christina holtz-bacha (hrsg.) die massenmedien im wahlkampf · wahlkampf zu einem thema und in der...

30
Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf

Upload: others

Post on 27-Jun-2020

3 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

Christina Holtz-Bacha (Hrsg.)

Die Massenmedien im Wahlkampf

Page 2: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

Christina Holtz-Bacha (Hrsg.)

Die Massenmedien im WahlkampfDas Wahljahr 2009

Page 3: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

1. Auflage 2010

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010

Lektorat: Barbara Emig-Roller

VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media.www.vs-verlag.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes istohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbeson derefür Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei-cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesemWerk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solcheNamen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachtenwären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergSatz: Jacob Leidenberger, ParisGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany

ISBN 978-3-531-17414-3

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Page 4: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

Inhalt Christina Holtz-Bacha Wahljahr 2009 – Professionalisierung verzögert? ...................................... 7 Christina Holtz-Bacha & Jacob Leidenberger Europawahl 2009: Wahlkampf im Schatten der Bundestagswahl oder doch eine europäische Kampagne ? ................................................. 22 Harald Schoen Kampagnenrezeption und Beteiligung an der Europawahl 2009. Eine Analyse auf der Basis einer Onlinebefragung ................................. 42 Eva-Maria Lessinger & Christina Holtz-Bacha "Wir haben mehr zu bieten". Die Plakatkampagnen zu Europa- und Bundestagswahl ..................................................................... 67 Melanie Leidecker Angreifende Plakatwerbung im Wahlkampf – effektiv oder riskant? Ein Experiment aus Anlass der SPD-Europawahlplakate 2009 ......... 117 Christina Holtz-Bacha & Eva-Maria Lessinger Auge in Auge mit Kandidatinnen und Kandidaten. Emotionale Reaktionen auf Politikerplakate .......................................... 140 Christina Holtz-Bacha Politik häppchenweise. Die Fernsehwahlwerbung der Parteien zur Europa- und Bundestagswahl ............................................................ 166

Page 5: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

6 Inhalt

Eva Schweitzer Normalisierung 2.0. Die Online-Wahlkämpfe deutscher Parteien zu den Bundestagswahlen 2002-2009 ...................................................... 189 Reimar Zeh Wie viele Fans hat Angela Merkel? Wahlkampf in Social Network Sites ........................................................ 245 Jörg-Uwe Nieland "Unterhaltend, nicht repräsentativ" – die Bundestagswahl 2009 als Politshow auf Pro7 ............................................................................... 258 Christoph Tapper & Thorsten Quandt "Ich beantworte die Fragen so, wie ich mir das vorgenommen habe...". Eine dialoganalytische Untersuchung der Fernseh-Duelle im Wahlkampf 2009 ................................................................................... 283 Winfried Schulz & Reimar Zeh Die Protagonisten in der Fernseharena. Merkel und Steinmeier in der Berichterstattung über den Wahlkampf 2009 ............................. 313 Jürgen Wilke & Melanie Leidecker Ein Wahlkampf, der keiner war? Die Presseberichterstattung zur Bundestagswahl 2009 im Langzeitvergleich .................................... 339 Autorinnen und Autoren ........................................................................... 373

Page 6: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

Wahljahr 2009 – Professionalisierung verzögert? Christina Holtz-Bacha Wo bitte geht's hier zum Wahlkampf? Diese Frage steckte in den vielen Klagen über die Langeweile des Bundestagswahlkampfes 2009. Vor einer Europawahl sind die Erwartungen an das Engagement der Parteien ohnehin nicht allzu groß, aber vor einer Bundestagswahl soll dann doch etwas los sein. Von "Kuschel-Kampagne" war die Rede (Reißmann, 2009), von Wahl-kampf im "Stand-by-Modus" (Wittrock, 2009). Sogar die ausländische Pres-se nannte die Kampagne "zutiefst uninspiriert" (zitiert in: Wergin, 2009), "schläfrig", "langweilig" und die Kanzlerkandidaten "harmoniesüchtig" und "hölzern" (alle zitiert in: Friedrichs, 2009), schließlich auf die Spitze gebracht mit: "Yes, we gähn!" (So zerreißen..., 2009; Yes, we gähn!, 2009).

Dass schließlich die Tigerente – ein possierliches Holztier mit Rollen, das andere Janosch-Tiere am Faden hinter sich her ziehen – im Bundestags-wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol eines Wahlkampfes sein, von dem offenbar viele den Eindruck hatten, dass er kaum einer war. Kein Parteitag mit Krönungsmesse. Kein Kanzlerkandidat, der öffentlich die Liebe zu seiner Frau beschwor. Das Fernsehduell eher ein Duett. Harmonie statt "Ich oder der". Was wir von Europawahlkampagnen schon kennen, dass nämlich eine unauffällige Vorstellung von Seiten der politischen Akteu-re bei den Medien nur wenig Resonanz zu erzielen vermag, zeigte sich nun auch beim Bundestagswahlkampf. In den Medien spiegelte sich die Unzu-friedenheit mit einem Wahlkampf, dem die notwendigen Spannungsmo-mente fehlten. In der Qualitätspresse gab es 2009 nur halb so viele Beiträge zu den Kanzlerkandidaten wie 2002 und 2005 (vgl. Wilke & Leidecker, in diesem Band), und in den Fernsehnachrichten hatten Beiträge mit Bezug zur Bundestagswahl einen so geringen Anteil an der Berichterstattung über deutsche Politik wie seit 1990 nicht mehr (vgl. Schulz & Zeh, in diesem Band). In einem solchen Umfeld greifen die Medien dankbar auf, was ein bisschen Farbe in die beklagte Langeweile zu bringen verspricht.

Page 7: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

8 Christina Holtz-Bacha

Hatte es in anderen Wahljahren Klagen über die allzu offensichtlichen Inszenierungen im Dienste des Stimmenfangs gegeben (vgl. Langenbucher, 1983), schien es, als fühlten sich Medien und Wählerschaft 2009 um einen anständigen Wahlkampf betrogen. Offenbar hat man sich nicht nur daran gewöhnt und betrachtet womöglich sogar mit einem gewissen Amüsement, dass im Wahlkampf alles nur Theater ist, sondern es wird geradezu erwartet, dass die Politikerinnen und Politiker auch etwas tun für die Wählerstimme: "Wer allzusehr über Langeweile klagt, muss sich fragen, ob er nicht in Wahrheit auf unterhaltsam-betrügerische Weise genasführt und belogen werden will." (Prantl, 2009).

Dabei waren die Erwartungen an das Wahljahr 2009 groß gewesen. 2008 hatte die Kampagne von Barack Obama im US-Präsidentschaftswahlkampf Furore gemacht. Hierzulande verfestigte sich der Eindruck, Obama hätte seinen Erfolg vor allem dem Einsatz der so genannten neuen Medien und insbesondere des Web 2.0 und der social networks zu verdanken. "In den USA wirkt das Web bereits wahlentscheidend", vermeldete Spiegel online, nur um dann sogleich enttäuscht festzustellen: "In Deutschland ist die Politik noch nicht so weit" (pat/dpa). Allenthalben hatte man sich mehr erhofft vom neuartigen Netzwahlkampf. Auf der Kommunikationsplattform politik-digital zog Gievert (2009) Bilanz zum Webwahlkampf und befand: "[…], so mitreißend oder innovativ wie Barack Obamas Kampagne war er nicht". In der FAZ kam Tomik (2009) zu einem ähnlichen Befund: "CDU, SPD, Grü-ne, FDP und Linkspartei tun es ihm [Obama] nun nach – wenn auch ge-mächlicher und in geringerem Umfang". Die Verdrossenheit der Beobachter über den Online-Wahlkampf in Deutschland spiegelt zum einen, dass die Obama-Kampagne, deren Einsatz von Internet und social networks und erst recht die Wirksamkeit des online geführten Wahlkampfes geradezu zu ei-nem Mythos geworden sind; zum anderen wird damit deutlich, dass sich die Überzeugung festgesetzt hat, die Art und Weise, wie in den USA Wahl-kampf betrieben wird, müsse ein Vorbild für andere Länder sein und sei auch ohne weiteres zu übertragen. Seit Jahrzehnten schon ist in Deutschland die Rede von einer 'Amerikanisierung' der Wahlkämpfe (vgl. Holtz-Bacha, 2000b, S. 103), und in jedem Wahljahr finden die deutschen Medien erneut Anlass für die Frage, ob und wie weit sich die Kampagnen dem Beispiel der USA annähern würden. Umso größer war die Enttäuschung, als das Wahl-jahr 2009 nicht hielt, was sich viele davon versprochen hatten, und die

Page 8: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

Wahljahr 2009 – Professionalisierung verzögert? 9

Wahlkämpfe(r) allen Trends, die man in den letzten Jahren erkannt zu ha-ben meinte, zu widersprechen schienen. Professionalisierung Amerikanisierung, Modernisierung, Professionalisierung – diese Schlagwör-ter beherrschten die Diskussion über die Entwicklung von Wahlkämpfen der letzten Jahre. Wenn es um die Organisation von Wahlkämpfen geht, hat sich insbesondere 'Amerikanisierung' als der Begriff hervorgetan, der ver-mutlich aufgrund seiner Assoziationskraft vor allem unter den Wahlkampf-beobachtern aus den Medien Popularität erlangt hat. Amerikanisierung ist geeignet, schnell Bilder zu wecken, die aus dem Fernsehen bekannt sind und US-Wahlkämpfe auszumachen scheinen: orchestrierte Kandidatenauftritte, durchgeplante Fernsehdebatten, Fähnchen schwenkende Parteitagsdelegier-te, Babys küssende Kandidaten, der Einsatz aller Familienmitglieder, mäch-tige Kampagnenberater.

Die Popularität des Begriffs, der die USA zum Maßstab auch für deut-sche Wahlkampagnen macht, scheint ungebrochen. Das ignoriert indessen die wissenschaftliche Analyse der Begrifflichkeit bzw. der Organisation von Wahlkämpfen, die zum einen gezeigt hat, dass die Diagnose 'Amerikanisie-rung' keineswegs neu ist, sondern seit Jahrzehnten mit jedem Wahlkampf lediglich aufs Neue belebt wird, und zum anderen, dass 'Amerikanisierung' einen Kaugummi-Begriff darstellt, der – wenn überhaupt – ungenügend definiert ist und für alles passend gemacht wird, was von einem Jahr zum anderen in einem Wahlkampf als neu empfunden wird. Viele Kriterien sind genannt worden, die vermeintlich für eine Angleichung deutscher Wahl-kämpfe an das US-amerikanische Vorbild stehen (vgl. Holtz-Bacha, 2000a, S. 43-44). Eine umfassende Definition und gar ein Instrument, mit dem sich Amerikanisierung, zumal in der Dynamik, die in dem Begriff enthalten ist, messen ließe, liegen jedenfalls nicht vor. Die wissenschaftliche Auseinander-setzung mit der Entwicklung von Wahlkämpfen – wie auch mit der Ent-wicklung von politischer Kommunikation unabhängig von Wahlen – ver-meidet daher mittlerweile den Begriff Amerikanisierung und spricht bevor-zugt von Professionalisierung. Allerdings gilt auch dann, dass 'Professionali-sierung' oftmals als Schlagwort daherkommt und keine Definition erfährt,

Page 9: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

10 Christina Holtz-Bacha

bzw. dass die Versuche, 'Professionalisierung' zu definieren, bislang nicht zu einer befriedigenden und allgemein akzeptierten Definition geführt haben.

Es ist nicht klar, wann in der Kampagnenforschung erstmals von Profes-sionalisierung die Rede war. Es liegt nahe, dass der Begriff in diesem Zu-sammenhang mit der zunehmenden Prominenz politischer Berater und der Untersuchung ihrer Rolle in Wahlkämpfen aufkam. Spätestens mit dem Buch "The selling of the president" des Journalisten Joe McGinnis (1969), das die Nixon-Kampagne von 1968 zum Gegenstand hat und im Anhang Notizen verschiedener Kampagnenmanager zu den Werbestrategien doku-mentiert, zeigt sich in den USA, dass Wahlkampf zunehmend geschäftsmä-ßig betrieben wird. Ebenfalls auf den Wahlkampf 1968 bezieht sich Kam-pagnenberater Joe Napolitan (1972) in "The election game and how to win it" und vermittelt einen Blick hinter die Kulissen der Beratungsbranche. Er ist auch Initiator der American Association of Political Consultants, deren Gründung 1969 für die Etablierung eines neuen Berufszweiges steht, der den 'Verkauf' von Politik zum Geschäft macht. Wenn dann Larry Sabato in seinem Buch 1981 von "The rise of political consultants" spricht, hat sich der Gedanke durchgesetzt, dass das Kampagnenmanagement einen Profes-sionalisierungsprozess erlebt.

Der Begriff 'Professionalisierung' verbreitete sich mit den Analysen des "modern publicity process" (Blumler, 1990) und der damit verbundenen Überzeugung, dass ein am amerikanischen Vorbild orientiertes Wahl-kampfmanagement weltweit Verbreitung finden (Gurevitch & Blumler, 1990, S. 311) und so die Amerikanisierung vollzogen würde. Die Unzufrie-denheit angesichts der heterogenen und unzureichenden Definitionen von Amerikanisierung und nicht zuletzt die Erkenntnis, dass der Begriff die Veränderungen der politischen Kommunikation unzutreffend fasste, startete die Suche nach einer besseren Bezeichnung und führte dazu, dass anstatt von Amerikanisierung nun oftmals von 'Modernisierung' und 'Professionali-sierung' die Rede war (z. B. Holtz-Bacha, 2000a; 2004; Mancini & Swanson, 1996; Schulz, 1998).

Ursprünglich stammt der Begriff Professionalisierung aus der Arbeitsso-ziologie und beschreibt, wie sich aus Tätigkeiten Professionen entwickeln. Nach Wilensky (1964) vollzieht sich dieser Prozess in mehreren Phasen, von der Entwicklung zur Vollzeittätigkeit über die Akademisierung, die Grün-dung von Berufsorganisationen, die Regelung der Berufszulassung bis zur Formulierung von professionellen Standards und deren Niederlegung in

Page 10: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

Wahljahr 2009 – Professionalisierung verzögert? 11

einem Ethikcode. Als wesentliche Merkmale von Professionen hebt Wilensky die Bedeutung eines spezifischen Fachwissens und das Dienstleis-tungsideal hervor. Zu den klassischen Professionen gehören Ärzte, Anwälte und das Militär. Als der Begriff in der Analyse moderner Wahlkämpfe auf-tauchte, blieb von dem soziologischen Konzept nicht viel übrig. Stattdessen diente 'Professionalisierung' oftmals der Beschreibung US-amerikanischer Wahlkämpfe, wo die Consultants längst die Regie von Kampagnen übernom-men hatten, und machte diese damit zu einem Modell für die Wahlkampffüh-rung in anderen Ländern. Als Margaret Scammell (1997) Mitte der neunziger Jahre die soziologischen Professionalisierungskriterien (kontrollierter Be-rufszugang, Standesethik; spezialisiertes Wissen, eine bestimmte Ausbildung mit entsprechendem Zertifikat; Vollzeitberuf; formale Organisation) auf Kampagnenberater in den USA anwandte, musste sie allerdings feststellen, dass es mit deren Professionalisierung nicht weit her war. Sie fand nur einige Anzeichen für Professionalisierung wie die Herausbildung einer gemeinsa-men Identität, Fachwissen, die Entwicklung einer spezifischen Ausbildung und die Niederlegung eines Ethikcodes, folgerte aber, dass die Kampagnen-berater ihre Tätigkeit eher als Kunst, denn als Wissenschaft verstünden und diese auf "folk wisdom" beruhte. Jedenfalls sah Scammell keinen Grund dafür, Professionalisierung als ein Kennzeichen moderner Wahlkampagnen nach dem Vorbild der USA und diese als Modell für professionalisiertes Wahlkampfmanagement zu betrachten.

Rund 15 Jahre später kommt Grossmann nach einer Befragung von Kampagnenberatern in den USA zu dem Schluss, dass sie "closely match the self-image of an ideal-typical professional community" (2009, S. 100). Die Berater entwickeln ihre Kampagnenstrategien aufgrund von spezifi-schem Wissen, das Erfahrungen aus dem Marketing und politischen Strate-gien verbindet. Sie vertreten ein Dienstleistungsideal und sie streben be-wusst nach einer Professionalisierung ihres Berufs. Dennoch, so gesteht auch Grossmann ein, fehlen den Kampagnenberatern manche Merkmale, die eine Profession ausmachen, und er bezweifelt, dass sich daran etwas ändern wird.

Das soziologische Professionalisierungskonzept, auf das Scammell und Grossmann ihre Untersuchungen stützten, führt mehrere Kriterien ein, die erfüllt sein müssen, um von professionellem Handeln sprechen zu können. Häufiger noch ist Professionalisierung im Zusammenhang mit Wahlkämp-fen jedoch geradezu schlagwortartig in einem einfachen, eindimensionalen

Page 11: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

12 Christina Holtz-Bacha

Sinne gebraucht worden und bezeichnete dann lediglich den Trend, die Organisation von Wahlkämpfen in die Hände von externen Beratern zu legen. Diese Sichtweise setzt Professionalisierung wiederum mit der ver-meintlichen Anpassung von Wahlkämpfen an das US-Modell gleich und behandelt Professionalisierung als Synonym für Amerikanisierung. Eine solche Herangehensweise macht Professionalisierung von Wahlkämpfen jedoch allein an dem Einsatz von Beratern aus der PR- und Werbebranche fest und setzt damit voraus, dass diese auch adäquate, den Anforderungen an einen modernen Wahlkampf entsprechende Instrumente mitbringen. Die Fokussierung auf die Kampagnenberater hat den Vorteil, dass sich auf sie das soziologische Professionalisierungskonzept anwenden lässt, verengt aber die Analyse von Veränderungen in der politischen Kommunikation auf den Einsatz gerade derjenigen, die nicht aus der Politik kommen, und blendet die "Hauptdarsteller" (Radunski, 1981, S. 31), das heißt die Politikerinnen und Politiker, aus.

Erst neuerdings haben Gibson und Römmele (2009) ein elaboriertes und über die Fixierung auf die Berater hinausgehendes Instrument entwickelt, das es erlauben soll, die Professionalisierung von Wahlkampagnen zu mes-sen und Unterschiede zwischen den Parteien zu erklären. Die Skala basiert auf ihrer parteizentrierten Theorie professioneller Wahlkampfführung (Gib-son & Römmele, 2001), die Professionalisierung auf Veränderungen in den Parteien zurückführt und dann auch bei den Parteien ansetzt. Den Über-gang zu professioneller Kampagnenführung erwarten sie entsprechend zu-erst bei Parteien, die finanziell gut ausgestattet sind, auf die breite Wähler-schaft zielen, eher im rechten Parteienspektrum anzufinden sind, über eine zentralisierte innere Machtstruktur verfügen und vor einiger Zeit eine schwere Wahlniederlage erlitten und/oder aus der Regierung ausgeschieden sind (Gibson & Römmele, 2001, S. 37). Zwar definieren sie Professionalisie-rung nicht, machen diese aber fest am Einsatz bestimmter moderner Strate-gien und Instrumente. Ihr 30 Punkte umfassender CAMPROF-Index beruht auf zwölf beobachtbaren Kampagnenpraktiken und kombiniert objektiv messbare und subjektiv festzustellende Variablen (Gibson & Römmele, 2009). Zu der ersten Gruppe gehören der Einsatz von Telemarketing, Di-rektwerbung und Email-Newsletters, die Einrichtung eines internen Kom-munikationssystems (Intranet), der Aufbau einer externen Kampagnenzen-trale sowie ein kontinuierlicher Wahlkampf, letzteres daran gemessen, ob eine Partei "was deploying the full range of professionalized campaign

Page 12: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

Wahljahr 2009 – Professionalisierung verzögert? 13

activities at a point in time well outside the official or 'hot' campaign period" (Gibson & Römmele, 2009, S. 271). Die subjektiv festzustellenden Variablen umfassen den Einsatz von PR- und Medienberatern, den Einsatz von elekt-ronischen Datenbanken, Meinungsumfragen und Gegnerbeobachtung. Zehn dieser Kriterien gingen in eine Analyse der Bundestagswahlkampag-nen 2005 von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen ein, für die die Informationen vorrangig durch Telefoninterviews mit den Kampag-nenmanagern der Parteien eingeholt wurden. Gemessen an den Kriterien des Indexes erwies sich die damalige SPD-Kampagne als die am stärksten professionalisierte, dicht gefolgt von der Union auf Rang zwei und schließ-lich der FDP an dritter Stelle, während die Kampagne der Grünen als die am wenigsten professionalisierte erschien (Gibson & Römmele, 2009, S. 284-295).

Für eine Untersuchung der schwedischen Parlamentswahl im Jahr 2006 entwickelte Jesper Strömbäck (2009) eine weiter differenzierte Version des CAMPROF-Indexes, für die er einige Operationalisierungen modifizierte, um sie den schwedischen Gegebenheiten anzupassen, und unter den Profes-sionalisierungsvariablen den Einsatz von Fokusgruppen sowie gewisserma-ßen als Gegenstück zur Gegnerbeobachtung die Analyse der eigenen Partei bzw. Kampagne anfügte. Seine Befunde unterstützen das Modell von Gib-son und Römmele.

So begrüßenswert der Versuch ist, Professionalisierung messbar zu ma-chen, und ohne auf die im Einzelnen nicht unproblematische Operatio-nalisierung einzugehen, kann dieser Zugang dennoch nur bedingt zu einem für politische Kommunikation passenden Konzept von Professionalisierung beitragen. Zum einen richtet sich der CAMPROF-Index lediglich auf Wahl-kampagnen und ist nicht anwendbar auf politische Kommunikation generell. Zwar nehmen Gibson und Römmele auch nichts anderes in Anspruch für ihren Ansatz, aber damit bleibt offen, ob und wie sich die Professionalisie-rung von politischer Kommunikation außerhalb von Wahlkämpfen, etwa in der Regierungskommunikation, vollzieht. In dieser Hinsicht erweist sich die Fixierung auf Parteien ebenfalls als hinderlich, weil sie nicht die einzigen Kommunikatoren sind, die in der politischen Kommunikation auftreten und potenziell einem Professionalisierungsprozess unterliegen. Auch bezogen auf Wahlkämpfe ist fraglich, ob der parteienzentrierte Index zum Einsatz in kandidatenzentrierten Kampagnen bzw. Wahlsystemen geeignet ist. Zum anderen, und das erkennt auch Strömbäck (2009, S. 113), ist der Index, ins-

Page 13: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

14 Christina Holtz-Bacha

besondere durch die Betonung der Online-Kommunikation, zeitgebunden, das heißt, er ist nicht geeignet, um Professionalisierung über Zeit zu verfol-gen: Der Bundestagswahlkampf 2005 mag professionalisiert gewesen sein – der Bundestagswahlkampf 1998 konnte es demnach nicht sein, weil die in den CAMPROF-Index eingehenden Instrumente teilweise noch gar nicht zur Verfügung standen. Für 2009 ist vermutlich eine Revision notwendig, um den Einsatz der social networks zu berücksichtigen. Die für den Index verwendeten Indikatoren erlauben insofern keinen Vergleich über Zeit und können daher den Prozesscharakter von Professionalisierung nicht abbilden. Professionalisierung in diesem Sinne, verstanden als intensiver Einsatz einer Vielzahl von Kampagneninstrumenten, weist eine starke Ressourcenabhän-gigkeit auf, die sich damit womöglich als entscheidende Variable herausstellt und für kleinere und daher meist weniger finanzkräftige Parteien bedeutet, dass ihnen das Erreichen eines befriedigenden Ausmaßes an Professionali-sierung kaum möglich ist.

Die genannten Professionalisierungskonzepte, die einerseits bei den ex-ternen Kampagnenberatern und andererseits bei den Parteien ansetzen, vernachlässigen die aus der Politik stammenden Akteure, das heißt zum einen die Kampagnen- bzw. Kommunikationsexperten innerhalb der Partei-en und andererseits die Kandidatinnen und Kandidaten bzw. die Politiker-innen und Politiker. Die Erfahrung auch der letzten Jahre zeigt, dass Wahl-kämpfe in Deutschland der Vielzahl externer Berater zum Trotz nach wie vor zu großen Teilen aus den Parteien heraus organisiert werden. Deren 'Professionalisierungsgrad' lässt sich noch weniger als derjenige der externen Berater anhand der Indikatoren des aus der Berufssoziologie stammenden Professionalisierungskonzeptes messen. Noch 1996 hat Radunski in seinem Plädoyer für die Amerikanisierung auch der deutschen Wahlkampagnen angemahnt, die personellen Stäbe der Parteien ebenfalls den Erfordernissen eines professionellen Kommunikationsmanagements anzupassen: "Dieser letzte Schritt der Amerikanisierung im personellen Bereich von Wahlkampf-kommunikation und Management steht in Deutschland noch bevor." (S. 52)

Ebenso problematisch ist es, die zentralen Akteure eines Wahlkampfes nicht zu berücksichtigen. Die viel diskutierte Personalisierung im Zusam-menhang mit Wahlkämpfen umfasst neben der entsprechenden Fokussie-rung der Medien sowie der Wählerschaft ebenso die Personenzentrierung der Kampagnen, wie sie zum Beispiel an den Werbematerialien der Parteien abzulesen ist. Die Konzentration der Wahlkampagnen auf die Spitzenkandi-

Page 14: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

Wahljahr 2009 – Professionalisierung verzögert? 15

daten, die diese " zugleich [zum] Hauptdarsteller und Regisseur seiner Kam-pagne" (Radunski, 1981, S. 31) macht, erfordert ebenfalls deren 'Professio-nalisierung', und zwar zuerst im Umgang mit den Medien: "Die Vielfalt und Unübersichtlichkeit des elektronischen Mediensystems hat nämlich längst dazu geführt, das man auch auf Seiten der Medien dankbar ist, wenn man professionell von seiten der Politikern[sic!] bedient wird, was ebenso Kosten wie Mühen und Energie sparen hilft." (Radunski, 1996, S. 51) Nicht um-sonst haben sich die Spitzenkandidaten für die Kampagnen längst auch persönliche Berater zugelegt, die sie beim Impression Management und zur Pflege ihres Markenwertes unterstützen.

Ein Konzept von Professionalisierung, das sich für Wahlkampagnen, erst recht aber für politische Kommunikation generell zur Anwendung bringen lässt, müsste also umfassender sein als die bisherigen Ansätze, und es müss-te der Dynamik gerecht werden, die dem Begriff Professionalisierung inhä-rent ist. Nur dann wäre auch gewährleistet, dass ein solches Konzept die Zeit überdauert und den Vergleich über (Wahl-)Kampagnen hinweg erlaubt. Das bedeutet das Lösen von dem Konzept, wie es aus der Arbeitssoziologie übernommen wurde, weil sich dieses nur für die externen Consultants anwenden lässt, hier aber ebenso an Grenzen stößt, wie sich das auch im Journalismus gezeigt hat und daher nach einer kurzen Blütezeit dort ebenfalls kein Thema mehr ist (vgl. z. B. Kepplinger & Vohl, 1979). Ebenso fehlt aber einem nur an Parteien orientierten Ansatz, wie ihn Gibson und Römmele (2001, 2009) vorge-legt haben, die allgemeine, über parteienzentrierte Systeme, technologischen Wandel und Wahlkampagnen hinausreichende Anwendbarkeit.

Die Lösung liegt daher wohl eher in einem Konzept von Professionali-sierung, das die bisherigen Ansätze, Professionalisierung fassbar zu machen, integriert und ergänzt. Die Entwicklung von Parteien und Parteiensystem wäre dann jedoch nur eine Erklärung für Professionalisierung der politi-schen Kommunikation, fügt sich in den größeren Zusammenhang des ge-sellschaftlichen Wandels, der als Modernisierung bezeichnet wird, und steht neben den Herausforderungen, wie sie sich aus dem technologischen Wan-del bzw. den Veränderungen des Mediensystems ergeben haben. Der Pro-zesscharakter von Professionalisierung liegt demzufolge in der bestmögli-chen Anpassung an solche, sich weiterhin wandelnden Bedingungen für die politische Kommunikation. Dieser Anpassungsprozess erfordert auf Seiten der politischen Akteure den Einsatz aller strategischen und technologischen Instrumente, um in der Informationsflut sowie in der Konkurrenz zu attrak-

Page 15: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

16 Christina Holtz-Bacha

tiveren (medialen) Angeboten zu bestehen und die in der Demokratie für politisches Handeln erforderliche Legitimation einzuholen. Es versteht sich von selbst, dass die Politik dafür 'professionelles' Know-how in Anspruch nimmt. Das ist jedoch keine ganz neue Entwicklung: Bereits für den Bun-destagswahlkampf 1949 ließ sich die SPD von der Partei nahestehenden Werbefachleuten unterstützen (vgl. Holtz-Bacha, 2000b, S. 91). Im Laufe der Zeit differenzierten sich die Aufgaben, und die Parteien engagierten mehrere und spezialisierte Berater und Agenturen, die ihnen bei Werbe- und Mediakampagne, Direktmarketing, Event- und Personality-Management sowie Meinungsforschung zur Seite stehen. 2009 arbeitete nun auch die FDP mit einem "Kampagnenverbund" aus zehn Agenturen und baute auf die "Idee der 'wisdom of crowds'" (FDP startet..., 2009). Zusammen mit den Wahlkampfspezialisten innerhalb der Parteien konzipieren sie die Kampag-ne im war room, eigens eingerichteten Strategiezentralen wie 1998 die Kampa der SPD, die Arena der CDU für den Wahlkampf 2002 oder 2009 die Nordkurve der SPD. Mit ihrem Erfahrungswissen, aus der Marketing- und Marktforschungsbranche die einen, aus früheren Parteikampagnen die ande-ren, und unter Heranziehung der dort bewährten Instrumente bemühen sie sich um solche Strategien, die dem längerfristigen gesellschaftlichen, politi-schen und medialen Wandel gerecht werden und der Situation des jeweiligen Wahlkampfes gemäß sind (vgl. auch Holtz-Bacha, 2000a; ebenso Negrine, 2008, S. 2-3). Wichtiger Faktor dieser Planung sind die jeweiligen Spitzen-kandidatinnen und -kandidaten, auf die die Kampagnen mehr oder weniger zugeschnitten sind. Solange nicht Marketingaspekte die Kandidatenkür be-stimmen und die Professionalisierung nicht zur Voraussetzung für die Aus-wahl von Topkandidatinnen und -kandidaten gemacht wird, sind diese ge-wissermaßen gesetzt, und die Kampagnenstrategen können nur versuchen, ihre Konzepte danach zu richten.

Dieser Prozess betrifft nicht nur Wahlkämpfe, wiewohl sich die Profes-sionalisierungsdiskussion bislang fast ausschließlich auf den Zusammenhang von Wahlen bezogen hat. Das ist insofern nicht überraschend, als es bei Wahlen um die Verteilung von Macht geht und politische Akteure daher ein besonderes Interesse an einer Kampagne nach allen Regeln der Kunst ha-ben. Die Herausforderungen gelten jedoch in gleicher Weise für politische Kommunikation, die nicht im Dienste des Wahlkampfes steht. Schließlich stehen Parteien, Regierungen, Parlamente und andere Institutionen in der Demokratie unter ständigem Druck der Kommunikation zum Zwecke der

Page 16: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

Wahljahr 2009 – Professionalisierung verzögert? 17

Legitimation ihrer Entscheidungen. Es sieht allerdings so aus, als verliefe die Professionalisierung der Wahlkampfkommunikation schneller als im tägli-chen Routinegeschäft der politischen Kommunikation. Wahlkampf 2009 Vor dem Hintergrund der wiederkehrenden Diagnose 'Professionalisierung' in Bezug auf Wahlkämpfe stellt sich die Frage, ob der Bundestagswahlkampf 2009, über den viele klagten, er sei langweilig oder gar keiner gewesen, die-ses Etikett verdient. Das bedeutet aber zugleich zu fragen, ob Professionali-sierung einen andauernden und kontinuierlichen Prozess darstellt, oder ob es sich um einen diskontinuierlichen Prozess handelt, bei dem eben nicht von Wahljahr zu Wahljahr Steigerungen zu verzeichnen sind.

Die Enttäuschung darüber, dass sich die deutschen Wahlkämpfer so we-nig von der Obama-Kampagne abgeguckt hatten, ließe sich als ein Hinweis darauf verstehen, dass der Bundestagswahlkampf 2009 einen Professionali-sierungsschritt verpasst hat. Zwar findet Wahlkampf in Deutschland längst auch online statt, und 2009 brachten Parteien und Kandidaten außerdem die social networks zum Einsatz, die Analysen (vgl. Schweitzer sowie Zeh, in die-sem Band) zeigen aber, dass die Online-Kampagnen ihr volles Potenzial nicht ausschöpfen. Hier gilt stattdessen, was wir auch aus anderen Wahl-kämpfen und bezüglich anderer Kampagneninnovationen schon kennen: Dabei sein, darüber reden und (sich) als modern verkaufen, lautet die Strate-gie. Die Kampagnenorganisationen in den USA setzen die computervermit-telte Kommunikation vorrangig für Email ein, um Fundraising zu betreiben sowie um freiwillige Helferinnen und Helfer zu mobilisieren. In deutschen Wahlkämpfen ist das bislang weniger wichtig, daher ist durchaus verständ-lich, dass die Parteien in diesen Bereichen nicht viel investieren. Der erfolg-reiche Einsatz in den USA und zuletzt speziell in der Obama-Kampagne hat den Online-Wahlkampf geradezu zu einem Mythos werden, zugleich aber vergessen lassen, dass die klassischen Kampagnenkanäle damit keinesfalls ihre Bedeutung verlieren. Wenn also in deutschen Wahlkampagnen Zurück-haltung auszumachen ist, könnte das gerade auf der Erkenntnis beruhen, dass die deutsche Wählerschaft (noch) nicht so gut online zu anzusprechen ist bzw. sich der Online-Wahlkampf für solche Funktionen besonders eig-

Page 17: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

18 Christina Holtz-Bacha

net, die in Deutschland weniger wichtig sind als in den USA. Als verzögerte Professionalisierung ließe sich das allerdings nicht bezeichnen.

Damit richtet sich der Blick wiederum auf die Organisation der Kam-pagne und den Einsatz der herkömmlichen Kampagneninstrumente. Was 2005 nicht gefiel und gegenüber den Wahlkämpfen von 2002 und erst recht 1998 als wenig gekonnt erschienen war, hatte sich auf den unerwartet vor-gezogenen Wahltermin und die kurze Kampagne zurückführen lassen. Es fehlte schlicht die Zeit für ein ausgeklügeltes Wahlkampfkonzept. Insbeson-dere in der Union hatte es nach der Wahl 2005 und angesichts des Wahler-gebnisses Kritik an der Kampagne gegeben, die sich speziell auch auf Ange-la Merkel richtete. Ihr Beispiel unterstreicht dann auch, wie wichtig die Pro-fessionalisierung der Spitzenkandidaten für die Kampagne ist. 2005, in ih-rem ersten Bundestagswahlkampf als Kanzlerkandidatin, musste Merkel gegen den medienversierten Gerhard Schröder antreten. Mittlerweile haben die Profis aus PR und Journalismus Merkel ebenfalls zur 'Medienkanzlerin' befördert (vgl. z. B. Küchen, 2006; Schwennicke, 2008). Geschickt bediente sie im Wahlkampf 2009 die Medienlogik, spielte in der Wahlwerbung mit Emotionen (vgl. Holtz-Bacha, Politik…, in diesem Band), gab nun auch Privates preis (Wittrock, 2009), und beharrte in Interviews ebenso wie im Fernsehduell auf ihrer eigenen Linie (vgl. auch Tapper & Quandt, in diesem Band).

Das Wahljahr 2009 hat gezeigt, wie stark die kurzfristigen, situationsge-bundenen Faktoren den Wahlkampf beeinflussen, und dafür sorgen, dass jeder Wahlkampf anders ausfällt und die Professionalität der Kampagne eines Jahres nicht unbedingt geeignet ist, daraus Prognosen für die nächste Kampagne abzuleiten. Der Europawahlkampf folgt ohnehin eigenen Geset-zen und droht in einem Jahr, in dem nur wenige Wochen später eine Bun-destagswahl ansteht, erst recht in deren Schatten zu geraten, entweder in-dem er zum Übungsfeld für die Bundestagswahlkampagne wird oder die Parteien sich ihre Mittel für diejenige Wahl sparen, bei der sie wirklich etwas zu gewinnen haben. Die Medien, so kann man aus der Dauerklage über die Langeweile der Kampagne und die schwache Präsenz des Wahlkampfes in Presse und Fernsehnachrichten nur folgern, machen sich mit ihrer Bericht-erstattung auch bei einer Bundestagswahl abhängig davon, ob ihnen die Politik eine gute Show bietet. Die Bundestagswahlkampagne konnte indes-sen schwerlich so spannend ausfallen, wie es sich offenbar mancher ge-wünscht hatte. Die wichtigsten Player kamen aus einer großen Koalition

Page 18: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

Wahljahr 2009 – Professionalisierung verzögert? 19

und konnten sich kaum über die Aktivitäten der letzten vier Jahre angreifen und ebenso wenig im Kontrast dazu Versprechungen für die nächsten vier Jahre machen. Es fehlte die inhaltliche Polarisierung, die vor allem die 'gro-ßen' Parteien brauchen, um sich gegenüber der Wählerschaft als Alternati-ven zu präsentieren, und es fehlte ebenso die personelle Polarisierung, die bei kaum noch wahrgenommenen Differenzen in den Positionen wenigstens über die Kandidaten eine Unterscheidung hätte herbeiführen können; der populären Kanzlerin konnte der Vizekanzler nicht viel anhaben. Obendrein war den Parteien im Wahljahr 2009 die sonst strategisch betriebene The-mensetzung aus der Hand genommen, weil die schwelende Finanzkrise das wichtigste Thema bereits gesetzt hatte. Kein Wunder, wenn dann der Wahl-kampf allgemein als mau empfunden wurde, und den Medien das schwarz-gelb gestreifte Spielzeug nur allzu gelegen kam, um ihm etwas Farbe einzu-hauchen. Literatur Blumler, J. G. (1990). Elections, the media and the modern publicity process. In M. Ferguson

(Hrsg.), Public communication. The new imperatives. Future directions for media research (S. 101-113). London: Sage.

FDP startet mit Kampagnenverbund in die Bundestagswahl 2009. Portal Liberal. Abgerufen am 1. September 2009 von http://www.liberale.de/FDP-startet-mit-Kampagnen-verbund-in-die-Bundestagswahl-2009/2779c3751i1p42/index.html

Friedrichs, H. (2009, 23. September). Zeit online. Abgerufen am 26. September 2009 von http://www.zeit.de/politik/deutschland/2009-09/wahlkampf-presseschau?page=all

Gibson, R. K., & Römmele, A. (2001). A party-centered theory of professionalized cam-paigning. The Harvard Journal of Press/Politics, 6(4), 31-43.

Gibson, R. K., & Römmele, A. (2009). Measuring the professionalization of political cam-paigning. Party Politics, 15, 265-293.

Gievert, S. (2009). "Und alle so Yeaahh" – Die Webwahlkampfbilanz. politik-digital. Abgeru-fen am 1. Oktober 2009 von http://www.politik-digital.de/bundestagswahl-online-wahlkampf-bilanz-2009

Grossmann, M. (2009). Going Pro? Political campaign consulting and the professional model. Journal of Political Marketing, 8, 81-104.

Gurevitch, M., & Blumler, J. G. (1990) Comparative research: The extending frontier. In D. L. Swanson & D. Nimmo (Hrsg.), New directions in political communication. A resource book (S. 305-325). Newbury Park, CA: Sage.

Page 19: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

20 Christina Holtz-Bacha

Holtz-Bacha, C. (2000a). Wahlkampf in Deutschland. Ein Fall bedingter Amerikanisierung. In K. Kamps (Hrsg.), Trans-Atlantik – Trans-Portabel? Die Amerikanisierungsthese in der poli-tischen Kommunikation (pp. 43-55). Opladen: Westdeutscher Verlag.

Holtz-Bacha, C. (2000b). Wahlwerbung als politische Kultur. Parteienspots im Fernsehen 1957-1998. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Holtz-Bacha, C. (2004). Political campaign communication: Conditional convergence of modern media elections. In F. Esser & B. Pfetsch (Hrsg.), Comparing political communica-tion. Theories, cases, and challenges (S. 213-230). Cambridge: Cambridge University Press.

Kepplinger, H. M., & Vohl, I. (1979). Mit beschränkter Haftung. Zum Verantwortungsbewußtsein von Fernsehredakteuren. In H. M. Kepplinger (Hrsg.), Angepaßte Außenseiter. Was Journalisten denken und wie sie arbeiten (S. 223-259). Freiburg: Karl Alber.

Küchen, M. (2006, 2. September). Der spielerische Wandel zur Medienkanzlerin. Hamburger Abendblatt. Abgerufen am 25. September 2006 von http://www.abendblatt.de/politik/ deutschland/article816433/Der-spielerische-Wandel-zur-Medienkanzlerin.html

Langenbucher, W. R. (1983). Wahlkampf – ein ungeliebtes, notwendiges Übel? In W. Schulz & K. Schönbach (Hrsg.), Massenmedien und Wahlen (S. 114-128). München: Ölschläger.

Mancini, P., & Swanson, D. L. (1996). Politics, media, and modern democracy: Introduction. In D. L. Swanson & P. Mancini (Hrsg.), Politics, media, and modern democracy. An interna-tional study of innovations in electoral campaigning and their consequences (S. 1-26). Westport, CT: Praeger.

McGinnis, J. (1969). The selling of the president. New York: Simon & Schuster. Napolitan, J. (1972). The election game and how to win it. Garden City, NY: Doubleday. Negrine, R. (2008). The transformation of political communication. Continuities and changes in media and

politics. Houndmills: Palgrave Macmillan. pat/dpa. (2009). Web-Wahlkampf würde auch in Deutschland wirken. spiegel.online. Abgerufen

am 25. Mai 2009 von http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,626063,00.html Prantl, H. (2009, 26. August). Lob der Langeweile. sueddeutsche.de. Abgerufen am 26. Septem-

ber 2009 von http://www.sueddeutsche.de/politik/975/485402/text/7/ Radunski, P. (1996). Politisches Kommunikationsmanagement. Die Amerikanisierung der

Wahlkämpfe. In Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Politik überzeugend vermitteln. Wahl-kampfstrategien in Deutschland und den USA. Analysen und Bewertungen von Politi-kern, Journalisten und Experten (S. 33-52). Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung.

Radunski, P. (1981). Wahlkampfstrategien '80 in den USA und der Bundesrepublik. Personali-sierung – Angriffswahlkampf – Dramatisierung. Aus Politik und Zeitgeschichte, (B18), 31-46.

Reißmann, O. (2009, 11. August). Blöde-Bilder überstrahlen Kuschel-Kampagne. Spiegel online. Abgerufen am 12. August 2009 von http://www.spiegel.de/politik/deutsch-land/0,1518,641831,00.html

Sabato, L. (1981). The rise of political consultants. New ways of winning elections. New York: Basic Books.

Page 20: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

Wahljahr 2009 – Professionalisierung verzögert? 21

Scammell, M. (1997). The wisdom of the war room: U.S. campaigning and Americanization. Cam-bridge, MA: The Joan Shorenstein Center on the Press, Politics and Public Policy, John F. Kennedy School of Government, Harvard University.

Schulz, W. (1998). Wahlkampf unter Vielkanalbedingungen. Kampagnenmanagement, In-formationsnutzung und Wählerverhalten. Media Perspektiven, 378-391.

Schwennicke, C. (2008, 16. Juni). "Det is keen Bild hier". Spiegel online. Abgerufen am 1. Sep-tember 2008 von http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,560128,00.html

So zerreißen Experten das Merkel-Steinmeier-Duell. (2009, 14. September). bild.de. http://www.bild.de/BILD/politik/2009/09/14/kanzler-duell/vernichtende-kritik-am-tv-duell-zwischen-steinmeier-und-merkel.html

Strömbäck, J. (2009). Selective professionalisation of political campaining: A test of the party-centered theory of professionalised campaigning in the context of the 2006 Swedish election. Political Studies, 57, 95-116.

Tomik, S. (2009, 8. August). Die Parteien werfen ihre Netze aus. Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 4.

Wergin, C. (2009, 25. September). "Mutti" Merkel, "Steinmailleur" und die Langeweile. Welt online. http://www.welt.de/politik/bundestagswahl/article4627102/Mutti-Merkel-Steinmailleur-und-die-Langeweile.html

Wilensky, H. L. (1964). The professionalization of everyone? American Journal of Sociology, 70(2), 137-158.

Wittrock, P. (2009, 20. August). Warum Merkel nachmittags Möhrchen isst. spiegel online. Abgerufen am 21. August 2009 von http://www.spiegel.de/politik/deutschland/ 0,1518,644039,00.html

"Yes we gähn". (2009, 14. September). Spiegel online. Abgerufen am 16. August 2009 von http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,648742,00.html

"Yes, we gähn!" (2009, 14. September). taz.de. Abgerufen am 16. August 2009 von http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/yes-we-gaehn/

Page 21: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

Europawahl 2009: Wahlkampf im Schatten der Bundestagswahl oder doch eine europäische Kampagne? Christina Holtz-Bacha & Jacob Leidenberger Als 1979 das Europäische Parlament zum ersten Mal direkt gewählt wurde, verband sich damit eine gewisse Euphorie: Europa würde für seine Bürge-rinnen und Bürger greifbarer, und die Wahl könnte so zu einer stärkeren Integration der seinerzeit neun Mitgliedstaaten beitragen. Obwohl das Par-lament im Vergleich zu Kommission und Ministerrat damals noch eine eher schwache Rolle im europäischen Entscheidungsprozess spielte, wurde es mit der Wahl zum ersten und bis heute einzigen Organ der Gemeinschaft, das eine echte demokratische Legitimation aufweist. Das Parlament konnte so nicht nur auf eine Steigerung seiner Bekanntheit, sondern zumindest auch auf eine symbolische Aufwertung hoffen. Seit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments gilt aber auch die Klage, der Europawahlkampf sei wenig europäisch, sondern vielmehr national geprägt. Das ist ein Grund, warum sich die Hoffnung nicht erfüllt hat, dass die in allen EU-Mitgliedstaaten gleichzeitig abgehaltene Wahl des Europäischen Parlaments dem Zusammengehörigkeitsgefühl einen Schub geben würde.

Das Reglement für die Europawahlen trägt dazu bei, dass es das Europä-ische an der Wahl so schwer hat. Auf ein einheitliches Verfahren für die Wahl haben sich die Mitgliedstaaten nicht einigen können. Es gibt lediglich einige gemeinsame Bestimmungen, dazu gehört die Festlegung auf eine Verhältniswahl. Ansonsten folgt jedes Land einem eigenen Wahlsystem. Es sind keine europäischen Parteien, die um Stimmen werben, sondern auf dem Wahlzettel stehen die von nationalen Urnengängen vertrauten Partei-namen. Ebenso entstammen die Kandidatinnen und Kandidaten der natio-nalen Politikerriege, internationale europäische Bewerber gibt es nicht. So stellt sich schließlich alle fünf Jahre die Frage, ob wenigstens die Themen des Wahlkampfes europäisch sind oder ob doch die nationale Agenda die Kampagne bestimmt.

Nicht zuletzt, weil die Europawahl in Deutschland neben der Bundes-tagswahl die einzige andere nationale Wahl ist, wird ihr gerne der Charakter

Page 22: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

Europawahl 2009: Wahlkampf im Schatten der Bundestagswahl? 23

eines Stimmungstests zugeschrieben. Das gilt erst recht in einem Jahr wie 2009, in dem die Europawahl nur 16 Wochen vor der Bundestagswahl statt-fand. Liegt das Wahlergebnis vor, verweisen dann meist nur noch die Partei-en, die gut abgeschnitten haben, auf den Testcharakter, während die anderen hervorheben, dass die Europawahl nicht zuletzt wegen der üblicherweise erheblich niedrigeren Wahlbeteiligung kaum geeignet sei, um die Stärke der Parteien etwa bei der nächsten Bundestagswahl vorherzusagen. Damit kön-nen sie sich allerdings gegenüber einer entsprechenden Kommentierung in den Medien nur schwer durchsetzen, so dass die Wahlverlierer die Zeichen fürchten müssen, die in das Ergebnis der Europawahl hineininterpretiert werden.

Die Vertreter der Unionsparteien, wie CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla und der hessische Ministerpräsident Roland Koch, werteten das Wahlergebnis 2009 dann auch als ein deutliches Signal für die anstehende Bundestagswahl; schließlich gingen CDU und CSU mit annähernd 38 Pro-zent als stärkste Kraft aus der Europawahl hervor und inszenierten sich trotz ihres Verlustes von 6,6 Prozent der Wählerstimmen im Vergleich zur 2004 als Wahlsieger ("Das hätte ich...", 2009; Kanzlerin Merkel…, 2009). Der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering hingegen trat gleich nach Ver-kündung der offiziellen Wahlergebnisse vor die Mikrofone und betonte, dass die Europawahl eben nicht als Testwahl missinterpretiert werden dürf-te, und führte das schlechte Abschneiden der Sozialdemokraten insbesonde-re auf die geringe Wahlbeteiligung zurück ("Das Spiel ist...", 2009). Die Par-teivorsitzende der Grünen, Claudia Roth, stellte am Abend der Europawahl ebenfalls fest: "Die Bundestagswahl ist am heutigen Tag definitiv nicht ent-schieden" ("Das hätte ich...", 2009). Auch die Medien selbst gaben sich in dieser Hinsicht ambivalent. So fanden sich beispielsweise in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in der Süddeutschen Zeitung Vermerke, die im Zusam-menhang mit der Europawahl von einem "Stimmungstest" sprachen oder in den Ergebnissen einen bundespolitischen Trend abgebildet sahen (Freude bei der FDP…, 2009; Prantl, 2009). Mit ihrer Schlagzeile "Wer kriegt heute einen Denkzettel?" unterstrich auch die BILD (Thewalt, 2009), dass bei der Europawahl durchaus nationale Aspekte eine wichtige Rolle spielen, und stilisierte diese zu einer Art Abrechnung mit der Politik der jüngeren Ver-gangenheit hoch. Es fanden sich jedoch andererseits ebenso Hinweise, dass sich die Wahlergebnisse der bei der Europawahl angetretenen Parteien nicht einfach auf die Bundesebene übertragen lassen. Wenngleich die innenpoliti-

Page 23: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

24 Christina Holtz-Bacha & Jacob Leidenberger

sche Situation mitentscheidend für die Stimmabgabe war, so kam dennoch eine Reihe anderer Gründe für das Ergebnis der Europawahl hinzu, so das Fazit. Die geringe Wahlbeteiligung und die schwache Mobilisierung vor allem der SPD tauchten dabei als Hauptgründe auf, warum die Ergebnisse nicht die allgemeine Wählerstimmung abzubilden vermögen.

Die zeitliche Nähe der beiden Wahlen ließ erwarten, dass die Bundes-tagswahl ihre Schatten vorauswerfen und die Strategien in der Europawahl-kampagne beeinflussen würde. In Anbetracht dessen, dass für die Parteien bei einer Bundestagswahl erheblich mehr auf dem Spiel steht als bei der Wahl zum Europäischen Parlament, war 2009 zu vermuten, dass sie mit ihrem Einsatz für Europa eher zurückhaltend sein und mit ihren finanziellen und kreativen Kräften haushalten würden. Die Aussichten für einen enga-gierten und europäisch geprägten Wahlkampf waren also 2009 in Deutsch-land nicht besonders gut. Da der Urnengang bei Europawahlen noch weni-ger selbstverständlich ist als bei Bundestagswahlen und die Wahlbeteiligung im Laufe der Zeit deutlich zurückging, bedürfte es jedoch besonderer An-strengungen auf Seiten der Politik – und der Medien, um die Wählerinnen und Wähler über die Wahl zu informieren und für die Stimmabgabe zu mo-tivieren. 1 Wechselwirkungen Seit der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament hat sich gezeigt, dass das Engagement von Politik, Medien und Wählerschaft in einem Wechselverhältnis steht. Bleibt die Politik zurückhaltend mit ihren Kampag-nenbemühungen, sind auch die Wählerinnen und Wähler schwer zu moti-vieren. Um diese anzusprechen, ist die Politik weitgehend auf die Medien angewiesen. Deren Engagement bestimmt sich allerdings überwiegend durch den Input aus der Politik; die Medien berichten, wenn ihnen etwas geboten wird, und das im doppelten Wortsinne, denn die Medien berichten, was ihnen berichtenswert erscheint; der Input muss auch etwas hergeben, also den Aufmerksamkeitskriterien der Medien entsprechen. So hat sich gezeigt, dass die Berichterstattung über die Europawahlkampagne dort um-fangreicher ausfällt, wo die EU-Politik umstritten ist und das Thema Europa Konfliktcharakter hat (vgl. de Vreese, Banducci, Semetko & Boomgarden, 2006).

Page 24: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

Europawahl 2009: Wahlkampf im Schatten der Bundestagswahl? 25

Aufgrund des Wechselverhältnisses von Politik, Medien und Wähler-schaft tendieren Europawahlen dazu, mit einer low key campaign auch eine low key response zu prädestinieren (vgl. Holtz-Bacha, 2005). Als Wahlen dritter Ordnung (Reif, 1997), also nachrangige Wahlen, die keine Regierung her-vorbringen, leiden Europawahlen darunter, dass für alle Beteiligten weniger auf dem Spiel steht als bei Wahlen erster Ordnung (less-at-stake-Dimension). Europawahlen finden außerdem unter besonderen politischen und institutionellen Bedingungen statt (specific-arena-Dimension). Dazu gehört, dass das Europäische Parlament trotz Machtzuwachs immer noch eine im Verhältnis zu Kommission und Rat etwas schwächere Position in-nehat und 2009 in Deutschland obendrein die Bundestagswahl kurz bevor stand. Aus den genannten Gründen kommt bei solchen Wahlen den Kam-pagnenbemühungen (Kampagnen-Dimension) eine noch größere Bedeu-tung zu als bei Wahlen erster Ordnung. (Vgl. Reif & Schmitt, 1980)

Die Sorge darüber, dass die Kampagnen zur Europawahl lediglich "se-cond-rate" (de Vreese, 2009) ausfallen, besteht seit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments. Brandts, van Praag und No�l-Aranda (1983), die das Engagement von politischen Akteuren und Rundfunkanstalten im Europawahlkampf 1979 untersuchten, stießen damals auf eine Mischung aus Verwirrung und Unsicherheit: Diese führten sie auf das Vorliegen gegenläu-figer Einflüsse zurück, die sich aus den je professionellen Überzeugungen von Politikern und Medienvertretern einerseits und ihrem Common Sense andererseits ergaben. Das heißt, gerade bei der ersten Direktwahl war allen die Bedeutung dieses Ereignisses bewusst, und sie fühlten sich daher auch in der Pflicht, dafür etwas zu tun. Dem stand jedoch das Gefühl entgegen, dass sich nicht zuletzt in der Öffentlichkeit das Interesse an der Wahl in Grenzen halten würde (Brandts, van Praag, & No�l-Aranda, 1983, S. 140). Die Sym-bolkraft der ersten Direktwahl sorgte indessen dafür, dass das Fernsehen in den Mitgliedstaaten die Wahl überwiegend als ein europäisches Ereignis behandelte. Im Vergleich zu den Politikern fiel die Berichterstattung jedoch etwas stärker national orientiert aus, was wiederum den professionellen Pro-duktionsroutinen der Journalisten geschuldet schien, die so meinten, dem Interesse ihres Publikums entgegenzukommen. (Vgl. Siune, 1983, S. 237-239)

Eine Analyse der zentralen Wahlkampfaussagen (Slogans) zur Europa-wahl des Jahres 1999 (Gerstlé, Semetko, Schoenbach & Villa, 2000), die rund neun Monate nach der Bundestagswahl stattfand und damit den Cha-

Page 25: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

26 Christina Holtz-Bacha & Jacob Leidenberger

rakter eines Stimmungstests für die 1998 neu gebildete rot-grüne Koalitions-regierung annahm, aber auch durch die Debatte zur Politik gegenüber dem Kosovo überschattet wurde, bescheinigte den Parteien insgesamt eine schwache Europäisierung. Während die Grünen eine wirklich europäische Kampagne organisierten, die die Europäische Union als eine Möglichkeit hinstellte, um übergreifende Probleme zu lösen, vermischte die SPD Innen- und Europapolitik, und die Union rief zur Denkzettelwahl gegenüber der rot-grünen Regierung auf (S. 105-106 ). 2004 galt eine ähnliche Klage. Wüst und Roth (2005) nannten die Europawahl für alle Beteiligten eine "Pflicht-übung", bei der Europathemen noch am ehesten in den Wahlprogrammen der Parteien zu finden sind, aber sogar in der Selbstdarstellung der Parteien in ihren Wahlspots weiter zurücktreten, weil sie diese für die Abrechnung mit der Regierung nutzen. Auch Niedermayer kam in seiner Untersuchung der heißen Wahlkampfphase 2004 zu dem Fazit, Europa sei für die Politik nur ein Randthema gewesen. Schuld daran wären jedoch auch die Medien, indem sie den Parteien einerseits vorwarfen, die Europawahlkampagne für ihre nationalen Interessen zu missbrauchen, aber andererseits durch den nationalen Fokus ihrer Berichterstattung selbst dazu beitrugen (Nieder-mayer, 2005, S. 74).

Die Parteien müssten also besondere Anstrengungen unternehmen, um die Wählerinnen und Wähler für die Stimmabgabe zu motivieren. Mehr noch als bei einer Bundestags- oder Landtagswahl geht es bei der Europa-wahl darum, die Bedeutung dieser Wahl, bei der es scheinbar um nichts geht, herauszustellen und den Wahlberechtigten das Gefühl zu vermitteln, dass ihre Stimme zählt. Zwar sind die Einstellungen zur Europäischen Uni-on in Deutschland überwiegend positiv, aber die Bürgerinnen und Bürger sind wenig überzeugt, dort Gehör zu finden: Während 2008 64 Prozent der Deutschen die Mitgliedschaft Deutschlands in der EU als "eine gute Sache" bezeichneten und 58 Prozent meinten, die Mitgliedschaft bringe Deutsch-land Vorteile, hatten lediglich 34 Prozent das Gefühl, dass ihre Stimme zählt in der EU, und gar nur 23 Prozent gaben sich überzeugt, dass ihre Meinung bei den Mitgliedern des Europäischen Parlaments Berücksichtigung findet (alle Zahlen: Hegewald & Schmitt, 2009, S. 15-17). Es wäre also Aufgabe der Kampagne, der Stimmabgabe einen Sinn im europäischen Kontext zu verleihen und die Wählerinnen und Wähler so für den Urnengang zu gewin-nen: "[...] political actors, namely candidates, parties and EU officials have to put more effort into making it clear to the voter that voting makes a

Page 26: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

Europawahl 2009: Wahlkampf im Schatten der Bundestagswahl? 27

difference, and into informing and mobilizing them", bekräftigt dann auch Wessels (2007, S. 227) aufgrund einer Analyse der Einflussfaktoren auf die Beteiligung an der Europawahl 2004. Allerdings ist die Politik bei der An-sprache der Wählerschaft weitgehend auf die Medien angewiesen, muss also ihre Kampagnenbemühungen so einrichten, dass diese Resonanz in der Berichterstattung finden.

Auch wenn die Medien, zumal in der politischen Berichterstattung, nicht nur auf den Input von Parteien und Kandidaten reagieren, scheinen sie sich im Fall der Europawahl doch vom Kampagnengeschehen abhängig zu ma-chen. Sie verweisen auf das geringere Engagement der Politik und ziehen dieses zu ihrer Rechtfertigung für den eigenen Umgang mit der Europawahl heran. Das hat sich zuletzt wieder im Europawahlkampf 2004 bei einer Be-fragung von Rundfunkjournalisten bestätigt: Mehrheitlich erwarteten sie, dass das Interesse der Politiker an der Europawahl geringer sein würde als bei Bundestagswahlen. Außerdem glaubten die meisten auch, dass das schwächere Interesse der Politik Auswirkungen auf den Umgang der Medi-en mit dem Wahlkampf und den Umfang ihrer Berichterstattung haben würde (Urban, 2004; vgl. dazu auch: de Vreese, 2003).

Für die Europawahl des Jahres 20091 bietet sich ein ähnliches Bild: In ei-ner während des Europawahlkampfes 2009 durchgeführten Befragung von Europakorrespondenten bzw. solcher Journalistinnen und Journalisten, die in den Redaktionen von Rundfunk und Presse auf Europa spezialisiert sind, gingen annähernd alle Befragten (94%) von einem geringeren Engagement der Parteien bei den Europawahlen als bei der Bundestagswahl aus. Auch wenn wegen eines schlechten Rücklaufs bei der online durchgeführten Be-fragung nur 34 Fragebögen zu verwerten waren, so ist die starke Überein-stimmung in diesem Punkt dennoch auffallend. Weiterhin vermuteten etwas weniger als zwei Drittel der Befragten (62%), dass die Intensität der Bericht-erstattung von Engagement der Parteien abhängig ist. Für das Engagement der Medien sind aber wohl auch noch andere Faktoren ausschlaggebend. So zeigte sich, dass sich die Europakorrespondenten mehr Berichterstattung wünschen würden, als sie tatsächlich stattfindet. Auch hier lässt sich aus den Antworten ein starker Trend ablesen: Fast alle Befragten (94%) wünschten sich in den Medien eine starke Aufmerksamkeit für die Europawahl, aber weniger als ein Drittel (29%) glaubte, dass die Berichterstattung die Wahl 1 Die Autoren bedanken sich bei Robert Nehr für die Auswertung der Daten sowie bei Felix Stumpf und Stefan Wehner für die Erstellung des Online-Fragebogens

Page 27: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

28 Christina Holtz-Bacha & Jacob Leidenberger

entsprechend berücksichtigen würde. Offenbar kommen also die Europa-spezialisten in ihren Redaktionen mit ihren Themen nicht so zum Zuge, wie sie es gerne hätten. Außerdem sehen sie die Europawahl auch nicht gerade als ein Thema, das auf Interesse bei ihrem Publikum stößt: Keiner der 34 Journalisten glaubte an ein sehr starkes oder starkes Interesse der Bürgerin-nen und Bürger an der Europawahl. Geradezu vernichtend ist das Urteil der Journalisten gar hinsichtlich des Wissens der Bevölkerung zu Europa: Alle 34 befragten Journalisten glaubten, dass es schlecht (29%) bis sehr schlecht (71%) um die Kenntnisse hinsichtlich der europäischen Institutionen steht.

Tatsächlich ist das Wissen über Europa und Europawahl in Deutschland nicht besonders gut. In einer Eurobarometer-Umfrage im Herbst 2007 (Citizens' views..., 2007) wussten nur 47 Prozent der Deutschen, dass die Abgeordneten des Europäischen Parlaments direkt gewählt werden. Ledig-lich 13 Prozent konnten korrekt angeben, wann die nächste Europawahl stattfinden sollte. Schließlich wiesen sie mit einem Anteil von 40 Prozent mehrheitlich dem Europäischen Parlament die größte Entscheidungsmacht zu, während 16 Prozent sie bei der Kommission und lediglich 10 Prozent beim Rat sahen. Auch das Interesse der Bevölkerung an der Wahl war nicht sehr ausgeprägt. Bei einer Eurobarometer-Umfrage im Herbst 2008 (Europeans and the..., 2008) sagten 54 Prozent der Deutschen, sie seien an der für Juni 2009 angesetzten Europawahl nicht interessiert. Zwar zeigten sich immerhin 45 Prozent der Befragten interessiert, allerdings erfolgte keine weitere Differenzierung nach der Intensität des Interesses. Es ist also davon auszugehen, dass insgesamt das Interesse an der Europawahl in der deut-schen Bevölkerung eher schwach war.

Die während des Europawahlkampfes 2009 befragten Journalistinnen und Journalisten sahen dann auch fast alle die Medien (88%) und noch mehr die Politik (94%) stark bis sehr stark in der Pflicht, die Kenntnisse der Bür-gerinnen und Bürger über die europäischen Institutionen zu verbessern. Nach Meinung der Journalisten sollte die Europawahlberichterstattung nicht so sehr dazu dienen, eine Hilfestellung bei der Stimmabgabe zu geben (sehr wichtiges/wichtiges Ziel: 50%) oder über die Programme der antretenden Parteien zu informieren (sehr wichtiges/wichtiges Ziel: 56%), sondern viel-mehr das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an der Europawahl zu we-cken (sehr wichtiges/wichtiges Ziel: 74%) sowie über das Funktionieren und den Aufbau der EU (sehr wichtiges/wichtiges Ziel: 80%) bzw. des Europäi-schen Parlaments und die Wahl im Allgemeinen (sehr wichtiges/wichtiges

Page 28: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

Europawahl 2009: Wahlkampf im Schatten der Bundestagswahl? 29

Ziel: 83%) aufzuklären. Etwas weniger als zwei Drittel der Journalisten (62%) sehen es auch als wichtige bis sehr wichtige Aufgabe der Medienbe-richterstattung an, ein europäisches Bewusstsein zu fördern. Bei diesen Er-gebnissen ist allerdings in Erinnerung zu rufen, dass es sich bei den befrag-ten Journalisten um Europaspezialisten handelte, denen Europa auch ein besonderes Anliegen sein dürfte. Im Vorfeld der Europawahl 2004 befragte Rundfunkredakteure schätzten es zu 33 Prozent als sehr wichtig und zu 60 Prozent als wichtig ein, dass die Berichterstattung dazu beiträgt, ein europäi-sches Bewusstsein zu fördern (Urban, 2004, S. 61). In einer repräsentativen Befragung von (westdeutschen) Redakteuren im Jahr 1992 sagte fast die Hälfte, dass sie es nicht als ihre Aufgabe sehen, "dazu beizutragen, daß ein europäisches Gemeinschaftsgefühl entsteht" (Schönbach, 1995, S. 27).

Europawahlkämpfe stehen also vor besonderen Herausforderungen, die sich aus ihrem Charakter als Nebenwahlen, die nicht mit einer Regierungs-bildung verbunden sind, ergeben. Für Deutschland kommt hinzu, dass Eu-ropa gerade deshalb ein schwieriges Thema darstellt, weil es so wenig kont-rovers ist: In einer Studie zu den Europawahlen des Jahres 2004 stellte de Vreese (2009) fest, dass die Kampagnenbemühungen der Parteien bei Ne-benwahlen nicht nur weniger "professionell" ausfallen als bei Wahlen erster Ordnung, sondern auch dass die Wahlkämpfe in solchen Ländern, wo die EU nicht umstritten ist, länger und aktiver sind als in hinsichtlich der EU polarisierten Mitgliedstaaten. Das heißt, in konsensuellen Kontexten – dazu gehört auch Deutschland – muss die Politik mehr tun, um Aufmerksamkeit und Interesse für die Europawahl zu wecken und Medien sowie Wähler-schaft zu mobilisieren.

Mit der über die Jahre zurückgehenden Wahlbeteiligung ist diese Heraus-forderung eher noch gestiegen. Die Forschung indessen hat gezeigt, dass sich der Einsatz der Politik durchaus lohnt und Wahlkampagnen zur Mobili-sierung der Wählerschaft beitragen können. So fanden Franklin, van der Eijk und Oppenhuis (1996) in einer Studie zu den Europawahlen des Jahres 1989, dass die Wahlbeteiligung nach den institutionellen Faktoren (wie Wahlpflicht und Wahlsystem) von individuellen Variablen der Wählerinnen und Wähler beeinflusst wird, und dazu gehört insbesondere die Kampag-nenmobilisierung. Mobilisierung erweist sich sogar als die gegenüber Ge-wohnheit und Loyalität wichtigere Voraussetzung für die Beteiligung an Europawahlen (van der Eijk & