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Robert Griesbeck, geboren 1950, studierte Grafik-Design, Infor-mationsästhetik und Politologie und arbeitet seit dreißig Jahren als Grafiker, Buchherausgeber und Autor. Er hat Kinderbücher, Romane und Sachbücher geschrieben, Zeitschriftenkonzepte ent-wickelt und war als Chefredakteur für diverse Magazine tätig.

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Robert Griesbeck

DieEntstehung

derUnarten

Warum es so viele Schaumschläger,Nervensägen und Dumpfbeutel gibt

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

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Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier Holmen Book Cream liefert Holmen Paper, Hallstavik, Schweden.

Originalausgabe 04/2010

Copyright © 2010 by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHPrinted in Germany 2010Redaktion: Dunja Reulein, MünchenUmschlaggestaltung: Nele Schütz Design, MünchenSatz: C. Schaber Datentechnik, WelsDruck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-453-60139-0

www.heyne.de

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Homo sapiens

Ramapithecus

Homo immorabilus

Homo infantilius

Homo instruens

Homo sapiens

Homo humoricus

Homo superstitius

Homo dux

Der Stammbaum der Unarten

Homo meno distanze

AustralopithecusHomo erectusSchimpanse

Orang -Utan

Gibbon

Gorilla

Partnervermittler TV-Abzocker, Morgen-Moderatoren,Werbetexter, Charity Ladys, Talkshow-Gäste

Fußballanalysten, Stilberater, Nannys, Feministen, Ostalgiker, Mülltrenner

Politisch Korrekte, Urgesteine, Laubbläser, Eventmanager,Fitnesstrainer, Heimatsucher, Messies, Elitekinder

Arbeitsplatzvernichter, SUV-Fahrer,

Privatpolizisten, Wir-Menschen,

Global Player, Verkehrsplaner,

Zapper

Coaches, Derivatehändler, Unternehmensberater,

Diktatoren, Handyterroristen,

Diätberater,Experten,

Statistiker, Betroffenheitshausierer

B-und C-Promis, Heizpilzraucher, Humoristen, Fremdschämer,Sprachverwirrte

Astrologen, Esoteriker, Verschwörungstheoretiker,

Großraummagier, Endzeitpropheten,

Ökophobiker

Grenze der Arten und Unarten

Homo magus

Dryopithecinen

Experimentalköche, Extremsportler,

Light-Menschen, Schnäppchenjäger,

Rekordhalter

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Vorwort

Was wären wir ohne den Naturforscher Charles Robert Darwin und seine Evolutionstheorie? Wir würden heute noch daran glauben, dass Gott die Welt in sieben Tagen erschaffen hat, zusammen mit all ihren Bewohnern – den Seeigeln, Galapagosfinken, Plattwürmern, Leoparden, See-gurken, Walrössern, Stubenfliegen, Rauhaardackeln und Menschen. Wir hießen auch noch Menschen und nicht, wie wir uns heute korrekterweise bezeichnen – Homo sapiens. Der »kluge, weise Mensch« entwickelte sich aus ein paar Vorfahren, unter anderem aus dem Homo sapiens idaltu, dem Homo sapiens balangodensis und dem Homo sapiens neanderthalensis. Nach der biologischen Systematik ist der Mensch ein höheres Säugetier aus der Ordnung der Prima-ten. Er gehört zur Unterordnung der Trockennasenaffen und dort zur Familie der Menschenaffen.

Aber es war ein schwerer Denkfehler Darwins anzuneh-men, dass die Entwicklung der menschlichen Rasse zu sei-ner Zeit schon beendet gewesen wäre. Dabei hätte er sich das doch denken können, schließlich bedeutet Evolution ja Entwicklung, und wer wollte schließlich annehmen, dass eine Entwicklung ausgerechnet in dem Moment abge-schlossen wäre, in dem man ihr auf die Schliche gekom-men ist!

Charles Darwin kam 1809 im englischen Shrewsbury zur Welt und studierte Medizin, Theologie, Biologie und

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Geologie. Als Zweiundzwanzigjähriger machte er sich auf eine Reise, die fast fünf Jahre dauern und zur Initialzün-dung seiner Evolutionstheorie werden sollte. Auf der HMS Beagle, einem Vermessungsschiff der Royal Navy, fuhr der junge Darwin einmal um die ganze Welt und veröffent-lichte 1839 darüber einen Reisebericht. Mit seiner Theorie über die Entstehung der Korallenriffe und weiteren geolo-gischen Schriften erlangte er in wissenschaftlichen Kreisen erste Anerkennung als Geologe.

Doch es dauerte noch 20 Jahre, bevor er sein Haupt-werk beendet haben sollte. 1837 begann Darwin mit der Niederschrift seiner Überlegungen in Notizbüchern, den Notebooks on Transmutation. Unter der Notiz »I think« skizzierte er erstmals seine Idee vom Stammbaum des Le-bens und von der Anpassung all seiner Mitglieder an den Lebensraum durch Variation und natürliche Selektion in verschiedene Arten. Über 20 Jahre lang trug er Belege für diese Theorie zusammen. Darwins Überlegungen zur Ent-stehung der Arten waren begleitet von einer breitgefächer-ten Recherche in den Bereichen Medizin, Psychologie, Na-turwissenschaften, Philosophie, Theologie und politische Ökonomie. Das Ziel Darwins war es, die Entstehung von Arten auf naturwissenschaftliche Grundlagen zu stellen.

1859 erschien endlich das Werk, das wir als Die Entste-hung der Arten kennen, das natürlich (Wissenschaftler!) im Original einen bedeutend längeren und ausführlicheren Titel trägt: On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or The Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. In diesem Buch legte Darwin seine Evo-lutionstheorie schlüssig dar und beschrieb im Einzelnen die Veränderlichkeit der Arten, die gemeinsame Abstammung aller Lebewesen, die Änderung durch kleinste Schritte, die

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Vermehrung der Arten und die natürliche Selektion als wichtigsten Mechanismus der Evolution.

Heute stellt die von Darwin begründete und seitdem ständig weiterentwickelte Evolutionstheorie für die Biolo-gie das grundlegende Paradigma dar: Durch sie werden alle biologischen Teildisziplinen – Zoologie, Botanik, Verhal-tensforschung, Embryologie und Genetik – unter einem einheitlichen Dach versammelt. Darwins Werke, allen voran Die Entstehung der Arten und Die Abstammung des Menschen, lösten schon kurz nach ihrem Erscheinen eine Flut der unterschiedlichsten Reaktionen aus. Darwins Theo rien berühren ja nicht nur biologische Grundfragen, sie haben auch weitreichende Auswirkungen für die Theo-logie, Philosophie, Psychologie und Politik. Vor allem beim Klerus stießen die Theorien auf großen Widerspruch. Dass der Mensch keine eigenständige Schöpfung ist, sondern ein Evolutionsprodukt wie Millionen anderer Arten, steht schließlich im Widerspruch zur christlichen Lehre ebenso wie zu den Auffassungen vieler philosophischer Schulen. Wo war der Schöpfer auf einmal geblieben? Und welche Stellung hatte der Mensch plötzlich in der Natur?

Darwin, der in seiner Jugend immerhin Theologie stu-diert hatte, wurde im Alter nicht zuletzt wegen dieser An-griffe zum Agnostiker. Hätte er gar geahnt, dass die Evo-lution des Homo sapiens in der Zukunft zur Entwicklung der Unarten führen würde, wäre das für ihn wahrschein-lich der endgültige Beweis gewesen, dass es keinen Gott gibt. Denn welches klar denkende, höhere Wesen erschafft solche Unarten wie Latte-macchiato-Mütter, Verschwörungs-theoretiker, Baumarkt-Männer, Couch-Potatos, Betrof fen-heitshausierer, Charity Ladys, Telefonterroristen und On-line-Betrüger?

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Die Anti-Darwinisten, die sich heute Kreationisten nen-nen und die Schöpfungsgeschichte der Bibel wörtlich nehmen, bestehen allerdings immer noch darauf, dass die interna-tional akzeptierte Grundlage der biologischen Entwicklung eine Lüge ist. Warum sie so eisern daran festhalten, da-für hatte ein anderer großer Wissenschaftler eine plausible Erklärung. Sigmund Freud, der Vater der Psychoanalyse, bezeichnete die Evolutionstheorie als eine der drei Krän-kungen der Eigenliebe der Menschheit. Und eine solche Kränkung ist nicht auszuhalten, jedenfalls für naive Krea-tionisten, die Darwin zu Unrecht vorwerfen, er hätte be-hauptet, der Mensch stamme vom Affen ab.

Der Zoologe und Genetiker Theodosius Dobzhansky for-mulierte 1973 den treffenden Satz: »Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn – außer im Licht der Evolution.«

So gesehen, wird auch die Entwicklung der Unarten einen Sinn ergeben. Warten wir es ab.

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Aficionados

Früher waren Aficionados auch schlicht als Liebhaber be-kannt oder einfach als Leute, die gerne mal eine gute Zi-garre rauchen. Aber das reicht heute nicht mehr. Beispiel Zigarre: Man braucht zwei Meter Zigarrenliteratur im Schrank, einen Humidor und ein gediegenes Fachwis-sen, man muss sich mit den speziellen Anzünderitualen auskennen, echte Havannas importieren und lässige Hand-haltungen üben, um heutzutage als Zigarrenraucher auch einen hohen sozialen Status zu erringen. Einfach nur Zigar-ren rauchen, weil sie einem schmecken, das geht nicht mehr.

Zuerst muss man ein Aficionado sein, dann ein Connais-seur, zum Schluss ein Experte. Und nach den Zigarren-Afi-cionados hat man die professionelle Liebhaberschiene ver-breitert – nun darf man auch von anderen Sachen besessen sein. Jetzt heißt es Schokoladen-Workshops, Rauchclubs, Bordeaux-Verkostungen und Trüffelschnupperkurse zu be-suchen, zum Zigarrenrollen nach Cuba zu fahren, zur Champagnerernte nach Epernay, zur Obstbrandverkostung nach Kitzbühel. Es ist nicht mehr so einfach wie früher. Für alles, was man ohne anständige Ausbildung nicht richtig zu sich nehmen kann (oder nicht bei sich behalten kann), braucht man eine Zusatzausbildung.

Nehmen Sie nur die Schokolade. Früher war Schokolade etwas für Kinder. Das süße Zeug wurde gemampft, wann immer man es in die Finger bekam, und hinterher sahen die Finger auch dementsprechend aus.

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Das ist heute ganz anders. Kinder mögen lieber kleine bunte Döschen mit Flüssigkeiten, deren Geschmack an auf-gelöste Gummibärchen erinnert. Kinder (die als Kids ange-sprochen werden) trinken – weil sie nicht schon aufgedreht genug sind – mit Vorliebe Energy-Drinks wie »Fliegende Pferde« oder »Roter Bulle«, die aus Wasser, Saccharose, Glucose, Natriumcitraten, Kohlensäure, Taurin, Glucuro-nolacton, Koffein, Inosit, Niacin, Pantothensäure, Ribofla-vin und Farbstoffen bestehen. Schokolade? Ha! Nicht mal Schokodrinks, mit denen man die Kakao-Tetrapacks mal ablösen wollte, werden noch eines Blickes gewürdigt.

Schokolade ist was für die Alten geworden. Und für die Aficionados. Daher hat man der Schokolade ein neues Image verpasst. Zum einen ist sie gesund. Ja, das ist schon mal eine gute Nachricht. Das machen die Flavonoide, die auch gegen Arterienverkalkung, Alzheimer, Demenz, Nie-renversagen und Stottern helfen. Obendrein macht Scho-kolade auch noch glücklich! Denn sie enthält auch die Aminosäure Tryptophan, eine Vorstufe des Glückshormons Serotonin. Das mit dem Glück konnte man noch einiger-maßen glauben, als Schokolade noch süß schmeckte, aber inzwischen heißt es: je bitterer, je besser. Auch daran musste man sich gewöhnen. Bei einem Kakaoanteil über 80 Pro-zent wirft die Oberfläche einer untrainierten Zunge schon mal Blasen. Da muss man durch als Schoko-Aficionado. Und Schokolade wird heutzutage nicht mehr in einer Tafel gekauft, außen Papier, dann Alufolie und innen bruchfer-tige Abteilungen – nein, heute kauft man in Handarbeit hergestellte Schokospezialitäten, Bruchtafeln mit Gold-staub und eingelagerten Chilischoten und einer Glasur aus grünem Tee. Schließlich muss man ja die Höchstpreise für De-luxe-Ausführungen auch nachvollziehen können.

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Man lernt bei »Schokolade-Workshops« den richtigen Umgang mit der kostbaren Ware und dass die Zeiten vor-über sind, als Schokolade noch süß schmeckte. So ähnlich muss sich Hernán Cortés gefühlt haben, als ihn die Azte-ken (die paar, die er am Leben gelassen hatte) in das Ge-heimnis der Kakaobohne einweihen wollten. Er empfand das bittere Zeug als abstoßend und eher etwas für Schweine denn für Menschen. Was Cortés gefiel, war, dass man Ka-kaobohnen als Zahlungsmittel verwenden konnte. Also, auch hier wurde der eindeutige Evolutionsrückschritt nach-gewiesen: Wir essen wieder Bitterschokolade wie die Azte-kenkönige vor 2000 Jahren.

Und dabei waren wir doch schon mal viel weiter. 1959 sang Trude Herr: »Ich will keine Schokolade, ich will lieber einen Mann!« Damals war die Evolution noch auf dem richtigen Weg.

Arbeitsplatzvernichter

Früher haben wir für uns gearbeitet, und wenn wir für an-dere arbeiteten, bekamen wir Geld dafür. Das ist heute an-ders. Wir ziehen unser Bargeld aus dem Geldautomaten, holen in SB-Restaurants das Essen ab und stellen die leeren Teller und Gläser wieder in den Wagen zurück. Wir bauen unsere Möbel selber zusammen und bringen den Verpa-ckungsmüll weg. Wir torpedieren kleine, engagierte Buch-läden, in denen uns Profis noch spannende Lesetipps geben können, und kaufen lieber bei Amazon, am liebsten den aktuellen Bestseller mit leichten Gebrauchsspuren und da-für um die Hälfte billiger.

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Wer denkt dabei schon an Arbeitsplatzvernichtung? Au-ßerdem: Kann man doch nichts machen, schließlich waren das die Vorschläge der bösen Unternehmensberater, und die Turbokapitalisten haben es gierig umgesetzt. Was sollen wir denn machen? Revolution? In Deutschland!?!

Nein, aber betrachten darf man es trotzdem. Man darf sich ärgern, und man kann sogar die schlimmsten Aus-wüchse boykottieren. Denn nicht nur Arbeitsplätze sind vernichtet worden, die Kunden sind auch als neue Mit-arbeiter – natürlich unbezahlte – nachgerückt. Und das ist der eigentliche Skandal. Wir konsumieren nicht nur so kräftig, wie wir können, wir arbeiten auch noch für die Läden, in denen wir einkaufen!

Zuerst haben wir zähneknirschend unsere romantischen Tante-Emma-Läden aufgegeben, im Tausch gegen Park-plätze in Hülle und Fülle vor gigantischen Supermärkten. Wir haben es eingesehen, dass Obst und Gemüse immer in Großfamilienklumpen verblistert wird oder eigenhän-dig in Plastiktütchen eingesammelt werden muss. Wir wie-gen die Beutel ab, recherchieren die dazugehörige Codenum-mer, tippen sie ein und kleben den Preis auf. Wir schieben gutmütig die Joghurts mit fast abgelaufenem Datum zur Seite und wühlen uns tiefer in das Kühlregal hinein, denn dort hinten, fast am Ende unserer Reichweite, stehen die fri-schen Becher. Klar, die alten müssen ja auch weg.

Wir stecken unsere leeren Pfandflaschen in die richtigen (es gibt jede Menge falscher) Öffnungen riesiger computer-gestützter Leergutannahmeautomaten, den Flaschenboden bitte nach vorne. Wir warten geduldig, bis auf den schrillen Alarmton nach der dritten Flasche jemand vom Personal kommt, uns streng mustert (»Haben Sie etwa unseren teu-ren, computergestützten Leergutannahmeautomaten falsch

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bedient? Am Ende hat er einen bleibenden Schaden davon-getragen!«), den futuristischen Metallschrank aufsperrt, den vollen Flaschencontainer ins Lager fährt und wieder einen leeren hineinstellt. Wir unterdrücken auch die Frage, was denn so unpraktisch daran war, dass wir die Flaschen früher gleich im Lager abgegeben haben, aber wir tun das eher, weil wir die Berieselung mit transzendentaler Schaum-weinmusik nicht mehr aushalten.

Das alles ertragen wir, aber das mit den Einkaufswagen, das geht wirklich zu weit. Die Entwicklung der münzabhän-gigen Rollcontainer ist ein besonders zynisches Beispiel für Arbeitsplatzvernichtung auf Kosten der Kunden – im mo-dernen Sprachgebrauch »partial employee« genannt. Früher war der Kunde König, heute ist er unbezahlter Mitarbeiter.

Wir legen zum Beispiel den Weg zu einem der verstreu-ten Einkaufswagenterminals zurück – traditionell im strö-menden Regen. Hier stehen die Wagen, hier ist … leider keine Euromünze. Warten wir eben. Hoppla, der erste Kunde hat seinen Wagen so schnell zurückgestöpselt, dass uns gar keine Zeit blieb, ihm den Austausch für eine Hand-voll Kleingeld anzubieten. Außerdem tun das Deutsche nicht gerne. Sie möchten am liebsten ihre Münze wiederha-ben. Seltsam, aber nach so vielen verlorenen Kriegen auch irgendwie verständlich. Inflationsangst. Obwohl die Mark längst passé ist. Na, vielleicht kommt gleich ein Grieche. Oder ein Italiener oder ein Türke.

Wenn wir einen Wagen eintauschen und ein Kleinkind mitführen, können wir mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass ausgerechnet dieser Wagen keinen Klapp-sitz für unseren Nachwuchs hat. Aber das merken wir immer erst eine Sekunde zu spät. Und es wird unseren Ein-kauf nicht gerade einfacher gestalten.

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Nach der Kassenabfertigung folgt Phase zwei. Wir schip-pern (natürlich im Regen) zu unserem Fahrzeug, laden die teure Fracht ein, schnallen (so vorhanden) unseren Nach-wuchs in die Kindersitze und schieben den Wagen zurück. Dabei kommen wir uns ungemein dämlich vor. Zu Recht.

Denn eigentlich ist mit der Bezahlung und dem Ladevor-gang unsere Arbeit hier mehr als getan, doch jetzt müssen wir sogar noch die Aufräumarbeiten übernehmen. Und dafür sind Arbeitskräfte ausgestellt worden, die an jedem Arbeitsamt für unvermittelbar gelten, weil ihre Spezialaus-bildung nicht mehr gefragt ist. Das machen doch inzwi-schen die Kunden.

Die münzgestützten Einkaufswagen haben inzwischen eine Mutation durchgemacht, natürlich von nachdenkli-chen Menschen initiiert, wahrscheinlich vom McKinsey-Kernteam Heavy Braintrust Hamburg-West. Durch einen unverschuldeten Selbstversuch kam ich dem Geheimnis der neuen Einkaufswagenzombies auf die Schliche.

Nachdem ich eines Tages mal wieder einen dieser Einkaufs-wagen durch den Einsatz einer Euromünze aus seinem Ge-fängnis befreit hatte und das Gefährt nach erfolgtem Einkauf wieder in einen der Unterstände zurückstellen wollte, ließ sich der Wagen nicht mehr an der Reihe anstöpseln. Zuerst dachte ich, der Steckschlitz hätte sich verbogen oder wäre durch einen Einkaufswagenvandalen beschädigt worden. Ich versuchte es also an einer anderen Reihe. Fehlanzeige.

Ein älterer Mann beobachtete meine vergeblichen Versu-che mit sichtlichem Wohlgefallen, kam langsam näher und sprach mich an: »Da werden Sie kein Glück haben, guter Mann.«

In seiner Stimme schwang eine Mischung aus triumphie-render Überheblichkeit und selbstgefälligem Herrschafts-

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wissen. Eine Mischung, die manchmal schuld daran ist, dass solche Männer Probleme mit anfänglich freundlich ge-stimmten Mitmenschen bekommen.

»Da hat sich jemand was dabei gedacht«, sagte er ge-nüsslich.

»So, was denn?«»Das ist Or-ga-ni-sa-tion! Die Leute denken nämlich

nicht mit. Sind alle völlig a-so-zial!«Er erklärte mir, dass die »Betriebsführung« durch einen

geschickten Schachzug das wilde Zurückstellen von Ein-kaufswagen verhindert habe. Früher wären einige Ein-kaufswagendepots nämlich völlig überfüllt gewesen, wäh-rend andere leer blieben. Also, und dabei hob er simultan die Stimme wie den rechten Zeigefinger, hätte man ein »platzweisendes Farbsystem« eingeführt, das nur bestimm-ten Einkaufswagen den Zutritt zu bestimmten Depots ge-stattet. Die Farbe der Griffe am Einkaufswagen korrespon-diere mit den Farben der Depots, und so sei gewährleistet, dass jeder an einem bestimmten Depot (etwa dem roten) entnommene Einkaufswagen auch wieder am selben zu-rückgegeben würde. In seiner Stimme schwang Stolz, so als hätte er dieses System erfunden.

Ich fragte ihn, ob er der Meinung sei, dass es angesichts von über drei Millionen Arbeitslosen hierzulande eine gute Idee sei, jeden Furz von Nichtangestellten erledigen zu las-sen, oder ob es nicht sinnvoller wäre, für die Rückführung vagabundierender Einkaufswagen einen Menschen, we-nigstens auf 400-Euro-Basis, anzustellen. Er rückte seinen Hut gerade und zischte: »Kommunist!«

Eine ganz neue Form der Mitarbeit entwickelte sich in den verschneiten Weiten Schwedens, dort, wo zur Mitt-sommernacht nackte Menschen vor ihren Holzsaunen sit-

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zen, dampfen und die Elche beobachten, die am Horizont vorbeiziehen. Auch Ingvar Kamprad hatte dort gesessen und sinniert. Als Junge hatte er Streichhölzer an die Bauern in den umliegenden Dörfern verkauft, später einen kleinen Versandhandel mit Sämereien und Kugelschreibern aufge-macht. »Man müsste etwas ganz Neues machen«, hatte In-gvar Kamprad geseufzt, als er eines Tages wieder vor seiner Saunahütte saß. »Vielleicht sind die Elche ein gutes Vor-bild.«

»Wie, die Elche? Die sind doch doof!«, hatte sein Freund Øle gesagt.

»Ich meine ja auch nicht, wir sollten es wie die Elche ma-chen. Aber wenn wir die Kunden wie Elche behandeln …«

Das war die Initialzündung für IKEA gewesen. Schwedi-sche Elche sind nicht verwöhnt. Es gibt wenig Auswahl und wenig zu beißen in der harten Einsamkeit Schwedens. Ein Elch ist schon froh, wenn er sich an einem Ast mal nicht den Zahn ausbeißt. Die ersten IKEA-Kunden freuten sich wie die Elche, dass sie billige Möbel aus billigem Holz und in schlichtem Design kaufen durften, und dachten (Elche!) nicht darüber nach, was denn der Unterschied zu einem an-deren Möbelhaus wäre. Etwa einem für verwöhnte Perser-katzen.

Bei IKEA wurde das Prinzip des »partial employee«, des teilweise Mitangestellten, gleich von Anfang an zur Perfek-tion getrieben und besteht bis heute. Der Elch ist zum Sym-bol für ein Unternehmen geworden, das 2008 mit über 285 Möbelhäusern in 36 Ländern und mit 127 800 Mitarbei-tern einen Umsatz von 21,2 Milliarden Euro machte. In-gvar Kamprad, der inzwischen in die Schweiz umgezogen ist, weil es dort zwar keine Elche, aber eine nettere Steuer-behörde gibt, wird beim US-Magazins Forbes mit 28 Mil-

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liarden Dollar Privatvermögen als der viertreichste Mensch der Welt geführt. Damit wir uns richtig verstehen: Das gönne ich ihm, obwohl ich ihn schon oft verflucht habe, etwa als ich mir den Daumen bei der Errichtung einer Kommode »Aspelund« eingeklemmt oder verzweifelt nach der zwölf-ten Schraube für das Hängeregal »Värde« gesucht habe.

Kamprad ist auch privat ein eiserner Sparelch, teilweise schon gespenstisch. Er hat ein hartes Leben hinter sich, eine romanhafte Karriere, und trotzdem ist das, was ihn so groß gemacht hat, ein simpler Trick:

Er hat seine Angestellten in lustige Uniformen gesteckt und das Duzen in allen Filialen zur Pflicht gemacht, aber das ist es nicht.

Er verkauft den Kunden neben Möbeln jeden Schnick-schnack, auch Pommes frites, Schwedenhappen und heiße Würstchen, aber das ist es auch nicht.

Er hat einen IKEA-Club gegründet, die Family-Card ein-geführt und lässt die Klappmöbel sogar liefern, aber auch das ist es nicht.

Er hat die straffste Corporate Identity nach McDonald’s und immer freie Parkplätze, aber das ist es ebenfalls nicht.

Nein, der Trick ist: Er lässt die Kunden arbeiten. Um zu verstehen, wie wir für den alten Mann schuften, nehmen wir als Beispiel »Billy«, das Regal, das jeder kennt und jeder irgendwo stehen hat. Bekannterweise besteht dieses Pressspanwunder aus zwölf Brettchen, 20 Schrauben, einem Inbusschlüssel und einer Handvoll Nägel. Ein technisch nicht völlig unbegabter Mensch braucht für den Zusam-menbau etwa eine halbe Stunde. Billy ist schon bis zum Jahr 2004 über 30 Millionen Mal verkauft worden, das entspricht einer Gesamtzahl von 15 Millionen Arbeitsstun-den! Und wenn wir nur einen harmlosen Stundenlohn von

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acht Euro ansetzen (sogar noch unter dem Mindestlohn bei der Post), summiert sich diese Aufbauarbeit an Billy zu einem volkswirtschaftlichen Aufwand von 120 Millionen Euro. Und Ingvar Kamprad hat sich diese Kosten erspart, weil er die Endmontage auf seine Kunden abgewälzt hat.

In Wirklichkeit übernehmen wir natürlich noch eini-ges mehr, was sich in Euro kaum ausdrücken lässt: Zuerst strapazieren wir unsere Nerven (vor allem, wenn wir den Anfängerfehler machen, an einem langen Samstag eine Re-galwand zu kaufen) im zähen Geschiebe durch alle Abtei-lungen der schwedischen Möbelburgen, vorbei an streiten-den Familien, kreischenden Kindern (nein, nicht alle sind im mit Plastikbällen gefüllten Terrarium abgegeben wor-den, an langen Samstagen gibt es mehr Kinder als Plastik-bälle!), hysterischen Innenarchitekten (»Aber Sie haben mir doch versichert, dass der Stoff heute spätestens da ist! Das Fotoshooting ist heute Nachmittag!«) und ellenbogensto-ßenden Matronen, die endlich auch mal einen Wagen fah-ren dürfen. Und so, wie sie ihn durchs Gedränge schieben, darf man nur hoffen, dass sie nicht auch noch am Straßen-verkehr teilnehmen. Dann sammelt man seine Einkäufe in den Regalstraßen zusammen und spürt das Magenge-schwür ein kleines bisschen nachwachsen bei der Nach-richt, dass ausgerechnet die Rollen für den Rollschrank »Rollebör« momentan nicht lieferbar sind. Na ja, der Rest ist ja wenigstens da. Ein Rollschrank ohne Rollen? Nicht so schlimm, wenn man bedenkt, dass die meisten afghani-schen Familien weder einen Schrank mit noch ohne haben. Dann steht er eben so lange rum, bis es die Rollen wieder gibt. Müssen wir in der Mittagspause eben nochmal hin-fahren, Rollen kaufen und dazu einen »Köttbullar« oder ein »Kasbroed« essen. Das empfehlen uns jedenfalls die

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gelbblauen Streetworker von der IKEA-Family, die man an ihren Beruhigungscentern um Rat fragen kann. Hat man das Zeug dann doch irgendwie durch die Kassenstraße ge-quetscht und ins Auto geladen, muss man nur noch unfall-frei nach Hause fahren. Das ist bei der üblicherweise be-grenzten Sicht nach hinten nicht gerade ungefährlich und verleitet uns zu irrsinnigen Überlegungen, etwa ob wir uns nicht auch mal einen Van zulegen sollten. Dabei sind die Kinder gerade aus dem Haus und kaufen selber bei IKEA ein, und das natürlich nur mit einem geliehenen VW-Bus. Aber die Nachbarn sind kinderlos und haben auch einen Van. Wahrscheinlich fahren sie öfter zu IKEA. Man kommt schon auf seltsame Gedanken nach einem Besuch im Mö-belhaus der Elche, auf der schlingernden Heimfahrt, wäh-rend eine Kante von »Börwöll« sich bei jeder Linkskurve unangenehm in die Schulter bohrt.

Nachdem wir die Kartons in die Wohnung gewuchtet haben, kommt nun der friedliche Teil: auspacken, die An-leitungen studieren, alle Schrauben, Dübel, Stifte, Nägel, Leimtütchen und Plastikhütchen zählen, den diversen Zif-fern auf dem Bauplan zuordnen und aufbauen. Der Inbus-schlüssel bleibt übrig, den darf man behalten und legt ihn zu den 67 anderen in den Werkzeugkasten.

Aber auch damit ist die Arbeit noch nicht beendet, die wir für Herrn Kamprad leisten – jetzt heißt es, den Ver-packungsmüll kleinzuschneiden und in die entsprechenden Abfallkübel zu entsorgen. Seltsam, dass Verpackung in man-chen Fällen ein größeres Volumen haben kann als das, was in ihr verpackt war.

Wenn wir uns dann müde auf unser Klappsofa »Schlömm-vörd« werfen und den Fernseher anstellen, kann es passie-ren, dass wir gerade eine Werbepause erwischen und den

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IKEA-Spot sehen: »Wohnst du noch oder lebst du schon?« Aber weil wir so erschöpft sind und sich ein seltsamer Druck auf die Ohren gelegt hat, verstehen wir stattdessen: »Bist du noch Kunde oder arbeitest du schon für uns?«

Astrologen

Aber das sind doch keine neuen Unarten, denn Astrologen und Astrologiegläubige hat es schon immer gegeben, wer-den Sie jetzt sagen. Da haben Sie nicht ganz Unrecht, doch früher waren das noch vergleichsweise »zivilisierte« Stern-deuter. In der Antike ging man nur wegen großer Schick-salsfragen zur Pythia, heute kann man in jeder Zeitung nachlesen, was man besser tun oder lassen sollte: »Suchen Sie einen Ausgleich durch sportliche Aktivitäten, damit Ihnen Stress und Hektik nicht zu Kopf steigen. In der nächs-ten Zeit sollten Sie auf eine klare Trennung von Beruf und Privatleben achten.« Hätte das jemals eine griechische Wahr-sagerin prophezeit, wäre sie sofort geköpft worden. Da-mals gab man sich noch Mühe, um den sorgenvollen Kun-den nicht sofort zum Deppen zu machen.

Wo Vorhersagen gemacht werden, besteht immer das Problem der sich selbsterfüllenden Prophezeiungen. Wem prophezeit wird, dass ihm eine schmerzliche Erfahrung droht, wenn er nicht sehr aufpasst, dem bleiben (wenn er zum Stamm der Leichtgläubigen gehört) eben nur zwei Möglichkeiten: Entweder er macht tatsächlich eine schmerz-liche Erfahrung, dann hat er eben nicht genug aufgepasst. Oder er macht keine, dann wurde er durch das Orakel glücklicherweise gewarnt und konnte sich auf die drohende

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Gefahr einstellen. Und um den geistigen Nährboden zu be-schreiben, auf dem diese Art der »Zukunftsschau« gedeiht, möchte ich die Lieblingsgeschichte meiner Großmutter er-zählen: Sitzen zwei Buben auf dem Ast eines Apfelbaums und sägen daran. Dummerweise sitzen aber auch beide auf der falschen Seite des Asts. Da kommt eine alte Frau vorbei und ruft: »Hört auf, sonst fallt ihr vom Baum!« Die beiden Buben lachen und sägen weiter. Der Ast fällt, mit ihm die Buben. Als sie im Gras liegen, kommt die alte Frau wieder vorbei. Ruft der eine Bub: »Schau, da ist sie wieder, die Hellseherin!«

Auf dieser Ebene bedienen all die Glaskugelgucker, Kar-tenleger, Münzenwerfer und Handleser ihre Kundschaft. Die Astrologie dagegen möchte sich gerne aus diesem Dunst-kreis erheben und versucht verzweifelt, sich einen wissen-schaftlichen Anspruch zu geben. Dabei ist sie kein organi-siertes, zusammenhängendes Gedankengebäude, und noch dazu nach Region und Erdteil verschieden. Und sogar innerhalb der einzelnen Richtungen gibt es verschiedene Schulen, welche die Sterndeutung unterschiedlich prakti-zieren. Im Prinzip kann jeder Astrologe selbst entscheiden, wie und auf welche Art und Weise er Astrologie betrei-ben möchte. Schon wegen dieser Beliebigkeit ist es wenig sinnvoll, die Kritik an der Astrologie an einzelnen Details aufzuhängen. Astrologie ist einfach ein nettes Überbleibsel aus der Epoche des »staunenden Menschen«, der für sich Ordnung ins Chaos bringen musste, um nicht verrückt zu werden.

Dafür sind die Himmelskörper natürlich bestens geeig-net, denn sie sind immer wieder zu sehen, drehen sich hin und her und rundherum – beste Voraussetzungen für eben-so verschwurbelte Deutungen. Der scheinbare wissenschaft-

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Robert Griesbeck

Die Entstehung der UnartenWarum es so viele Schaumschläger, Nervensägen undDumpfbeutel gibt

Taschenbuch, Broschur, 256 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-453-60139-0

Heyne

Erscheinungstermin: April 2010

Der größte Dummkopf setzt sich durch! Ist der Mensch wirklich die Krone der Schöpfung? Robert Griesbeck richtet seinen Blick auf diebislang sträflich vernachlässigten Seitenstränge der menschlichen Entwicklung und zeigt, was imZeitalter der Handyplärrer, Taubenfütterer und Klingeltöne-Sammler aus dem vernunftbegabtenHomo sapiens geworden ist: Mit rasender Geschwindigkeit entfaltet der Stammbaum derUnarten immer neue Triebe. Doch ob Spaßmenschen (Homo humoricus) oder Kindsköpfe(Homo infantilis) – jetzt kriegen sie alle ihr Fett weg! • Trost und Zuspruch für alle, denen ihre Mitmenschen tierisch auf den Senkel gehen • Hoher Wiedererkennungswert: Robert Griesbeck sagt, was viele denken • Eine pointiert-kritisch-witzige Analyse unserer Zeit