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Der Werkekanon in der Musik – Werturteil, Konstrukt, historiographische Herausforderung Internationale musikwissenschaftliche Tagung am Orff-Zentrum München, 22.–26. Juli 2009 Organisatoren: Prof. Dr. Klaus Pietschmann (Bern), Dr. Melanie Wald (Zürich) Konzept Wohl jede der im 19. Jahrhundert begründeten Kunst-Wissenschaften hat ihr spezifisches Profil, ihren wissenschaftlichen Ansatz, ihre Fragen, Forschungsgegenstände und Methoden vor dem Hintergrund eines unhinterfragt anerkannten Kanons ausgebildet – Kanon hier verstanden als ein Repertoire von gleichermaßen als vorbildhaft, überzeitlich wie ästhetisch besonders befriedigend angesehenen Kunstwerken, das von einer homogenen gesellschaftlichen Gruppe bewußt oder unbewußt als Spiegel ihres Selbstverständnisses angesehen wird und von einer gewissen Dauerhaftigkeit ist. Auch die Geschichte der Musikwissenschaft ist in erheblichem Maße von der Virulenz solcher apriorischen Werturteile geprägt worden: Die sich formierende Disziplin beschäftigte sich hauptsächlich mit sogenannten ‹Meisterwerken› und ihren Schöpfern und suchte nach wissenschaftlichen Kriterien für ihre Qualitätsbestimmungen – mit der Folge, daß als ‹schlecht› klassifizierte Stücke kein wissenschaftliches Interesse mehr beanspruchen durften und als musikgeschichtlich irrelevant galten. Die damit verbundenen Absichten waren in erster Linie positivistisch-konservatorischer Natur. Es gehört zweifellos zu den als positiv zu bewertenden Ergebnissen der jüngeren Entwicklung in den Geisteswissenschaften, diese Mechanismen in den Vordergrund gerückt und ihrerseits als ein ergiebiges Feld wissenschaftlichen Interesses ausgewiesen zu haben. Die Frage lautet nun weniger, ob und warum ein Werk gut oder schlecht ist, sondern wer es wann und zu welchem Zwecke mit einem solchen Etikett belegt hat. Damit erweitern sich nicht nur die Forschungsgegenstände, sondern es können überdies völlig neue Kontexte eröffnet werden, in denen das Kunstwerk zusätzlich zum Bezug auf seinen Autor auch in aussagekräftige Relation zu Rezipientenkreisen verschiedener Epochen tritt. Während die Debatten zur Konstruktion und identifikatorischen Funktion von Kanones sowie zu den Bedingungen ihres Zustandekommens namentlich in den

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Page 1: Der Werkekanon in der Musik – Werturteil, Konstrukt, … · Disciplining Music – Musicology and its Canons. Chigaco 1992; Joseph Kerman: Contemplating Music. Challenges to Musicology

Der Werkekanon in der Musik –

Werturteil, Konstrukt, historiographische Herausforderung

Internationale musikwissenschaftliche Tagung am Orff-Zentrum München,

22.–26. Juli 2009

Organisatoren: Prof. Dr. Klaus Pietschmann (Bern), Dr. Melanie Wald (Zürich)

Konzept

Wohl jede der im 19. Jahrhundert begründeten Kunst-Wissenschaften hat ihr spezifisches

Profil, ihren wissenschaftlichen Ansatz, ihre Fragen, Forschungsgegenstände und Methoden

vor dem Hintergrund eines unhinterfragt anerkannten Kanons ausgebildet – Kanon hier

verstanden als ein Repertoire von gleichermaßen als vorbildhaft, überzeitlich wie ästhetisch

besonders befriedigend angesehenen Kunstwerken, das von einer homogenen

gesellschaftlichen Gruppe bewußt oder unbewußt als Spiegel ihres Selbstverständnisses

angesehen wird und von einer gewissen Dauerhaftigkeit ist. Auch die Geschichte der

Musikwissenschaft ist in erheblichem Maße von der Virulenz solcher apriorischen

Werturteile geprägt worden: Die sich formierende Disziplin beschäftigte sich hauptsächlich

mit sogenannten ‹Meisterwerken› und ihren Schöpfern und suchte nach wissenschaftlichen

Kriterien für ihre Qualitätsbestimmungen – mit der Folge, daß als ‹schlecht› klassifizierte

Stücke kein wissenschaftliches Interesse mehr beanspruchen durften und als

musikgeschichtlich irrelevant galten. Die damit verbundenen Absichten waren in erster Linie

positivistisch-konservatorischer Natur.

Es gehört zweifellos zu den als positiv zu bewertenden Ergebnissen der jüngeren

Entwicklung in den Geisteswissenschaften, diese Mechanismen in den Vordergrund gerückt

und ihrerseits als ein ergiebiges Feld wissenschaftlichen Interesses ausgewiesen zu haben.

Die Frage lautet nun weniger, ob und warum ein Werk gut oder schlecht ist, sondern wer es

wann und zu welchem Zwecke mit einem solchen Etikett belegt hat. Damit erweitern sich

nicht nur die Forschungsgegenstände, sondern es können überdies völlig neue Kontexte

eröffnet werden, in denen das Kunstwerk zusätzlich zum Bezug auf seinen Autor auch in

aussagekräftige Relation zu Rezipientenkreisen verschiedener Epochen tritt.

Während die Debatten zur Konstruktion und identifikatorischen Funktion von

Kanones sowie zu den Bedingungen ihres Zustandekommens namentlich in den

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Literaturwissenschaften bereits auf einem hohen kritischen Niveau stattfinden,1 ist das

Thema von der Musikwissenschaft bislang nur sporadisch und mit Schwerpunkt im

angloamerikanischen Raum diskutiert worden.2 Genau hier wird die Tagung ansetzen, ohne

aber bei diesem ideologie- bzw. fachkritischen Impetus schon wieder stehenzubleiben:

Neben der Offenlegung implizit wirkender Kanon-Konstrukte in der Musikwissenschaft und

im Musikleben soll Kanonbildung v.a. auch als ein historisches Phänomen betrachtet

werden, in Zusammenhang mit dem es musikhistoriographisch durchaus aufschlußreiche

Fragen nach dem Werk, seiner Funktion, Rezeption, Bewertung und seinen Kontexten zu

stellen gilt.

Die Tagung soll folglich das Gespräch über den musikalischen Kanon in einem

umfassenderen Ansatz sowohl als ein methodisch exklusives Konstrukt wie eine

geistesgeschichtlich äußerst relevante Tatsache innerhalb des Faches befördern, die meist

unabhängig voneinander geführten Debatten der angloamerikanischen und der

deutschsprachigen Musikwissenschaft zusammenführen und einen systematischen Zugang,

orientiert an verschiedenen Prozessen der Kanonisierung, beteiligten Personen, Institutionen

oder Medien, ausschlaggebenden Techniken und Konservierungs- sowie

Propagierungsstrategien, erproben.

Die Referenten einer Sektion werden jeweils durch einen Respondenten ergänzt, der den

Blick auf verbindende Aspekte lenken und zusammenfassende Statements versuchen soll,

um so eine wirklich grundsätzliche Diskussion anzuregen. Eine Podiumsdiskussion der

Respondenten wird die Tagung daher auch abrunden.

1 Einschlägig bes. Harold Bloom: The Western Canon. The Books and School of Ages. New York 1994; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1997; Renate Heydebrandt (Hrsg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart/Weimar 1998; Gerhard R. Kaiser / Stefan Matuschek (Hrsg.): Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literatur- und Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie (Jenaer Germanistische Forschungen. Neue Folge; 9) Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 2001; Gisela Nauck (Hrsg.): Kanonbildungen. Berlin 2004. 2 Hier wären v.a. zu nennen Katherine Bergeron u.a. (Hrsg.): Disciplining Music – Musicology and its Canons. Chigaco 1992; Joseph Kerman: Contemplating Music. Challenges to Musicology. London 1985; Lydia Goehr: The Imaginary Museum of Musical Works. Oxford 1992; William Weber: The Intellectual Origins of Musical Canon in Eighteenth-Century England. In: JAMS 47 (1994), S. 488–520.

