der wandel in den grundlagen der mathematik

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Der Wandel in den Grundlagen der Mathematik*) Von Professor Dr. Karl Strubecker, Karlsruhe ,,Eine rneuec Mathematik halt Einzug in unsere Schulen. Fassungslos stehen die Eltern vor den Hausarbeiten ihrer Kinder. Alle Eltern, die ihren Kindern wirklich helfen wollen, brauchen dieses Buch. Alle Kinder, die Schwierigkeiten mit der ,)neuena Mathematik haben, werden rnit diesem Buch schnell und sicher in die neuen Lehrstoffe eingefuhrt." Diese drei Satze sind dem Werbetext einer Zeitungsanzeige entnommen, die auf einen neuen Bestseller aufmerksam macht, der die Eltern von Schul- kindern in die neue Art der Mathematik einfuhrt, die heute in den Schulen gelehrt wird. Die Anzeige 1aRt die Aktualitat und Zeitnahe unseres Themas erkennen, das sich mit dem Wandel in den Grundlagen der Mathematik befassen soll. Dem heutigen Wandel sind in fruheren Zeiten schon manche andere Anderungen in den Grundauffassungen der Mathematik voran- gegangen, von denen wir zuerst sprechen mussen, wenn wir Einsicht in ihre heutige Entwicklungsrichtung gewinnen wollen. Ein Blick in die Geschichte der mathematischen Wissenschaften ist dafur unerlal3lich. 1. Historische Entwicklung der abendlandischen Mathematik Es ist bekannt, daR die abendlandische Mathematik ihren Beginn in Agypten und Babylon hat. Ihre einfachsten arithmetischen und geometri- schen Grundregeln entsprangen dort den Notwendigkeiten des praktischen Lebens, des Handels und der Landmessung. Aber auch die religiosen Moti- ven entstammende Sternkunde bedurfte mathematischer Einsichten. Die mathematischen Kenntnisse der Babylonier waren schon erstaunlich groR. Wir wissen z. B., daR sie gut 1000 Jahre vor dem Griechen Pythagoras des- sen beruhmten Lehrsatz kannten und anwandten. Neben linearen konnten sie auch quadra tische Gleichungen richtig auflosen. Ihre Darstellung der Zahlen im Sexagesimalsystem (mit der Grundzahl 60) war geschickt und zweckmaDig, wegen des Fehlens der Zahl Null aber noch nicht vollkommen. Diese Erfindung gelang erst um 500 n. Chr. der rechnerischen Geschicklich- keit der Inder. Deren dekadische Zahlenschreibung wurde erst in der Neu- zeit im Abendland ubernommen; sie ist seither die Grundlage allen Zahlen- rechnens. Grundsatzlich einfacher wiire es ubrigens, statt 10 die Grundzahl 2 zu nehmen. Das so entstehende dyadische Zahlsystem hat um 1600 der Englan- der Thomas Harriot erfunden, und Leibniz hat spater seine Vorteile aus- fuhrlich erlautert. Weil das dyadische Rechnen nur die beiden Ziffern 1 und 0 benotigt, die technisch durch die beiden Zustande eines Schaltelements leicht darstellbar sind, verwendet man es heute bei allen Rechenautomaten. *) Vortrag in der Sendung ,,Lebendige Wissenschaft" des Suddeutschen Rundfunks am 30. 8. 1970 386

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Der Wandel in den Grundlagen der Mathematik*) Von Professor Dr. Karl Strubecker, Karlsruhe

,,Eine rneuec Mathematik halt Einzug in unsere Schulen. Fassungslos stehen die Eltern vor den Hausarbeiten ihrer Kinder. Alle Eltern, die ihren Kindern wirklich helfen wollen, brauchen dieses Buch. Alle Kinder, die Schwierigkeiten mit der ,)neuena Mathematik haben, werden rnit diesem Buch schnell und sicher in die neuen Lehrstoffe eingefuhrt."

