorientierungen wird eine gewisse Kompatibilität angenommen, wenn auch insbesondere für die »Eigen-verantwortungs«- und »Solidaritätsorientierungen« ein gewisses Spannungsverhältnis anzunehmen ist (H2.2). Schließlich wird erwartet, dass sich die Einflüsse von Ge-rechtigkeitsüberzeugungen und Sozialorientierungen zwar in Einzelfällen aufheben, dass hier aber grundsätzlich unabhängige Dimensionen beschrieben worden sind, deren Effekte auf die Akzeptanzurteile auch dann nachweisbar sind, wenn alle sechs Wertorientierungen in die Analysen einbezogen werden (H2.3).

Der vielleicht grundlegendste Einwand gegen die Verwendung von Wertorien-tierungen als Erklärungsfaktoren besteht in der Annahme, bei diesen handele es sich um bloße Rationalisierungen oder »Moralisierungen« von Eigeninteressen (oder um non-attitudes). In abgeschwächter Form läuft dieses meist axiomatisch vorgetragene Argument auf die Behauptung hinaus, dass normative Orientierungen immer nur dann relevant seien, wenn keine stärkeren Eigeninteressen bestehen. Gerechtigkeits-überzeugungen und grundlegende Sozialorientierungen gewönnen dann in dem Ma-ße an Bedeutung, wie das Eigeninteresse an den Sicherungssystemen gering ist.

Entgegen dieser skeptischen Beurteilung des Erklärungswerts normativer Orien-tierungen wird hier davon ausgegangen, dass es nicht zu einer derartigen Kompensationkommt (H3). Für Gerechtigkeitsüberzeugungen und Sozialorientierungen wird also auch bei Kontrolle unterschiedlicher Interessenparameter ein nachweisbarer Einfluss auf die Akzeptanzurteile erwartet (H3.1). Der Kompensationsthese soll aber insoweit gefolgt werden, als von einer Minderung des relativen Gewichts normativer Orientie-rungen bei stärkeren Eigeninteressen ausgegangen wird. So müssten z.B. Minderheits-programme (wie die Sozialhilfe) stärker als Mehrheitsprogramme (wie die Gesetzliche Rentenversicherung) aufgrund von Wertorientierungen beurteilt werden, weil hier bei den meisten Befragten nur ein geringes (positives) Eigeninteresse (geringere Zahl der potenziellen Leistungsempfänger) besteht (H3.2).

6.4.2 Die Bedeutung von Gerechtigkeitsüberzeugungen und grundlegender Sozialorientierungen für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme

Die Analyse der Bedeutung von Gerechtigkeitsüberzeugungen und Sozialorientie-rungen für die Akzeptanzurteile über wohlfahrtsstaatliche Institutionen und Ziele erfolgt in drei Schritten. Zunächst wird deren Einfluss auf die Institutionenakzep-tanz der Gesetzlichen Rentenversicherung und der Sozialhilfe untersucht, an die sich dann entsprechende Analysen für die »Leistungsbewertung« anschließen. Hier-

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6.4 Eine Frage der Moral? Zum normativen Fundament der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz 199

zu werden in beiden Fällen OLS-Regressionen verwendet, in denen zur Kontrolle des Einflusses von Eigeninteressen und zur Prüfung der »Kompensationsthese« ne-ben den soziodemografischen Merkmalen auch spezifische subjektive und objektive Interessenparameter berücksichtigt werden. Dies gilt auch für die im dritten Teil dargelegten Analysen für die beiden Bereiche der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlich-keit«, für die ordinale logistische Regressionen durchgeführt wurden.

Zunächst zur Institutionenakzeptanz der Rentenversicherung (Abb. 6.4.2). Um die Annahme prüfen zu können, dass der Einfluss des primären Gerechtigkeitsprinzips nicht linear verläuft (H1.2), wurde hier neben dem einfachen Effekt der Leistungs-gerechtigkeit zusätzlich die Möglichkeit eines quadrierten Effektes berücksichtigt. Sind beide signifikant, besteht ein umgekehrt U-förmiger Zusammenhang.

Im ersten Modell sind hier die Effekte für Gerechtigkeitsüberzeugungen dar-gestellt, wenn für keine weiteren Variablen kontrolliert wird. Mit Ausnahme der Be-darfsgerechtigkeit weisen alle Gerechtigkeitsüberzeugungen signifikante Effekte auf. Dabei bestätigen sich beide Vermutungen hinsichtlich des primären Gerechtigkeits-prinzips: Leistungsgerechtigkeit hat einen positiven Effekt auf die Beurteilung der Rentenversicherung; gleichzeitig ist aber der quadrierte Effekt für Leistungsgerech-tigkeit negativ signifikant. Dies entspricht genau der Erwartung, dass sich der grund-legende Zusammenhang (Leistungsgerechtigkeit führt zu einer höheren Akzeptanz der Rentenversicherung) bei einer sehr starken Orientierung am Prinzip der Leis-tungsgerechtigkeit umkehrt und zu einer geringen Akzeptanz führt (umgekehrt U-förmiger Zusammenhang).

Unerwartet ist dagegen der negative Effekt egalitaristischer Gerechtigkeits-überzeugungen. Angesichts der doch deutlichen Ausrichtung der Gesetzlichen Ren-tenversicherung am Äquivalenz- und am Statusprinzip (und einem entsprechenden Ausbleiben redistributiver Wirkungen) scheint eine geringe Institutionenakzeptanz der Rentenversicherung bei einer starken Befürwortung des Gleichheitsprinzips je-doch durchaus folgerichtig.

Der Einbezug der Sozialorientierungen im zweiten Modell hat praktisch keine Auswirkung auf die Stärke und die Signifikanz der Effekte der Gerechtigkeitsüber-zeugungen. Wie erwartet hat auch die Reziprozitätsverpflichtung einen signifikanten Einfluss auf die Beurteilung der Institutionenakzeptanz der Rentenversicherung.Der Gesamterklärungswert der Wertorientierungen ist allerdings nicht sehr hoch (R²=0,019).

Wird dagegen auch für die soziodemografischen Merkmale kontrolliert (Mo-dell 3), so ist der Effekt für die »Gleichheit« nicht länger signifikant (bzw. nur auf einem Signifikanzniveau von 10 %). Die Effekte für die Leistungsgerechtigkeit und die Reziprozitätsverpflichtung bleiben dagegen stabil. Zusätzlich wird die Solidari-tätsorientierung (schwach) signifikant. Wie zuvor bei der egalitaristischen Gerechtig-keitsüberzeugung ist der Effekt jedoch negativ, was als Wahrnehmung eines Solida-ritätsdefizits der Gesetzlichen Rentenversicherung interpretiert werden kann.

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200 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

Abbildung 6.4.2: Institutionenakzeptanz der Gesetzlichen Rentenversicherung (OLS-Regressionen)

Modell 1 Modell 2 Modell 3 Modell 4 Gerechtigkeitsüberzeugungen

Gleichheit (Egalitarismus) -0,067* -0,067* -0,056 -0,057 Leistungsgerechtigkeit 0,519** 0,479** 0,594** 0,552**Leistungsgerechtigkeit (quadriert) -0,539** -0,520** -0,654*** -0,632***Bedarfsgerechtigkeit (0,052) 0,051 0,044 0,032

Sozialorientierungen Eigenverantwortung -0,006 0,000 0,004 Solidarität (-0,050) -0,063* -0,079**Reziprozitätsverpflichtung 0,103*** 0,095** 0,077*

Bildung (Ref.Kat.: niedrig) mittel 0,015 0,022 hoch 0,035 0,025

Alter des Befragten 0,162*** 0,124***Geschlecht: Frau -0,024 -0,032 Oben-Unten-Skala 0,041 0,035 Landesteil: Ostdeutschland 0,026 0,019 allgemeineReziprozitätserwartungen 0,297***

R²(korrigiertes R²)

0,010(0,007)

0,019(0,014)

0,052(0,042)

0,136(0,126)

N 1331 1175

* p<0,05; ** p<0,01; ***p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; standardisierte Regressionskoeffizienten

Mit Ausnahme des Alters weisen die soziodemografischen Merkmale keine signifi-kanten Effekte auf, führen aber zu einer leichten Verbesserung des Gesamtmodells. Anders ist dies bei den allgemeinen Reziprozitätserwartungen, die hier als subjektive Interessendefinition zusätzlich aufgenommen wurden (Modell 4). Sie haben, wie schon in Kapitel 6.2. erläutert wurde, den erwartet starken Effekt und führen zu einem deutlich höheren R²-Wert. Die Auswirkungen auf die Effektstärken der Wert-orientierungen sind aber nur marginal.

Für die Institutionenakzeptanz der Gesetzlichen Rentenversicherung lässt sich damit festhalten, dass der erwartete Effekt des primären Gerechtigkeitsprinzips nach-gewiesen werden konnte und dass sich dieser auch bei Kontrolle für mehrere Inter-essenparameter als stabil erweist. Die Bedarfsgerechtigkeit und eine egalitaristische Gerechtigkeitsüberzeugung sowie die Befürwortung von Eigenverantwortung ha-ben dagegen keine signifikanten Effekte. Von den Sozialorientierungen haben die So-

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6.4 Eine Frage der Moral? Zum normativen Fundament der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz 201

lidaritätsorientierung und die Reziprozitätsverpflichtung einen nachweisbaren Einfluss auf die Beurteilung der Rentenversicherung. Die Effekte sind hier jedoch deutlich ge-ringer als bei den Gerechtigkeitsüberzeugungen.

Die Regressionsanalysen zur Institutionenakzeptanz der Sozialhilfe zeigen beim Einfluss der Gerechtigkeitsüberzeugungen ein zur Beurteilung der Rentenversiche-rung geradezu komplementäres Bild (Abb. 6.4.3). Schon in den beiden ersten Mo-dellen, in die nur die Gerechtigkeitsüberzeugungen bzw. nur die Wertorientierungen aufgenommen wurden, wird die Annahme über den kurvlinearen Einfluss des pri-mären Gerechtigkeitsprinzips bestätigt: Während eine Orientierung am Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit einen positiven Effekt auf die Institutionenakzeptanz der So-zialhilfe hat, ist der des quadrierten Terms negativ. Eine sehr starke Orientierung an der Bedarfsgerechtigkeit führt also zu einer geringeren Akzeptanz der Sozialhilfe als eine etwas schwächere.

Wie bei der Rentenversicherung bestehen auch hier signifikante Effekte egali-taristischer Gerechtigkeitsüberzeugungen (negativ) und der Reziprozitätsverpflich-tung (positiv). Eine weitere Parallele besteht darin, dass der Einbezug soziodemo-grafischer Merkmale (Modell 3) und allgemeiner Reziprozitätserwartungen (Modell 4) dazu führt, dass bei den Gerechtigkeitsüberzeugungen nur noch der Effekt für die Bedarfsgerechtigkeit bestehen bleibt. Auf die Sozialorientierungen hat die Kon-trolle für Interessenfaktoren dagegen keine Auswirkung. Für die Eigenverantwor-tung und die Solidaritätsorientierung sind keine signifikanten Effekte festzustellen, während der Einfluss der Reziprozitätsverpflichtung stabil bleibt.

Auch bei der Institutionenakzeptanz der Sozialhilfe können damit für die Ge-rechtigkeitsüberzeugungen die Annahmen der Kontextabhängigkeit im Allgemeinen sowie über den nicht-linearen Einfluss des primären Gerechtigkeitsprinzips als be-stätigt gelten. Unerwartet sind dagegen die Effekte der Sozialorientierungen. Über-raschender als der Einfluss der Reziprozitätsverpflichtung182 ist dabei das Ausblei-ben eines positiven Effekts der Solidaritätsorientierung und eines negativen der Eigenverantwortung.183

182 Dass (generalisierte) Reziprozitätsvorstellungen auch auf weitgehend redistributive Sicherungssysteme

übertragen werden können, habe ich bereits an anderer Stelle verdeutlicht (Ullrich 1999).183 Das Fehlen eines positiven Effekts der Solidaritätsorientierung sowie der nicht stabile negative Ef-

fekt egalitaristischer Gerechtigkeitsüberzeugungen sind möglicherweise als Wahrnehmung entspre-chender Defizite zu interpretieren (Sozialhilfe als nicht oder unzureichend »solidarisch« und »egali-tär«). Dagegen ist das Ausbleiben eines Effekts der Eigenverantwortungsorientierung am ehesten mit der Annahme eines kontextabhängigen Einflusses normativer Orientierungen zu erklären: Demgemäß wäre »Eigenverantwortlichkeit« kein Maßstab zur Beurteilung der Sozialhilfe.

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202 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

Abbildung 6.4.3: Institutionenakzeptanz der Sozialhilfe (OLS-Regressionen)

Modell 1 Modell 2 Modell 3 Modell 4 Gerechtigkeitsüberzeugungen

Gleichheit (Egalitarismus) -0,082* -0,086** 0,060 -0,065 Leistungsgerechtigkeit 0,019 -0,016 -0,044 -0,061 Bedarfsgerechtigkeit 0,287* 0,333* 0,301* 0,291*Bedarfsgerechtigkeit (quadriert) -0,343* -0,392** -0,353* -0,349*

Sozialorientierungen Eigenverantwortung 0,046 0,051 0,054 Solidarität -0,020 0,000 -0,014 Reziprozitätsverpflichtung 0,091** 0,104** 0,090**

Bildung (Ref.Kat.: niedrig) mittel -0,024 -0,019 hoch -0,002 -0,014

Alter des Befragten 0,044 0,013 Geschlecht: Frau -0,020 -0,029 Oben-Unten-Skala 0,121*** 0,115***Landesteil: Ostdeutschland -0,104*** -0,110***allgemeineReziprozitätserwartungen 0,235***

R²(korrigiertes R²)

0,017(0,014)

0,027(0,022)

0,066(0,055)

0,119(0,107)

N 1237 1098

* p<0,05; ** p<0,01; ***p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; standardisierte Regressionskoeffizienten

Vor allem die primären Gerechtigkeitsüberzeugungen und die Reziprozitätsver-pflichtung haben also einen deutlichen Einfluss auf die Beurteilung des »gesell-schaftlichen Wertes« der Gesetzlichen Rentenversicherung und der Sozialhilfe. Der Einfluss der Handlungs- und Sozialorientierungen ist aber insgesamt eher schwach, denn nur von der Reziprozitätsverpflichtung geht ein »positiver« Einfluss aus. Auch für die soziodemografischen Variablen bestehen nur vereinzelte Effekte, während sich die allgemeinen Reziprozitätserwartungen (als subjektiver Interessenindikator) in beiden Fällen deutlich auf die Institutionenakzeptanz auswirken.

Wie aber steht es mit dem Einfluss normativer Orientierungen auf die Präfe-renzen für höhere und niedrigere Leistungen? Betrachtet man die Regressionsmo-delle für die Präferenzen bezüglich der Rentenhöhe (Abb. 6.4.4), wird schnell deutlich, dass hier andere Wertorientierungen als bei der Institutionenakzeptanz wichtig sind. Schon das einfache Modell, das nur die Gerechtigkeitsüberzeugungen umfasst, weist allein für die egalitaristische Gerechtigkeitsüberzeugung einen signifikanten Effekt

Page 203: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.4 Eine Frage der Moral? Zum normativen Fundament der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz 203

auf. Anders als bei der Institutionenakzeptanz ist er jetzt jedoch positiv. Eine stär-kere Befürwortung von Gleichheit führt also in der Tendenz eher zu Präferenzen für eine höhere Rente. Die Hereinnahme der Sozialorientierungen hat keine Auswir-kungen auf die Effekte der Gerechtigkeitsüberzeugungen (Modell 2). Von ihnen hat nur die Solidaritätsorientierung einen signifikanten Effekt. Den oben formulierten Erwartungen entsprechend ist dieser wie beim Egalitarismus positiv.

Abbildung 6.4.4: »Leistungsbewertung« – Renten (OLS-Regressionen)

Modell 1 Modell 2 Modell 3 Gerechtigkeitsüberzeugungen

Gleichheit (Egalitarismus) 0,119*** 0,125*** 0,115***Leistungsgerechtigkeit 0,047 0,045 0,066*Bedarfsgerechtigkeit -0,026 -0,054 -0,045

Sozialorientierungen Eigenverantwortung -0,012 -0,026 Solidarität 0,102*** 0,129***Reziprozitätsverpflichtung -0,018 0,007

Bildung (Ref.Kat.: niedrig) mittel -0,034 hoch -0,119***

Alter des Befragten -0,024 Geschlecht: Frau -0,001 Oben-Unten-Skala 0,001 Landesteil: Ostdeutschland -0,029 allgemeine Reziprozitätserwartungen -0,212***R²(korrigiertes R²)

0,011(0,009)

0,021(0,016)

0,080(0,070)

N 1153

* p<0,05; ** p<0,01; ***p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; standardisierte Regressionskoeffizienten

Beide Effekte erweisen sich auch als stabil, wenn die soziodemografischen Variab-len und die allgemeinen Reziprozitätserwartungen in das Modell aufgenommen wer-den (Modell 3). Von den soziodemografischen Merkmalen hat nur das höhere Bil-dungsniveau einen signifikanten (negativen) Effekt und von den Reziprozitätserwar-tungen geht wiederum ein deutlicher, jetzt jedoch negativer Einfluss auf die präfe-rierte Leistungshöhe aus (wer Reziprozität erwartet, ist seltener für höhere Renten). Ein zusätzlicher, wenn auch nur schwach signifikanter Effekt besteht nun auch für die Leistungsgerechtigkeit. Damit hat das primäre Gerechtigkeitsprinzip der Renten-

Page 204: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

204 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

versicherung also auch auf die Beurteilung der Leistungshöhe einen gewissen Ein-fluss.

Auch für die Präferenzen hinsichtlich der Rentenhöhe kann damit ein Einfluss normativer Orientierungen nachgewiesen werden. Anders als bei der Institutionen-akzeptanz erweisen sich hier jedoch eine Solidaritätsorientierung und eine egalitaris-tische Gerechtigkeitsüberzeugung als entscheidende Einflussgrößen. Unerwartet ist dabei vor allem, dass eine Orientierung am Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit keinen Einfluss hat.184 Im Vergleich zur Institutionenakzeptanz der Rentenversicherung er-scheint der Einfluss von Gerechtigkeitsüberzeugungen hier damit als etwas schwä-cher, was sich auch im geringeren Erklärungswert des Gesamtmodells niederschlägt.

Abbildung 6.4.5: »Leistungsbewertung« – Sozialhilfe (OLS-Regressionen)

Modell 1 Modell 2 Modell 3 Gerechtigkeitsüberzeugungen

Gleichheit (Egalitarismus) 0,157*** 0,168*** 0,149***Leistungsgerechtigkeit -0,085** -0,070* -0,021Bedarfsgerechtigkeit 0,143*** 0,086** 0,069*

SozialorientierungenEigenverantwortung -0,075** -0,073*Solidarität 0,199*** 0,179***Reziprozitätsverpflichtung -0,053 -0,056

Bildung (Ref.Kat.: niedrig) mittel 0,030 hoch 0,007

Alter des Befragten -0,070* Geschlecht: Frau -0,015 Oben-Unten-Skala -0,113***Landesteil: Ostdeutschland 0,103**allgemeine Reziprozitätserwartungen -0,093***R²(korrigiertes R²)

0,081(0,078)

0,121(0,117)

0,159(0,149)

N 1163 1035

* p<0,05; ** p<0,01; ***p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; standardisierte Regressionskoeffizienten

184 Dass dies auch ohne Einbezug der Solidaritätsorientierung der Fall ist, zeigt aber zumindest, dass

hier kein Kompensationseffekt vorliegt.

Page 205: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.4 Eine Frage der Moral? Zum normativen Fundament der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz 205

Bei der Beurteilung der Rentenhöhe konnten also nicht alle Annahmen über die Be-deutung von Wertorientierungen bestätigt werden. Unverkennbar ist dagegen der deutliche Einfluss normativer Überzeugungen auf die Präferenzen bezüglich der Höhe der Sozialhilfe (Abb. 6.4.5). Sofern nur Gerechtigkeitsüberzeugungen und Sozialorien-tierungen einbezogen werden, bestehen für alle drei Gerechtigkeitsüberzeugungen signifikante Effekt in der erwarteten Weise: Eine Orientierung an Bedarfsgerechtig-keit und egalitaristische Gerechtigkeitsüberzeugungen führen zu stärkeren Präferen-zen für eine höhere Sozialhilfe, während von einer Orientierung am Prinzip der Leis-tungsgerechtigkeit die gegenteilige Wirkung ausgeht. Auch die Eigenverantwortung und Solidaritätsorientierungen haben die erwarteten Effekte (Modell 2). Nur für die Reziprozitätsverpflichtung besteht kein signifikanter Effekt.

Der Einbezug der soziodemografischen Faktoren und der allgemeinen Rezi-prozitätserwartungen (Modell 3) führt zu einer leichten Abschwächung der Effekte (Effektstärke und Signifikanzniveau); der negative Effekt der Leistungsgerechtigkeit ist jetzt sogar nicht mehr signifikant. Zusätzliche Effekte bestehen jetzt für die Selbst-verortung auf der Oben-Unten-Skala (negativ), für den Landesteil (höhere Präferen-zen bei Ostdeutschen) und für allgemeine Reziprozitätserwartungen.

Insgesamt ist damit festzuhalten, dass die Präferenzen bezüglich der Leistungs-höhe der Sozialhilfe noch deutlich mehr als die der zuvor betrachteten Akzeptanzin-dikatoren eine »Frage moralischer Orientierungen« sind. Alle Annahmen über die spe-zifischen Einflüsse der einzelnen Wertorientierungen – positive Effekte von egali-taristische Gerechtigkeitsüberzeugungen, Bedarfsgerechtigkeit und Solidarität sowie negative einer Befürwortung von Eigenverantwortung und Leistungsgerechtigkeit – konnten dabei bestätigt werden. Der Erklärungswert der Regressionsmodelle ist insgesamt sehr gut und liegt vor allem bei den Modellen, in denen nur die Wertorien-tierungen berücksichtig wurden, deutlich über den der zuvor dargelegten Analysen.

Auch bei der Beurteilung der beiden Aufgaben, die hier zur »erweiterten Wohl-fahrtsstaatlichkeit« gerechnet werden, ist vor allem für die Gerechtigkeitsüberzeu-gungen ein deutlicher Einfluss zu erkennen (Abb. 6.4.6).

Die Frage, ob die »Bereitstellung von Arbeitsplätzen« eine staatliche Aufgabe sein soll, wird bei einer Orientierung am Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit und insbeson-dere bei egalitaristischen Gerechtigkeitsüberzeugungen deutlich stärker befürwortet. Im Modell, in dem nur die Wertorientierungen aufgenommen wurden (Modell 1), ist zudem ein positiver Effekt der Eigenverantwortung zu erkennen. Dieser Effekt ist zwar nur schwach signifikant; er erweist sich aber als stabil, wenn auch die sozio-demografischen Variablen und die Versorgungsklassenstatus (Sozialhilfeempfängerund Arbeitslose) einbezogen werden (Modell A2). Möglicherweise wird in der staat-lichen Sorge für Arbeitsplätze eine Voraussetzung für eine »Hilfe zur Selbsthilfe« gesehen. Für diese Interpretation spricht auch, dass im zweiten Modell nun auch eine Orientierung am Prinzip der Leistungsgerechtigkeit zu einer höheren Präferenz für eine staatliche Zuständigkeit führt.

