Depression und Depression und Stimmungsschwankungen Stimmungsschwankungen im Spiegel der Psalmenim Spiegel der Psalmen

von Dr. Rolf Sons von Dr. Rolf Sons

Athanasius von Alexandrien (295-373 Athanasius von Alexandrien (295-373

n. Chr.): „Ich jedenfalls bin der Ansicht, dass inn. Chr.): „Ich jedenfalls bin der Ansicht, dass in

den Worten dieses Buches (der Psalmen) dasden Worten dieses Buches (der Psalmen) das

ganze menschliche Leben, sowohl die geistlichenganze menschliche Leben, sowohl die geistlichen

Grundhaltungen als auch die jeweiligen RegungenGrundhaltungen als auch die jeweiligen Regungen

und Gedanken, umfasst und enthalten sind. und Gedanken, umfasst und enthalten sind. NichtsNichts

kann darüber hinaus im Menschen gefundenkann darüber hinaus im Menschen gefunden

werden.“ werden.“

A. Die Klage als Schilderung eines A. Die Klage als Schilderung eines

ganzheitlichen ganzheitlichen ErschöpfungszustandesErschöpfungszustandes

„„Denn meine Tage sind vergangen wie ein Denn meine Tage sind vergangen wie ein Rauch, und meine Gebeine sind verbranntRauch, und meine Gebeine sind verbranntwie von Feuer. wie von Feuer. Mein Herz ist geschlagen und verdorrt wieMein Herz ist geschlagen und verdorrt wieGras, dass ich sogar vergesse mein Brot zuGras, dass ich sogar vergesse mein Brot zuessen. essen. Mein Gebein klebt an meiner HautMein Gebein klebt an meiner Hautvor Heulen und Seufzen. vor Heulen und Seufzen. Ich bin wie die Eule in der Einöde,Ich bin wie die Eule in der Einöde,wie das Käuzchen in den Trümmern. wie das Käuzchen in den Trümmern. Ich wache und klage wie ein einsamer VogelIch wache und klage wie ein einsamer Vogelauf dem Dache.“auf dem Dache.“ (Ps 102, 4-8) (Ps 102, 4-8)

Der Psalmbeter erlebt eine Störung, die Der Psalmbeter erlebt eine Störung, die

ihn umfassend betrifft. Sie reicht bis in seinihn umfassend betrifft. Sie reicht bis in sein

Innerstes, sein Herz, das Zentrum seiner Person.Innerstes, sein Herz, das Zentrum seiner Person.

Fasst man die körperlichen wie seelischenFasst man die körperlichen wie seelischen

Begleiterscheinungen zusammen, so ergibt sich Begleiterscheinungen zusammen, so ergibt sich einein

ganzheitlicher Erschöpfungszustand, der sehr starkganzheitlicher Erschöpfungszustand, der sehr stark

an eine schwere endogene Depression erinnert. an eine schwere endogene Depression erinnert.

B. Die „Feinde“ als Ausdruck B. Die „Feinde“ als Ausdruck

umfassender Isolierungumfassender Isolierung

Bei den Feinschilderungen handelt sichBei den Feinschilderungen handelt sich

weniger um individuelle Feinde. Vielmehrweniger um individuelle Feinde. Vielmehr

begegnet hier Typisches, „die begegnet hier Typisches, „die ManifestationManifestation

des Chaotischen im Leben des Beters“des Chaotischen im Leben des Beters“

(Janowski). Es wird deutlich, wie bedrohlich(Janowski). Es wird deutlich, wie bedrohlich

dem Beter seine Umwelt geworden ist. Siedem Beter seine Umwelt geworden ist. Sie

jagt ihm Angst und Schrecken ein. jagt ihm Angst und Schrecken ein.

C. Das Gefühl der TodesnäheC. Das Gefühl der Todesnähe

„„Denn meine Seele ist übervoll an Leiden, Denn meine Seele ist übervoll an Leiden, und mein Leben ist nahe dem Tode. und mein Leben ist nahe dem Tode. Ich bin denen gleich geachtet, die in die Grube Ich bin denen gleich geachtet, die in die Grube

fahren, fahren, ich bin wie ein Mann, der keine Kraft mehr hat. ich bin wie ein Mann, der keine Kraft mehr hat. Ich liege unter den Toten verlassen, Ich liege unter den Toten verlassen, wie die Erschlagenen im Grabe liegen, wie die Erschlagenen im Grabe liegen, derer du nicht mehr gedenkstderer du nicht mehr gedenkstund die von deiner Hand geschieden sind.und die von deiner Hand geschieden sind.Du hast mich hinunter in die Grube gelegt, Du hast mich hinunter in die Grube gelegt, in die Finsternis und in die Tiefe. “(Ps 88, 4 – 7).in die Finsternis und in die Tiefe. “(Ps 88, 4 – 7).

Der Beter, auch wenn er physisch noch am LebenDer Beter, auch wenn er physisch noch am Lebenist, liegt bereits bei den Toten. Er fühlt sich unterist, liegt bereits bei den Toten. Er fühlt sich unterseinem Leiden wie begraben. seinem Leiden wie begraben. Die Psalmen bedienen sich auch einer eindrücklichenDie Psalmen bedienen sich auch einer eindrücklichenMetaphorik. So wäre auch an dieser Stelle der Metaphorik. So wäre auch an dieser Stelle der

SinngehaltSinngehaltdes Verses kaum erfasst, wenn man „Grube“ als reinedes Verses kaum erfasst, wenn man „Grube“ als reineOrtsangabe verstünde. Sachgemäßer und tiefer wird dasOrtsangabe verstünde. Sachgemäßer und tiefer wird dasVerständnis, wenn man davon ausgeht, dass hierVerständnis, wenn man davon ausgeht, dass hiertatsächlich die existentielle Befindlichkeit des Klagendentatsächlich die existentielle Befindlichkeit des Klagendenzum Ausdruck kommt. zum Ausdruck kommt.

Tief unten in der Grube:Tief unten in der Grube:

D. Die Erfahrung der Gottverlassenheit D. Die Erfahrung der Gottverlassenheit

Für die kirchliche Seelsorge gilt es, dieseFür die kirchliche Seelsorge gilt es, diese

vom Depressiven so empfundenevom Depressiven so empfundene

Gottesferne auszuhalten und nicht zuGottesferne auszuhalten und nicht zu

versuchen, wie auch immer, dieseversuchen, wie auch immer, diese

auszureden oder sie gar zu bagatellisieren.auszureden oder sie gar zu bagatellisieren.

Das Leiden bleibt ein Rätsel. Gut gemeinteDas Leiden bleibt ein Rätsel. Gut gemeinte

Erklärungsversuche sind daher nicht Erklärungsversuche sind daher nicht angebracht. angebracht.

E. Der Stimmungsumschwung – E. Der Stimmungsumschwung –

von der Klage zum Lobvon der Klage zum Lob

Die Klage kippt eben in aller Regel nicht plötzlich inDie Klage kippt eben in aller Regel nicht plötzlich inLob und Freude um. Vielmehr handelt es sich beimLob und Freude um. Vielmehr handelt es sich beimWeg aus der Depression um einen Heilungs-Weg aus der Depression um einen Heilungs-prozess, der Monate oder gar Jahre dauern kann.prozess, der Monate oder gar Jahre dauern kann.Die Klagepsalmen sind daher nicht das ZeugnisDie Klagepsalmen sind daher nicht das Zeugnisspontaner Heilungen, sondern stellen „die zeitlichspontaner Heilungen, sondern stellen „die zeitlichgeraffte Darstellung eines Prozesses“ dar, der diegeraffte Darstellung eines Prozesses“ dar, der dieverschiedenen Stadien Klage – Bitte – Gewissheit –verschiedenen Stadien Klage – Bitte – Gewissheit –Lob durchläuft und entsprechend Zeit braucht. Lob durchläuft und entsprechend Zeit braucht.

F. Wenn die Erhörung ausbleibtF. Wenn die Erhörung ausbleibt

„„Aber ich schreie zu dir, Herr, und mein Gebet Aber ich schreie zu dir, Herr, und mein Gebet kommt frühe vor dich; Warum verstößt du, Herr,kommt frühe vor dich; Warum verstößt du, Herr,meine Seele und verbirgst dein Antlitz vor mir? meine Seele und verbirgst dein Antlitz vor mir? Ich bin elend und dem Tode nahe von Jugend auf; Ich bin elend und dem Tode nahe von Jugend auf; ich erleide deine Schrecken, dass ich fast verzage. ich erleide deine Schrecken, dass ich fast verzage. Dein Grimm geht über mich, deine Schrecken Dein Grimm geht über mich, deine Schrecken vernichten mich. Sie umgeben mich alltäglich wievernichten mich. Sie umgeben mich alltäglich wieFluten und umringen mich allzumal. Fluten und umringen mich allzumal. Meine Freunde und Nächsten hast du mirMeine Freunde und Nächsten hast du mirentfremdet, und meine Verwandten hältst du fernentfremdet, und meine Verwandten hältst du fernvon mir.“ von mir.“ (Ps 88,14-19).(Ps 88,14-19).

Die Depression in ihrer Übermacht kann den Beter Die Depression in ihrer Übermacht kann den Beter am Ende völlig isolieren und erdrücken. Allein dieam Ende völlig isolieren und erdrücken. Allein dieGottesbeziehung, die trotz äußerer NotGottesbeziehung, die trotz äußerer Notdurchgehalten wird, bleibt wie ein seidener Fadendurchgehalten wird, bleibt wie ein seidener Fadenbestehen. Ähnlich wie bei Hiob führt auch hier diebestehen. Ähnlich wie bei Hiob führt auch hier dieNot nicht zum Unglauben. Vielmehr erweist sich inNot nicht zum Unglauben. Vielmehr erweist sich inder Not allein der Glaube als letzter Halt. So gibtder Not allein der Glaube als letzter Halt. So gibtes auch Glauben, dem eine Heilung nicht es auch Glauben, dem eine Heilung nicht korrespondiert. korrespondiert.

G. Aggression und Wut in den so G. Aggression und Wut in den so genanntengenannten

Feind- oder RachepsalmenFeind- oder Rachepsalmen

„„Die heilsame Botschaft der Die heilsame Botschaft der Rachepsalmen Rachepsalmen

lautet auf diesem Hintergrund: Ärger lautet auf diesem Hintergrund: Ärger undund

Wut dürfen gespürt und Wut dürfen gespürt und herausgelassenherausgelassen

werden.“werden.“ (Peter Bukowski). (Peter Bukowski).

Klagen und Konflikte sind Klagen und Konflikte sind erlaubterlaubt

„„Alle Anerkennung katastrophaler Realität, Alle Anerkennung katastrophaler Realität,

die nicht durch die Klage geht, istdie nicht durch die Klage geht, ist

lebenstötend und unverantwortlich. Einelebenstötend und unverantwortlich. Eine

Gottesbeziehung, in der keineGottesbeziehung, in der keine

Konfliktgespräche möglich sind, ist seichtKonfliktgespräche möglich sind, ist seicht

und lebensfern: Klageabstinenz bedeutetund lebensfern: Klageabstinenz bedeutet

Beziehungs- und Lebensverlust.“Beziehungs- und Lebensverlust.“ (Janowski) (Janowski)

Sich in den Psalmen Sich in den Psalmen unterbringenunterbringen

„„Wo findest du tiefere, kläglichere, jämmerlichere Wo findest du tiefere, kläglichere, jämmerlichere Worte von der Traurigkeit, als die KlagepsalmenWorte von der Traurigkeit, als die Klagepsalmensie haben? Und, wie gesagt, ist das das allerbeste,sie haben? Und, wie gesagt, ist das das allerbeste,dass sie solche Worte gegen Gott und mit Gottdass sie solche Worte gegen Gott und mit Gottreden; das macht, dass zweifältig Ernst und Lebenreden; das macht, dass zweifältig Ernst und Lebenin den Worten sind. Daher kommt es auch, dassin den Worten sind. Daher kommt es auch, dassein jeder, in was für Sachen er auch ist, Psalmenein jeder, in was für Sachen er auch ist, Psalmenund Worte darin findet, die sich auf seine Sachenund Worte darin findet, die sich auf seine Sachenreimen und ihm ebenso sind, als wären sie alleinreimen und ihm ebenso sind, als wären sie alleinum seinetwillen gesagt.“um seinetwillen gesagt.“ (Martin Luther) (Martin Luther)

Im Gebet Veränderung Im Gebet Veränderung erwartenerwarten

Die im Gebet ausgesprochene Klage Die im Gebet ausgesprochene Klage kann kann

für den Leidenden zu einem Raum derfür den Leidenden zu einem Raum der

Hoffnung werden, in dem er sich birgt Hoffnung werden, in dem er sich birgt undund

für die Zukunft Gottes offen hält. für die Zukunft Gottes offen hält.