Diese drei Satze sind dem Werbetext einer Zeitungsanzeige entnommen, die auf einen neuen Bestseller aufmerksam macht, der die Eltern von Schul- kindern in die neue Art der Mathematik einfuhrt, die heute in den Schulen gelehrt wird. Die Anzeige 1aRt die Aktualitat und Zeitnahe unseres Themas erkennen, das sich mit dem Wandel in den Grundlagen der Mathematik befassen soll. Dem heutigen Wandel sind in fruheren Zeiten schon manche andere Anderungen in den Grundauffassungen der Mathematik voran- gegangen, von denen wir zuerst sprechen mussen, wenn wir Einsicht in ihre heutige Entwicklungsrichtung gewinnen wollen. Ein Blick in die Geschichte der mathematischen Wissenschaften ist dafur unerlal3lich.

1. Historische Entwicklung der abendlandischen Mathematik Es ist bekannt, daR die abendlandische Mathematik ihren Beginn in

Agypten und Babylon hat. Ihre einfachsten arithmetischen und geometri- schen Grundregeln entsprangen dort den Notwendigkeiten des praktischen Lebens, des Handels und der Landmessung. Aber auch die religiosen Moti- ven entstammende Sternkunde bedurfte mathematischer Einsichten. Die mathematischen Kenntnisse der Babylonier waren schon erstaunlich groR. Wir wissen z. B., daR sie gut 1000 Jahre vor dem Griechen Pythagoras des- sen beruhmten Lehrsatz kannten und anwandten. Neben linearen konnten sie auch quadra tische Gleichungen richtig auflosen. Ihre Darstellung der Zahlen im Sexagesimalsystem (mit der Grundzahl 60) war geschickt und zweckmaDig, wegen des Fehlens der Zahl Null aber noch nicht vollkommen. Diese Erfindung gelang erst um 500 n. Chr. der rechnerischen Geschicklich- keit der Inder. Deren dekadische Zahlenschreibung wurde erst in der Neu- zeit im Abendland ubernommen; sie ist seither die Grundlage allen Zahlen- rechnens.

Grundsatzlich einfacher wiire es ubrigens, statt 10 die Grundzahl 2 zu nehmen. Das so entstehende dyadische Zahlsystem hat um 1600 der Englan- der Thomas Harriot erfunden, und Leibniz hat spater seine Vorteile aus- fuhrlich erlautert. Weil das dyadische Rechnen nur die beiden Ziffern 1 und 0 benotigt, die technisch durch die beiden Zustande eines Schaltelements leicht darstellbar sind, verwendet man es heute bei allen Rechenautomaten.

*) Vortrag in der Sendung ,,Lebendige Wissenschaft" des Suddeutschen Rundfunks a m 30. 8. 1970

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Erst in der Hand der Griechen, in der Schule des Pythagoras, wandte sich die vorher nur auf das Einzelne und Anschauliche gerichtete Mathema- tik dem Allgemeinen und Begrifflichen zu. Die Griechen erkannten die Moglichkeit und Notwendigkeit, im Einzelfall als richtig erkannte Satze der Mathematik durch strenge Beweise zu begrunden und damit ihre allgemeine Gultigkeit zu sichern. Aus einer kleinen Anzahl einfacher geometrischer Grundsatze, deren Gultigkeit sie der Anschauung entnahmen, entwickelten sie so in logisch deduktiver Weise den Bau der klassischen Geometrie. Dies war der erste groRe Wandel der Mathematik. Er fuhrte von einer Summe von oft bewahrten Erfahrungssatzen, die in langer Entwicklung entstanden waren, erstmals zu einer wirklichen Wissenschaft, deren Satze mehr waren als bloRes Erfahrungsgut; indem sie beweisbar und mit Zustimmungszwang ausgestattet waren, besaaen sie unbezweifelbare Allgemeingultigkeit.

2. Euklids Elemente Euklid, der um 300 v. Chr. in Alexandria wirkte, schuf in den 13 Bu-

chern seiner ,,Elemente" eine logisch strenge Darstellung dieser Geometric, die so vollkommen war, daR sie erst im vorigen Jahrhundert verbessert werden konnte. Auch algebraische Fragen, wie die Auflosung quadratischer Gleichungen, werden in Euklids Elementen in geometrischer Form behan- delt, wie man denn uberhaupt sagen kann, da13 die griechische Mathematik im wesentlichen geometrisches Gewand trug. Die von Euklid als Funda- ment seiner ,,Elemente" ausgewahlten Grundsatze, die man auch als die euklidischen Axiome der Geometrie bezeichnet, handeln von gewissen ele- mentaren Grundbegriffen der Geometrie, namlich von Punkten, Geraden, Ebenen, Strecken, Winkeln usw., die Euklid durch anschauliche Hinweise erklart. Die Axiome oder Grundsatze der Geometrie entnahm Euklid der Anschauung. Es waren moglichst einfache Satze von anerkannter Gultigkeit. Eines dieser Axiome verlangt z. B., daR es durch zwei verschiedene Punkte genau eine Gerade gibt, ein anderes (das beruhmte Parallelenaxiom) ver- langt, daR es in einer Ebene zu jeder Geraden durch einen Punkt genau eine parallele (d. h. sie nicht schneidende) Gerade gibt.

Die Auswahl der Axiome ist in weiten Grenzen willkurlich. Zwei ver- schiedene Axiomensysteme konnen zur gleichen Geometrie fuhren. Man nennt die beiden Axiomensysteme dann zueinander aquivalent. Um das Axiomensystem der Geometrie moglichst einfach zu gestalten, ist es zweck- maRig, die einzelnen Axiome so zu wahlen, daB sie von den ubrigen un- abhangig, d. h. aus ihnen nicht beweisbar sind. Das Axiomensystem mu13 aul3erdem vollstandig, d. h so umfangreich sein, daR es moglich ist, alle beweisbaren Satze der euklidischen Geometrie wirklich aus ihm herzuleiten. Die wichtigste Forderung aber, der jedes Axiomensystem der Geometrie zu genugen hat, ist seine Widerspruchsfreiheit. Es darf nicht moglich sein, aus dem Axiomensystem zwei einander widersprechende Folgesatze herzuleiten.

Die Kritik der Mathematiker an dem euklidischen Axiomensystem der Geometrie setzte schon im Altertum ein. Wie wir aus dem Euklid-Kommen- tar des Neuplatonikers Proklos wissen, ging es dabei in erster Linie um die Frage, ob das euklidische Parallelenaxiom wirklich ein echtes Axiom ist oder ob es aus den ubrigen Axiomen als Satz bewiesen werden kann. Die letzte Vermutung lag aus zwei Grunden nahe: Erstens fuhrt Euklid das

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Parallelenaxiom als letztes Axiom in einem Wortlaut ein, der, verglichen mit den ubrigen Axiomen, sehr verwickelt ist. Zweitens ist die Umkehrung des Parallelenaxioms (bei Euklids Fassung) ein beweisbarer Satz. Dieses Parallelenproblem konnte weder von den Griechen, noch von ihren Nach- folgern, den Arabern, noch auch, nach dem Wiederaufleben der Wissenschaf- ten in der Renaissance, im Abendlande gelost werden; es blieb ein Make1 am Leibe der Geometrie. Alle Versuche, den euklidischen Parallelensatz zu beweisen, haben sich bei genauer Priifung als verfehlt erwiesen. Sie benutz- ten samtlich an irgendeiner Stelle eine unbewiesene, als selbstverstandlich hingenommene Annahme, welche fur sich schon dem Parallelenaxiom aqui- valent war. Solche Annahmen waren etwa die Existenz ahnlicher Dreiecke oder die Moglichkeit, jedem Dreieck einen Kreis umzuschreiben.

3. Nichteuklidische Geometrie Heute wei13 man, da13 das euklidische Parallelenaxiom von den ubrigen

Axiomen Euklids unabhangig, also aus ihnen nicht beweisbar ist. Zu dieser fur die Geometrie grundlegenden Einsicht kam zuerst Carl Friedrich Gauss. Indem er Euklids Parallelenaxiom, das die Existenz genau einer Parallelen durch einen Punkt zu einer Geraden der Ebene verlangt, durch die gegen- teilige Forderung von mehreren Parallelen ersetzte, gelangte Gauss zu einer neuen, von der euklidischen Geometrie vollig verschiedenen Geometrie, die er als nichteuklidische Geornetrie bezeichnete. Gauss veroffentlichte seine Entdeckung aber nicht, weil sie den allgemeinen Ansichten von Geometrie so sehr widersprach und einen Sturm von Gegenmeinungen hervorgerufen hatte. Er scheute, wie er schrieb, ,,das Geschrei der Bootier".

So fanden dann unabhangig voneinander und von Gauss der Russe Lobatschefskij und der Ungar Bolyai die nichteuklidische Geometrie noch - mals und entwickelten sie in aller Folgerichtigkeit. Viele Satze der neueri Geometrie wichen dabei von den gewohnten Satzen der klassischen euklidi- schen Geometrie, die uns allen von der Schule her gut vertraut sind, in star- kern Mafie ab. Zum Beispiel zeigl; sich, daB die Winkelsumme im Dreieck, die im Euklidischen Falle gleich zwei rechten Winkeln ist, im nichteuklidi- schen Falle immer kleiner ist als zwei rechte Winkel. Ferner sind zueinan- der ahnliche Dreiecke von selbst kongruent, und nicht jedes Dreieck besitzt einen umschriebenen Kreis.

Die Entdeckung der neuen, nichteuklidischen Geometrie blieb jedoch lange Zeit unbeachtet. Einer der Grunde dafur war die damalige Auffasung vom Wesen der Geometrie, die durch Kants Philosophie bestimmt war. Geornetrie ist nach Kant eine Wissenschaft, welche die Eigenschaften des Raumes durch Satze beschreibt, die zwar synthetisch, aber a priori sind. Unsere Erkenntnis des Raumes beruht nach Kant namlich nicht auf empi- rischer, sondern auf reiner Anschauung. Der Raum ist uns nach Kant mit allen seinen Eigenschaften a priori, d. h. vor aller Erfahrung, gegeben als eine notwendige Vorstellung, die allen unseren auBeren Anschauungen zu Grunde liegt und die uns unveranderlich eingepragt ist.

Es kann also nach der Auffassung Kants nur einen Raum geben, dessen Eigenschaften durch die Satze der euklidischen Geometrie beschrieben wer- den. Ein vom euklidischen verschiedener Raum ist nach Kant denkunmog- lich, also notwendig widerspruchlich, seine Existenz daher unmoglich. Um

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dieses Verdikt Kants gegen die Moglichkeit einer nichteuklidischen Geome- trie zu beseitigen, ware es notwendig, ihre Widerspruchsfreiheit zu bewei- sen. Dieser Nachweis ist den Entdeckern der nichteuklidischen Geometrie noch nicht gelungen, sondern erst spaler dem Italiener Beltrami, der von einer gewissen krummen Flache des euklidischen Raumes (der Pseudo- sphare) bewies, darj ihre bei euklidischer Ausmessung entstehende Geome- trie rnit der nichteuklidischen Geometrie der Ebene identisch wird, wenn die auf der Pseudosphare vorhandenen geodatischen, d. h. kurzesten Flachen - kurven die Rolle der geraden Linien ubernehnien. Die Pseudosphare ist also mit ihren Punkten und geodatischen Linien ein euklidisches Modell der nichteuklidischen Ebene mit ihren Punkten und Geraden. Die ebene nicht- euklidische Geometrie isl daher im gleichen Marje widerspruchsfrei wie die raumliche euklidische Geometrie, von der die pseudospharische Geometrie ja nur ein gewisser Ausschnitt ist. Nach Beltrami haben noch der Deutsche Felix Klein und der Franzose Poincare zwei andere besonders einfache Mo- delle fur die ebene nichteuklidische Geometrie angegeben, die den Vorteil haben, als Schauplatz ebenfalls die Ebene zu besitzen. Beim Modell von Klein erscheinen dabei die Geraden der nichteuklidischen Ebene wieder als Geraden, beim Modell von Poincare aber als Kreise.

Die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien bewirkte einen grund- legenden Wandel in den Auffassungen der Mathematiker vom Wesen einer Geometrie und allgemeiner uberhaupl vom Wesen einer mathematischen Theorie. Erstmals war klar geworden, darj es neben der euklidischen Geo- melrie auch noch verschiedene andere, gleichberechtigte Geometrien gibt, die sich durch Abanderung eines oder mehrerer Axiome Euklids ergeben. Diese Erkennlnis fuhrte zu einer generellen Uberprufung des mehr als 2000 Jahre alten Axiomensyslems der euklidischen Geometrie, an dem schon Gauss gewisse Lucken aufgezeigt hatte. Zum Beweis vieler geometrischer Satze benotigt man z. B. gewisse Anordnungsbeziehungen der Punkte auf der Geraden, etwa die Eigenschaft, darj von drei Punkten einer Geraden immer einer zwischen den beiden anderen liegt. Solche Aussagen hatte Euklid fur selbstverstandlich gehalten, und keines seiner Axiome befarjt sich deshalb mil diesen Dingen, obgleich in vielen Beweisen damit operiert wird. Erst der Deutsche Pasch hat diese axiomatische Lucke geschlossen und die Anordnungseigenschaften der Geometrie in Axiome gefarjt.