Page 206: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

206 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

Abbildung 6.4.6: Erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit: »Bereitstellung von Arbeits-plätzen« und »Abbau von Einkommensunterschieden« (Ordinalelogistische Regressionen)

»Arbeitsplätze« »Einkommens-unterschiede«

Modell A1 Modell A2 Modell B1 Modell B2

GerechtigkeitsüberzeugungenGleichheit (Egalitarismus) 1,385*** 1,330*** 1,434*** 1,370***Leistungsgerechtigkeit 1,115 1,194** 0,909 0,940 Bedarfsgerechtigkeit 1,111** 1,106** 1,283*** 1,277***

Sozialorientierungen Eigenverantwortung 1,135** 1,111* 1,014 1,008 Solidarität 1,084 1,055 1,289*** 1,270***Reziprozitätsverpflichtung 1,045 1,039 1,025 1,014

Bildung (Ref.Kat.: niedrig) mittel 0,821 0,774*hoch 0,430*** 0,568**

Alter des Befragten 0,993 0,995 Geschlecht: Frau 1,557*** 1,118 Oben-Unten-Skala 1,025 0,959 Landesteil: Ostdeutschland 2,522*** 2,054***Arbeitslose (Versorgungsklasse) 1,461 Sozialhilfeempfänger (Versorgungsklasse) 1,298

Pseudo R² (Nagelkerke) Pseudo R² (McFadden)

0,1090,038

0,1760,063

0,2180,071

0,2490,083

N 1295 1285

* p<0,05; ** p<0,01; ***p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; Odds-Ratios

Die anderen Sozialorientierungen haben bereits im ersten Modell keine signifikanten Effekte. Der Erklärungswert des einfachen Modells ist aber bereits vergleichsweise hoch (Pseudo R² [Nagelkerke] = 0,109), erhöht sich durch den Einbezug der Interessenpara-meter aber noch einmal deutlich (Pseudo R² [Nagelkerke] = 0,176). Während der Ver-sorgungsklassenstatus hier keinen erkennbaren Einfluss hat185, bestehen für die soziodemografischen Merkmale mehrere erwartete Effekte. So befürworten Personen mit dem höchsten Bildungsniveau eine staatliche Zuständigkeit für Arbeitsplätze deutlich seltener, Frauen und vor allem Ostdeutsche dagegen deutlich häufiger.

185 Zur geringen Bedeutung des Versorgungsklassenstatus für die Beurteilung der Frage, ob die Bereit-

stellung von Arbeitsplätzen eine staatliche Aufgabe sei, vgl. auch Kapitel 6.2. und insbesondere Abbil-dung 6.2.5.

Page 207: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.4 Eine Frage der Moral? Zum normativen Fundament der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz 207

Auch für das Ziel der »Verringerung von Einkommensunterschieden« ist vor allem für die Gerechtigkeitsüberzeugungen ein deutlicher Einfluss zu erkennen. In allen Mo-dellen ist zu ersehen, dass Personen mit egalitaristischer Gerechtigkeitsüberzeugung und mit einer stärkeren Orientierung am Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit eine staat-liche Politik der Verringerung von Einkommensunterschieden eher unterstützen. Wie erwartet, hat auch eine Solidaritätsorientierung einen stabilen akzeptanzverstär-kenden Einfluss. Wie bei den beiden Gerechtigkeitsüberzeugungen erweist sich die-ser auch dann als stabil, wenn soziodemografische Variablen einbezogen werden. Die anderen Sozialorientierungen (Reziprozitätsverpflichtung und Eigenverantwor-tung) haben dagegen keinen erkennbaren Einfluss auf die Beurteilung der Frage, ob der Staat Einkommensunterschiede verringern soll.

Bei den soziodemografischen Merkmalen bestehen ein akzeptanzmindernder Ein-fluss des mittleren und höheren Bildungsniveaus sowie wiederum stärkere Präferen-zen bei Ostdeutschen. Bemerkenswert ist hier, dass die Selbstverortung auf der Oben-Unten-Skala keinen signifikanten Effekt hat. Dies gilt im Übrigen auch, wenn die Selbstverortung auf der Oben-Unten-Skala durch das Haushaltsnettoeinkommen sub-stituiert wird (hier nicht ausgewiesen). Beide Maße sozialer Ungleichheit haben dem-nach also keinen nachweisbaren Einfluss auf die Präferenzen hinsichtlich einer staatli-chen Reduzierung von Einkommensunterschieden, wenn Gerechtigkeitsüberzeugun-gen und Sozialorientierungen kontrolliert werden.186 Auffällig ist schließlich, dass be-reits die Wertorientierungen allein (Modell B1) einen ausgesprochen hohen Erklä-rungswert haben (Pseudo R² [Nagelkerke] = 0,218), der sich durch die Aufnahme der soziodemografischen Merkmale dann nur noch moderat erhöht (Pseudo R² [Nagel-kerke] = 0,249).

Auch für die beiden Bereiche der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« ist ins-gesamt ein deutlicher Einfluss der Wertorientierungen zu konstatieren, wobei erneut – und hier noch deutlicher als zuvor – den Gerechtigkeitsüberzeugungen eine weit-aus größere Bedeutung zukommt. Insbesondere die Beurteilung der Aufgabe der Verringerung von Einkommensunterschieden wird, legt man den Erklärungswert der Gesamtmodelle zugrunde, als eine »Frage der Gerechtigkeit« angesehen – und hat, wenn Gerechtigkeitsüberzeugungen als Erklärungsfaktoren einbezogen werden, scheinbar nur noch wenig mit der eigenen materiellen und sozialen Lage zu tun (vgl. hierzu aber auch Kapitel 6.1.2).

Die zentralen Annahmen über den akzeptanzverstärkenden Einfluss egalitaris-tischer Gerechtigkeitsüberzeugungen, einer Orientierung an der Bedarfsgerechtigkeit und einer stärkeren Solidaritätsorientierung konnten bestätigt werden. Die Effekte die-ser drei, sich »positiv« auf die Beurteilung der Ziele einer »erweiterten Wohlfahrtsstaat-lichkeit« auswirkenden Wertorientierungen haben sich zudem als stabil erwiesen und

186 Schon in Kapitel 6.1. konnte gezeigt werden, dass dies weitgehend auch für die soziale Klassenlage

zutrifft (vgl. Abbildung 6.1.5).

Page 208: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

208 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

führen bereits ohne Einbezug von Interessenparametern zu hohen (Arbeitsplätze) bzw. sehr hohen (Einkommensunterschiede) Erklärungswerten der Gesamtmodelle.

6.4.3 Fazit

Die dargelegten Analysen lassen keine Zweifel daran, dass normative Orientierun-gen die Akzeptanzurteile über sozialpolitische Institutionen und Ziele beeinflussen. Insbesondere Gerechtigkeitsüberzeugungen leisten einen wesentlichen Beitrag zur Erklärung der Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme. Für alle Gerechtigkeitsüber-zeugungen konnten entsprechende Effekte nachgewiesen werden. Besonders starke Wirkungen gehen dabei von den primären Gerechtigkeitsprinzipien bei der Institu-tionenakzeptanz und von egalitaristischen Gerechtigkeitsüberzeugungen aus. Die allgemeinen, übergreifenden Hypothesen zur Kontextabhängigkeit, Kompatibilität und Kompensationsfunktion von Wertorientierungen konnten dabei weitgehend bestätigt werden.

Für die Annahme einer Kontextabhängigkeit des Einflusses von Wertorientierun-gen (H1) sprechen vor allem die selektiven Effekte der primären Gerechtigkeits-prinzipien bei der Institutionenakzeptanz, der Leistungsgerechtigkeit (positiver Ef-fekt bei der Beurteilung der Rentenhöhe, negativer bei der Beurteilung der Sozialhil-fehöhe) sowie der Reziprozitätsverpflichtung (Gesetzliche Rentenversicherung).

Egalitaristische Gerechtigkeitsüberzeugung variieren dagegen nicht mit dem Systemkontext, sondern mit der Akzeptanzdimension (negative Effekte bei der In-stitutionenakzeptanz, positive bei den Beurteilungen der Leistungshöhe). Wie auch die Ergebnisse zur »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« unterstreichen, führen ega-litaristische Gerechtigkeitsüberzeugung vor allem zu höheren Präferenzen bezüglich der Wohlfahrtsstaatlichkeit, können sich aber offenbar negativ auf die Institutionen-akzeptanz auswirken. In abgeschwächter Form gilt dies auch für eine Orientierung am Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit.

Wie erwartet, gehen von einer Solidaritätsorientierung und von einer Befürwor-tung von Eigenverantwortung aber auch nahezu kontextunabhängige Wirkungen aus.187 Der Einfluss von Sozialorientierungen variiert damit deutlich weniger mit dem Systemkontext und der Akzeptanzdimension, als dies bei den Gerechtigkeits-überzeugungen der Fall ist.

Hinsichtlich der Annahmen über die einzelnen Kausalzusammenhänge konnte eine besondere Bedeutung der primären Gerechtigkeitsprinzipien (bzw. der entspre-chenden Gerechtigkeitsüberzeugungen) für die Institutionenakzeptanz der Gesetzli-chen Rentenversicherung und der Sozialhilfe nachgewiesen werden (H1.1). Wie ge-

187 Der einzige »Ausreißer« ist hier der negative Effekt der Solidaritätsorientierung bei der Institutio-

nenakzeptanz der Rentenversicherung.

Page 209: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.4 Eine Frage der Moral? Zum normativen Fundament der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz 209

zeigt, gilt dies auch für die zusätzliche Annahme, dass eine sehr starke Orientierung auf die jeweils dominanten Gerechtigkeitsprinzipien zu einer (wieder) sinkenden In-stitutionenakzeptanz führt (H1.2).

Auch die allgemeineren Erwartungen über die Bedeutung von Gerechtigkeits-überzeugungen wurden überwiegend bestätigt: Dies gilt zum einen für die Annahme einer allgemein akzeptanzerhöhenden Wirkung der Bedarfsgerechtigkeit und egalita-ristischer Gerechtigkeitsüberzeugungen (H1.4). Hier besteht nur die »Anomalie« eines negativen Effekts egalitaristischer Gerechtigkeitsüberzeugungen bei der Institu-tionenakzeptanz, der aber bereits auf die Wahrnehmung entsprechender Defizite zu-rückgeführt wurde. Eher unerwartet ist auch, dass die Bedarfsgerechtigkeit bei der Beurteilung der Gesetzlichen Rentenversicherung keinerlei Effekte aufweist. Ange-sichts des starken Einflusses der Leistungsgerechtigkeit (als dominantem Gerechtig-keitsprinzip) scheint dies aber nicht schwerwiegend. Es unterstreicht nur erneut die Kontextabhängigkeit des Erklärungswerts von Gerechtigkeitsüberzeugungen, die – sogar entgegen der Vermutung – auch für die Bedarfsgerechtigkeit gilt. Für die An-nahme der Kontextabhängigkeit spricht schließlich auch die insgesamt hohe Bedeu-tung der Gerechtigkeitsüberzeugungen für die beiden Aspekte der »erweiterten Wohl-fahrtsstaatlichkeit« (H1.5). Eine akzeptanzmindernde Wirkung einer Orientierung am Prinzip der Leistungsgerechtigkeit konnte immerhin für die »Leistungsbewertung« der Sozialhilfe aufgezeigt werden; ein entsprechender Nachweis gelang für die Beurteilung des Ziels eines Abbaus von Einkommensunterschieden allerdings nicht (H1.3).

Weniger überzeugend sind die Ergebnisse für die Sozialorientierungen. Dies gilt nicht nur für den insgesamt eher schwachen Einfluss auf die Akzeptanzurteile, sondern auch für die erwartete Richtung der Effekte und zum Teil auch für deren Stärke. Vor allem für die Befürwortung von Eigenverantwortung konnte nur selten ein Einfluss nachgewiesen werden. Immerhin gelang dies für den (erwartet) negati-ven Effekt bei der Beurteilung der Sozialhilfehöhe (H1.6). Unerwartet, wenn auch erklärbar, ist der Einfluss bei der »Bereitstellung von Arbeitsplätzen«. Insgesamt muss aber festgestellt werden, dass die Frage der Eigenverantwortung keine allzu gro-ße Bedeutung für die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und Ziele hat. Solidaritätsorientierungen haben dagegen mehrfach (erwartet positive) Wirkungen auf die Akzeptanzurteile (H1.7). Dennoch ist der nachweisbare Einfluss der Solida-ritätsorientierungen schwächer als erwartet. Dies gilt insbesondere für die Institutio-nenakzeptanz der Sozialhilfe.

Für die Reziprozitätsverpflichtung wurde nur ein Einfluss auf die Beurteilung der Gesetzlichen Rentenversicherung erwartet (für andere Bereiche aber auch nicht ausge-schlossen). Dies konnte für die Institutionenakzeptanz bestätigt werden, nicht jedoch für die Rentenhöhe, bei der die Reziprozitätsverpflichtung keinen signifikanten Effekt aufweist (H1.8). Nicht erwartet wurde der positive Effekt bei der Institutionenakzep-tanz der Sozialhilfe. Da hier auch allgemeine Reziprozitätserwartungen einen starken Effekt haben, kann vermutet werden, dass Reziprozität sowohl als verpflichtende

Page 210: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

210 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

Norm als auch als Horizont für subjektive Interessendefinitionen für die Institutio-nenakzeptanz aller sozialen Sicherungssysteme von grundlegender Bedeutung ist.

Schließlich wurde vermutet, dass eine Orientierung am Prinzip der Bedarfsge-rechtigkeit und eine Solidaritätsorientierung eine größere Bedeutung für die Akzep-tanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit (Leistungshöhe und »erweiterte Wohlfahrtsstaat-lichkeit«) haben als für die Institutionenakzeptanz (H1.9). Dies kann für die Solida-ritätsorientierung als bestätigt gelten. Für die Orientierung am Prinzip der Bedarfsge-rechtigkeit ist der »Systemkontext« aber offenbar wichtiger: Wie erwähnt, ist sie bei der Beurteilung der Gesetzlichen Rentenversicherung nie signifikant, dafür aber bei der Sozialhilfe bei beiden Akzeptanzindikatoren.

Die zweite übergreifende Annahme ging davon aus, dass Wertorientierungen insgesamt und insbesondere auch die einzelnen Gerechtigkeitsüberzeugungen sich nicht wechselseitig ausschließen bzw. keine entgegengesetzten Effekte (z.B. bei Leistungsgerechtigkeit geringere und bei Bedarfsgerechtigkeit höhere Akzeptanz) haben müssen (H2).

Für die Kompatibilitätsannahme spricht vor allem, dass unterschiedliche Gerech-tigkeitsüberzeugungen mehrfach gleichgerichtete Effekte aufweisen (H2.1). Dies gilt für die Leistungsgerechtigkeit und egalitaristische Gerechtigkeitsüberzeugungen bei der Beurteilung der Rentenhöhe, für die Bedarfsgerechtigkeitsorientierung und egalita-ristische Gerechtigkeitsüberzeugungen bei den Präferenzen hinsichtlich der Sozial-hilfehöhe sowie wiederum für Bedarfsgerechtigkeit und egalitaristische Gerechtig-keitsüberzeugungen bei der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit«. Gegenevidenzen finden sich dagegen bei der Institutionenakzeptanz: Hier haben in beiden Fällen ega-litaristische Gerechtigkeitsüberzeugungen einen den jeweils dominanten Gerechtig-keitsprinzipien entgegengesetzten (negativen) Effekt. Insgesamt besteht damit für eine Orientierung am Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit und für egalitaristische Ge-rechtigkeitsüberzeugungen eine relativ hohe Kompatibilität, während diese beiden Gerechtigkeitsüberzeugungen zur Leistungsgerechtigkeit eher, wenn auch nicht im-mer und nicht grundsätzlich, in einem Spannungsverhältnis stehen.

Für die Sozialorientierungen lässt sich die Kompatibilitätsthese kaum beurtei-len, da hier meist nur ein Indikator signifikante Effekte aufweist. Wenn mehrere Ef-fekte nachweisbar sind (wie bei der Institutionenakzeptanz der Rentenversicherung und bei der Beurteilung der Sozialhilfehöhe), sind diese jedoch entgegengesetzt, was gegen die Annahme einer Kompatibilität spricht (H2.2). Ein gewisses Spannungs-verhältnis zwischen der Befürwortung von Eigenverantwortung und einer Solidari-tätsorientierung wurde allerdings auch vermutet.

Zwischen den Gerechtigkeitsüberzeugungen und den Sozialorientierungen be-steht schließlich weitgehende Kompatibilität. Die Aufnahme der Sozialorientierun-gen in die Regressionsmodelle führt in allen Fällen zu bestenfalls marginalen Verände-

Page 211: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.4 Eine Frage der Moral? Zum normativen Fundament der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz 211

rungen bei den Effekten der Gerechtigkeitsüberzeugungen.188 Die Annahme, dass es sich bei Gerechtigkeitsüberzeugungen und Sozialorientierungen um zwei weitgehend unabhängige Wert(orientierungs)dimensionen handelt, wurde damit bestätigt (H2.3).

Für die Annahme einer (begrenzten) Kompatibilität von Wertorientierungen spricht neben den zum Teil gleichgerichteten Effekten schließlich auch, dass selbst für die beiden normativen Orientierungen, von denen eher eine akzeptanzabträgli-che Wirkung anzunehmen ist (Leistungsgerechtigkeit und Eigenverantwortung), in einzelnen Fällen positive Effekte nachgewiesen werden konnten.189 Eine Orientie-rung am Prinzip der Leistungsgerechtigkeit und eine Befürwortung von Eigenver-antwortung führen also nicht zwangsläufig zu wohlfahrtsstaatskritischen Urteilen. Wie die akzeptanzmindernenden Effekte egalitaristischer Gerechtigkeitsüberzeugun-gen und einer Solidaritätsorientierung bei der Institutionenakzeptanz (Rentenversi-cherung) zeigen, gilt dies jedoch auch für die umgekehrte Richtung.

Der Einwand, dass es sich bei empirisch nachweisbaren Effekten von Wert-orientierungen nur um »Moralisierungen« von Eigeninteressen handele (Kompensa-tionsthese), kann angesichts der vorliegenden Ergebnisse zurückgewiesen werden (H3). Fast alle Effekte der Gerechtigkeitsüberzeugungen und Sozialorientierungen erweisen sich auch dann als stabil, wenn mehrere Interessenindikatoren im Modell kontrolliert werden (H3.1). Wie erwartetet kommt es aber teilweise zu einer Verrin-gerung der Effektstärken. Wertorientierungen haben also einen Einfluss auf die A-kzeptanzurteile, der sich nicht auf Unterschiede der sozialen Lage oder der sozialpo-litischen (subjektiven wie objektiven) Interessenposition zurückführen lässt. Dieser Einfluss hat sich in den meisten Fällen sogar als stärker und stabiler erwiesen als der sozialstruktureller Faktoren.

Schließlich konnte auch die Vermutung, dass Wertorientierungen bei »Minder-heitsprogrammen« eine größere Bedeutung zukommt, weil hier Eigeninteressen ein geringeres (relatives) Gewicht haben, weitgehend bestätigt werden (H3.2). Für diese Vermutung sprechen vor allem die Analysen zur präferierten Höhe der Sozialhilfe. Aber auch die starken Effekte der Wertorientierungen bei den beiden Zielen der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« (insbes. bei der »Verringerung der Einkom-mensunterschiede«) können hierfür angeführt werden. Für die Institutionenakzep-tanz der Sozialhilfe war demgegenüber keine im Vergleich zur Beurteilung von Ren-tenhöhe und Rentenversicherung grundsätzlich höhere Bedeutung von Wertorien-tierungen festzustellen.

188 Dies gilt auch für die umgekehrte Richtung (Veränderung der Effekte der Sozialorientierungen

durch Aufnahme der Gerechtigkeitsüberzeugungen). Auch wenn Sozialorientierungen vor den Ge-rechtigkeitsüberzeugungen in die Modelle aufgenommen werden (hier nicht ausgewiesen), bestehen kaum zusätzlichen Effekte für die Sozialorientierungen.

189 Dies trifft für die Leistungsgerechtigkeit bei der Beurteilung der Rentenversicherung und für die Eigenverantwortung bei der Beurteilung des Ziels »Bereitstellung von Arbeitsplätzen« zu.

Page 212: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

212 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

6.5 Die Bedeutung des »Leistungsempfängerbildes« für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme

6.5.1 Einleitung: »Deservingness« und Akzeptanz

Gegenstand des abschließenden Teils der empirischen Untersuchungen über die Be-stimmungsfaktoren der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und von Wohlfahrtsstaatlichkeit sind die Wahrnehmungen der Leistungsempfänger, also das, was man als »Leistungsempfängerbild« bezeichnen könnte.

Schon bei der Diskussion institutionentheoretischer Ansätze in der Wohlfahrts-staatstheorie wurde hervorgehoben, dass die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme auch durch die konkrete Ausgestaltung der Absicherung, ihre Akzeptabilität, beein-flusst werden kann. Unter sonst gleichen Bedingungen (Interessenlagen und Wert-überzeugungen in der Bevölkerung; soziale Problemlagen etc.) können, so lautet die grundlegende Annahme, unterschiedliche Ausgestaltungen der sozialen Sicherung (z.B. Beitrags- vs. Steuerfinanzierung) auch mit einer unterschiedlich starken Akzep-tanz in der Bevölkerung rechnen. Für den deutschen Wohlfahrtsstaat kann dabei von eher günstigen Voraussetzungen ausgegangen werden (vgl. Abschnitt 2.2.4).

Bei der Akzeptabilität sozialer Sicherungssysteme können zwei grundlegende Dimensionen unterschieden werden: Zum einen sind dies die Systemmerkmale i.e.S., zu denen insbesondere die Form der Finanzierung (z.B. einkommensabhängige Bei-träge) und die einzelnen Modalitäten der Leistungsgewährung (u.a. Anwartschaften, Selbstbeteiligungen und Bedürftigkeitsprüfungen) zu rechnen sind, zum anderen die Leistungsempfänger und die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften (z.B. Bedürftig-keit).

Die Wahrnehmung der Leistungsempfänger wird dabei, vor allem wenn sie wie bei Rentnern oder Sozialhilfeempfängern die Form einer gut »sichtbaren« Versor-gungsklasse annehmen, maßgeblich durch die wohlfahrtsstaatlichen Strukturen mit bestimmt. Gelten soziale Sicherungssysteme etwa als »missbrauchsanfällig«, wird sich dies vermutlich auch in einer höheren Unterstellung von Leistungsmissbräu-chen seitens der Leistungsempfänger niederschlagen. Daneben bestehen aber auch systemunabhängige Merkmale, die zwar in das Gesamtbild der systemspezifischen Leistungsempfänger einfließen, vom Leistungsempfängerstatus aber grundsätzlich un-abhängig sind und gesondert erfasst werden können.

»Deservingness«

Als ein kritischer Punkt bei der Durchsetzung wohlfahrtsstaatlicher Programme und für deren Akzeptanz in der Bevölkerung gilt seit jeher die Frage, ob die jeweiligen Leistungsempfänger die ihnen zugebilligten Leistungen auch zurecht bekommen, ob

Page 213: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.5 Die Bedeutung des »Leistungsempfängerbildes« für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme 213

sie – so der verbreitete, aus dem angloamerikanischen Kontext übernommene Sprach-gebrauch – »deserving« sind.

Der Diskurs um die »deservingness« oder »undeservingness« der Armen und Hilfsbedürftigen begleitet die Sozialpolitik seit ihren Anfängen und lässt sich mindestens bis zum elisabethanischen »poor law« zurückverfolgen.190 Die Legitimi-tät der Leistungsempfänger bzw. Bedürftigen kann damit geradezu als Kardinalfrage früher Formen der sozialen Sicherung bezeichnet werden, die bis heute, wenn auch in wechselnder Gestalt, virulent geblieben ist.

Die Gründe hierfür sind vielfältig und sowohl praktischer als auch moralischer und motivationaler Art. So führte z.B. in der frühen Neuzeit eine relativ großzügige Unterstützung von Armen zu Sogwirkungen und stellte für viele Gemeinden einen Anreiz dar, auf eine eigene Versorgung zu verzichten und auf die Abwanderung der eigenen Armen in andere Gemeinden (mit Armenunterstützung) zu hoffen (De Swaan 1988: 13ff.).191 Zudem bestehen vielfältige Möglichkeiten des Ausnutzens je-der Form von »Mildtätigkeit«, die mit dem Grad der Institutionalisierung von An-sprüchen und der Ausweitung des Leistungsumfangs steigen. Insofern kann es nicht verwundern, wenn die Frage der »deservingness« immer wieder (und immer wieder neu) reflektiert und diskutiert wird – und wohl auch diskutiert werden muss, wenn es um qualitative Innovationen wie die wohlfahrtsstaatliche Absicherung eines neu-en Risikos geht.