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– Programm –

Mittwoch, 22. Juli 2009

14.00–17.30: Vorüberlegungen

Einführung in die Tagung

Kanonbildung in anthropologisch-religiöser Perspektive (Jan Assmann, Heidelberg)

Kaffeepause

Klassizität – Werturteil – Kanon? (Hans-Joachim Hinrichsen, Zürich)

Zu Recht vergessen? Anmerkungen zur Leistungsfähigkeit des kollektiven Urteilsvermögens (Anett Lütteken, Bern)

Führung durch das Orff-Zentrum

Begrüßungsempfang

Donnerstag, 23. Juli 2009 Formen intentionaler Kanonbildung

9.00–13.15 (Hartmut Schick) 15.00–18.00 (Karol Berger)

Göttliche Inspiration als Kanonisierung: Der Gregorianische Choral (Therese Bruggisser, Bern)

Die „jeune école russe“ als Gegenkanon in Frankreich (Inga Mai Groote, München)

Kirchliches Musikverstaendnis im Spiegel kanonisierter Heiligkeit (Klaus Pietschmann, Bern)

Wagners Bayreuth: Fallstudie einer Selbstkanonisierung (Arne Stollberg, Bern)

Kaffeepause Kaffeepause

Iussu Caesare: Herrscherliche Definitionsmacht (Melanie Wald, Zürich)

Kanon als Ideologie: Die Rolle der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik und der Donaueschinger Musiktage (Doris Lanz, Fribourg)

Die Macht der Namen (Katelijne Schiltz, München)

Kanonkonstitution durch Interpreten: Der Fall Karajan (Hartmut Hein, Köln)

Nationale Identitätsstiftung durch Musik (Ivana Rentsch, Zürich)

Freitag, 24. Juli 2009

9.00–12.30: Konservierter Kanon (Peter Gülke) 15.00–17.30: Kanonbildung durch Akklamation (Karol Berger)

Summe der frühen Mehrstimmgkeit? Der Magnus Liber Organi (Anna Maria Busse Berger, UC Davies)

Popularisierung von Musik in der Frühen Neuzeit (Nicole Schwindt, Trossingen)

Kanonreflexion und -konstitution in Musikhandschriften der Renaissance (Cristina Urchueguía, Zürich)

Ein 'historischer Nullpunkt' des Kanon: Das Konzertleben im Wien Beethovens (Peter Niedermüller, Mainz)

Kaffeepause Kaffeepause

Kanonbildung durch Notendruck (Jürgen Heidrich, Münster)

Dekanonisierungstendenzen im 20. Jahrhundert (Anne Shreffler, Harvard)

Kanonbildung durch Tonträger und Automaten (Martin Elste, Berlin)

Samstag, 25. Juli 2009

9.00–12.30: Musikschrifttum (Hartmut Schick) Nachmittag / Abend

Entstehung eines musikalischen Kanons im Mittelalter (Christan Thomas Leitmeir, Bangor)

Musikgeschichte als Kanongeschichte (Renate Groth, Bonn)

Führung durch die Villa Stuck

Kaffeepause Podiumsdiskussion in der Villa Stuck

Die Macht der Medien: Geschmacksbildung in Musikzeitschriften und Feuilletons (Axel Beer, Mainz)

Konzert- und Opernführer (Christian Thorau, Frankfurt/M.)

Sonntag, 26. Juli 2009

9.00–12.30: Fach- und Methodenreflexion (Peter Gülke)

Kanonbildung durch begründetes Werturteil in der Musikwissenschaft (Michael Walter, Graz)

Über Wertung, Kanon und Musikwissenschaft (Frank Hentschel, Gießen)

Kaffeepause

Canonisation, the Werkbegriff and the role of myth in the early operas in the Renaissance (Lydia Goehr, New York)

Der Kanon des Verbotenen: Exklusion, Negation und soziales Vergessen in der Kanonbildung (Wolfgang Fuhrmann, Bern)

Abschlußempfang

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Praktische Informationen

Tagungsort Orff-Zentrum München Kaulbachstr. 16 D-80539 München Tel.: +49892881050 www.orff-zentrum.de

Hotel Savoy Hotel München Amalienstraße 25 D-80333 München Tel.: +4989287870 www.leonardo-hotels.com

Anfahrt Vom Flughafen: S-Bahn S8 oder S1 in Richtung München Hauptbahnhof. Dort auf die U5 oder U4 Richtung Stachus bis Odeonsplatz, evtl. umsteigen in die U3 (Richtung Olympia Einkaufszentrum) oder U6 (Richtung Garching-Forschungszentrum) bis Universität Lageplan:

Die Tagung wird gefördert durch Mittel der Fritz Thyssen Stiftung, Köln.

Der Werkekanon in der Musik

Werturteil, Konstrukt, historiographische Herausforderung

Internationale musikwissenschaftliche Tagung

am Orff-Zentrum München 22. bis 26. Juli 2009