4. Der axiomatische Aufbau der Geometrie Das Wesentliche am axiomatischen Aufbau der Geometrie (oder jeder

anderen Wissenschaft) besteht, wie schon Lambert in seiner 1766 erschiene- nen ,,Theorie der Parallellinien" betont hat, darin, darj bei ihrer Grundlegung jede Berufung auf die Anschauung vermieden werden muR. Einer anschau- lichen Figur kommt daher in geometrischen Beweisen nur die Rolle eines Leitfadens zur leichteren Auffindung der begrifflichen Zusammenhange zu, aus dem dann die logischen Schritte des Beweises ubersichtlich folgen. Alles, was zum Beweise der Aussagen und Satze einer mathematischen Disziplin benotigt wird, muB luckenlos und vollstandig in den sie begrundenden Axiomen niedergelegt sein.

Fur die euklidische Geometrie hat erst im Jahre 1899 David Hilbert ein solches vollstandiges Axiomensystem angegeben. Sein epochales Werk mit

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dem Titel ,,Grundlagen der Geometrie" beginnt ungefahr rnit den folgenden Worten: ,,Wir denken uns drei verschiedene Systeme von Dingen, die wit Punkte, Geraden und Ebenen nennen. Wir denken uns diese Dinge in gewissen gegenseitigen Beziehungen, die wir durch Worter wie ,liegen', ,zwischen', ,parallel', ,kongruent' usw. bezeichnen. Die genaue und voll- standige Beschreibung dieser Beziehungen erfolgt durch die Axiome der Geometrie." Diese Axiome der Geometrie teilt Hilbert in funf Gruppen ein, welche der Reihe nach die Beziehungen der Verknupfung, Anordnung, Kon- gruenz, Parallelitat und Stetigkeit beschreiben. Fur keinen der in den Axio- men vorkommenden Begriffe: Punkt, Gerade, Ebene usw. gibt Hilbert eine der Anschauung entnommene Erlauterung. Alle diese Ausdrucke sind nur Namen fur gedachte Dinge. Wesentlich sind nach Hilbert allein die Bezie- hungen, welche zwischen diesen Grundbegriffen bestehen. Sie genugen namlich fur das Operieren mit den geometrischen Grundbegriffen, ermog- lichen also das Konstruieren von Figuren und das Beweisen von Satzen. Diese Beziehungen definieren, wie man nach Schlick sagt, die Grundbegriffe der Geometrie implizit. Jedes System konkreter oder abstrakter Dinge, das mit seinen gegenseitigen Beziehungen die Hilbertschen Axiome erfullt, ist dann ein Model1 der euklidischen Geometrie.

Die Unabhangigkeit der 20 Axiome seines Systems sichert Hilbert durch die Konstruktion geeigneter Ausfallsgeometrien. Eine erste solche Ausfalls- geometrie ist die nichteuklidische Geometrie, in der alle Axiome der eukli- dischen Geometrie gelten, bis auf das ausfallende Parallelenaxiom, das durch ein gegenteiliges Axiom ersetzt wird. Die Widerspruchsfreiheit des Hilbertschen Axiomensystems wird nach den Methoden der analytischen Geometrie durch Konstruktion eines arithmetischen Modells bewiesen. Das Hilbertsche Axiomensystem definiert die euklidische Geometrie vollstandig. Jeder beweisbare Satz dieser Geometrie ist aus ihm herleitbar. Es kann nicht durch Hinzufugen ncuer Elemente so erweitert werden, dan alle seine Axiome gultig bleiben.

Hilberts ,,Grundlagen der Geometrie" sind ein fur die moderne Mathe- matik epochales Werk. In ihm wurden, am Beispiel der euklidischen Geo- metrie, in der vollendetsten Weise die Prinzipien vorgefuhrt, nach denen jede mathematische Theorie aufgebaut werden muR. Die Grundlagen jeder solchen Theorie mussen axiomatischer Natur sein, wobei die Grundbegriffe der Theorie lediglich implizit durch die in den Axiomen beschriebenen gegen- seitigen Beziehungen definiert sind. Die Axiome mussen voneinander un- abhangig und ihr System muR widerspruchsfrei sein. Der Aufbau einer mathematischen Theorie aus ihren Axiomen erfolgt dabei deduktiv, d. h. allein mit Hilfe der Schlunverfahren der Aussagenlogik. Auf irgendeine anschauliche Einkleidung der Grundbegriffe oder ihrer gegenseitigen Bezie- hungen wire nirgends zuruckgegriffen. Alle konkreten Deutungen der Be-- griffe und Beziehungen des Axiomensystems ergeben Modelle der durch das Axiomensystem beslimmten mathematischen Theorie. Das Axiomen- system selbs t ist eine Formalisierung dieser mathematischen Theorie. Man kann in diesem Sinne die Mathematik selbst als die Wissenschaft von den formalen Systemen bezeichnen.

Die Formalisierung der euklidischen Geometrie durch Hilbert war des- halb eine der schwierigsten Aufgaben der Mathematik, weil das dafur not- wendige Axiomensystem sehr umfangreich und mit seinen 20 Axiomen sehr

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verwickelt ist. Die meisten anderen Gebiete der Mathematik konnen mit sehr vie1 kurzeren und einfacheren Axiomensystemen formalisiert werden. Tatsachlich hat man schon vor Hilbert verschiedene wichtige mathematische Theorien mit einfachen Axiomensystemen formalisiert. So haben schon um 1890 der Deutsche Dedekind und der Italiener Peano die Eigenschaften der naturlichen Zahlen, d. h. der Zahlenfolge 1, 2, 3, 4, 5, . . . usw., axiomatisch festgelegt. Zu ihrer Formalisierung genugen funf sehr einfache Axiome.

Es ist auch moglich, Axiomensysteme kunstlich, d. h. ohne die Anregung oder Stiitze einer konkreten mathematischen Theorie aufzustellen. Fur seine Sinnhaftigkeit ist dann, wie man jetzt noch deutlicher erkennt, der Nach- weis der Widerspruchsfreiheit der frei gewahlten Axiome unerlainlich. 1st dieser Nachweis gefiihrt, so sind alle in den Axiomen vorkommenden Be- griffe implizit durch die in dem System geforderten gegenseitigen Bezie- hungen definiert, sie sind dann logisch vollig legitim und besitzen insofern mathematische Existenz. Man erkennt daraus die groDe, nur durch Schran- ken der Logik eingeengte Freiheit der axiomatisch fundierten Mathematik, die ihr Vorzug gegenuber allen anderen Wissenschaften ist.

5. N. Bourbakis Architektur der Mathematik Unter dem Decknamen Nicolas Bourbaki**) veroIfentlicht ein Kollektiv

franzosischer und amerikanischer Mathematiker seit drei Jahrzehnten unter dem Titel ,,Elements de Mathematique" ein vielbandiges Werk, das der modernen Mathematik in ahnlicher Art die Richtung weisen sol1 wie einst die ,,Elemente" des Euklid. In beiden Werken wird der Bau der Mathema- tik, der heute ins Riesige angewachsen ist, auf axiomatischen Grundlagen errichtet.

Eine der wesentlichsten Absichten des Werkes von Bourbaki ist dabei, den verschiedenen Teilen der Mathematik durch die systematische Ruck- fuhrung auf ihre sehr iibersichtlichen axiomatischen Quellen wieder mog- lichste Einheit des Aufbaus zu verschaffen. Verschiedene, friiher ihreni Inhalt nach weit auseinanderliegende Theorien konnen dabei oft unter dem- selben axiomatischen Dach vereinigt werden. Solche dem gleichen Axiomen- system geniigende Theorien sind aber, trotz ihrer verschiedenen Erschei- nungsformen, grundsatzlich identisch, sie sind, abstrakt gesehen, von glei- cher Gestalt, d. h. isomorph, oder besitzen, wie Bourbaki es ausdriickt, die selbe mathematische Struktur. Jedes widerspruchsfreie Axiomensystem beschreibt also nach Bourbaki eine bestimmte mathematische Struktur. Die Mathematik als ganzes ist in dieser modernen von Bourbaki gepragten Auffassung ein Zusammenspiel von solchen auf Axiomensystemen beruhen- den mathematischen Strukturen, die sich grundsatzlich in unbeschrankter Anzahl bilden lassen und in der verschiedensten Art (unter der Vorausset- zung gegenseitiger Vertraglichkeil) miteinander kombinieren lassen.

Jedes Axiomensystem handelt von gewissen undefinierten Dingen, die aber mit konkreten Namen wie Punkt, Gerade, Zahl, Bewegung, Permuta- tion usw. versehen sind, die zugleich auf konkrete Anwendungen hinweisen, auf welche es paRt. Man bezeichnet in der Mathematik eine Gesamtheit von

**) Vergleiche dam K. Strubecker, Bourbaki, Phys. El. 24, 408 (1968) und N. Bourbaki, Die Architektur der Mathematik 1/11, Phys. B1. 17, 160, 212 (1961)

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Dingen, welche durch gewisse sie definierende Eigenschaften gekennzeichnet sind, als eine M e n g e und die Dinge selbst als die Elemente der Menge. Z. B. bilden die naturlichen Zahlen eine Menge, welche durch die in den funf Peanoschen Axiomen niedergelegten Eigenschaften definiert ist. Der Begriff der Menge spielt heute in allen Zweigen der Mathematik eine grundlegende Rolle. Er steht deswegen auch an der Spitze von Bourbakis ,,Elementen der Mathematik". Georg Cantor, der Begrunder der Mengenlehre, gab dafur die folgende Erklarung : ,,Unter einer Menge verstehen wir jede Zusammenfas- sung von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens zu einem Ganzen." Danach bilden auch die Horer eines Vortrags eine Menge. Das ist ein Beispiel fur eine endliche Menge. In der Mathematik hat man es zumeist mit unendlichen Mengen zu tun, wofur schon die Menge aller naturlichen Zahlen ein Beispiel ist.

Auch alle gekurzten echten Bruche (d. h. alle zwischen 0 und 1 liegen- den rationalen Zahlen) bilden eine unendliche Menge. Ordnet man diese Bruche nach wachsenden Nennern und bei gleichem Nenner noch nach wachsenden Zahlern, so crhalt man die Zahlenfolge:

i i2, v3, 2i3, v4, v4, i is, v5, 3 4 , 4 i s usw.

Die Bruche sind dabei nicht nach ihrer GroI3e angeordnet. Man kann sie in dieser Reihenfolge numerieren, d. h. ihnen der Reihe nach in eindeutiger Weise die naturlichen Zahlen

1, 2, 3, 4. 5, 6, 7, 8, 9 usw. zuordnen. Auch die Umkehrung dieser Zuordnung ist eindeutig, weil zu jeder Nummer genau ein Bruch gehort. Die Menge der echten Bruche heifit deswegen nach Cantor eine abzahlbare Menge. Alle abzahlbaren Mengen sind auf die Menge der naturlichen Zahlen umkehrbar eindeutig abbildbar; sie haben, wie Cantor sagt, dieselbe Machtigkeit wie die Menge der natur- lichen Zahlen. Nun liegen zwar die Bruche oder rationalen Zahlen zwischen 0 und 1 uberall dicht, weil es zwischen je zwei noch so nahen rationalen Zahlen immer noch unendlich viele andere gibt, sie fullen aber trotzdem das Intervall (OJ) nicht vollkommen aus, sondern lassen noch unendlich viele Lucken. Das wuI3ten schon die Pythagoraer. Eine solche Lucke gehort z. B. zur Zahl V'X, eine andere zu v113 usw. Diese Lucken zwischen den rationalen Zahlen werden durch die sogenannten irrationalen Zahlen geschlossen, die zusammen mit den rationalen die Menge aller sogenannten reellen Zahlen bilden, welche dann das Interval1 (0,l) luckenlos oder stetig ausfullen. Im Gegensatz zu den rationalen Zahlen, die eine numerierbare oder abzahlbare Menge bilden, kann man, wie Cantor entdeckt hat, die reellen Zahlen des Inlervalls (0,l) auf keine Art numerieren; ihre Menge ist also nicht abzahlbar. Die Machtigkeit der reellen Zahlen ist, wie Cantor sagt, groI3er als die Machtigkeit der rationalen oder der naturlichen Zahlen.

Fragen der Mengenlehre und dem AuIbau des Systems der reellen Zahlen. Deren Begriff und Eigenschaften sind grundlegend erstens fur die Geome- trie (dort sichert eines der Hilbertschen Stetigkeitsaxiome die Luckenlosig- keit des Systems der reeilen Zahlen) und zweitens fur den riesigen Kom- plex der Analysis, zu der vor allem auch die Differential- und Integral- rechnung und viele andere wichtige Disziplinen der Mathematik gehoren.

Man erkennt aus diesen Darlegungen die enge Verknupfung zwischen

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In dem strukturellen Aufbau der Mathematik von Bourbaki kommen die reellen Zahlen, deren Theorie sonst immer sehr friih entwickelt wurde, erst sehr spat an die Reihe. Das hat seinen Grund darin, daR das System der reellen Zahlen drei verschiedenen Strukturen angehort. Die reellen Zahlen sind namlich 1) angeordnet, d. h. ihrer Grolje nach vergleichbar; sie bilden 2) einen Korper, d. h. Summe, Differenz, Produkt und Quotient zweier reeller Zahlen ist wieder eine reelle Zahl; und sie haben 3) die Eigenschaft, daR auch die Grundoperation der Analysis, die Grenzwert- bildung, aus dem Bereich der reellen Zahlen nicht herausfuhrt. Die reellen Zahlen sind damit ein wichtiges Beispiel jener drei Strukturtypen, welche Bourbaki als die Hauptstrukturen der Mathematik auffaRt und welche er 1) als Ordnungsstrukturen, 2) als algebraische Strukturen und 3) als topo- logische Strukturen bezeichnet. Alle diese Strukturen sind durch sehr ein- fache Axiomeiisysteme definiert, welche fur die Elemente der jeweiligen Menge gelten. So beschreiben die Axiome fur die Ordnungsstruktur einer Menge die Regeln, denen eine Ordnungsrelation in der Menge genugen mul3.

Algebraische Strukturen sind solche, bei denen aus den Elementen einer Menge durch gewisse Verknupfungen, die bestimmten Axiomen genugen, wieder Elemente der Menge entstehen. Beispiele solcher algebraischen Strukturen, die, wie ihr Name verrat, zuerst in der Algebra auftraten, sind Gruppen, Ringe, Korper, Verbande usw. Auch fur viele andere Zweige der Mathematik, aber auch fur die moderne Physik, haben algebraische Struk- turen grolje Bedeutung. Eine der wichtigsten algebraischen Strukturen ist die des linearen Vektorraums, die in allen genannten Disziplinen, besonders auch in Geometrie und Analysis eine grone Rolle spielt.

Eine Menge besitzt schlieljlich topologische Struktur, wenn es zu ihren Elementen Umgebungen, d. h. sie umfassende Teilmengen gibt, die gewis- sen zuerst von Hausdorff aufgestellten Axiomen genugen. Die Topologie, wie man die Lehre von den topologischen Strukturen nennt, ist heute eine der ausgedehntesten mathematischen Disziplinen.

Durch Hinzufugen weiterer Axiome erhalt man aus den genannten Grundstrukturen die verschiedensten speziellen Strukturen. Durch Kombi- nation miteinander vertraglicher Strukturen entstehen schlieljlich zahlreiche multiple Strukturen wie topologische Gruppen oder topologische Vektor- raume, deren Theorien ein bevorzugtes Forschungsgebiet der heutigen Ma- thematik sind.

Das in den letzten 100 Jahren in der Geometrie, der Algebra, der Ana- lysis und der Topologie schrittweise vorbereitete axiomatische Denken hat, nachdem es von Bourbaki zum methodischen Leitbild erhoben wurde, die strukturelle Epoche der Mathematik eingeleitet, die heute mit ihren sach- lichen und didaktischen Grundsatzen auch auf die Schule ubergegriffen hat. Mit Recht fuhrt dieser letzte und modernste Wandel der Mathematik daher den Namen ,,Neue Mathematik".

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