Dass die Frage der »deservingness« vor allem im Kontext der Armenunterstüt-zung so zentral ist, kann vor allem auf zwei Ursachen zurückgeführt werden: Zum einen wurde lange Zeit – und für die US-amerikanische Literatur scheint dies zum Teil auch heute noch zutreffend – nicht zwischen unterschiedlichen Formen der Hilfsbe-dürftigkeit unterschieden: Alle Hilfsbedürftigen waren (erst einmal) arm und nur in zweiter Linie alte Menschen, Behinderte, Kranke oder gar Arbeitslose192. Zum ande-ren, und das scheint hier wichtiger, sind Leistungen von Sozialversicherungen, Ent-

190 Neben der lange bestehenden positiven Besetzung bzw. Funktion von Armen im Rahmen christli-

cher Ethik und Almosenpraxis war der Umgang mit Armen über viele Jahrhunderte durch Maß-nahmen geprägt, für die moderne Bezeichnungen wie Ausgrenzung und »workfare« noch euphemistisch anmuten, die aber genau dies betrieben: nämlich zum einen den Versuch, Arme von der eigenen Kommune schlicht fernzuhalten, d.h. die eigenen Armen möglichst zu vertreiben und den Zuzug fremder Armer zu unterbinden – mit Zöllner (1959: 399ff.) kann man diese Art von Armenpolitik auch als »negative Sozialpolitik« bezeichnen –, zum anderen der vor allem mit dem Protestantismus aufkommende Versuch, Arme durch Arbeitszwang und Internierung in Armen-, Arbeits-, Alten-, Waisen- u.ä. Häuser zu einem »sittlichen« und durch harte Arbeit geprägten Lebensstil anzuhalten oder zumindest deren notdürftigste Versorgung »profitabel« zu gestalten (vgl. u.a. Geremek 1991; Groenemeyer 1999).

191 De Swaan (1988: 21ff.) sieht hierin ein Dilemma kollektiven Handelns und einen Grund für die all-mähliche Verlagerung der Armenpolitik auf die nationalstaatliche Ebene.

192 Die Differenzierung von Armut und Arbeitslosigkeit als besondere, eng mit der kapitalistischen Produktionsweise verbundene Form der Hilfsbedürftigkeit, ist erst relativ jungen Datums (vgl. Walters 1994).

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214 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

schädigungsprogrammen (z.B. für Katastrophen- und Kriegsopfer) und anderen vor-gelagerten Sicherungssystemen moralisch weniger anspruchsvoll als die Armenhilfe, weil sie aufgrund in unterschiedlicher Weise erworbener Ansprüche gewährt werden und daher weder im öffentlichen Verständnis noch in dem der Leistungsempfänger als »Almosen« empfunden werden.

In Deutschland spielte die Frage der »deservingness« bei der sukzessiven Ein-führung und Umgestaltung sozialer Sicherungssysteme im 19. Jahrhundert allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Dominiert wurden die sozialpolitischen Diskurse da-gegen von der »Arbeiterfrage« (vgl. u.a. Christoph 2006; Sachße/Tennstedt 1980ff.; Steinmetz 1993).

Eigenschaften potenzieller und tatsächlicher Leistungsempfänger wurden aber auch in anderer Form zum Thema sozialpolitischer Auseinandersetzungen. So war im 19. Jahrhundert die Vorstellung verbreitet, dass Krankheiten ganz wesentlich eine Folge moralischen Fehlverhaltens seien, was zu einer Victimisierung vieler Be-dürftiger aus den unteren sozialen Schichten führte (vgl. Frevert 1984). Auch Ar-beitsunfälle und dadurch bedingte Invalidität wurde lange Zeit den Betroffenen an-gelastet, die eben besser aufpassen müssten (vgl. Ewald 1989; Rabinbach 1996).

Leistungsempfängereigenschaften müssen jedoch nicht immer »negativ« sein und für wohlfahrtsstaatsfeindliche Positionen instrumentalisiert werden. Systema-tisch ist zudem zwischen systemunabhängigen Eigenschaften der sozialpolitischen Zielgruppe193 und den spezifischen Eigenschaften bereits existenter Leistungsemp-fängergruppen zu unterscheiden. Anhand dieser beiden Differenzen – »positive« und »negative« Eigenschaften sowie Wahrnehmung »vor« (unabhängig vom) und »nach« dem Wohlfahrtsstaat – lassen sich insgesamt vier Grundvarianten unterscheiden (Abb. 6.5.1):

Abbildung 6.5.1: Mögliche Zielgruppen- und Leistungsempfängerbilder

Wahrnehmung: unabhängig vom oder vor dem Leistungsbezug als Leistungsempfänger

positiv u.a. Wertschätzung des Alters; »Authentizität des Leids«

»Moralökonomie des Ruhestan-des«; »soziales Bewusstsein«

negativ u.a. »unsittlicher Lebenswandel«; falscher Arbeitsethos

moral hazard; disincentives;crowding out

Ein negatives, vom Wohlfahrtsstaat unabhängiges Zielgruppenbild besteht immer dann, wenn stigmatisierende und victimisierende Haltungen gegenüber gesellschaftlichen

193 Als sozialpolitische Zielgruppen werden hier Bevölkerungsteile bezeichnet, die erst durch ein Siche-

rungssystem zu Leistungsempfängern gemacht werden bzw. die »Grundgesamtheit« potenzieller Leis-tungsempfänger bilden (z.B. alte Menschen bei der Rentenversicherung; Arme bei der Sozialhilfe).

Page 215: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.5 Die Bedeutung des »Leistungsempfängerbildes« für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme 215

Teilgruppen wie Armen, Alkoholikern oder Vorbestraften verbreitet sind. Genau dies ist oft auch mit der Bezeichnung »undeserving poor« gemeint.

Im Unterschied dazu besteht ein negatives Leistungsempfängerbild, wenn der Wohl-fahrtsstaat bei den Leistungsempfängern erst die negativen Eigenschaften »hervor-lockt«.194 Dabei können zwei Hauptformen unterschieden werden. Die erste ist als »moral hazard« bekannt und bezieht sich auf die auch in Sozialversicherungen gege-bene Situation, dass der Versicherte dazu verleitet wird, ein höheres Risiko einzuge-hen, oder versucht, seinen Nutzen durch eigentlich nicht notwendige Leistungen zu erhöhen.

Die zweite wird häufig als »disincentive«-These bezeichnet und vor allem auf Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger bezogen. Dabei wird die relative Generosität der Leistungen dafür verantwortlich gemacht, dass sich die Leistungsempfänger nicht hinreichend bemühen (oder, in der radikaleren Variante, nicht mehr bereit sind), die für eine Beendigung des Leistungsbezugs notwendigen Schritte zu tun (z.B. die Annahme einer weniger gut bezahlten Arbeit oder der Beginn einer Fort-bildung). In allgemeiner Form wird zudem angenommen, dass die als komfortabel eingeschätzte wohlfahrtsstaatliche Absicherung und deren bürokratisch-paternalisti-sche Organisationsform individuelle Eigeninitiative und Selbsthilfefähigkeit sowie familiale und »bürgerschaftliche« Unterstützungsbereitschaft verkümmern lasse (»crowding out«-Hypothese).195

Die Diskussion um die Unterstützung sozialer Sicherungssysteme wird zwei-felsohne von den negativen Zielgruppen- und Leistungsempfängereigenschaften dominiert. Es ist jedoch auch gut möglich, dass sich nicht nur negative Eigenschaf-ten, die Leistungsempfängern zugeschrieben werden, abträglich auf die Akzeptanz des dazugehörigen Sicherungssystems auswirken, sondern dass umgekehrt auch po-sitive Zielgruppen- und Leistungsempfängereigenschaften eine akzeptanzsteigernde Wirkung entfalten.

Eine positive, vom Wohlfahrtsstaat unabhängige Wahrnehmung von Zielgruppen kann z.B. bei alten Menschen (allgemeine Wertschätzung), bei schwer Kranken und Inva-liden (Glaubwürdigkeit und »moralische Qualität« des Leids) sowie bei Kindern (ho-he Entwicklungsfähigkeit, geringe Selbsthilfefähigkeit, Chance auf Reziprozität) ver-mutet werden. Deutlicher ist aber vielleicht, dass der Wohlfahrtsstaat durch seine Regelungen der Finanzierung und Leistungsgewährung auch so etwas wie die Kategorie des »verdienten« Leistungsempfängers generiert. So hat vor allem Kohli (1987; 1989) her-ausgearbeitet, wie die Gesetzliche Rentenversicherung zur Entwicklung einer »Mo-

194 Auch diese Linie der Wohlfahrtsstaatskritik ist keineswegs neu. Schon im frühen Diskurs um die »Ar-

beiterversicherung« finden sich alle Einwände, die der sozialen Sicherung eine »degenerative« Wirkung unterstellen (vgl. z.B. Zwiedinek-Südenhorst 1913).

195 Wie bereits in Kapitel 5.3. gezeigt wurde, erfreut sich diese Annahme auch in der Bevölkerung einer größeren Beliebtheit.

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216 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

ralökonomie des Ruhestandes« geführt hat, in der der Bezug einer Rente allgemein als Ausgleich für Vorleistungen anerkannt wird.

Auf einer allgemeineren Ebene hat die sukzessive Einführung und Ausweitung wohlfahrtsstaatlicher Sicherungsformen zudem womöglich kollektive Lernprozesse ausgelöst, die zur Herausbildung eines »sozialen Bewusstseins« (De Swaan 1988) ge-führt haben, das zugleich eine kollektive Verantwortung für die Absicherung zentra-ler Risiken umfasst sowie die Erwartung, dass der (Wohlfahrts)Staat sich dieser Auf-gabe annimmt.196

Die »deservingness«-Diskussion hat vor allem in den USA eine lange und in-tensive Tradition, die sich bis zu den Anfängen des amerikanischen Wohlfahrtsstaa-tes zurückverfolgen lässt (Katz 1989) und über die »culture of poverty«- und under-class-Debatten (vgl. u.a. Gans 1995; Jencks 1991; Lewis 1968) bis zum Angriff neo-liberaler Wohlfahrtsstaatskritiker in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts reicht (vgl. u.a. Mead 1986; Murray 1984).197

Mittlerweile liegen einige Ergebnisse von Untersuchungen aus verschiedenen Ländern vor, in denen die in der Bevölkerung verbreiteten »Armutsbilder« erfasst und typisiert wurden. Zentral ist hier die Unterscheidung von »individualisierenden« und »sozialisierenden« Auffassungen von Armut und Arbeitslosigkeit (vgl. u.a. Bren-ke/Peter 1985; Feagin 1972, 1975; Fridberg/Ploug 2000; Kluegel 1987; van Oor-schot/Halman 2000; Will 1993). Van Oorschot und Halman (2000) unterscheiden in ihrer vergleichenden Untersuchung von Armutserklärungen anhand der Dimensionen »blame – fate« und »individual – social« sogar vier Erklärungstypen von Armut: indi-viduelle Verursachung/Schuld, individuelles Schicksal, soziale Verursachung/Schuld und soziales Schicksal. Auf der Basis von Daten aus der »European Values Study« kommen sie zu dem Ergebnis, dass die »soziale Verursachung/Schuld« (social blame) in europäischen Bevölkerungen am stärksten und die Erklärung von Armut als indi-viduelles Schicksal am wenigsten verbreitet ist.198

In US-amerikanischen Studien wurde zudem wiederholt festgestellt, dass victi-misierende Deutungsmuster von Armen zu einer geringeren Akzeptanz der entspre-chenden wohlfahrtsstaatlichen Programme führen (vgl. u.a. Cook/Barrett 1992; Gi-lens 1995; Kluegel/Smith 1986; Will 1993; für Australien vgl. a. Eardly/Matheson 1999). Für europäische Staaten konnten zumindest für die »Missbrauchswahrneh-

196 Als zumindest ambivalent werden dagegen die durch die soziale Absicherung bedingten Prozesse

der Sozialdisziplinierung und Pazifizierung der Arbeiterschaft beurteilt (vgl. u.a. De Swaan 1988; Fre-vert 1984; Rodenstein 1978).

197 »Social policy cannot fully be understood without recognizing that it is fundamentally a set of sym-bols that try to differentiate between the deserving and the undeserving poor in order to uphold such dominant values as the work ethic and family, gender, race, and ethnic relations« (Handler/Hasen-feld 1991: 11).

198 Nur in einzelnen Ländern (z.B. Tschechien und den USA) ist dagegen das Deutungsmuster des »individual blame« dominant. Im Zeitvergleich stellen van Oorschot und Halman (2000) zudem eine Zunahme von Armutserklärungen fest, die auf gesellschaftliche Ursachen rekurrieren.

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6.5 Die Bedeutung des »Leistungsempfängerbildes« für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme 217

mung« akzeptanzmindernde Wirkungen nachgewiesen werden (vgl. Hamann et al. 2001: 200ff.; Mau 2003: 121ff.; Norden 1986: 50).

Zur Operationalisierung der Leistungsempfängereigenschaften (»deservingness«)

Sofern der Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung der Leistungsempfänger und wohlfahrtsstaatlichen Einstellungen nicht sogar nur einfach postuliert wird, beschrän-ken sich empirische Nachweise eines solchen Zusammenhangs meist auf Einzelas-pekte (z.B. Missbrauch), wohlfahrtsstaatliche Teilbereiche oder auf Arme und So-zialhilfeempfänger (bzw. Empfänger äquivalenter armutsvermeidender Leistungen). Für eine Beurteilung des Einflusses der »Leistungsempfängerbilder« auf die Akzep-tanz sozialer Sicherungssysteme ist aber zweierlei erforderlich: Erstens die Klärung des Spektrums aller Leistungsempfängereigenschaften (positive wie negative), die für das Leistungsempfängerbild und die Akzeptanzurteile wichtig sein können, und zweitens dessen Verallgemeinerung für alle Typen von Leistungsempfängern.

Der vermutlich früheste Versuch, allgemeine und umfassende Leistungsemp-fängereigenschaften zu definieren und ihre Bedeutung für die Akzeptanzurteile zu untersuchen, stammt von Cook und Barrett (1992; vgl. a. Cook 1997).199 In ihrer Untersuchung zur Akzeptanz von drei US-amerikanischen Sicherungssystemen (Me-dicaid, AFDC und »Social Security«) unterscheiden sie mit der Bedürftigkeit (»really need money«), dem Wunsch, den Leistungsbezug zu beenden (»want to be indepen-dent«), dem sparsamen Umgang mit erhaltenen Leistungen (»spend benefits wisely«), dem selbstverschuldeten Leistungsbezug (»own fault on program«) und dem Fehlen alternativer Unterstützungsmöglichkeiten im sozialen Umfeld (»no other sources«) insgesamt fünf »deservingness«-Kriterien (1992: 37ff.), die allerdings nicht immer trennscharf sind.

In ihren Analysen können sie zeigen, dass diese Eigenschaften den Leistungs-empfängern der untersuchten Sicherungssysteme in unterschiedlichem Maße zuge-rechnet werden (1992: 96ff.). Anhand von Regressionsanalysen können sie zudem einen erheblichen Einfluss aller fünf »deservingness«-Kriterien auf die Unterstüt-zung für die drei Sicherungssysteme nachweisen, wobei die vermutete Bedürftigkeit der Leistungsempfänger und ihr Wunsch, den Leistungsbezug zu beenden, die größ-ten Effekte aufweisen (Cook/Barrett 1992: 102ff.). Darüber hinaus machen sie deut-lich, dass »deservingness«-Kriterien für die beiden Programme, die sich an sozial Bedürftige wenden (Medicaid und AFDC) von größerer Bedeutung sind als für die Beurteilung der »Social Security« (Sozialversicherung).

199 Vgl. aber auch De Swaan (1988: 15ff.), der auf der Basis historisch-soziologischer Betrachtungen

die Kriterien Fügsamkeit (docility), räumliche und soziale Nähe (proximity) und Behinderung/-Selbsthilfefähigkeit (disability) als entscheidende Kriterien für die »deservingness« von Armen und anderen Hilfsbedürftigen herausstellt.

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218 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

In einer niederländischen Untersuchung legt van Oorschot (2000b) insgesamt fünf Kriterien seiner Analyse der attribuierten »deservingness« von Leistungsemp-fängern zugrunde. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass vor allem eine geringe Schuld am Leistungsbezug, die soziale Nähe (z.B. gleiche Nationalität wie die Be-fragten) sowie erworbene Ansprüche (z.B. durch vorherige Beitragszahlung) Leis-tungsempfänger als »deserving« erscheinen lassen. Anders als Cook und Barrett (1992) unterlässt van Oorschot es jedoch zu untersuchen, wie die Unterschiede in der zu-geschriebenen »deservingness« der Leistungsempfänger die Akzeptanz sozialer Si-cherungssysteme beeinflussen.200

Im Folgenden geht es jedoch nicht um die Frage, »who should get what, and why« (van Oorschot 2000b), sondern darum, wie sich die Eigenschaften, die den unterschiedlichen Kategorien der Leistungsempfänger zugeschrieben werden, auf die Akzeptanz der jeweiligen Sicherungssysteme auswirken.201

Auch wenn die bei Cook und Barrett (1992) verwendeten »deservingness«-Kri-terien zu sehr auf den US-amerikanischen Kontext bezogen sind (und ihre Itemfor-mulierungen für einen europäischen Kontext wohl zu plakativ sind), lassen die von ihnen, von van Oorschot (2000b) und von De Swaan (1988) hergeleiteten Leistungs-empfängereigenschaften erkennen, welche Aspekte oder Dimensionen der Leis-tungsempfänger und ihres Verhaltens nicht nur für deren Beurteilung, sondern auch für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme relevant sind. Auf dieser Basis kön-nen insgesamt vier Kriterien der Leistungsempfänger-»deservingness« unterschieden werden. Dies sind:

1. die Bedürftigkeit der Leistungsempfänger bzw. die Glaubwürdigkeit und der Grad der Bedürftigkeit (»wirkliche« Bedürftigkeit).

2. das Verhalten vor einem Leistungsbezug, das – in Abhängigkeit von der institutio-nellen Struktur der Sicherungssysteme – wiederum in zwei Aspekte unterteilt werden muss, nämlich in die Fragen, (a) ob ein Anspruch auf Leistungen aufgrund spezifischer Beiträge erworben wurde oder aufgrund allgemeiner Vorleistungen oder Eigenschaften zuerkannt

200 Dies ergibt sich allerdings bereits aus der Form, wie er die »deservingness«-Kriterien untersucht.

Denn van Oorshot (2000b) geht dabei so vor, dass er eine Reihe von Leistungsempfängergruppen einzeln beurteilen lässt, denen er selbst die von ihm unterschiedenen Kriterien zuordnet. Auf der Basis der empirischen Rangskala von Leistungsempfängergruppen beurteilt er dann, welche Merk-male zu einer höheren Unterstützung der Leistungsempfänger führen. Ob die Befragten den jewei-ligen Leistungsempfängergruppen aber überhaupt die von van Oorschot angenommenen Eigen-schaften zuschreiben, geht aus einem solchen Forschungsdesign natürlich nicht hervor.

201 Mit Ausnahme der bereits in Kapitel 6.3. erfolgten Analyse der wahrgenommenen Anspruchsbe-rechtigung von Rentnern wird hier die Frage, welche sozialen Gruppen Leistungsempfänger in der einen oder anderen Weise wahrnehmen und ob dabei einzelne Interessenparameter oder Wertorien-tierungen eine Rolle spielen, wiewohl gewiss selbst ein erklärungsbedürftiges Phänomen, nicht behandelt. Vgl. hierzu a. Christoph (2006).

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6.5 Die Bedeutung des »Leistungsempfängerbildes« für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme 219

werden kann, und (b) ob bzw. in welchem Grade ein Leistungsbezug durch schuldhaftes Verhalten der Leistungsempfänger verursacht wurde.

3. das Verhalten während des Leistungsbezugs, für das ebenfalls zwei Aspekte unter-schieden werden können. Dies sind (a) Verhaltensweisen, die im weitesten Sinne als »Missbrauch« oder Verschwen-dung von Leistungen angesehen werden können, sowie (b) die Bemühungen, die Leistungsempfänger unternehmen, um ihren Leistungs-bezug zu beenden.

4. die allgemeine Wertschätzung sozialpolitischer »Zielgruppen«, die durch unterschied-liche Faktoren (u.a. die soziale Nähe) beeinflusst werden kann.

Auf der Basis dieser Unterscheidung grundlegender »deservingness«-Aspekte wurden im Rahmen der Umfrage »Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates« sechs ver-schiedene Items entwickelt, die stets für mehrere Leistungsempfängertypen (bzw. Zielgruppen) mit ähnlichen, aber jeweils den institutionellen Settings angepassten Formulierungen verwendet wurden (vgl. Abbildung 6.5.2 für eine Übersicht für die in den einzelnen Bereichen verwendeten Items sowie Anhang A2.2 für die genauen Formulierungen).

Abbildung 6.5.2: Verteilung der untersuchten »deservingness«-Kriterien

GKV-Versi-cherte/Kranke

Rentner/alteMenschen

Arbeitslose(n-geldempfänger)

Sozialhilfeempfänger/Arme

Familien (Kindergeld)

Bedürftigkeit + + + + +

Anspruch + + + + +

soziale Wert-schätzung + + + + +

Missbrauch + + + + -

Victimisierung (Verbleib) - - + + -

Victimisierung (Eintritt) - - - + -

Das erste erfasst die Bedürftigkeit der Leistungsempfänger bzw., in welchem Maße diese als »wirklich« bedürftig gelten. Die Frage der (Anerkennung von) Bedürftigkeit kann allgemein als zentrales Beurteilungskriterium aller Leistungsempfängertypen angesehen werden. Denn jedes soziale Sicherungssystem steht vor dem doppelten Problem, möglichst allen Bedürftigen Leistungen zu gewähren und gleichzeitig zu verhindern, dass Unberechtigte Leistungen erhalten.

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220 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass Bedürftigkeit als Kriteri-um für den Zugang zu Leistungen unterschiedlich bedeutsam ist. Ganz entschei-dend ist sie bei Leistungen für Arme und andere »Bedürftige«; typischerweise wer-den in den entsprechenden Sicherungssystemen Leistungen auch erst nach einer Be-dürftigkeitsprüfung gewährt. Dagegen liegt insbesondere den Sozialversicherungen ein bestenfalls »großzügiger« Bedürftigkeitsbegriff im Sinne des »Versicherungsfalls« zugrunde. Ob die Leistungsempfänger – also z.B. Rentner oder Arbeitslosengeld-empfänger – zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts tatsächlich auf die erhaltenen Leistungen angewiesen sind oder ob sie über alternative Mittel, z.B. ein Vermögen, verfügen, spielt hier fast keine Rolle. Die allgemeine Annahme über die »Akzep-tanzwirkung« des Merkmals Bedürftigkeit lautet hier dennoch, dass mit dem Grad der wahrgenommenen Bedürftigkeit die Akzeptanz der betreffenden Sicherungssys-teme (Präferenzen für höhere Leistungen und eine staatliche Zuständigkeit) steigt.

Für die Beurteilung von sozialversicherten Leistungsempfängern scheint das Kriterium der Anspruchsberechtigung wichtiger als Aspekte der Bedürftigkeit. Hierbei geht es um die Frage, inwiefern die Leistungsempfänger sich durch vorherige Bei-tragszahlungen einen Anspruch auf die erhaltenen Leistungen erworben haben. Da auf diese Weise erworbene Ansprüche nur im Bereich der Sozialversicherungen Sinn machen, wurden für die beiden übrigen Leistungsempfängergruppen jeweils andere Gründe für eine Anspruchsberechtigung formuliert, sodass die Vergleichbar-keit hier nur in eingeschränkter Form gegeben ist.202 Hinsichtlich der Akzeptanz der Sicherungssysteme lautet die allgemeine Vermutung, dass diese mit dem Grad der Anspruchsberechtigung, die den Leistungsempfängern zugeschriebenen wird, steigt.

Als dritte Eigenschaft, die einer »deservingness« von Leistungsempfängern zu-grunde liegen kann, soll auch die allgemeine soziale Wertschätzung oder »Unterstützungs-würdigkeit« der Zielgruppe berücksichtigt werden. Hierbei geht es um die zunächst erst einmal systemunabhängige Beurteilung203 von Bevölkerungsgruppen, die die jeweiligen Zielgruppen der untersuchten Sicherungssysteme bilden (Arme, Arbeitslose, alte und kranke Menschen, Familien). Für die hier interessierende Fragestellung ist dabei unerheblich, worauf die allgemeine Wertschätzung einer Leistungsempfängergruppe und mögliche Unterschiede in der zugeschriebenen Unterstützungswürdigkeit zu-rückzuführen sind.

202 Bei Sozialhilfeempfängern ist dies ein allgemeines (Menschen)Recht auf eine Mindestsicherung, bei

Familien der durch die Kindererziehung geleistete »Beitrag für die Gesellschaft« (Anhang A2.2). 203 Es wäre allerdings naiv anzunehmen, dass man z.B. die Wahrnehmung alter Menschen unabhängig

und unberührt von der Gesetzlichen Rentenversicherung und der durch sie entstandenen Versor-gungsklasse der Rentner erfassen könne, oder dass ein solches Altersbild auch nur existiert. Es wird hier jedoch davon ausgegangen, dass die Wahrnehmung der sozialpolitischen Zielgruppen nicht ausschließlich durch die jeweiligen Leistungsempfängerkategorien bestimmt wird. Von einer vom Sicherungssystem weitgehend unabhängigen Wahrnehmung kann vor allem dort ausgegangen werden, wo der Leistungsbezug nicht zur Herausbildung einer Versorgungsklasse bzw. eines konturierten Leistungsempfängertyps geführt hat (Familien, Kranke).

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6.5 Die Bedeutung des »Leistungsempfängerbildes« für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme 221

Für die Akzeptanz der untersuchten Sicherungssysteme wird in allen Fällen an-genommen, dass diese hoch ist, wenn die entsprechende »Zielgruppe« als unterstüt-zungswürdig gilt.

Zu den »negativen«, akzeptanzmindernden Verhaltensweisen von Leistungs-empfängern zählt der Leistungsmissbrauch. Die Möglichkeiten zu Missbräuchen von Sozialleistungen durch Leistungsempfänger sind allerdings in den einzelnen Siche-rungssystemen unterschiedlich groß. Im Unterschied zur Arbeitslosenversicherung und vor allem zur Sozialhilfe bestehen in der Gesetzlichen Rentenversicherung kaum Missbrauchsmöglichkeiten und in der Gesetzlichen Krankenversicherung be-steht zumindest nur ein geringer Anreiz zu missbräuchlichen Leistungsentnahmen.204

Angesichts der öffentlichen Missbrauchsdiskurse muss jedoch davon ausgegangen werden, dass die Befragten in jedem der Sicherungssysteme Missbrauchsverhalten vermuten und dass sich dies auf ihre Akzeptanzurteile auswirkt. Mit Ausnahme des Bereichs Familien/Kindergeld wurde daher für alle Bereiche die Wahrnehmung von Leistungsmissbräuchen erfragt.205 Hinsichtlich ihres Einflusses auf die Akzeptanz der Sicherungssysteme wird angenommen, dass eine hohe Wahrnehmung von Leis-tungsmissbräuchen zu einer geringen Akzeptanz führt.

Die beiden weiteren Verhaltensweisen, die Leistungsempfängern zugeschrie-ben werden können und von denen eine akzeptanzmindernde Wirkung anzuneh-men ist, können zusammenfassend als »Victimisierungen« bezeichnet werden. Mit die-sem Begriff wird zum Ausdruck gebracht, dass Leistungsempfänger (als »Opfer«) in erster Linie selbst für ihre Situation verantwortlich gemacht werden. Der oben getrof-fenen Unterscheidung von (Fehl)Verhalten vor und während des Leistungsbezugs entsprechend können dabei zwei Arten unterschieden werden, die sich auf das »Ein-tritts-« und auf das »Verbleibsrisiko« beziehen. Im ersten Fall verursacht der Leis-tungsempfänger einen unnötigen Leistungsbezug (z.B. durch freiwillige Arbeitslo-sigkeit), im zweiten bemüht er sich nicht hinreichend, den Leistungsbezug zu been-den. Die erste Form soll im Folgenden daher auch als »Eintrittsvictimisierung«, die zweite als »Verbleibsvictimisierung« bezeichnet werden.

Victimisierende Haltungen machen allerdings nur Sinn, wenn der Leistungsbe-zug als »eigentlich« unerwünschter Zustand definiert wird, aber infolge falscher An-

204 Im Unterschied zu den zahlreichen Missbrauchsmöglichkeiten der Leistungsanbieter und in Ab-

grenzung zum Problem der »over-utilization«, das aus der spezifischen Interaktionslogik einer Ver-sicherung mit »third party payment« erwächst und nicht auf eine vom Leistungsempfänger intendierte Nutzenmaximierung zurückzuführen ist. Als nicht oder nur von geringem Belang für die Gesetzliche Krankenversicherung sind auch Missbrauchsmöglichkeiten einzuschätzen, bei denen in erster Linie die Arbeitgeber geschädigt werden (z.B. durch »Krankfeiern«).

205 In der Itemformulierung wurde dabei offen gelassen, welche Verhaltensweisen als »Missbrauch« anzu-sehen sind (und von welchen Akteuren dieser ausgeht), sodass den Beurteilungen rein subjektive Ein-schätzungen der Befragten zugrunde liegen. Durch eine »weiche«, auf das jeweilige Sicherungssystem bezogene Formulierung der Items wurde zudem versucht, Effekte sozialer Erwünschtheit zu mi-nimieren.

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222 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

reizstrukturen und moralischen Fehlverhaltens der Betroffenen häufiger eintritt oder länger als notwendig anhält. Diese Bedingungen sind bei Rentnern, Familien und Kranken nicht gegeben. Victimisierende Haltungen gegenüber Leistungsempfängern wurden daher nur für Arbeitslose (»Verbleibsvictimisierung«) und für Sozialhilfe-empfänger (»Eintrittsvictimisierung« und »Verbleibsvictimisierung«) erhoben.206

Die Darstellung der Leistungsempfängereigenschaften (»deservingness«-Krite-rien) und ihrer möglichen Akzeptanzwirkungen lässt sich zunächst zu der grundle-genden Hypothese zusammenfassen, dass die Wahrnehmung oder Zuschreibung positiver Leistungsempfängereigenschaften allgemein zu einer höheren, die negati-ver Eigenschaften dagegen zu einer geringeren Akzeptanz führt (H1).

Darüber hinaus wird angenommen, dass die Effekte der Leistungsempfänger-bilder bei besonders »konturierten« und »sichtbaren« Leistungsempfängergruppen am stärksten sind (H2.1). Die größte »Sichtbarkeit« kann für Rentner, Sozialhilfe-empfänger und – in einem etwas geringeren Maße – für Arbeitslose angenommen werden, weil diese Gruppen bereits durch ihren Status als dauerhafte Leistungsemp-fänger (Versorgungsklasse) definiert sind. Es wird daher angenommen, dass die Be-urteilung der Rentenversicherung, der Sozialhilfe und der Arbeitslosenversicherung stärker durch die Wahrnehmung der jeweiligen Leistungsempfänger beeinflusst wird als die der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Leistungen für Familien.

Aufgrund des Befundes von Cook und Barrett (1992), dass die »deservingness«-Kriterien sich bei Programmen für Bedürftige deutlich stärker auswirken als bei der Sozialversicherung, wird auch hier für die Sozialhilfe eine insgesamt größere Bedeu-tung der Leistungsempfängereigenschaften vermutet als für alle anderen Sicherungs-bereiche (H2.2). Diese Annahme steht nicht nur in einer gewissen Konkurrenz zur Hypothese H2.1, sondern wird auch durch die Berücksichtigung des eher auf So-zialversicherungen bezogenen Kriteriums der Anspruchsberechtigung relativiert.

Weiter wird davon ausgegangen, dass die einzelnen »deservingness«-Kriterien für die verschiedenen Sicherungssysteme unterschiedlich relevant sind (H3). Im ein-zelnen wird angenommen, dass

die Frage der »wirklichen« Bedürftigkeit der Leistungsempfänger für stärker dem Pol der Bedarfsgerechtigkeit zuzurechnende Sicherungssysteme (Gesetzli-che Krankenversicherung, Sozialhilfe) wichtiger ist als für eher am Prinzip der Leistungsgerechtigkeit orientierte Systeme (Renten- und Arbeitslosenversiche-rung) (H3.1). Für die wahrgenommene »Anspruchsberechtigung« wird ein stärkerer Einfluss auf die Beurteilung der Sozialversicherungen vermutet, insbesondere jedoch

206 Bei den Itemformulierungen wurden keine kausalen Bezüge zu den Sicherungssystemen (Fehlver-

halten als Folge der Absicherung) hergestellt (Anhang A2.2).

Page 223: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.5 Die Bedeutung des »Leistungsempfängerbildes« für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme 223

auf die stärker am Prinzip der Leistungsgerechtigkeit orientierten Sicherungs-systeme (H3.2). Bei der sozialen Wertschätzung (Unterstützungswürdigkeit) ist eher ein für alle Sicherungssysteme gleich starker Einfluss zu vermuten. Ähnlich wie beim Merk-mal der Bedürftigkeit (und insbesondere, wenn sich die Annahme H3.2 bestäti-gen sollte207) kann aber auch eine etwas größere Bedeutung bei bedarfsorien-tierten Sicherungssystemen vermutet werden (H3.3). Für die negativen Leistungsempfängereigenschaften (Missbrauchswahrnehmung und Victimisierung von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern) wird für alle Sicherungssysteme unterschiedslos eine akzeptanzabträgliche Wirkung ange-nommen (H3.4).

Schließlich können auch für die einzelnen Akzeptanzindikatoren unterschiedli-che Einflüsse der Leistungsempfängereigenschaften vermutet werden. Allgemein soll dabei davon ausgegangen werden, dass sich die »deservingness«-Kriterien bei den Indikatoren der Wohlfahrtsstaatlichkeit insgesamt stärker auf die »Leistungsbewer-tung« (Präferenzen bezüglich der Leistungshöhe) auswirken als auf die Frage einer staatlichen Zuständigkeit (H4). So scheint es z.B. plausibel, dass die Wahrnehmung »negativer« Leistungsempfängereigenschaften zur Befürwortung eines geringe(re)n Leistungsniveaus führt, aber nicht gleich zur völligen Ablehnung einer wohlfahrts-staatlichen Absicherung.

Ebenso wird angenommen, dass sich die »deservingness«-Kriterien stärker auf die gewünschte Wohlfahrtsstaatlichkeit und weniger auf die Institutionenakzeptanz und das Vertrauen in die Sicherungssysteme auswirken. Diese Annahme bleibt hier aber gewissermaßen »vor die Klammer gezogen«, weil sie bereits der Auswahl der Akzeptanzindikatoren für die nachfolgenden Analysen zugrunde liegt.208 Im nächsten Abschnitt wird somit der Einfluss aller genannten Leistungsempfängereigenschaften auf die Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit (Umfang und Grad der wohlfahrtsstaat-lichen Sicherung) untersucht. Dabei wird die Bedeutung der »deservingness«-Krite-rien jeweils für alle sozialpolitischen Aufgaben (staatliche Zuständigkeit) und für alle »Leistungsbewertungen« (Präferenzen bezüglich der Leistungshöhe) analysiert.

207 In diesem Fall kann eine »Kompensation« angenommen werden: Wenn die »Anspruchsberechti-

gung« einen starken Einfluss auf die Akzeptanzurteile ausübt, wird sich der der »Unterstützungs-würdigkeit« bei den Sozialversicherungen entsprechend verringern.

208 Aufgrund der Tatsche, dass Leistungsempfängerkategorien erst durch die konkreten Sicherungssysteme entstehen, bestehen zudem auch Zweifel, ob die Institutionenakzeptanz in diesem Zusammenhang als abhängige Variable verwendet werden kann. Zumindest bei den klar »sichtbaren« Leistungsemp-fängertypen wäre keine trennscharfe Abgrenzung von Erklärungsfaktoren und Akzeptanzobjekt mehr möglich, sodass sich etwaige Effekte nicht ohne weiteres als Kausalbeziehungen interpretieren lassen.

Page 224: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

224 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

6.5.2 Die Wahrnehmung der Leistungsempfänger

Die Häufigkeitsverteilungen zeigen für alle drei Leistungsempfängereigenschaften, von denen angenommen wird, dass sie sich »förderlich« auf die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme auswirken (Bedürftigkeit, der berechtigte Anspruch und die so-ziale Wertschätzung bzw. Unterstützungswürdigkeit) ein übereinstimmendes Muster (vgl. Abb. 6.5.3a): Rentner und GKV-Versicherte, die Leistungen beziehen, werden – bei nur geringen Unterschieden zwischen diesen beiden Leistungsempfängertypen – offenbar am »positivsten« von den Befragten wahrgenommen. Ihnen wird im höchsten Maße eine Bedürftigkeit attestiert (Rentner: 96,4 % [70,7 % »voll und ganz«]; GKV-Versicherte: 94, 6 % [61,5 % »voll und ganz«]) und ihre Ansprüche auf Leistungen, die sich aus Vorleistungen in Form von Beitragszahlungen ableiten, gelten fast allen als berechtigt (Rentner: 95,5 % [72,7 % »voll und ganz«]; GKV-Ver-sicherte: 94,7 % [62,2 % »voll und ganz«]). Kranke und alte Menschen genießen überdies die höchste allgemeine soziale Wertschätzung. So halten 95,6 Prozent alte Menschen und fast genauso viel, nämlich 94,9 Prozent, Kranke für unterstützungs-würdig. Immerhin über die Hälfte der Befragten ist sogar »voll und ganz« der An-sicht, dass alte Menschen (52,3 %) und Kranke (52,1 %) »in besonderem Maße die Unterstützung der Gesellschaft verdienen«.

Ähnlich positiv werden auch Familien (als Empfänger von Kindergeld) wahr-genommen. Jeweils eine deutliche Mehrheit der Befragten hält Familien für bedürf-tig (90,2 % [54,2 % »voll und ganz«]) und ihre Leistungsansprüche (Kindergeld), die sich aus dem »wichtigen Beitrag für die Gesellschaft«, den Familien durch die Kin-dererziehung leisten, ableiten, für legitim (93,7 % [62,8 %]) und Familien allgemein für unterstützungswürdig (94,1 % [59,8 %]).

Ein gewisser Abfall dieser überaus positiven Wahrnehmung der Leistungsemp-fänger ist bei den beiden verbleibenden Leistungsempfängertypen festzustellen. Da-bei ist die soziale Wertschätzung der Armen (86,8 %) nur geringfügig höher als die der Arbeitslosen (85,4 %); nur jeweils ein knappes Drittel der Befragten zeigt sich »voll und ganz« davon überzeugt, dass Arme (32,1 %) und Arbeitslose (30,6 %) die Unterstützung der Gesellschaft verdienen. Auch von der Bedürftigkeit der Sozialhil-feempfänger (82,4 % [33,0 % »voll und ganz«]) und der Arbeitslosen (88,7 % [47,9 % »voll und ganz«]) sind etwas weniger Befragte überzeugt als bei den anderen Leistungsempfängergruppen.

Page 225: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.5 Die Bedeutung des »Leistungsempfängerbildes« für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme 225

Abbildung 6.5.3a: Wahrnehmung der Leistungsempfänger: »positive« Eigenschaften (zusammengefasste Werte für Zustimmung in Prozent209)

70,7

25,7

61,5

33,0

47,9

40,8

33,0

49,4

54,2

36,0

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

Rentner Kranke Arbeitslose Sozialhilfeempfänger Familien

Bedürftigkeit

96,4 94,6

88,782,4

90,2

N=1472-1511

72,7

22,8

62,2

32,6

49,2

40,2

33,7

49,2

62,8

30,8

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

Rentner Kranke Arbeitslose Sozialhilfeempfänger Familien

Anspruchsberechtigung

95,5 94,789,3

83,0

93,7

N=1486-1511

209 Die unteren Werte geben den Anteil der Befragten an, der den Aussagen »voll und ganz«

zustimmt, die oberen Werte den jeweiligen Gesamtanteil der Zustimmenden (s. a. Anhang A2.2).

Page 226: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

226 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

52,3

43,3

52,1

42,8

30,6

54,8

32,1

54,8

59,8

34,3

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

Rentner Kranke Arbeitslose Sozialhilfeempfänger Familien

Unterstützungswürdigkeit

95,6 94,9

85,4 86,8

94,1

N=1480-1510

Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Frage der Anspruchsberechtigung, die sich bei den Sozialhilfeempfängern aus einem sozialen Recht und bei den Arbeitslosen (Emp-fänger von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe) aus den zuvor gezahlten Bei-trägen ableitet. Derart begründete Leistungsansprüche werden immerhin von 83,0 Prozent der Befragten den Sozialhilfeempfängern und von 89,3 Prozent der Befrag-ten den Arbeitslosen zuerkannt. Wie bei der »Bedürftigkeit« sind die Unterschiede zwischen Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern größer, wenn man nur die Werte der obersten Kategorie vergleicht: So ist bei Sozialhilfeempfängern nur ein Drittel (33,7 %) der Befragten, bei Arbeitslosen aber immerhin fast die Hälfte (49,2 %) »voll und ganz« von der Berechtigung des Leistungsanspruches überzeugt.

Weitgehend spiegelbildlich fallen die Wahrnehmungen negativer Leistungs-empfängereigenschaften aus (vgl. Abb. 6.5.3b). Unmittelbar vergleichbar sind sie al-lerdings nur für den Aspekt des »Missbrauchs«.210 Die Häufigkeiten bei der Miss-brauchswahrnehmung entsprechen insofern den Erwartungen, als bei der Sozialhilfe (76,2 % [32,9 % »voll und ganz«]) und der Arbeitslosenversicherung (63,2 % [23,0 %]) Missbrauch deutlich häufiger vermutet wird als bei der Rentenversicherung (55,4 % [20,0 %]) und der Gesetzlichen Krankenversicherung (51,7 % [17,4 %]).

Dennoch relativiert die Missbrauchswahrnehmung gerade für die Rentner und die GKV-Versicherten das »positive« Leistungsempfängerbild. Denn ungeachtet der Differenz zur Arbeitslosenversicherung und zur Sozialhilfe ist die Missbrauchs-wahrnehmung auch hier sehr hoch. Offenbar geht die Mehrheit der Befragten da-von aus, dass es in allen Sicherungssystemen zumindest in einem gewissen Umfang zu Leistungsmissbräuchen kommt.

210 Allerdings fehlt ein Missbrauchsindikator für das Kindergeld.

Page 227: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.5 Die Bedeutung des »Leistungsempfängerbildes« für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme 227

Abbildung 6.5.3b: Wahrnehmung der Leistungsempfänger: »negative« Eigenschaften (zusammengefasste Werte für Zustimmung in Prozent; vgl. An-merkung zu Abb. 6.5.3a)

20,0

35,3

17,4

34,2

23,0

40,2

25,2

40,6

32,9

43,3

29,9

42,9

11,7

41,3

0,0

10,0

20,0

30,0

40,0

50,0

60,0

70,0

80,0

GRV:Missbrauch

GKV:Missbrauch

AV: Missbrauch

Arbeitslose:Victimisierung

(Verbleib)

Sozialhilfe:Missbrauch

Sozialhilfe-empfänger:

Victimisierung(Verbleib)

Sozialhilfe-empfänger:

Victimisierung(Eintritt)

Missbrauch und Victimisierung

55,451,7

63,265,8

76,272,8

53,1

N=1310-1467

Auch den Aussagen, dass Sozialhilfeempfänger bzw. Arbeitslose eine Mitschuld am (längeren) Verbleib im Leistungsbezug haben, stimmen die meisten Befragten zu. Immerhin 65,8 Prozent der Befragten sind der Ansicht, dass »viele Arbeitslose (...) nicht so lange Arbeitslosengeld beziehen (müssten), wenn sie sich mehr Mühe geben würden, einen neuen Arbeitsplatz zu finden«. Bei den Sozialhilfeempfängern sind sogar 72,8 Prozent der Befragten von einer mangelnden »Mitwirkungsbereitschaft« der Leistungsempfänger überzeugt. Und immerhin über ein Viertel ist sogar »voll und ganz« der Meinung, dass Arbeitslose (25,2 %) und Sozialhilfeempfänger (29,9 %) nicht genug dafür tun, um den Leistungsbezug zu beenden. Deutlich gerin-ger ist dagegen die »Eintrittsvictimisierung« der Sozialhilfeempfänger. Nur etwas mehr als die Hälfte der Befragten (53,1 %) glaubt, dass »viele Sozialhilfeempfänger (...) durch eigenes Verschulden in die Sozialhilfe gerutscht« sind, und nur 11,7 Pro-zent sind davon »voll und ganz« überzeugt. Der Eintritt des »Sozialhilfefalls« wird damit weit weniger victimisiert als der dauerhafte Bezug von Sozialhilfe.

Insgesamt lassen die Häufigkeitsverteilungen eine klare Hierarchie der »Beliebt-heit« der unterschiedlichen Leistungsempfängergruppen erkennen: Rentnern (bzw. älteren Menschen), Kranken (GKV-Versicherte) und Familien werden im höheren Maße positive und deutlich seltener negative Eigenschaften zugeschrieben als Arbeitslo-sen und Sozialhilfeempfängern (bzw. Armen). Die entscheidende Trennlinie ver-

Page 228: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

228 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

läuft insofern nicht zwischen sozialversicherungspflichtigen Leistungsempfängern und anderen (Sozialhilfeempfänger, Familien), sondern eher zwischen Mehrheits- und Minderheitsprogrammen (Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger). Dabei darf je-doch nicht übersehen werden, dass sich diese Unterschiede alle auf einem »sehr ho-hen Niveau« bewegen, sofern man die reine (einfache) Zustimmung zugrunde legt. Auch Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern werden also überwiegend positive Eigenschaften zugeschrieben.

Die Unterschiede zwischen den unterschiedlichen »positiven Eigenschaften« sind bei den einzelnen Leistungsempfängergruppen jeweils eher gering. Insofern sind die Leistungsempfängerbilder konsistent: Wer eine Leistungsempfängergruppe für be-dürftig hält, der hält meist auch ihre Ansprüche für berechtigt und die weitere sozial-politische Zielgruppe für unterstützungswürdig.

Den positiven Eigenschaften nahezu spiegelbildlich sind die Unterschiede zwi-schen den einzelnen Leistungsempfängergruppen bei der »Missbrauchswahrnehmung«. In den beiden großen Sozialversicherungen werden weniger Leistungsmissbräuche vermutet als bei der Arbeitslosenversicherung und der Sozialhilfe. Bei den Victimisie-rungen besteht wiederum ein Unterschied zwischen der Arbeitslosen- und der So-zialhilfeempfängerwahrnehmung (»Verbleibsvictimisierung«), wobei Sozialhilfeemp-fängern etwas häufiger mangelndes Engagement zur Beendigung des Leistungsbezugs unterstellt wird.

Soweit entsprechen diese deskriptiven Ergebnisse den oben formulierten Er-wartungen – und gewiss auch allgemein verbreiteten Vorstellungen. Darüber hinaus sind aber drei kleinere »Anomalien« zu erkennen: So entsprechen die alles in allem doch hohen Werte bei der Missbrauchswahrnehmung für die Rentenversicherung und Gesetzliche Krankenversicherung nicht ganz den allgemein positiven Leistungs-empfängerbildern.211 So will es nicht so recht zur hohen Anerkennung einer »wirkli-chen« Bedürftigkeit und eines Leistungsanspruchs der Rentner von jeweils über 90 Prozent der Befragten passen, dass auch mehr als jeder zweite Befragte bei der Ge-setzlichen Rentenversicherung Missbrauch vermutet.

Umgekehrt sind die Leistungsempfängerbilder der Arbeitslosen und Sozialhilfe-empfänger – trotz des Abstandes zu Rentnern, GKV-Versicherten und Familien – zu »positiv« angesichts der sehr hohen Missbrauchsvermutung (bei der Sozialhilfe im-merhin von drei Vierteln der Befragten) und der ausgeprägten »Verbleibsvictimisie-rung«. Auffällig ist schließlich auch der relativ deutliche Unterschied zwischen der hohen »Verbleibsvictimisierung« bei Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern und der im Vergleich dazu geringen »Eintrittsvictimisierung« (nur bei Sozialhilfeempfängern).

211 Ein möglicher Grund hierfür könnte in der »weichen« Form der Itemformulierung liegen. Um

Problemen der sozialen Erwünschtheit zu begegnen, wurde beim »Missbrauch« kein expliziter Bezug zu Handlungsmotiven der Leistungsempfänger herstellt. Zudem wurde offen gelassen, durch wen (Leistungsempfänger oder andere Akteure) Missbräuche verursacht werden.

Page 229: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.5 Die Bedeutung des »Leistungsempfängerbildes« für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme 229

6.5.3 Der Einfluss der Leistungsempfängerwahrnehmung auf die Akzeptanzurteile

Im Folgenden soll untersucht werden, wie sich die Wahrnehmung der Leistungs-empfänger, die »Leistungsempfängerbilder«, auf die Akzeptanz der jeweiligen sozia-len Sicherungssysteme auswirkt. Zur Prüfung dieses Einflusses werden für alle fünf Sicherungsbereiche für jeweils zwei Akzeptanzindikatoren Regressionsanalysen durch-geführt: für die Frage der staatlichen (oder privaten) Zuständigkeit und für die Prä-ferenzen für höhere oder niedrigere Leistungen (beim familienpolitischen Bereich durch »mehr finanzielle Unterstützung von Familien« ersetzt). Dabei werden neben den soziodemografischen Variablen zusätzlich auch spezifische Interessenparameter (meist die jeweiligen Versorgungsklassen) in die Modelle aufgenommen. Denn nur so kann angemessen beurteilt werden, inwiefern Effekte des »Leistungsempfänger-bildes« unabhängig von sozialpolitischen Interessenlagen bestehen.212

Zunächst zur Gesetzlichen Krankenversicherung bzw. zur »staatlichen Zustän-digkeit« für die Gesundheitsversorgung und den Präferenzen bezüglich des Leistungsni-veaus (vgl. Abb. 6.5.4). Die insgesamt drei Modelle für die »staatliche Zuständigkeit« machen bereits deutlich, dass wahrgenommene Leistungsempfängereigenschaften einen Einfluss auf die Akzeptanzurteile haben. Im ersten Modell (A1), in dem zu-nächst nur die Effekte der (zugeschriebenen) Leistungsempfängereigenschaften allein betrachtet werden, haben die Merkmale Missbrauch (negativ), Bedürftigkeit und all-gemeine Unterstützungswürdigkeit (positiv) signifikante Effekte (im Fall der Be-dürftigkeit aber nur einen schwach signifikanten); der R²-Wert (0,053) ist bereits vergleichsweise hoch.

Bei Einbezug soziodemografischer Merkmale (A2), von denen vor allem der »Landesteil« einen größeren Einfluss ausübt, wird der Effekt von Missbrauch je-doch insignifikant, während die beiden anderen Effekte bestehen bleiben. Für die Merkmale Bedürftigkeit und allgemeine Unterstützungswürdigkeit kann daher von einem stabilen Einfluss auf die Präferenzen für oder gegen eine staatliche Zustän-digkeit für die Gesundheitsversorgung ausgegangen werden.

Im dritten Modell (A3) werden zudem die Interessenindikatoren »Bilanzie-rung« und »Mitversicherung« einbezogen, die allerdings nur für Befragte erhoben werden konnten, die als Hauptversicherte in einer gesetzlichen Krankenkasse versi-chert sind (vgl. Abschnitt 6.2). Hier verschieben sich die Einflüsse. Während für die Bedürftigkeit kein signifikanter Effekt mehr besteht, ist nun neben der allgemeinen Unterstützungswürdigkeit die Anspruchsberechtigung (schwach) signifikant. Für die GKV-Versicherten ist insofern die Frage, ob berechtigte, d.h. auf Beitragszahlungen beruhende Leistungsansprüche bestehen, möglicherweise von größerer Bedeutung 212 Bei einem Verzicht auf die Kontrolle von Interessenparametern bestünde immer die Möglichkeit,

dass Unterschiede in der Wahrnehmung der Leistungsempfänger und entsprechende Effekte auf die Akzeptanzurteile nur eine Folge (wenn nicht »Rationalisierungen«) unterschiedlicher Interessenlagen sind, die dann die eigentlich wirkmächtigen Erklärungsfaktoren wären.

Page 230: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

230 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

für die Präferenzen bezüglich einer staatlichen Zuständigkeit für die Gesundheits-versorgung, während allgemein das Kriterium der Bedürftigkeit als wichtig(er) er-achtet wird.

Abbildung 6.5.4: Staatliche Zuständigkeit für Gesundheitsversorgung und »Leistungsbewertung« (GKV-Leistungen) (OLS-Regressionen)

staatliche Zuständigkeit »Leistungsbewertung« Modell A1 Modell A2 Modell A3 Modell B1 Modell B2

Eigenschaften der Leistungs-empfänger (Kranke)

Bedürftigkeit 0,087** 0,065* 0,068 0,119*** 0,122**Anspruchserwerb 0,040 0,049 0,147** 0,084** 0,107*Unterstützungswürdigkeit der Zielgruppe 0,154*** 0,144*** 0,110* 0,020 0,064

Missbrauch -0,057* -0,036 -0,049 -0,060* -0,055

Bildung (Ref.Kat.: niedrig)mittel -0,096** -0,055 -0,019 -0,011 hoch -0,015 0,039 -0,109** -0,083

Alter des Befragten -0,032 -0,032 -0,087** -0,080Geschlecht: Frau 0,050 0,121** -0,020 -0,073 Oben-Unten-Skala -0,033 -0,043 -0,094** -0,121**Landesteil: Ostdeutschland 0,136*** 0,081 -0,023 -0,028

»Bilanzierung« (Ref.Kat.:Bilanz negativ ohne Ausgleich)

GKV-Bilanz positiv 0,133* -0,035 GKV- Bilanz negativ; Er-

wartung eines Ausgleichs 0,129* -0,117*

GKV-Versicherte mit Mitver-sicherten (Ref.Kat.: ohne) 0,041 0,050

R²(korrigiertes R²)

0,053(0,050)

0,081(0,073)

0,121(0,102)

0,068(0,060)

0,097(0,078)

N 1171 621 1191 633

* p<0,05; ** p<0,01; ***p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; standardisierte Regressionskoeffizienten

Bei den Präferenzen bezüglich des Leistungsniveaus verdeutlicht das erste Modell (B1), in dem neben den Leistungsempfängereigenschaften auch die soziodemografi-schen Merkmale enthalten sind, dass auch hier ein deutlicher Einfluss der wahrge-nommenen Leistungsempfängereigenschaften besteht. So sind für die Merkmale Bedürftigkeit, Anspruchsberechtigung sowie Missbrauch (negativ) signifikante Ef-fekte zu verzeichnen, ebenso wie erwartete Einflüsse einiger soziodemografischer

Page 231: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.5 Die Bedeutung des »Leistungsempfängerbildes« für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme 231

Variablen (negative Effekte höherer Bildung, des Alters und der Selbstverortung auf der Oben-Unten-Skala).

Im zweiten Modell (B2) für die GKV-Versicherten, in dem wiederum sozialpo-litische Interessenparameter ergänzt wurden, bleiben die Effekte für die Merkmale Bedürftigkeit und berechtigter Anspruch bestehen, nicht jedoch der (allerdings auch in Modell B1 nur schwach signifikante) Effekt für das Merkmal Missbrauch. Auch für das Alter und das höhere Bildungsniveau bestehen nun keine signifikanten Ef-fekte mehr.

Auch bei Einbezug soziodemografischer Variablen (sowie sozialpolitischer In-teressenparameter für GKV-Versicherte) können also Effekte für Leistungsempfän-gereigenschaften nachgewiesen werden. Jedoch weist keine Leistungsempfänger-eigenschaft in allen Modellen einen signifikanten Effekt auf. Die allgemeine Wert-schätzung (Unterstützungswürdigkeit) Kranker scheint vor allem für die Frage einer staatlichen Zuständigkeit wichtig, für die Präferenzen bezüglich der Leistungshöhe dagegen vor allem die Anspruchsberechtigung und die (»wirkliche«) Bedürftigkeit der Leistungsempfänger. Die Missbrauchswahrnehmung hat keinen Effekt bei der Zuständigkeit, wenn für weitere Variablen kontrolliert wird, und nur einen schwachen bei der Leistungshöhe.

Ein Vergleich der beiden Akzeptanzindikatoren (Modelle A2 und B1) zeigt nur für die »Bedürftigkeit« eine gewisse Übereinstimmung. Sonst sind jeweils andere Eigenschaften signifikant (Unterstützungswürdigkeit bei staatl. Zuständigkeit, An-spruchsberechtigung und Missbrauch bei der »Leistungsbewertung«). Auch ein Ver-gleich aller Befragten mit den gesetzlich Hauptversicherten lässt kaum systematische Unterschiede erkennen. Auffällig ist nur, dass bei den GKV-Versicherten »Miss-brauch« nie und das Merkmal »berechtigter Anspruch« immer signifikant ist. Außer-dem sind bei den Modellen für die gesetzlich Versicherten die R²-Werte etwas hö-her, was aber vermutlich auf den Einfluss der sozialpolitischen Interessenparameter zurückzuführen ist.

Bei der staatlichen Zuständigkeit für die Alterssicherung sind die Effekte der Leistungsempfängereigenschaften insgesamt gering (Abb. 6.5.5). Zwar sind auch hier im »puren« Modell ohne weitere Variablen (A1) wie bei der Gesundheitsversor-gung Effekte für die Bedürftigkeit, die Unterstützungswürdigkeit der Zielgruppe und der Missbrauchswahrnehmung nachweisbar. Aber von der allgemeinen Unter-stützungswürdigkeit abgesehen erweist sich hier keine der Leistungsempfänger-eigenschaften als signifikant, wenn soziodemografische Merkmale und der Versor-gungsklassenstatus (Rentner) kontrolliert werden (A2), wobei von diesen Variablen nur der »Landesteil« (höhere Präferenzen der Ostdeutschen für eine staatliche Zu-ständigkeit) signifikant ist. Dennoch ist das Erklärungsmodell insgesamt relativ gut (R²=0,107), was auch auf den recht starken Effekt der »Unterstützungswürdigkeit« zurückzuführen ist.

Page 232: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

232 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

Abbildung 6.5.5: Staatliche Zuständigkeit für die Alterssicherung und »Leistungs-bewertung« (Rente) (OLS-Regressionen)

staatliche Zuständigkeit »Leistungsbewertung« Modell A1 Modell A2 Modell B1 Modell B2

Eigenschaften der Leistungsempfänger (Rentner)

Bedürftigkeit 0,066* 0,060 0,106** 0,101**Anspruchserwerb 0,017 0,014 0,089* 0,098**Unterstützungswürdigkeit der Zielgruppe 0,254*** 0,240*** 0,104** 0,108***Missbrauch -0,062* -0,046 0,006 0,001

Bildung (Ref.Kat.: niedrig) mittel -0,058 -0,025 hoch -0,039 -0,103**

Alter des Befragten 0,007 -0,050 Geschlecht: Frau 0,051 0,011 Oben-Unten-Skala -0,032 -0,026 Landesteil: Ostdeutschland 0,108*** -0,030

Rentner (Ref.Kat.: alle anderen Versorgungs-klassen) -0,024 -0,018

R²(korrigiertes R²)

0,089(0,086)

0,107(0,099)

0,052(0,049)

0,069(0,060)

N 1215 1194

* p<0,05; ** p<0,01; *** p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; standardisierte Regressionskoeffizienten

Bei den Präferenzen für die Leistungshöhe sind dagegen sowohl ohne (Modell B1) als auch mit Einbezug des Versorgungsklassenstatus und soziodemografischer Vari-ablen (B2) signifikante (positive) Effekte der Merkmale Bedürftigkeit, Anspruchsbe-rechtigung und allgemeine Unterstützungswürdigkeit vorhanden, bei nur minimalen Unterschieden in den Effektstärken. Die Missbrauchswahrnehmung hat dagegen keinen signifikanten Einfluss auf die Akzeptanzurteile, was mit Ausnahme des hohen Bildungsniveaus (negativer Effekt) auch für die soziodemografischen Merkmale und den Versorgungsklassenstatus gilt. Der R²-Wert ist trotz der relativ starken Effekte der drei »positiven« Leistungsempfängereigenschaften mäßig und deutlich geringer als bei der staatlichen Zuständigkeit. Die Alterssicherung ist damit der einzige Be-reich, bei dem das Erklärungsmodell für die »staatliche Zuständigkeit« besser ist als bei der »Leistungsbewertung«.

Auch für die Gesetzliche Rentenversicherung kann damit ein deutlicher Ein-fluss der »positiven« Leistungsempfängereigenschaften festgestellt werden. Mehr noch als bei der Gesetzlichen Krankenversicherung gilt dies aber vor allem für die »Leis-tungsbewertung«. Nur die allgemeine Unterstützungswürdigkeit älterer Menschen

Page 233: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.5 Die Bedeutung des »Leistungsempfängerbildes« für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme 233

ist in allen Fällen signifikant und daher so etwas wie die gemeinsame Grundlage für die Akzeptanz der wohlfahrtsstaatlichen Alterssicherung.

Dieses Ergebnis steht in einem gewissen Widerspruch zu den von Kohli (1987) vertretenen Annahmen über die »Moralökonomie des Ruhestandes« (vgl. 6.5.1). Dem-nach müssten vor allem die erbrachten Leistungen in Form von Sozialversicherungs-beiträgen und lebenslanger Arbeit die Basis für die Akzeptanz des Generationenver-trages sein. Die hier präsentierten Ergebnisse legen demgegenüber nahe, dass die Aspekte der Bedürftigkeit sowie einer allgemeineren sozialen Wertschätzung »des Alters« zumindest ebenso gewichtig sind.

Bei der staatlichen Zuständigkeit für die Unterstützung von Arbeitslosen haben, so-fern für den Versorgungsklassenstatus (Arbeitslose) und für soziodemografische Variablen kontrolliert wird (Abb. 6.5.6; Modell A2), die Merkmale der Anspruchs-berechtigung und der allgemeinen Unterstützungswürdigkeit eine positiven und die »Verbleibsvictimisierung« einen negativen Effekt auf die entsprechenden Präferenzen. Der stärkste Einfluss geht dabei von der allgemeinen »Unterstützungswürdigkeit« aus, während der Effekt der Anspruchsberechtigung nur auf dem 5 %-Niveau signi-fikant ist. Obwohl die Versorgungsklasse und die soziodemografischen Merkmale (mit Ausnahme des Geschlechts) keine signifikanten Effekte haben, ist der R²-Wert hier recht hoch (0,152).

Für die Beurteilung der Leistungshöhe (Arbeitslosengeld) sind bei Einbezug soziodemografischer Merkmale und der Versorgungsklasse (B2) mit Ausnahme der Bedürftigkeit für alle Leistungsempfängereigenschaften signifikante Effekte festzu-stellen (die auch alle in die erwartete Richtung weisen). Das relative Gewicht der Unterstützungswürdigkeit ist hier im Vergleich zur Frage der staatlichen Zuständig-keit jedoch etwas geringer. Signifikante Effekte bestehen auch für die meisten sozio-demografischen Merkmale sowie für den Versorgungsklassenstatus (Arbeitslose). Der R²-Wert ist entsprechend hoch (0,179).

Der Einfluss der Leistungsempfängereigenschaften auf die Präferenzen bezüg-lich einer staatlichen Zuständigkeit für die Unterstützung von Arbeitslosen sowie der Höhe des Arbeitslosengeldes ist offensichtlich noch stärker als bei den beiden zuvor betrachteten Sicherungsbereichen. Neben der allgemeinen Unterstützungs-würdigkeit der Zielgruppe erwies sich auch die »Verbleibsvictimisierung« in allen Modellen als hoch signifikant und mit einem relativ starken Einfluss. Auffällig ist zudem, dass das Merkmal der Bedürftigkeit sich hier in keinem Modell als signifi-kant erwies. Die Unterschiede zwischen den beiden Akzeptanzindikatoren sind da-bei insgesamt gering: Neben den drei auch schon bei der »staatlichen Zuständigkeit« signifikanten Effekten (Anspruchserwerb, Unterstützungswürdigkeit und Verbleibs-victimisierung) hat bei der »Leistungsbewertung« nur noch die Missbrauchswahr-nehmung einen zusätzlichen Effekt, der aber nur auf dem 5 %-Niveau signifikant ist.

Page 234: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

234 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

Abbildung 6.5.6: Staatliche Zuständigkeit für die Unterstützung von Arbeitslosen und »Leistungsbewertung« (Arbeitslosengeld) (OLS-Regressionen)

staatliche Zuständigkeit »Leistungsbewertung« Modell A1 Modell A2 Modell B1 Modell B2

Eigenschaften der Leistungs-empfänger (Arbeitslose)

Bedürftigkeit 0,055 0,048 0,046 0,036 Anspruchserwerb 0,072 0,076* 0,105* 0,107**Unterstützungswürdigkeit der Zielgruppe 0,236*** 0,232*** 0,127*** 0,122***

Missbrauch 0,005 0,002 -0,055 -0,064*Victimisierung - Verbleib -0,149*** -0,137*** -0,180*** -0,134***

Bildung (Ref.Kat.: niedrig) mittel -0,057 -0,021 hoch -0,034 -0,089**

Alter des Befragten -0,017 -0,069*Geschlecht: Frau 0,055* 0,023 Oben-Unten-Skala 0,011 -0,111***Landesteil: Ostdeutschland 0,052 0,063*Arbeitslose (Ref.Kat.: alle anderen Versorgungsklassen)

0,035 0,087**

R²(korrigiertes R²)

0,144(0,140)

0,152(0,144)

0,128(0,124)

0,179(0,170)

N 1187 1104

* p<0,05; ** p<0,01; ***p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; standardisierte Regressionskoeffizienten

Bei der Frage einer staatlichen Zuständigkeit für die Versorgung von Armen (Abb. 6.5.7) wiesen die Merkmale der Anspruchsberechtigung, der Unterstützungswürdig-keit und der Verbleibsvictimisierung (negativ) signifikante Effekte auf, nicht jedoch die Missbrauchswahrnehmung und die »Eintrittsvictimisierung«. Praktisch keine sig-nifikanten Einflüsse gehen von den soziodemografischen Variablen und vom Ver-sorgungsklassenstatus (Sozialhilfeempfänger) aus. Der Vergleich der Modelle A1 und A2 zeigt zudem, dass der Anteil erklärter Varianz durch die Hereinnahme der soziodemografischen Merkmale und des Versorgungsklassenstatus nicht mehr nen-nenswert erhöht wird. Aufgrund der starken Einzeleffekte ist der R²-Wert aber auch schon beim Modell, das neben den sechs Leistungsempfängereigenschaften keine weiteren Variablen enthält (A1), relativ hoch (0,132).

Page 235: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.5 Die Bedeutung des »Leistungsempfängerbildes« für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme 235

Abbildung 6.5.7: Staatliche Zuständigkeit bei Armut und »Leistungsbewertung« (Sozialhilfe) (OLS-Regressionen)

staatliche Zuständigkeit »Leistungsbewertung« Modell A1 Modell A2 Modell B1 Modell B2

Eigenschaften der Leistungsempfänger (Arme)

Bedürftigkeit -0,001 -0,009 0,092* 0,100**legitimer Anspruch 0,129** 0,133** 0,160*** 0,149***Unterstützungswürdigkeit der Zielgruppe 0,201*** 0,198*** 0,154*** 0,157***Missbrauch 0,040 0,041 -0,067* -0,074*Victimisierung - Verbleib -0,128** -0,121** -0,124** -0,101**Victimisierung - Eintritt -0,063 -0,060 -0,133*** -0,110**

Bildung (Ref.Kat.: niedrig) mittel -0,026 0,019 hoch 0,011 -0,023

Alter des Befragten -0,013 -0,087**Geschlecht: Frau 0,068* -0,018 Oben-Unten-Skala -0,006 -0,117***Landesteil: Ostdeutschland 0,047 0,024

Sozialhilfeempfänger (Ref.Kat.: alle anderen Versorgungsklassen) -0,008 0,023

R²(korrigiertes R²)

0,132(0,128)

0,139(0,129)

0,262(0,258)

0,290(0,281)

N 1140 1039

* p<0,05; ** p<0,01; ***p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; standardisierte Regressionskoeffizienten

Für die »Leistungsbewertung« (Präferenzen bezüglich der Leistungshöhe) sind für alle sechs Leistungsempfängereigenschaften signifikante Effekte festzustellen – und zwar sowohl ohne (B1) als auch mit Einbezug des Versorgungsklassenstatus und der soziodemografischen Merkmale (B2): Eine hohe Wahrnehmung von Bedürftigkeit, Anspruchsberechtigung und Unterstützungswürdigkeit führt zu stärkeren Präferen-zen für eine höhere Sozialhilfe, die Wahrnehmung von Missbrauch und die Victimi-sierung von Sozialhilfeempfängern (Verbleibs- und Eintrittsrisiko) dagegen zu einer niedrigeren. Da zudem signifikante Einflüsse des Alters und der Selbstverortung auf der Oben-Unten-Skala (beide negativ) bestehen, ergibt sich ein sehr hoher Erklä-rungswert des Gesamtmodells (R²=0,290).

Der Einfluss der Leistungsempfängereigenschaften auf die Präferenzen bezüg-lich einer staatlichen Zuständigkeit für die Unterstützung von Armen sowie der Höhe der Sozialhilfe ist noch größer als bei der Versorgung von Arbeitslosen und der Be-urteilung der Höhe des Arbeitslosengeldes. Neben der allgemeinen Unterstützungs-

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236 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

würdigkeit der Zielgruppe erwies sich dabei auch die »Verbleibsvictimisierung« in allen Modellen als hoch signifikant und mit einem relativ starken Einfluss. Vor allem für die Präferenzen bezüglich der Höhe der Sozialhilfe ist damit eine enorme Be-deutung des Leistungsempfängerbildes zu konstatieren, der auch in dem (im Vergleich zu den anderen Modellen) ungewöhnlich hohen R²-Wert zum Ausdruck kommt.

Abbildung 6.5.8: Staatliche Zuständigkeit für Familien (OLS-Regressionen) Modell 1 Modell 2

Eigenschaften der Leistungsempfänger (Familien) Bedürftigkeit 0,048 0,036 legitimer Anspruch 0,141*** 0,135***Unterstützungswürdigkeit der Zielgruppe 0,176*** 0,175***

Bildung (Ref.Kat.: niedrig)mittel -0,076*hoch -0,035

Alter des Befragten -0,069*Geschlecht: Frau 0,053*Oben-Unten-Skala -0,025 Landesteil: Ostdeutschland 0,087**Kinder (Ref.Kat.: keine Kinder) 0,022

R²(korrigiertes R²)

0,098(0,096)

0,117(0,111)

N 1356

* p<0,05; ** p<0,01; ***p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; standardisierte Regressionskoeffizienten

Zur Untersuchung des Einflusses der Leistungsempfängereigenschaften auf die Be-urteilung familienpolitischer Leistungen stehen nur für die drei »positiven« Leistungs-empfängereigenschaften Indikatoren zur Verfügung. Hinsichtlich der staatlichen Zuständigkeit für die Unterstützung von Familien und Alleinerziehenden zeigt sich zunächst (Abb. 6.5.8), dass auch hier für die Merkmale der Anspruchsberechtigung und der allgemeinen Unterstützungswürdigkeit von Familien signifikante Effekte festzustellen sind, die auch bei Kontrolle soziodemografischer Faktoren (inkl. der Variable »Kinder«213) stabil bleiben (Modell 2). Der Erklärungswert dieser beiden Leistungsempfängereigenschaften ist auch schon im »puren« Modell relativ noch (R²=0,098) und erhöht sich durch die Hereinnahme der soziodemografischen Variablen, die oft signifikante Effekte aufweisen, nur noch geringfügig (R²=0,117). 213 Hierbei handelt es sich um eine dummy-Variable, die misst, ob (mindestens) ein Kind im Haushalt

des Befragten lebt (vgl. Anhang A2.3).

Page 237: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

6.5 Die Bedeutung des »Leistungsempfängerbildes« für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme 237

Abbildung 6.5.9: Präferenzen für höhere Ausgaben für Familien (Ordinale logistische Regressionen)

Modell 1 Modell 2 Eigenschaften der Leistungsempfänger (Familien)

Bedürftigkeit 1,294*** 1,260***legitimer Anspruch 1,289*** 1,278**Unterstützungswürdigkeit der Zielgruppe 1,443*** 1,464***

Bildung (Ref.Kat.: niedrig)mittel 0,639***hoch 0,757

Alter des Befragten 0,986***Geschlecht: Frau 1,080 Oben-Unten-Skala 0,921*Landesteil: Ostdeutschland 1,251 Kinder (Ref.Kat.: keine Kinder) 1,241

Pseudo R² (Nagelkerke) Pseudo R² (McFadden)

0,1510,054

0,1830,066

N 1371

* p<0,05; ** p<0,01; ***p<0,001; ungewichtete Ergebnisse; Odds Ratios

Für die Frage, ob der Staat »Familien und Alleinerziehende finanziell stärker unter-stützen (sollte), als er es bisher tut« (Abb. 6.5.9), erweisen sich alle drei »positiven« Leistungsempfängereigenschaften als signifikant und führen zu einer höheren Chan-ce, dass staatliche Mehrausgaben für Familien befürwortet werden. Dieser Einfluss der positiven Leistungsempfängereigenschaften bleibt auch bestehen, wenn sozio-demografische Variablen aufgenommen werden. Diese sind oft selbst signifikant (geringere Befürwortung höherer Ausgaben für Familien bei mittlerem Bildungs-grad, höherem Alter und bei einer höheren Selbstverortung auf der Oben-Unten-Skala). Der Erklärungswert des Gesamtmodells ist daher eher hoch (Pseudo R² [Na-gelkerke] = 0,183).

Der Einfluss der zugeschriebenen (positiven) Leistungsempfängereigenschaf-ten ist damit auch im Bereich Familie groß, lässt sich aber aufgrund des Fehlens von Indikatoren »negativer« Leistungsempfängereigenschaften nur bedingt mit den Er-gebnissen zu den anderen Sicherungsbereichen vergleichen. Wie bei der Alterssiche-rung und der Unterstützung von Armen ist jedoch auch hier die Frage, ob die Leis-tungsempfänger »wirklich« bedürftig sind, nur für die »Leistungsbewertung« wichtig.

Page 238: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

238 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

6.5.4 Fazit

Insgesamt unterstützen die vorangehenden Analysen die grundlegende Annahme, dass das Bild der Leistungsempfänger, die Wahrnehmung ihrer »deservingness«, einen nachhaltigen Einfluss auf die Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit hat. So führen, wie erwartet (H1), sowohl »positive« Leistungsempfängereigenschaften zu einer höheren als auch »negative« zu einer geringeren Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlich-keit. Wie gezeigt, sind die Wirkungen der Leistungsempfängerwahrnehmung auf die Akzeptanzurteile auch dann eindeutig nachweisbar, wenn der Einfluss mehrerer Interessenparameter kontrolliert wird. Dieses Gesamturteil ist jedoch für die einzel-nen »deservingness«-Kriterien zu qualifizieren:

Die zugeschriebene »Bedürftigkeit« der Leistungsempfänger hat auf die »Leis-tungsbewertung« (Beurteilung der Leistungshöhe) einen stärkeren Einfluss als bei der staatlichen Zuständigkeit. Insgesamt ist das Merkmal der Bedürftigkeit vor allem für die Bereiche Gesundheit/Krankenversicherung und Alterssicherung/Rentenversi-cherung wichtig. Den korrespondierenden Leistungsempfängergruppen wird über-dies am häufigsten eine »wirkliche« Bedürftigkeit attestiert (vgl. Abb. 6.5.3). Die An-nahme, dass das Kriterium der Bedürftigkeit bei einer stärkeren Orientierung der Si-cherungssysteme am Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit (Sozialhilfe, Gesetzliche Kran-kenversicherung) wichtiger ist als bei anderen (H3.1), wurde damit nicht bestätigt (größere Bedeutung für Alterssicherung/Rentenversicherung als für Armut/Sozial-hilfe).

Auch die Frage, ob Leistungsempfänger einen Anspruch auf Leistungen haben, wirkt sich vor allem auf die Präferenzen hinsichtlich der Leistungshöhe (»Leistungs-bewertung«) aus. Es gibt jedoch keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass die »Anspruchsberechtigung« bei Sozialversicherungen wichtiger ist als sonst (H3.2). Ent-gegen der Erwartung ist der Einfluss der »Anspruchsberechtigung« bei den Nicht-Sozialversicherungen sogar noch etwas höher als bei den Sozialversicherungen. Scheinbar sind durch Beitragszahlungen erworbene Leistungsansprüche (bzw. dass diese Rentnern, gesetzlich Krankenversicherten und Arbeitslosen(geldempfängern) zugeschrieben werden) nicht akzeptanzsteigernder als solche, die den Leistungs-empfängern (hier Familien und Sozialhilfeempfängern) aus anderen Gründen zuer-kannt werden. Wie der Vergleich der Häufigkeitsverteilungen zeigt (Abb. 6.5.3), kann überdies nicht behauptet werden, dass sozialversicherten Leistungsempfängern in jedem Fall eher als anderen ein berechtigter Anspruch zugebilligt wird.214

Die soziale Wertschätzung (bzw. die zugeschriebene Unterstützungswürdigkeit) der sozialpolitischen Zielgruppen hat insgesamt den größten Einfluss auf die Akzeptanz-urteile, was der eingangs formulierten Erwartung eines relevanten Einflusses in allen

214 Zu beachten ist hierbei allerdings, dass die Einzelergebnisse bei diesem Merkmal aufgrund der z.T.

abweichenden Formulierungen nur begrenzt vergleichbar sind.

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6.5 Die Bedeutung des »Leistungsempfängerbildes« für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme 239

Sicherungsbereichen durchaus entspricht (H3.3). Die Wirkung dieses Merkmals ist insgesamt sogar etwas größer als erwartet. So sind fast immer signifikante Effekte festzustellen. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Akzeptanzindikatoren und Bereichen sind dabei nur gering und lassen kein Muster erkennen.215 Mit dem durch-gehend starken Einfluss des Merkmals »Unterstützungswürdigkeit« ist der Nachweis gelungen, dass nicht nur mehr oder weniger direkt durch die Sicherungssysteme be-stimmte Merkmale wie der Anspruchserwerb, sondern auch eher allgemeine Typi-sierungen sozialer Gruppen für die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen bedeutsam sein können.

Obwohl ein Missbrauch von Leistungen in allen Sicherungsbereichen relativ häufig wahrgenommen wird, hat die Wahrnehmung von Leistungsmissbräuchen den insge-samt geringsten Einfluss auf die Akzeptanzurteile. Häufig ist überhaupt kein signifi-kanter Effekt vorhanden und wenn ein Einfluss nachweisbar ist, dann meist nur auf einem schwachen Niveau. Ein maßgeblicher (negativer) Einfluss kann nur für die Präferenzen hinsichtlich der Höhe der Sozialhilfe konstatiert werden. Da die signifi-kanten Effekte aber stets negativ sind, ist die in Hypothese H3.4 formulierte Erwar-tung einer akzeptanzmindernden Wirkung immerhin zum Teil bestätigt worden.

Von victimisierenden Wahrnehmungen von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern geht dagegen ein erheblicher (negativer) Einfluss auf die Akzeptanzurteile aus. Of-fenbar besteht hier aber ein deutlicher Unterschied zwischen der »Eintrittsvictimi-sierung«, für die nur ein schwacher Einfluss auf die Beurteilung der Sozialhilfehöhe festzustellen war, und der »Verbleibsvictimisierung«, für die in allen Fällen starke und signifikante Effekte nachgewiesen werden konnten. Damit wurde die Erwartung, dass Victimisierungen zu einer geringern Akzeptanz führen (H3.4), für die »Ver-bleibsvictimisierung« voll, für die »Eintrittsvictimisierung« aber nur zum Teil bestä-tigt. Über die Gründe für diese Diskrepanz zwischen »Eintrittsvictimisierung« und »Verbleibsvictimisierung« kann hier nur spekuliert werden. Möglicherweise unter-binden ein Bewusstsein für die sozialen und wirtschaftlichen Ursachen eines Sozial-hilfebezugs sowie dessen zunehmende »Normalität« eine stärkere »Eintrittsvictimi-sierung«. Zu klären wäre dann aber, warum sich dies nicht in ähnlicher Weise auf die »Verbleibsvictimisierung« auswirkt.

Insgesamt bestätigen diese Ergebnisse, wenn auch nicht immer in der erwarteten Form, die allgemeine Annahme, dass die Leistungsempfängermerkmale in den ein-zelnen Sicherungsbereichen unterschiedliche Wirkungen haben (H3). Ein Vergleich der Effekte der vier »deservingness«-Kriterien, die für die Mehrzahl der Sicherungs-bereiche untersucht wurden, offenbart zudem eine relativ deutliche Hierarchie der Eigenschaften nach ihrem Einfluss auf die Akzeptanzurteile. So hat die soziale Wert- 215 Als irrelevant erwies sich dagegen die zusätzliche Annahme, dass der Einfluss der »Unterstüt-

zungswürdigkeit« auf die Akzeptanzurteile gegenüber den Sozialversicherungen womöglich geringer ist als bei der Sozialhilfe und den Leistungen für Familien: Die Ausgangsvoraussetzung (Bestätigung von Hypothese H3.2) ist nicht gegeben.

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240 6 Interessengegensätze, Wertorientierungen und »deservingness«

schätzung (Unterstützungswürdigkeit) den größten Einfluss auf die Präferenzen be-züglich der staatlichen Zuständigkeit und der Leistungshöhe. Gemessen an der An-zahl signifikanter Effekte hat das Kriterium des Anspruchserwerbs den zweithöch-sten Einfluss, gefolgt von der dritten »positiven« Leistungsempfängereigenschaft, der Bedürftigkeit. Der Einfluss der Missbrauchswahrnehmung auf die Akzeptanzur-teile ist dagegen insgesamt als gering einzustufen.216

Nicht bestätigt wurde die Annahme, dass der Einfluss der Leistungsempfän-gerwahrnehmung in den Bereichen am stärksten ist, wo die Leistungsempfänger be-sonders »sichtbar« und typisiert sind (H2.1). Zwar scheint der hohe Einfluss bei der Beurteilung der Sozialhilfe (vor allem bei der »Leistungsbewertung«) für eine solche Annahme zu sprechen (viele signifikante Einzeleffekte; hohe R²-Werte); der eher geringe Einfluss auf die gewünschte staatliche Zuständigkeit bei der Alterssicherung und auf die Präferenzen hinsichtlich der Rentenhöhe widersprechen einer solchen Interpretation aber deutlich. Die Unterschiede in der Bedeutung der Leistungsemp-fängerwahrnehmung von Sozialhilfeempfängern und Rentnern (und z.T. auch von Arbeitslosen) für die Akzeptanzurteile sprechen damit eher für die konkurrierende Annahme, dass »deservingness«-Kriterien sich vor allem auf die Beurteilung von Programmen für Arme und Bedürftige auswirken (H2.2.).

Gerade die starken Effekte der »negativen« Merkmale bei der Beurteilung der Sozialhilfehöhe legen die Vermutung nahe, dass sich für viele Befragte bei der Sozialhilfe und den Sozialhilfeempfängern möglicherweise in weit höherem Maße die Frage der »deservingness« der Leistungsempfänger stellt als in anderen Sicherungs-bereichen. Hier mag sich die für den deutschen Wohlfahrtsstaat so grundlegende Trennlinie zwischen Armuts- und Arbeiterpolitik auswirken. Naheliegender scheint aber, in der größeren Bedeutung von »deserving«-Kriterien bei der Beurteilung von Sozialhilfeempfängern und Sozialhilfe nicht mehr und nicht weniger als die Beson-derheit eines »Minderheitsprogramms« zu sehen: Die meisten Befragten gehen bei der Sozialhilfe schließlich nicht davon aus, jemals zu den Leistungsempfängern zu gehören; umso mehr scheint es dann geboten, etwas genauer hinzusehen, wer zu welchen Bedingungen Leistungen bezieht.

Im Kern bestätigt wurde schließlich auch die Annahme über Unterschiede zwischen den Akzeptanzindikatoren (H4): Die Eigenschaften der Leistungsempfän-ger haben einen deutlich stärkeren Einfluss auf die Präferenzen für oder gegen hö-here Leistungen als bei der Frage der staatlichen Zuständigkeit. Der Unterschied ist jedoch insgesamt nicht immer sehr deutlich, und in einem Fall (Gesundheitsversor-gung/Krankenversicherung) besteht sogar kein nennenswerter Unterschied zwischen den beiden Akzeptanzindikatoren.

216 Hieraus auf eine größere Bedeutung »positiver« Leistungsempfängereigenschaften zu schließen,

wäre jedoch voreilig, weil von den »negativen« nur für die Missbrauchswahrnehmung Ergebnisse für mehrere Bereiche vorliegen.

Page 241: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

7 Zusammenfassung:Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates und ihre Bestimmungsgründe

Wie schon in der Einleitung dieser Arbeit betont wurde, können für die beiden in dieser Untersuchung zentralen Fragen nach der Höhe der Akzeptanz des Wohl-fahrtsstaates in Deutschland und nach den Erklärungsfaktoren für die Akzeptanzur-teile keine »einfachen« Antworten erwartet werden. Hierfür fehlen nicht nur ver-bindliche Maßstäbe und Standardisierungen; das Phänomen der Wohlfahrtsstaatsak-zeptanz ist auch selbst zu komplex und vielschichtig, als dass man ihm mit einfa-chen Erklärungsmodellen oder griffigen Formeln (wie »vorhanden – nicht vorhan-den« und »hoch – niedrig«) gerecht werden könnte.

Die vorangegangenen Analysen haben jedoch einige grundlegende und stabile Muster erkennen lassen, die zusammengenommen ein durchaus kohärentes Bild der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz in Deutschland und ihrer Bestimmungsgründe ergeben. Abschließend sollen die zentralen Aspekte dieses Akzeptanzbildes noch einmal re-kapituliert werden.

Auch wenn es hierfür keinen verbindlichen Maßstab gibt, zeigen die deskripti-ven Analysen (Kapitel 5) deutlich genug, dass die Akzeptanz der konkreten wohl-fahrtsstaatlichen Institutionen nicht übermäßig hoch ist. Zu offensichtlich ist die Unzufriedenheit mit der »institutionellen Wirklichkeit« und hier insbesondere mit der Leistungshöhe. Darin ist jedoch, wie betont wurde, keine Abkehr vom Wohl-fahrtsstaat zu sehen, sondern »nur« der Ausdruck einer Unzufriedenheit mit dem aktuellen Zustand des Systems der sozialen Sicherung. So sind die Akzeptanzurteile zur Wohlfahrtsstaatlichkeit (staatliche Zuständigkeit, »Leistungsbewertung« und »er-weiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit«) als ein deutliches Indiz für den Wunsch nach »mehr Wohlfahrtsstaat« zu werten. Dieser Eindruck ist gerade in den Bereichen besonders stark, die nicht unbedingt zum Kernbestand des deutschen Wohlfahrtsstaates ge-zählt werden können (Reduzierung von Einkommensunterschieden, Arbeitsbeschaf-fung, Ausgaben für Kinderbetreuung). Die hier dargelegten Untersuchungsergebnis-se zeigen somit, dass eine deutliche Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach einer umfangreichen wohlfahrtsstaatlichen Absicherung (hohe Akzeptanz der Wohlfahrts-staatlichkeit) und einer überwiegend kritischen Beurteilung der konkreten wohlfahrts-staatlichen Institutionen besteht (mäßige Akzeptanz des wohlfahrtsstaatlichen Sta-tus quo).

Page 242: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

242 7 Zusammenfassung

Diese Unterschiede zwischen der Bewertung des wohlfahrtsstaatlichen Status quo und den Präferenzen hinsichtlich der Wohlfahrtsstaatlichkeit unterstreichen, wie wichtig es ist, bei der Einschätzung der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz zwischen diesen beiden Akzeptanzdimensionen zu unterscheiden. In der Überbetonung wohl-fahrtsstaatlicher Ziele und der Gleichsetzung ihrer Befürwortung mit Wohlfahrts-staatsakzeptanz ist daher auch das zentrale Manko der Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat zu sehen – und der Grund für die irreführende Schlussfolgerung, dass die soziale Akzeptanz der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Institutionen sehr hoch sei. Wie gesehen, ist dies jedoch nicht der Fall. Hoch sind vielmehr die Erwar-tungen in der Bevölkerung hinsichtlich einer umfassenden wohlfahrtsstaatlichen Si-cherung. Weder folgt also aus der kritischen Sicht der wohlfahrtsstaatlichen Institu-tionen eine Ablehnung des Prinzips der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung, noch füh-ren die starken Präferenzen für eine umfassende soziale Absicherung zu einer »apo-logetischen« Haltung gegenüber den Kerninstitutionen des deutschen Wohlfahrts-staates.

Ein eingehender Vergleich der Regressionsmodelle zeigt zudem, dass vor allem die Präferenzen bezüglich der Leistungshöhe insgesamt besser mit den hier verwen-deten Erklärungsfaktoren erklärt werden können als die Institutionenakzeptanz. Fast könnte man sagen, dass zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Gruppen hin-sichtlich der Beurteilung der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Institutionen ein breiter »Konsens in Unzufriedenheit« besteht.

Dass einzelne Erklärungsfaktoren für bestimmte Akzeptanzindikatoren und -dimensionen, eine besondere Bedeutung haben, die unabhängig vom jeweiligen Si-cherungskontext besteht, ist dabei kaum festzustellen. Nur für einige Variablen der sozialen und sozialpolitischen Lage (Bildung, Versorgungsklasse) lässt sich ein etwas stärkerer Einfluss auf die »Leistungsbewertung« nachweisen.

Auch die Unterschiede zwischen Befragten aus den westdeutschen und den ostdeutschen Bundesländern sind vor allem bei der Akzeptanz der Wohlfahrtsstaat-lichkeit (Leistungshöhe; »erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit«) auffallend. Ostdeut-sche wünschen deutlich häufiger als Westdeutsche ein höheres Leistungsniveau und eine staatliche Zuständigkeit; im Vergleich dazu sind die Ost-West-Unterschiede bei der Beurteilung des wohlfahrtsstaatlichen Status quo eher gering.

Auch zwischen den einzelnen Sicherungssystemen und -bereichen bestehen z.T. deutliche Akzeptanzunterschiede. Dies ist vor allem bei den Präferenzen hin-sichtlich des Umfangs der sozialen Sicherung offensichtlich. So besteht bei den bei-den großen Sozialversicherungen eine weitgehende Übereinstimmung (auch zwi-schen Ost- und Westdeutschen), dass das Leistungsniveau zu niedrig ist. Für die So-zialhilfe und die Arbeitslosenversicherung ist ein solcher Konsens dagegen nicht zu erkennen.

Trotz dieser Diskrepanz unterscheiden sich die Sozialhilfe und die Arbeitslo-senversicherung bei der Beurteilung als Institution (Institutionenakzeptanz, System-

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7 Zusammenfassung 243

vertrauen) eher wenig von den anderen Sicherungssystemen, was, so wurde vermu-tet, womöglich auf ein geringeres Anspruchsniveau in diesen beiden Bereichen zu-rückzuführen ist. Die entscheidenden Akzeptanzunterschiede zwischen der Sozial-hilfe und der Arbeitslosenversicherung auf der einen Seite und der Gesetzlichen Rentenversicherung, der Gesetzlichen Krankenversicherung und den Leistungen für Familien auf der anderen bestehen also bei der Wohlfahrtsstaatlichkeit (»Leistungs-bewertung« und staatliche Zuständigkeit). Zumindest insoweit wird damit die An-nahme bestätigt, dass Minderheitsprogramme weniger Unterstützung erhalten als sol-che, deren Leistungen der Bevölkerungsmehrheit in der einen oder anderen Form zugute kommen.

Anhand der in Kapitel 6 durchgeführten Analysen wurde zudem deutlich, dass die Akzeptanzurteile gegenüber der Sozialhilfe, der Arbeitslosenversicherung und den Zielen der »erweiterten Wohlfahrtsstaatlichkeit« durch die hier herangezogenen Erklärungsfaktoren besser erklärt werden als die Akzeptanz von Gesetzlicher Rentenversicherung und Gesetzlicher Krankenversicherung.

Nur wenig Anhaltspunkte gibt es dagegen dafür, dass den verschiedenen Ein-flussfaktoren bei der Erklärung der Akzeptanz der einzelnen Sicherungssysteme und -bereiche eine unterschiedliche Bedeutung zukommt. Zwar gibt es selektive »Affinitäten« (wie die höheren Präferenzen von Frauen für Ausgaben für die Kin-derbetreuung); konsistente, über mehrere Akzeptanzindikatoren und Erklärungsmo-delle stabile Einflüsse sind jedoch eher die Ausnahme. Zu diesen gehört die Wir-kung der Gerechtigkeitsüberzeugungen auf die Institutionenakzeptanz (vgl. 6.4). Auch in der größeren Bedeutung einer negativen Leistungsempfängerwahrnehmung für die »Leistungsbewertung« von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld kann ein Hin-weis auf spezifische Systemrelevanzen gesehen werden.

Nicht bestätigt wurde schließlich die Annahme, dass insbesondere die Sozial-hilfe stärker als »Mehrheitsprogramme« wie die Kranken- und die Rentenversiche-rung anhand moralischer Kriterien beurteilt wird. Dies liegt allerdings nicht an einer geringen Bedeutung von Wertüberzeugungen für die Akzeptanzurteile gegenüber der Sozialhilfe (die ist hoch), sondern daran, dass sie auch einen starken Einfluss auf die Beurteilung der beiden großen Sozialversicherungen haben.

Im zweiten Kapitel wurden allgemeine Annahmen über die Bedeutung und die Beschaffenheit der Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen anhand der unter-schiedlichen Denkmodelle der Wohlfahrtsstaatstheorie entwickelt. Hierzu wurden funktionalistische217, konflikttheoretische, wohlfahrtskulturelle sowie institutionen-theoretische Ansätze der Wohlfahrtsstaatstheorie und -forschung hinsichtlich der sich aus ihnen ergebenden Implikationen für Fragen der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz 217 Da sich, wie gezeigt wurde, aus funktionalistischen Ansätzen der Wohlfahrtsstaatstheorie keine für

den Zweck dieser Untersuchung relevanten Annahmen über die Akzeptanz sozialer Sicherungssys-teme gewinnen lassen, beschränkt sich die folgende Darstellung auf die drei anderen wohlfahrts-staatstheoretischen Paradigmen.

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244 7 Zusammenfassung

untersucht. Abschließend sollen die in den einzelnen empirischen Kapiteln weiter-verfolgten Fäden wieder etwas zusammengeführt und eine Gesamteinschätzung über die maßgeblichen Erklärungsfaktoren der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz versucht werden.

Aus der Diskussion der unterschiedlichen Ansätze in der Wohlfahrtsstaats-theorie ging hervor, dass vor allem die konflikttheoretische Perspektive unterschied-liche Annahmen über die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme nahe legt. Insgesamt wurden drei Arten latenter Gegensätze im Verhältnis zum Wohl-fahrtsstaat ausgemacht, die sich auch in Akzeptanzunterschieden niederschlagen kön-nen: Interessengegensätze zwischen sozialen Klassen, zwischen Versorgungsklassen sowie zwischen unterschiedlichen Generationslagen.

Die klassentheoretischen Annahmen wurden in Kapitel 6.1 anhand der »Leis-tungsbewertung« beim Arbeitslosengeld und der Sozialhilfe geprüft sowie anhand der Präferenzen für eine staatliche Zuständigkeit für die Aufgaben »Arbeitsplatzbe-schaffung« und »Abbau von Einkommensunterschieden«. Dabei wurden zwei Fra-gen verfolgt: Zum einen war zu klären, ob – wie es konflikttheoretische Überlegungen nahe legen – Arbeiter das System der sozialen Sicherung stärker unterstützen als an-dere Bevölkerungsgruppen. Zum anderen waren die gegensätzlichen Annahmen über das Verhältnis der »Mittelklassen« zur wohlfahrtsstaatlichen Sicherung (gelun-gene Integration in den Wohlfahrtsstaat vs. »welfare backlash«) zu beurteilen.

Insgesamt ergaben sich jedoch nur wenige Hinweise auf Gegensätze zwischen sozialen Klassen. Dies gilt sowohl für die Annahme einer stärkeren Wohlfahrts-staatsakzeptanz bei den Arbeitern als auch für die »Mittelklassenthese«. Für die Ar-beiter ließen sich immerhin noch etwas stärkere Präferenzen für einige wohlfahrts-staatliche Bereiche (Höhe des Arbeitslosengeldes, »Verringerung der Einkommens-unterschiede«) nachweisen. Bei Kontrolle weiterer Interessenparameter erwiesen sich diese jedoch nur selten als stabil. Die Klassenunterschiede bei der Wohlfahrts-staatsakzeptanz entsprechen insofern zwar in gewisser Weise den theoretischen Er-wartungen; sie sind aber nur gering und werden von anderen Gegensätzen und Er-klärungsfaktoren deutlich überlagert. Insbesondere bei der »Leistungsbewertung« der Sozialhilfe waren zudem auch Anzeichen für eine Spaltung zwischen »Insidern« (wohlfahrtsstaatlich Abgesicherten) und »Outsidern« festzustellen. Da selbst in den Bereichen, in denen am ehesten von traditionalen Klassengegensätzen auszugehen ist (Minderheitsprogramme; Präferenzen bezüglich der Leistungshöhe), nur geringe »Klassenunterschiede« bei den Akzeptanzurteilen festgestellt werden konnten, kann davon ausgegangen werden, dass solche Unterschiede in anderen Bereichen (insbes. der Gesetzlichen Rentenversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung sowie bei der Beurteilung des Status quo) eher noch geringer oder gar nicht vorhan-den sind.

Die konkurrierenden Annahmen über die Mittelschichten konnten im Rahmen dieser Untersuchung nur zum Teil überprüft werden. Aber zumindest auf der Grund-

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7 Zusammenfassung 245

lage der zur Verfügung stehenden Indikatoren konnte keine besondere Positionie-rung der Mittelklassen im Sinne eines »welfare backlash« festgestellt werden (vgl. Kapitel 6.1).

Insgesamt gibt es jedoch einige Hinweise darauf, dass Angehörige der Mittel-schichten den Wohlfahrtsstaat etwas weniger unterstützen als Arbeiter. Dies zeigen nicht nur die stärkeren Präferenzen von Arbeitern bei der »erweiterten Wohlfahrts-staatlichkeit« und bei der Höhe von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe, sondern vor allem die häufig zu beobachtenden Effekte der Bildungsvariable. So fällt auf, dass das höchste formale Bildungsniveau fast durchgängig negative Effekte auf die »Leis-tungsbewertung« hat: Personen mit hohem Bildungsgrad wünschen sich also meist ein geringeres Leistungsniveau als andere.218 Zudem bestehen zum Teil deutliche Wirkungen des Haushaltseinkommens und der Selbstverortung auf der Oben-Un-ten-Skala. Zusammengefasst lassen sich diese Differenzen als »Schichtunterschiede« bei der Beurteilung der sozialen Sicherung interpretieren.

Schließlich war auch für die Frage, inwieweit unterschiedliche Vorstellungen über den Wohlfahrtsstaat (partei)politisch geprägt sind, ähnliches festzustellen wie für die sozialen Klassen: Die Parteiaffinität hat insgesamt sogar nur einen sehr schwa-chen Einfluss auf die allgemeine Akzeptanz der sozialen Sicherung. Klassische Rechts-Links-Unterschiede ließen sich in nur sehr geringem Maße und nur beim Ziel der Verringerung von Einkommensunterschieden nachweisen.

Auch der Einfluss des Versorgungsklassenstatus erwies sich insgesamt als eher gering (vgl. Kap. 6.2). Hier wurden jedoch zum Teil deutliche Unterschiede zwi-schen Mehrheits- und Minderheitsprogrammen sichtbar. So hat der Versorgungs- oder Finanzierungsklassenstatus fast keinen Einfluss auf die Akzeptanzurteile über die Rentenversicherung, wohl aber auf die Akzeptanz von Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe.

Der Versorgungsklassenstatus beeinflusst die Akzeptanzurteile aber vor allem dort, wo ein entsprechender Einfluss auch besonders naheliegend ist, nämlich bei den Präferenzen hinsichtlich der Leistungshöhe: Arbeitslose und Sozialhilfeempfän-ger wünschen sich häufiger ein höheres Leistungsniveau als Erwerbstätige und an-dere Versorgungsklassen. Damit wurde die Annahme, dass sich der Versorgungs-klassenstatus vor allem auf die Beurteilung der Leistungshöhe auswirkt, zumindest in der Tendenz bestätigt. Wie bei den sozialen Klassen sind auch die Unterschiede zwischen den konkurrierenden (positiven) Versorgungsklassen sowie zwischen Finan-zierungs- und Versorgungsklassen jedoch gering und machen »Konfliktszenarien« eher unwahrscheinlich.

Für einen Generationenkonflikt im Kontext der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung gibt es schließlich selbst dort, wo dieser nahe zu liegen scheint, kaum Anzeichen. Zwar sind sowohl bei der Beurteilung der Rentenversicherung als auch bei den Leis-

218 Für die Institutionenakzeptanz bestehen vergleichbare Bildungseffekte allerdings nicht.

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246 7 Zusammenfassung

tungen für Familien Unterschiede zwischen Altersgruppen festzustellen; sie erwie-sen sich aber alles in allem als zu gering, um die Behauptung eines wohlfahrtsstaatli-chen Generationenkonflikts zu rechtfertigen (vgl. Kapitel 6.3).

Insgesamt gibt es damit wenig Anhaltspunkte für sozialstrukturell und sozial-politisch geprägte Interessenkonflikte um die soziale Sicherung. Zwar sind für alle drei allgemeinen Annahmen über die Wohlfahrtsstaatsakzeptanz – das Bestehen von Akzeptanzunterschieden zwischen sozialen Klassen, Versorgungsklassen und Gene-rationen (Altersgruppen) – empirische Evidenzen zu finden. Sie bestätigen aber nur die Behauptung, dass solche Unterschiede bei der Beurteilung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen bestehen. Denn die jeweiligen Unterschiede bzw. Wirkungen sind ins-gesamt zu gering, und die Bedeutung anderer Erklärungsfaktoren ist zu groß (s.u.), als dass sich mit ihnen die »anspruchsvollere« Annahme von Interessengegensätzen, wenn nicht gar von (latenten) Konflikten im Feld der wohlfahrtsstaatlichen Siche-rung begründen ließe. Ein solches, sich aus materialen Interessenlagen ableitendes Konfliktpotenzial kann bestenfalls für die »Ränder der Wohlfahrtsstaatlichkeit« (wie insbes. für das Ziel einer Reduzierung von Einkommensunterschieden) vermutet werden.

Ein deutlich stärkerer Einfluss war dagegen für die Bedeutung subjektiver In-teressendefinitionen festzustellen. Beide hier verwendeten Indikatoren – die jeweils spezifische Risikoaversion und die allgemeinen Reziprozitätserwartungen – haben eine deutliche Wirkung auf die Akzeptanzurteile. Dies gilt für beide Akzeptanzdi-mensionen bzw. -indikatoren (Institutionenakzeptanz und »Leistungsbewertung«) glei-chermaßen. Die Akzeptanz der untersuchten Sicherungssysteme wird somit weit besser durch die subjektiven Interessen erklärt als durch die objektive sozialpoliti-sche Interessenlage. So ist selbst für die Selbstverortung auf der Oben-Unten-Skala ein stärkerer Einfluss auf die Akzeptanzurteile festzustellen als für objektive Indika-toren der sozialen Lage.

Wie im zweiten Kapitel erläutert wurde, betonen wohlfahrtskulturelle Ansätze die Bedeutung grundlegender Werte, Ideologien und der weiteren »Moralökonomie« als Voraussetzung und Ursache der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung. Für die Wohl-fahrtsstaatsakzeptanz legt dies die Annahme nahe, dass die Akzeptanzurteile maß-geblich durch die Handlungs- und Wertorientierungen der sozialpolitischen Adres-saten beeinflusst werden.

Diese Annahme konnte anhand von zwei Arten von Wert- und Handlungs-orientierungen bestätigt werden (Abschnitt 6.4). Insbesondere Gerechtigkeitsüber-zeugungen haben einen unverkennbaren und von Interessenparametern unabhängi-gen Einfluss auf die Akzeptanzurteile über soziale Sicherungssysteme. Dies gilt für beide Akzeptanzdimensionen, also sowohl für die Institutionenakzeptanz als auch für die »Leistungsbewertung«. Dafür, welche Gerechtigkeitsüberzeugungen im Ein-zelnen bedeutsam sind, ist in erster Linie der »Systemkontext« entscheidend. So konn-

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7 Zusammenfassung 247

te u.a. gezeigt werden, dass für die Institutionenakzeptanz der Rentenversicherung andere Gerechtigkeitsüberzeugungen bedeutsam sind als für die der Sozialhilfe.

Für die drei untersuchten Handlungs- und Sozialorientierungen (Befürwortung von Eigenverantwortung, Solidaritätsorientierung und Verpflichtung zu Reziprozi-tät) konnte dagegen nur ein sporadischer Einfluss auf die Akzeptanzurteile nachge-wiesen werden. Insbesondere von der »Solidaritätsorientierung« (und in etwas gerin-gerem Maße auch von der Befürwortung von »Eigenverantwortung«) war eine grö-ßere Wirkung auf die Wohlfahrtsstaatsakzeptanz erwartet worden.

Die allgemeinen, aus wohlfahrtskulturellen Überlegungen gewonnenen Annah-men über die Akzeptanzursachen und -unterschiede erfahren zudem durch die Unter-schiede zwischen Ost- und Westdeutschen Bestätigung. Denn wie fast alle Analysen in Kapitel 6 zeigen, bleiben diese Unterschiede auch dann bestehen, wenn die zen-tralen Interessenparameter und Handlungsorientierungen kontrolliert werden. Die stärkeren Präferenzen von Ostdeutschen für ein höheres Leistungsniveau und eine stärkere staatliche Zuständigkeit können daher nicht auf unterschiedliche Interes-senlagen (insbesondere nicht auf eine höhere Arbeitslosigkeit oder ein geringeres Einkommen) zurückgeführt werden. Sie lassen sich vermutlich am besten als Aus-druck einer anderen, nämlich stärker etatistischen Erwartungshaltung gegenüber dem (Wohlfahrts)Staat interpretieren.

In der institutionalistischen Perspektive kommt der organisatorischen Ausge-staltung der sozialen Sicherung eine entscheidende Bedeutung für deren »Akzepta-bilität« (Chancen auf Akzeptanz) zu. Dies wurde im Rahmen dieser Untersuchung für die zumindest teilweise durch die Sicherungssysteme erst gebildeten Typen von Leistungsempfängern anhand mehrerer »deservingness«-Kriterien untersucht (vgl. Kapitel 6.5).

Es konnte gezeigt werden, dass die Wahrnehmung der Leistungsempfänger, das »Leistungsempfängerbild«, einen erheblichen Einfluss auf die Akzeptanzurteile über die jeweiligen Sicherungsbereiche (Wohlfahrtsstaatlichkeit) hat. So wirkt sich eine positive Wahrnehmung von Leistungsempfängern in allen Sicherungsbereichen ak-zeptanzverstärkend aus. Eine akzeptanzmindernde Wirkung geht zudem von victi-misierenden Haltungen gegenüber Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern aus. Zu-mindest für die »deservingness« der Leistungsempfänger können damit die aus insti-tutionentheoretischen Überlegungen entwickelten Annahmen über die Ursachen der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz als bestätigt gelten.

Ein Vergleich der Einzelanalysen (aus Kapitel 6) ergibt insgesamt folgendes Bild:

1. Den größten Erklärungswert für die Akzeptanzurteile über wohlfahrtsstaatliche Institutionen und sozialpolitische Aufgaben haben subjektive Interessendefini-tionen, Gerechtigkeitsüberzeugungen und die Wahrnehmung der Leistungsemp-fänger (»deservingness«-Kriterien).

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248 7 Zusammenfassung

2. Die Bedeutung sozialstruktureller Unterschiede und sozialpolitisch bestimmter Interessenlagen ist demgegenüber als gering einzuschätzen. Zwar sind insbe-sondere bei der Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit in mehreren Fällen ent-sprechende Unterschiede nachweisbar (Präferenzen für höhere Leistungen bei Arbeitern und bei positiven Versorgungsklassen); diese entsprechen aber in kei-ner Weise der Bedeutung, die aufgrund der dargelegten theoretischen Überle-gungen zu erwarten war. Dies gilt gleichermaßen für die Klassenlage wie für die sozialpolitische Verteilungsposition.

3. Subjektive Interessendefinitionen sind für beide Akzeptanzdimensionen wich-tig und für die Erklärung der Akzeptanzurteile von größerer Bedeutung als »objektive« Interessenlagen.

4. Wohlfahrtskulturelle und institutionalistische Ansätze der Wohlfahrtsstaats-theorie – bzw. die aus ihnen abgeleiteten Annahmen über den Einfluss von Wertorientierungen und »deservingness«-Kriterien auf die Wohlfahrtsstaatsak-zeptanz – werden durch die hier präsentierten Ergebnisse insgesamt deutlich mehr unterstützt als die verschiedenen konflikttheoretischen Annahmen.

5. Es wäre jedoch voreilig, vom relativ geringen Einfluss der sozialen und sozial-politischen Interessenlagen bei der Beurteilung der Sicherungssysteme auf de-ren völlige Bedeutungslosigkeit zu schließen. Insbesondere bei den beiden gro-ßen Sozialversicherungen ist eher von einer gewissen Interessenkongruenz zwi-schen unterschiedlichen sozialen und sozialpolitischen Lagen auszugehen.219

Insgesamt kann eines aber nicht übersehen werden: Wenn es im deutschen Modell des Wohlfahrtsstaates jemals stärkere sozialstrukturell geprägte Gegensätze gegeben hat, so sind von diesen nur noch Spurenelemente übrig geblieben. Der Wohlfahrtsstaat ist, wie dies auch aufgrund theoretischer Überlegungen zu erwarten war, längst »in der Mitte angekommen«. Die entscheidenden Verwerfungslinien, so hat es den Eindruck, liegen heute woanders. Nicht »Klassencleavages«, sondern kul-turelle Unterschiede, wenn nicht Gegensätze, sind primär für die unterschiedlichen Akzeptanzurteile ursächlich. Vorstellungen vom richtigen Maß und der angemes-senen Form der sozialen Sicherung werden dabei durch konkurrierende Deutungs-muster geprägt. Die Auseinandersetzung um die Umgestaltung des Wohlfahrtsstaa-tes wird daher auch wesentlich eine um die »Deutungshoheit« im Kontext der sozia-len Sicherung sein.

Für die zukünftige Ausgestaltung der Sozialpolitik ergeben sich aus den hier vorgestellten Ergebnissen zur Wohlfahrtsstaatsakzeptanz in Deutschland insgesamt vor allem drei zentrale Implikationen:

219 Die breite Streuung der Akzeptanzurteile und die oft eher geringe Modellgüte der Regressionsana-

lysen machen deutlich, dass das weitgehende Fehlen sozialstrukturell oder verteilungspolitisch ge-prägter Gegensätze dennoch nicht als »sozialpolitischer Konsens« zu deuten ist.

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Zunächst sollte deutlich geworden sein, dass jede Reformpolitik, die einen Rückzug staatlicher und parastaatlicher Instanzen aus zentralen Bereichen der sozia-len Sicherung zum Ziel hat, im deutlichen Gegensatz zu den Bedürfnissen und Er-wartungen der Sozialbürger steht. Inwiefern hieraus Widerstände gegen eine grund-legende Umgestaltung des Wohlfahrtsstaates erwachsen, dürfte auch davon abhängen, in welchem Maße es gelingt (sofern dies überhaupt beabsichtigt ist), die Ansprüche und Präferenzen der Bürger mit veränderten sozialen und wirtschaftlichen Rahmen-bedingungen in Einklang zu bringen.

Dabei besteht immer die Gefahr, dass reformpolitische Untätigkeit – etwa in-folge einer Neigung zur »blame avoidance« (Pierson 1996) oder aufgrund von »Poli-tikverflechtungsfallen« (Scharpf 1985) – dazu beiträgt, das Vertrauen in die zentra-len Wohlfahrtsinstitutionen weiter zu untergraben. Gleichzeitig ist aber auch mög-lich, dass die anhaltende Reformdiskussion und der nahezu ununterbrochene Strom von Reformen (inkl. Korrekturen und »Nachbesserungen«) in der Bevölkerung Ver-unsicherung erzeugen und dass dadurch die Institutionenakzeptanz und insbeson-dere das Systemvertrauen regelrecht »zerredet« (bzw. »de(re)formiert«) werden.

Wie die hier vorgestellten Ergebnisse deutlich machen, sind das Vertrauen in die Zuverlässigkeit zentraler Sicherungssysteme und die Zufriedenheit mit ihren Leistungen schon jetzt eher gering. Für den Umbau des Wohlfahrtsstaates liegt hier-in, dies ist die zweite Implikation, aber auch eine Chance. Denn die eher geringe Akzeptanz des wohlfahrtsstaatlichen Status quo kann auch bedeuten, dass bei einem Festhalten an den zentralen wohlfahrtsstaatlichen Zielen und an einer staatlichen Verantwortlichkeit durchaus Akzeptanzspielraum dafür besteht, wie diese Ziele er-reicht werden und welche Rolle der Wohlfahrtsstaat dabei spielt. In der Bevölke-rung scheint zumindest hinreichend »Kontingenzbewusstsein« vorhanden zu sein, um zu erkennen, dass auch andere Formen der sozialen Sicherung zu den gewünsch-ten Ergebnissen (wenn nicht gar zu besseren) führen können.

Jenseits einer radikalen Liberalisierung der Vorsorge und Privatisierung sozia-ler Risiken ist daher ein weites Spektrum wohlfahrtsstaatlicher Alternativen vorstell-bar, die durchaus mit einer hohen Akzeptanz in der Bevölkerung rechnen können. Grundsätzlich gilt dies auch für die Rolle des (Wohlfahrts)Staates: So ist keineswegs entschieden, dass etwa ein weitgehender Rückzug des Wohlfahrtsstaates auf eine »Gewährleistungsfunktion« (Sicherung der Finanzierung und Kontrollfunktionen) auf Ablehnung stoßen würde.

Hinsichtlich der zukünftigen Wohlfahrtsstaatsakzeptanz sowie der schwierige-ren Frage der Akzeptabilität sozialer Sicherungssysteme wird schließlich zum einen entscheidend sein, wie sehr sie den Interessen der wohlfahrtsstaatlichen Adressaten entsprechen. Da individualisierte Lebenslagen und subjektive Interessendefinitionen hierbei immer mehr an Bedeutung gewinnen, wird die Akzeptanz sozialer Siche-rungssysteme auch in zunehmendem Maße davon abhängen, wie flexibel diese auf die vielfältigen Sicherheitsbedürfnisse und Gestaltungswünsche reagieren. Der Wohl-

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250 7 Zusammenfassung

fahrtsstaat ist aber wesentlich eine normative Institution, der grundlegende Wertent-scheidungen zugrunde liegen. Wie die Analysen zur Bedeutung von Gerechtig-keitsüberzeugungen und allgemeinen Handlungsorientierungen gezeigt haben, ist die Wohlfahrtsstaatsakzeptanz daher immer auch – und oft zentral – eine »Frage der Moral«, bei der es im Kern darum geht, wie das Zusammenleben in einer Ge-sellschaft gestaltet werden soll.

Auch sozialpolitisch bedeutsame Wertvorstellungen, die als Ausdruck einer all-gemeinen, sich nur langsam verändernden Wohlfahrtskultur aufgefasst werden kön-nen, beschränken also die zukünftigen Gestaltungsmöglichkeiten von wohlfahrts-staatlicher Politik, sofern diese auf die Ressource Akzeptanz nicht verzichten will. So zeigen Bemühungen um eine Akzentuierung der Eigenverantwortung und eine Stärkung der privaten Vorsorge schon heute, dass es oft weniger die »Interessen« und materiellen Ressourcen sind, von denen Widerstand gegen Wohlfahrtsstaatsreformen ausgeht, als vielmehr eine geringe »Bereitschaft«, den politischen Vorgaben Folge zu leisten, bzw. das Fehlen der dazu notwendigen kognitiven und moralischen Res-sourcen.

Insofern haben auch Klagen über eine mangelnde Reformbereitschaft der Bür-ger durchaus ihre Berechtigung, greifen aber bei der Ursachendiagnose zu kurz. Gänz-lich unangebracht wäre es auch, die wohlfahrtsstaatsfreundliche Haltung weiter Teile der Bevölkerung zu verurteilen. Hier wäre zunächst genau zwischen einer Unein-sichtigkeit in tatsächlich unvermeidliche Reformbedarfe und einer letztlich legitimen Verteidigung sozialer Rechte zu unterscheiden. In diesem Sinne sollten auch die hier vorgestellten Befunde zur Wohlfahrtsstaatsakzeptanz in Deutschland nicht als Aus-druck einer reformunwilligen Borniertheit verstanden werden, sondern als logische Folge eines starken individuellen Sicherungsbedürfnisses und einer gleichzeitig hohen Solidaritätsbereitschaft.

Auch für die zukünftige Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat legen die hier präsentierten Ergebnisse zur Wohlfahrtsstaatsakzeptanz in Deutschland zwei zen-trale Implikationen nahe.

Die erste betrifft das Spektrum der herangezogenen Erklärungsfaktoren. So hat sich gezeigt, dass aus der sozialen Position (Schicht/Klasse, Alter, Geschlecht etc.) abgeleitete Interessenparameter für die Erklärung wohlfahrtsstaatlicher Akzeptanz unzureichend sind. Ähnliches war für den differenziert erfassten Versorgungsklassen-status festzustellen, also für einen Interessenindikator, der eng auf den Sozialpolitik-kontext bezogen ist.

Wie auch die im zweiten Kapitel zusammengefassten Überlegungen unterstrei-chen, ist zwar nicht auszuschließen, dass in anderen Wohlfahrtsstaaten (insbesonde-re des liberalen Typs) sowohl sozialstrukturell geprägte Gegensätze als auch solche zwischen Versorgungs- und Finanzierungsklassen von größerer Bedeutung sind, als es sich in dieser Untersuchung herausgestellt hat. Viel spricht jedoch dafür, dass die Erklärungsfaktoren, die sich hier als tragfähiger erwiesen haben als sozialstrukturelle

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7 Zusammenfassung 251

Variablen, auch in anderen wohlfahrtsstaatlichen Kontexten einen wichtigen Ein-fluss auf die Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Institutionen ausüben. Vor allem sub-jektive Interessendefinitionen, grundlegende Handlungs- und Wertorientierungen sowie institutionelle Variablen und die Leistungsempfängerwahrnehmung sollten daher als wichtige potenzielle Erklärungsfaktoren systematisch in Akzeptanzanaly-sen berücksichtigt werden.

Mehr Beachtung sollte in der Akzeptanzforschung zum Wohlfahrtsstaat aber zukünftig vor allem die Unterscheidung zwischen der Akzeptanz der bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Institutionen und der Akzeptanz von Wohlfahrtsstaatlichkeit finden. Denn wie die hier gezeigten Analysen der Akzeptanzurteile verdeutlichen, kann weder von der Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit auf die der bestehenden Wohlfahrtsinstitutionen geschlossen werden, noch in die umgekehrte Richtung.

Hier ist sowohl in theoretischer als auch in messtechnischer Hinsicht ein Um-denken erforderlich. So lässt sich die (oft nur) latente Gleichsetzung von Wohlfahrts-staatsakzeptanz und der Akzeptanz der Wohlfahrtsstaatlichkeit nicht länger auf-rechterhalten. Vor allem Frage-Items aus international vergleichenden Projekten (u.a. Eurobarometer und International Social Survey Programme) zielen ausschließlich auf die Dimension der Wohlfahrtsstaatlichkeit. Doch wie auch an den hierbei durch-aus ähnlichen Ergebnissen für Wohlfahrtsstaaten abzulesen ist (Ullrich 2005: 218), die sich hinsichtlich ihrer »wohlfahrtsstaatlichen Performanz« deutlich unterschei-den (z.B. Schweden und Russland), wäre es ein Trugschluss, von der hohen Akzep-tanz wohlfahrtsstaatlicher Ziele oder aus hohen Präferenzen für eine staatliche Form der sozialen Absicherung auf eine hohe Unterstützung der konkreten Wohl-fahrtsinstitutionen in den einzelnen Ländern zu schließen. Die zum Teil sehr »opti-mistische« Einschätzung der Wohlfahrtsstaatsakzeptanz, die in vielen international vergleichenden Untersuchungen zu finden ist, ist daher entsprechend zu modifizie-ren. Trotz der damit verbundenen methodischen Probleme ist schließlich auch in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung vermehrt darauf zu achten, dass ne-ben der Wohlfahrtsstaatlichkeit auch die Akzeptanz der in den einzelnen Wohlfahrts-staaten jeweils bestehenden sozialen Sicherungssysteme erfasst wird.

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Page 265: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

Anhang

A1 Übersicht über die in Kapitel 6 verwendeten Akzeptanz-indikatoren und untersuchten Sicherungsbereiche

Kapitel 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5

Grundthema Klassen Versorgungs-klassen

Generatio-nenkonflikt

Wertorien-tierungen

»deservingness«

(1) Akzeptanzindikatoren Institutionenakzeptanz - + + + - Systemvertrauen - - - - - staatliche Zuständigkeit - - - - + »Leistungsbewertung« + + + + +

(2) SicherungsbereicheAlterssicherung/Gesetzl. Rentenversicherung - + + + +

Gesundheitsversorgung/Ge-setzl. Krankenversicherung - + - - +

Arbeitslosigkeit/Arbeitslo-senversicherung + + - - +

Armut/Sozialhilfe + + - + + Leistungen für Familien - - + - +

(3) »erweiterte Wohlfahrtsstaatlichkeit« - Arbeitsplätze + + - + - - Einkommensunterschiede + - - + - - Familie + Kinderbetreuung - - + - -

Anmerkung: + = verwendet/untersucht; - = nicht verwendet/untersucht

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266 Anhang

A2.1 Beschreibung der Akzeptanzindikatoren

Akzeptanzindikatoren Itemformulierungen und Erläuterungen

(1) Akzeptanzindikatoren des Status quo

Institutionenakzeptanz

»Auf dieser Liste stehen (...) einzelne Bereiche der sozialen Sicherung. (...) Was meinen Sie, wie gut oder wie schlecht die folgenden Bereiche der so-zialen Sicherung für unsere Gesellschaft sind? Beurteilen Sie jeden Bereich auf dieser Liste nacheinander mit Hilfe der Skala.

A: Die Gesetzliche KrankenversicherungB: Die Gesetzliche RentenversicherungC: Die ArbeitslosenversicherungD: Die SozialhilfeE: Leistungen für Familien wie Kindergeld oder Erziehungsgeld«

Beantwortung auf endpunktbeschrifteter 11er-Skala von 0 (»sehr schlecht«) bis 10 (»sehr gut«)

Systemvertrauen

»Wenn Sie die Situation in Deutschland insgesamt betrachten: Glauben Sie, dass wir uns in Zukunft auf die zentralen sozialen Sicherungssysteme ver-lassen können? Sagen Sie mir bitte für jedes der Sicherungssysteme auf der Liste, ob wir uns in Zukunft darauf verlassen können.

A: Die Gesetzliche Krankenversicherung B: Die Rentenversicherung C: Die Arbeitslosenversicherung D: Die Sozialhilfe«

Antwortkategorien: »ja, auf jeden Fall«; »eher ja«; »eher nein«; »nein, auf keinen Fall«

(2) Akzeptanzindikatoren der Wohlfahrtsstaatlichkeit

staatliche (vs. private)Zuständigkeit

»Für soziale Aufgaben können neben dem Staat und den staatlich regulierten Sozialversicherungen, also der gesetzlichen Kranken-, Renten- und Arbeits-losenversicherung, auch private Kräfte zuständig sein, wie z.B. private Versi-cherungen, Betriebe, Kirchen, Wohlfahrtsverbände, die Familie oder jeder Bürger selbst. Wir würden nun gerne von Ihnen wissen, für welchen Anteil der Absicherung der Staat und die Sozialversicherungen bei den folgenden Aufgaben zuständig sein sollten.

A: Gesundheitliche Versorgung für Kranke B: Den alten Menschen einen angemessenen Lebensstandard sichern C: Den Arbeitslosen einen angemessenen Lebensstandard sichern D: Finanzielle Absicherung bei Armut gewähren E: Familien und Alleinerziehende unterstützen«

Beantwortung auf 11er-Skala (mit grafischer Darstellung unterstützt): »100% private Kräfte«; »90% Staat & Sozialversicherungen und 10% private Kräf-te«, »80% Staat & Sozialversicherungen und 20% private Kräfte«; (…); »100 % Staat & Sozialversicherungen«

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Anhang 267

»Leistungsbewertung«

Differenz aus gewünschter Leistungshöhe (2) und wahrgenommener Leistungshöhe (1):

(1) »Wie beurteilen Sie, allgemein betrachtet, die Höhe der [Gesetzlichen Krankenversicherung/Arbeitslosenversicherung/Sozialhilfe/GesetzlichenRentenversicherung]?«

(2) »Und wie hoch sollten die Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung Ihrer Ansicht nach sein? Bitte berücksichtigen Sie bei dieser Entscheidung, dass höhere Leistungen auch zu einer Erhöhung der Krankenkassenbeiträge führen würden. Entsprechend würden niedrigere Leistungen zu einer Senkung der Kran-kenkassenbeiträge führen.« (Beispiel für Krankenversicherung; ähnlich lautende Formulierungen für Gesetzliche Rentenversicherung, Sozialhilfe und Arbeitslosengeld)

Beantwortung jeweils auf endpunktbeschrifteter 11er-Skala von 0 (»sehr niedrig«) bis 10 (»sehr hoch«); Skala der »Leistungsbewertung« von -10 bis 10

»erweiterte Wohlfahrts-staatlichkeit«

»Inwieweit würden Sie den folgenden Aussagen über den Staat zustimmen oder nicht zustimmen?«

Arbeitsplätze »Der Staat sollte einen Arbeitsplatz für jeden bereitstellen, der arbeiten will.«Einkommensunterschiede »Der Staat sollte die Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich

abbauen.«Familien/Alleinerziehende »Der Staat sollte Familien und Alleinerziehende finanziell stärker unterstützen,

als er es bisher tut.«Kinderbetreuungsplätze »Der Staat sollte mehr Geld zur Verfügung stellen, so dass jedes Kind einen

Betreuungsplatz erhalten kann.« Beantwortung jeweils auf endpunktbeschrifteter 6er-Skala von 1 (»stimme überhaupt nicht zu«) bis 6 (»stimme voll und ganz zu«)

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268 Anhang

A2.2 Beschreibung der Erklärungsfaktoren

Erklärungsfaktoren Itemformulierungen und Erläuterungen

(1) Soziale Lage220

Erikson-Goldthorpe-Klassen(rekodiert zu 6 Kate-gorien)

Grundlage sind die Erikson-Goldthorpe-Klassen mit sieben Kategorien. »Selb-ständige Landwirte« und »Landarbeiter und andere Beschäftigte im primären Sektor« wurden wegen der geringen Fallzahlen zusammengefasst. Damit ergibt sich folgende Klasseneinteilung:Dienstklasse (service class), Angestellte mit Routinetätigkeiten (routine non-ma-nuals), Selbständige (petty bourgeoisie), Facharbeiter und Meister (skilled wor-kers), an- und ungelernte Arbeiter (unskilled workers) sowie selbständige Land-wirte und Arbeiter im primären Sektor (farmers & farm labourers).

bedarfsgewichtetesHaushaltsnettoein-kommen

»Wenn Sie die Einkommen aller Mitglieder ihres Haushalts zusammenzählen: Wie hoch ist das monatliche Netto-Einkommen ihres Haushalts insgesamt. Ich meine damit also die Summe der Erwerbseinkommen aller Haushaltsmitglieder und aller Sozialleistungen, die nach Abzug der Steuern und Sozialversicherungsbeiträge übrig bleibt.«Gewichtung nach der alten OECD-Skala: Der Haushaltsvorstand erhält ein Gewicht von 1,0, jedes weitere Haushaltsmitglied, das 15 Jahre oder älter ist, ein Gewicht von 0,7, Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren ein Gewicht von 0,5 (vgl. u.a. Hauser 1996).

Oben-Unten-Skala

»In unserer Gesellschaft gibt es Bevölkerungsgruppen, die eher oben stehen, und solche, die eher unten stehen. Wir haben hier eine Skala, die von oben nach unten verläuft. Wenn Sie an sich selbst denken: Wo würden Sie sich auf dieser Skala einordnen?« Beantwortung auf endpunktbeschrifteter 10er-Skala von 1 (»ganz unten«) bis 10 (»ganz oben«)

Bildungsgrad(CASMIN-Klassifika-tion)

Die neun CASMIN Kategorien wurden hier zu den folgenden drei Kategorien zusammengefasst, wobei jede Kategorie binär mit 0 und 1 kodiert ist: niedrig = kein Abschluss, Hauptschulabschluss ohne Berufsausbildung,

Hauptschulabschluss mit Berufsausbildung mittel = Mittlere Reife mit Berufsausbildung, Mittlere Reife ohne

Berufsausbildung, Fachhochschulreife/Abitur ohne Berufsausbildung, Fachhochschulreife/Abitur mit Berufsausbildung

hoch = Fachhochschulabschluss, Hochschulabschluss Alter -Geschlecht Mann = 0; Frau = 1 Landesteil Westdeutschland = 0; Ostdeutschland = 1

220 Einige Variablen (insbes. Bildung, Landesteil) sind zugleich proxy für kulturelle Erklärungsfaktoren.

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Anhang 269

(2) Versorgungsklassenstatus; subjektive Interessendefinitionen

Versorgungsklassen-status

Der Versorgungsklassenstatus wurde auf der Grundlage von drei Variablen ge-bildet:(1) Erwerbsstatus, (2) Art der Nichterwerbstätigkeit, (3) Leistungsempfang Insgesamt wurden folgende Versorgungsklassen unterschieden: (1) positive Versorgungsklassen:- Rentner - Pensionäre - Arbeitslose- Sozialhilfeempfänger

(2) Finanzierungsklassen: - Arbeiter (Vollzeit/Teilzeit)- Angestellte (Vollzeit/Teilzeit)- Beamte - Selbständige

Als Arbeitslose wurden Personen klassifiziert, die Arbeitslosengeld oder –hilfe beziehen. Per-sonen, die nur Sozialhilfe beziehen, bilden den Versorgungsklassenstatus der Sozialhilfeemp-fänger. Sonstige Erwerbstätige und Nicht-Erwerbstätige wurden als Restkategorie(n) behan-delt. Für die Untersuchung spezifischer Fragestellungen wurden einzelne Versorgungsklassen zusammengefasst.

allgemeine Reziprozi-tätserwartungen

»Inwieweit würden Sie der folgenden Aussage zustimmen? Auch wer heute ho-he Sozialversicherungsbeiträge zahlt, wird langfristig in der einen oder anderen Form vom System der sozialen Sicherung profitieren.« Beantwortung auf endpunktbeschrifteter 6er-Skala von 1 (»stimme überhaupt nicht zu«) bis 6 (»stimme voll und ganz zu«)

Risikoaversion

Diese Variable wurde gebildet durch die multiplikative Verknüpfung der »sub-jektiven Wahrscheinlichkeit eines Risikos« (1) mit der »Risikobewertung« (2): (1) »Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass Sie in den nächsten 2 bis 3 Jah-ren [chronisch krank/arbeitslos/ Sozialhilfeempfänger] werden?« (2) »Und wie schlimm wäre es für Sie, wenn Sie [chronisch krank/arbeitslos/So-zialhilfeempfänger] würden?« Beantwortung jeweils auf endpunktbeschrifteter 11er-Skala von 1 (»sehr unwahr-scheinlich« bzw. »überhaupt nicht schlimm«) bis 11 (»sehr wahrscheinlich« bzw. »sehr schlimm«); Spektrum der Variable »Risikoaversion«: 1 (Minimum) bis 121 (Maxi-mum)

(3) Handlungs- und Wertorientierungen

Gerechtigkeits-überzeugungen

»Es gibt unterschiedliche Idealvorstellungen darüber, wie Einkommen und Ver-mögen gerecht verteilt werden können. Auf dieser Liste stehen einige Aussagen zu diesem Thema. Bitte sagen Sie mir zu jeder dieser Aussagen, ob bzw. inwie-weit Sie ihr zustimmen.«

Gleichheit (Egalitaris-mus)

»Es wäre gerecht, Einkommen und Vermögen so zu verteilen, dass alle den glei-chen Anteil erhalten.«

Leistungsgerechtigkeit »Es ist gerecht, wenn Menschen, die viel leisten, mehr verdienen als andere.«

Bedarfsgerechtigkeit »Es wäre gerecht, wenn alle Menschen das bekommen, was sie zum Leben brauc-hen, auch wenn Leute mit höherem Einkommen dafür etwas abgeben müssen.«

Beantwortung jeweils auf endpunktbeschrifteter 6er-Skala von 1 (»stimme über-haupt nicht zu«) bis 6 (»stimme voll und ganz zu«)

allgemeine Hand-lungs- und Sozial-orientierungen

»Auf dieser Liste stehen einige Aussagen über grundlegende Einstellungen dazu, wie man sich verhalten sollte. Bitte sagen Sie mir für jede dieser Aussagen, ob bzw. inwie-weit Sie ihr zustimmen.«

Eigenverantwortung »Letztendlich ist jeder selbst für sein eigenes Wohlergehen verantwortlich.« Solidarität »Der Stärkere sollte dem Schwächeren helfen.« Reziprozitätsver-pflichtung

»Wer Hilfe von anderen erhalten hat, sollte sich verpflichtet fühlen, selbst Hilfe zu leisten.«

Beantwortung jeweils auf endpunktbeschrifteter 6er-Skala von 1 (»stimme über-haupt nicht zu«) bis 6 (»stimme voll und ganz zu«)

(4) Leistungsempfängereigenschaften»Auf dieser Liste stehen zunächst einige Meinungen über die Gesetzliche Rentenversi-cherung und über Rentner. Bitte sagen Sie mir für jede dieser Aussagen, inwieweit Sie ihr zustimmen oder nicht zustimmen.«

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270 Anhang

(Diese Stimulusformulierung wurde sinngemäß auch für die anderen Sicherungssysteme verwendet.)

Bedürftigkeit

»Die meisten Menschen, die [eine gesetzliche Rente/Arbeitslosengeld/Sozialhilfe/Kinder-geld] bekommen, brauchen [sie/es] wirklich.« Abweichende Formulierungen für Krankenversicherung: »Die meisten Menschen, die Leistun-gen der Gesetzlichen Krankenversicherung bekommen, könnten sich ohne die Ge-setzliche Krankenversicherung keine angemessene Behandlung leisten.«

Anspruchs-berechtigung

»Wer eine gesetzliche Rente erhält, bekommt sie zu Recht, weil er sich diese durch Bei-tragszahlungen verdient hat.« (sinngemäße Formulierungen für Arbeitslosengeld und Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung)Abweichende Formulierungen für Sozialhilfe und Kindergeld:»Wer Sozialhilfe erhält, bekommt sie zu Recht, weil jeder Mensch ein Recht auf das Notwendigste zum Leben hat.« »Wer Kindergeld erhält, bekommt es zu Recht, weil er durch die Erziehung von Kin-dern einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft leistet.«

soziale Wert-schätzung(Unterstützungswürdigkeit)

»[Alte Menschen/Kranke/Arbeitslose/Arme/ Familien] verdienen in besonderem Maße die Unterstützung der Gesellschaft.«

Missbrauch»In der [Gesetzlichen Rentenversicherung/Gesetzlichen Krankenversicherung/Ar-beitslosenversicherung/Sozialhilfe] kommt es häufig vor, dass jemand Leistungen er-hält, obwohl er keinen Anspruch darauf hat.«

Verbleibsvicti-misierung nurArbeitslose und So-zialhilfeempfänger)

»Viele [Arbeitslose/Sozialhilfeempfänger] müssten nicht so lange [Arbeitslosengeld/-Sozialhilfe] beziehen, wenn sie sich mehr Mühe geben würden, [einen neuen Arbeits-platz zu finden/wieder auf eigenen Füßen zu stehen].«

Eintrittsvictimi-sierung (nur So-zialhilfeempfänger)

»Viele Sozialhilfeempfänger sind durch eigenes Verschulden in die Sozialhilfe ge-rutscht.«Beantwortung jeweils auf endpunktbeschrifteter 6er-Skala von 1 (»stimme überhaupt nicht zu«) bis 6 (»stimme voll und ganz zu«)

Page 271: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

Anhang 271

A2.3 Weitere, nur in einzelnen Analysen verwendete Variablen

Variable Itemformulierungen und Erläuterungen

Folgen des Wohlfahrtsstaates

»Das System der sozialen Sicherung kann gute und schlechte Auswirkungen haben. Wir haben hier verschiedene Aussagen zu diesem Thema zusammenge-stellt. Bitte sagen Sie uns für jede Aussage, inwieweit diese Ihrer Meinung nach stimmt oder nicht stimmt.«

weniger Konflikte »Durch das System der sozialen Sicherung gibt es weniger Konflikte zwischen Armen und Reichen.«

Soziale Gerechtigkeit »Das System der sozialen Sicherung führt zu mehr sozialer Gerechtigkeit.« geringere Hilfsbereit-schaft

»Weil sich immer mehr Menschen zu sehr auf das System der sozialen Sicherung verlassen, sinkt die Hilfsbereitschaft in Familie und Nachbarschaft.«

höhere Arbeitslosigkeit »Die Kosten der sozialen Sicherung belasten die Wirtschaft und führen so zu höherer Arbeitslosigkeit.« Beantwortung jeweils auf endpunktbeschrifteter 6er-Skala von 1 (»stimmt überhaupt nicht«) bis 6 (»stimmt voll und ganz«)

Beurteilung der eigenen Alterssicherung

»Die zentralen Sicherungssysteme wie insbesondere die Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung und die Sozialhilfe haben ja vor allem die Aufgabe, die Menschen in verschiedenen Lebenslagen abzusichern. Wie beurteilen Sie Ihre eigene Absicherung durch die sozialen Sicherungssysteme?«Beantwortung auf endpunktbeschrifteter 6er-Skala von 1 (»überhaupt nicht gut«) bis 6 (»sehr gut«)

Beschäftigung im Öffentlichen Dienst

Dummy-Variable, die auf 1 kodiert wurde, wenn eine der folgenden beiden Bedingungen erfüllt ist: (a) Die befragte Person ist erwerbstätig und der Betrieb, bei dem sie beschäf-

tigt ist, gehört zum öffentlichen Dienst. (b) Die befragte Person ist nicht erwerbstätig und der Betrieb, bei dem sie

zuletzt beschäftigt war, gehört zum öffentlichen Dienst. 0 = Betrieb gehört nicht zum öffentlichen Dienst; 1 = Betrieb gehört zum öffentli-

chen Dienst

Parteiaffinität(Parteiidentifikation)

»Viele Leute in der Bundesrepublik neigen längere Zeit einer bestimmten poli-tischen Partei zu, obwohl sie auch ab und zu mal eine andere Partei wählen. Wie ist das bei Ihnen. Neigen Sie – ganz allgemein gesprochen – einer be-stimmten Partei zu?« (Antwort: Ja/Nein) »Sagen Sie mir bitte noch, welche Partei das ist?« Antwortkategorien: CDU/CSU; SPD; FDP; B90/Grüne; PDS; andere Partei; keine Parteiaffinität

»Kinder«

Generiert aus der Vereinigungsmenge von »Haushaltstyp« und dem Empfang von Kindergeld. Eine Person wurde auf dieser Dummy-Variable mit 1 kodiert, wenn mindestens eine der drei folgenden Bedingungen erfüllt ist: (a) Der Haushalt, dem die befragte Person angehört, besteht aus einem (Ehe-)-

Paar mit mindestens einem Kind unter 27 Jahren.(b) Der Haushalt, dem die befragte Person angehört, besteht aus einer Allein-

erziehenden oder einem Allerziehenden mit mindestens einem Kind unter 27 Jahren.

(c) Mindestens ein Mitglied des Haushalts, dem die befragte Person angehört, erhält Kindergeld.

Dummy Variable: 0 = keine Kinder, 1 = Kind(er) »Benachteiligung Jün-gerer« (in der Gesetz-lichen Rentenversiche-rung)

»Insgesamt lohnt es sich für die jüngere Generation viel weniger als für die äl-tere, in der Gesetzlichen Rentenversicherung zu sein.« Beantwortung auf endpunktbeschrifteter 6er-Skala von 1 (»stimme überhaupt nicht zu«) bis 6 (»stimme voll und ganz zu«)

Page 272: Die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates

272 Anhang

»Generationenkonflikt«(in der Gesetzlichen Rentenversicherung)

»Dadurch, dass es sich für die jüngere Generation weniger lohnt, in der Ge-setzlichen Rentenversicherung zu sein, als für die ältere, kommt es zu Konflik-ten zwischen den Generationen.« Beantwortung auf endpunktbeschrifteter 6er-Skala von 1 (»stimme überhaupt nicht zu«) bis 6 (»stimme voll und ganz zu«)

Private Altersvorsorge

Summenindex aus allen zusätzlichen Maßnahmen zur finanziellen Absicherung im Alter: »Abgesehen von gesetzlichen Renten oder Pensionen: Haben Sie zu-sätzliche Maßnahmen zur finanziellen Absicherung im Alter getroffen? Wenn ja: Welche?« Antwortkategorien: Riester Rente; Betriebsrente/Zusatzversorgung des öffent-lichen Dienstes; Kapitallebensversicherung; Sonstige Privatrente; Wohneigentum; Aktien, Fondsanlagen oder andere Wertpapiere; Sonstige Ersparnisse; Andere

»Bilanzierung«(der Verteilungsposi-tion in der Gesetzlichen Krankenversicherung)

Generiert aus der Wahrnehmung der eigenen Verteilungsposition (1) und der Erwartung eines langfristigen Ausgleichs bei Nettozahlern (2):(1) »Was schätzen Sie: Inwieweit entsprechen die Leistungen, die Sie und gege-benenfalls bei Ihnen mitversicherte Familienangehörige erhalten haben, den von Ihnen gezahlten Krankenkassenbeiträgen? Bitte berücksichtigen Sie bei Ihrer Einschätzung nur den Zeitraum seit Ihrer ersten versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit.«Beantwortung auf end- und mittelpunktbeschrifteter 7er-Skala von 1 (»viel we-niger gezahlt als erhalten«) über 4 (»ungefähr genauso viel gezahlt wie erhal-ten«) bis 7 (»viel mehr gezahlt als erhalten«)(2) »(...) Meinen Sie, dass sich Ihre bisher vergleichsweise hohen Beiträge später in der einen oder anderen Form ausgleichen werden oder wird sich das nicht ausgleichen?«Antwortkategorien: Ja/NeinAusprägungen der Variable »Bilanzierung«: »mehr erhalten«; »weniger erhalten – wird sich ausgleichen«; »weniger erhalten – wird sich nicht ausgleichen«

»Mitversicherte« (Ge-setzliche Krankenver-sicherung)

Dummy-Variable, die angibt, ob über den/die Befragte/n weitere Personen in der Gesetzlichen Krankenversicherung mitversichert sind. 0 =keine Mitversicherten ; 1 = mindestens eine Person mitversichert