darmfunktionsstörungen: keine therapie ohne diagnose

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10 Heilberufe / Das Pflegemagazin 2013; 65 (9) PflegePraxis Störungen der Darmfunktion © iStockphoto/Thinkstock DOI: 10.1007/s00058-013-0963-x Stuhlinkontinenz, Obstipation oder Stuhltransportstörungen sind weit verbreitet. Unterschiedlichen Literaturquellen folgend leiden bis zu 7 % der deutschen Bevölkerung an einer Stuhlinkontinenz, sogar 20 % der Bewohner moderner Industriestaaten unter einer chronischen Obstipation. Ein zielorientiertes Darmmanagement ist jedoch bis heute nicht flächendeckend vorhanden. Dabei könnte damit diesen funktionellen Störungen begegnet werden. Inkontinenz oder Obstipation? Darmfunktionsstörungen: Keine Therapie ohne Diagnose

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Page 1: Darmfunktionsstörungen: Keine Therapie ohne Diagnose

10 Heilberufe / Das P� egemagazin 2013; 65 (9)

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Stuhlinkontinenz, Obstipation oder Stuhltransportstörungen sind weit verbreitet. Unterschiedlichen Literaturquellen folgend leiden bis zu 7 % der deutschen Bevölkerung an einer Stuhlinkontinenz, sogar 20 % der Bewohner moderner Industriestaaten unter einer chronischen Obstipation. Ein zielorientiertes Darmmanagement ist jedoch bis heute nicht flächendeckend vorhanden. Dabei könnte damit diesen funktionellen Störungen begegnet werden.

Inkontinenz oder Obstipation?

Darmfunktionsstörungen: Keine Therapie ohne Diagnose

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11Heilberufe / Das P�egemagazin 2013; 65 (9)

Darmmanagement bedeutet die Gesamtheit aller Aktivitäten, die dazu dienen, eine regelmäßige,

planbare sowie zeitlich begrenzte Darm-entleerung mit zwischenzeitlicher Kon-tinenz zu erreichen. Gesundheit und Wohlbefinden sollen erhalten, soziale Einschränkungen aufgehoben und funk-tionelle, morphologische und neurologi-sche Komplikationen vermieden werden.

Klassifizierung der Darmfunktions störung Grob unterteilt werden die Darmfunk-tionsstörungen in „Obstipation“ und „Stuhlinkontinenz“. Obstipation führt zu Belastungen von Kreislauf und Nerven-system, da Beschwerden wie Blähungen und Spastizitätserhöhungen direkt zusam-menhängen. Nicht zu unterschätzen sind die negativen Auswirkungen einer Obsti-pation auf die Blasenfunktion. Die Stuhl-inkontinenz dagegen führt zur Suche nach sozial akzeptablen Zeiten und Möglich-keiten der Stuhlentleerung, um die Stuhl-inkontinenzepisoden zu senken. Unter-schiedliche Studien zeigen, dass 50–76 % der Betroffenen ihre Lebensqualität ein-geschränkt sehen. Dabei berichten 1–4 % über tägliche, 4–7 % über wöchentliche und bis 15 % über monatliche Stuhlinkon-tinenzepisoden.

In der täglichen Praxis zeigt sich immer noch, dass Darmfunktionsstörungen zu unkontrollierten Maßnahmen führen. Betroffene führen Interventionen ohne ärztliche Diagnostik durch. So wird der Stuhl bei bestehender Inkontinenz oft nur in einer Windel aufgefangen oder eine Obstipation nur mit Medikamenten be-handelt, ohne die Ursache zu kennen.

Am Beginn der Diagnostik steht neben der allgemeinen jedoch auch eine gezielte Stuhlanamnese, die sich mit der Frequenz, Konsistenz, dem Zusammenhang mit Er-krankungen und der damit verbundenen Medikamenteneinnahmen beschäftigt. Auch Verletzungen des Schließmuskels müssen ausgeschlossen werden.

Neben einem abdominellen und rek-talen Ultraschall besteht dazu die Mög-lichkeit der lokal-neurologischen Be-funderhebung, inklusive Reflexstatus. Fakultativ stehen instrumentelle Unter-suchungsmöglichkeiten wie die Sphink-ter- und Rektummanometrie zur Verfü-gung.

Darmfunktionsstörungen richtig behandelnBedingt durch die unterschiedlichen Aus-prägungen der Darmfunktionsstörungen stehen verschiedene Interventionen zur Verfügung.

Ernährung. Eine spezielle Diät gegen Darmfunktionsstörungen gibt es nicht. Durch eine bewusste, sehr individuelle Umstellung der Ernährung lässt sich aber eine Besserung erzielen. Hierbei geht es um die Beschaffenheit des Stuhls und um die Stuhlkonsistenz, die es erlaubt, besser mit der Situation umzugehen. Eine Ana-lyse individueller Ernährungsgewohn-heiten, etwa bestehende Unverträglich-keiten von Nahrungsbestandteilen, und Lebensgewohnheiten, wie Essen in Stress-situationen oder hastiges Essen, können hilfreich sein.

Bei leichten Formen der analen Inkon-tinenz ist es meist sinnvoll, eine ausgewo-gene, ballaststoffreiche Ernährung anzu-streben. Dabei soll durch eine ausrei-chende Menge von Faserstoffen ein großes Stuhlvolumen erzielt werden. Das größe-re Volumen führt zu einer Dehnung der Darmwand, was ihrerseits die Darmtätig-keit (Peristaltik) anregt. Der Stuhl soll durch den hohen Faseranteil zudem eine weiche, jedoch geformte Konsistenz ha-ben und weder knollig noch breiig sein. Darüber hinaus bieten die Faserstoffe einen guten Lebensraum für die Darm-flora, also für Bakterien, die wichtige Ver-dauungsprozesse in Gang halten.

Ein hoher Fasergehalt findet sich in Vollkornprodukten, Gemüse und Obst. Die aufgenommene Ballaststoffmenge sollte zur Hälfte aus Vollkornprodukten und zur anderen Hälfte aus frischem Obst und Gemüse bestehen und durch eine ausreichende Flüssigkeitsmenge (minde-stens 2 Liter) ergänzt werden.

Patienten mit einer schwereren Form der Stuhlinkontinenz kommen mit dieser Ernährungsweise, die das Stuhlvolumen stark vergrößert, oft nicht so gut zurecht. Dann kann es sinnvoll sein, den Stuhl etwas einzudicken und gegebenenfalls eine gezielte Entleerung zu bewirken, zum Beispiel mit analer Irrigation. Aber auch in diesem Stadium der Inkontinenz gilt es stets, eine Verstopfung zu verhindern. Durch zu langes Verweilen des zu festen Stuhls im Darm kann es zur Überlaufin-

kontinenz kommen, da der Stuhl von Bakterien zersetzt und verflüssigt wird. Es muss hier also sehr behutsam vorge-gangen werden.

Nahrungsmittelunverträglichkeiten, allen voran die Laktoseintoleranz (Milch-zuckerunverträglichkeit), können in je-dem Stadium der Darmfunktionsstörung eine Rolle spielen. Nahrungsmittel oder -bestandteile, die nicht vertragen werden, bergen die Gefahr vielfältiger Verdau-ungsbeschwerden – Durchfall, Verstop-fung, Blähung, Übelkeit. Ähnliche Be-schwerden können Nahrungsmittelaller-gien auslösen, bei denen eine spezifische Immunreaktion nach Aufnahme eines Nahrungsmittels ausgelöst wird.

Therapie mit Laxantien. Der Einsatz von Laxantien sollte nicht ohne Absprache mit dem Arzt erfolgen, da unterschiedliche Wirkstoffe und Wirkverfahren zur Ver-fügung stehen. Laxantien verkürzen der Verweildauer des Stuhls im Kolon und Rektum. Folgende Wirkprinzipien werden erreicht:

▶ Bindung von Wasser an schwer resor-bierbare Substanzen

▶ Hemmung der Wasser-Elektrolyt- resorption aus dem Darm

▶ Steigerung der Flüssigkeitssekretion in das Darmlumen

▶ Steigerung der Motorik in den unteren Darmabschnitten

Hilfsmittelversorgung. Im Bereich der Hilfsmittelversorgung finden sich heute

Inkontinenz

▶ Neurogene Inkontinenz

▶ Muskuläre Inkontinenz

▶ Überlaufinkontinenz

▶ Konsistenzbedingte Inkontinenz

▶ Psychogene Inkontinenz

Obstipation

▶ Outlet-Constipation

▶ Slow transit Constipation

▶ Mechanische Passagebehinderung

▶ Psychogene Obstipation

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PflegePraxis Störungen der Darmfunktion

▶ Darmfunktionsstörungen werden unterteilt in „Obstipation“ und „Stuhl-inkontinenz“.

▶ Darmfunktionsstörungen führen häu-fig noch zu unkontrollierten Maßnah-men seitens der Betroffenen. Ohne ärztliche Diagnostik sollten jedoch keine Interventionen durchgeführt werden.

▶ Je nach Ausprägung der Darmfunk- tionsstörung lässt sich diese ggf. mit einer Umstellung der Ernährung, mit-hilfe von Laxantien oder der Wahl des richtigen Hilfsmittels behandeln.

FA Z IT FÜ R D I E PFLEG E

noch hauptsächlich Windel und Vorla-gensysteme. Der entscheidende Nachteil für den Betroffenen besteht in einer per-manenten Geruchsbelästigung und der hohen Gefahr von Hautdefekten durch ständigen Stuhlkontakt. Zudem steigt das Risiko von Harnwegsinfektionen, gerade in Verbindung mit einer Dauerkatheter-versorgung, signifikant. Für den Betrof-fenen oder das versorgende Personal ist der Zeitaufwand bei der Versorgung be-achtlich, bei gleichzeitig hohem Materi-alaufwand und der damit verbundenen Müllentsorgung. Zwei weitere, sehr mo-derne Versorgungsmöglichkeiten bieten Analtampons oder das Verfahren der analen Irrigation.

Analtampon: Diskrete Versorgung ohne GeruchsbelästigungEin moderner Analtampon besteht aus Polyurethan, welcher stark aufgeschäumt wurde, um Darmgase problemlos entwei-chen zu lassen. Umhüllt ist der Tampon mit einer wasserlöslichen Folie, die sich bei Kontakt mit der Darmschleimhaut auflöst. Für den Patienten bedeutet dessen Verwendung eine diskrete Versorgung ohne Geruchsbelästigung bei optimalem Hautschutz. Aktivitäten sind ohne Ein-schränkungen möglich. Der Tampon ist so konzipiert, dass er in der Regel vom Betroffenen selbstständig benutzt werden kann. Damit ist nicht nur die soziale In-tegration des Betroffenen gewährleistet,

auch im Kostenmanagement zeigen sich die Vorteile in geringerem Pflege- und Materialaufwand.

Die Anwendung ist sehr einfach: Der Tampon wird auf der Spitze mit Gleit-creme bestrichen. Anschließend wird er in den Anus eingeführt, wo er bis zu zwölf Stunden belassen werden kann. Durch die Feuchtigkeit der Darmschleimhaut löst sich die Folie und der Tampon entfaltet sich in 30 bis 60 Sekunden.

Kontraindikationen für dieses Hilfsmit-tel sind Darminfektionen, Morbus Crohn, Wunden im Rektum, Dickdarmentzün-dungen, Diarrhoe und Analfisteln.

Anale Irrigation als Verfahren anerkanntIn der Therapie der neurogenen Darm-funktion hat sich die anale Irrigation in-zwischen als anerkanntes Verfahren eta-bliert. Mit der weiteren technischen Mo-difizierung des Verfahrens können heute hervorragende Ergebnisse in der Behand-lung von Inkontinenz und Obstipation erzielt werden.

Basis für eine erfolgreiche Irrigation ist ein blockbarer Rektalkatheter und eine Druckausgleichssteuerung, um einen gleichmäßigen Wasserfluss zu garantie-ren. Die Irrigation sollte, um den Erfolg zu garantieren, auf ärztliche Anordnung und nur nach Unterweisung durch qua-lifiziertes Fachpersonal vom Patienten durchgeführt werden. Wichtig ist hierbei, dass die Einstellung auf die anale Irriga-tion einige Tage in Anspruch nehmen kann, da der Darm zunächst an das Ver-fahren gewöhnt werden muss. Ein wei-terer Vorteil des Verfahrens besteht in der nebenwirkungsfreien Anwendung, da nur Leitungswasser ohne pharmazeutisch-chemische Zusätze verwendet wird.

Bei der transanalen Irrigation – nicht zu verwechseln mit einem Hebe-Senk-Einlauf – wird über einen Rektalkatheter eine für den Betroffenen individuell fest-gelegte Wassermenge in den Darm einge-bracht, die circa fünf Minuten im Darm wirken muss. Durch die Volumenzufuhr kommt es zur Dehnung und Auslösung von Entleerungsreflexen, wodurch es zu einer vollständigen Stuhlentleerung kommt. Während der Hebe-Senk-Einlauf nur in Linksseitenlage durchgeführt wer-den darf, wird die transanale Irrigation sitzend auf der Toilette durchgeführt.

Beim Einlauf wird der Darm durch das Heben und Senken ausgewaschen. Bei der Irrigation hingegen muss das Wasser im Darm wirken, um Entleerungsreflexe zu aktivieren. In der Konsequenz führt die Irrigation zu einer vollständigen Stuhl-entleerung, die bei konsequenter Anwen-dung eine Entleerung bis zum Colon-transversum sicher stellt.

Die anale Irrigation wird eingesetzt bei Darmentleerungsstörungen, Störungen der Transportfunktion, Stuhlinkontinenz, Obstipation in Folge einer Entleerungs- und Transportstörung und langen Ent-leerungszeiten, die 60 Minuten über-schreiten.

Als Kontraindikationen gelten chro-nisch entzündliche Darmerkrankungen, Veränderungen des Rektums oder des Kolons, die nicht komplikationslos pas-siert werden können und ein fortgeschrit-tenes Hämorrhoidalleiden. Bei Schwan-gerschaft oder einem vorhandenen Darm-stimulator verbietet sich das Verfahren ebenfalls. Nach vorausgegangenen Darm-operationen ist der Einsatz der analen Irrigation bedingt möglich und darf nur nach Rücksprache mit dem Operateur durchgeführt werden. Nach Expertenmei-nung sollte die Operation mindestens sechs Monate zurück liegen. Weiterhin darf der Darm im Vorfeld nicht bestrahlt wurden sein. Mit der analen Irrigation kann bei konsequenter Anwendung eine Stuhlinkontinenz vermieden, die Obsti-pation beseitigt und verlängerte Toilet-tenzeiten auf ein sozial akzeptables Maß reduziert werden. Der Betroffene erfährt einen immensen Gewinn an Lebensqua-lität.

Anika Kaiser

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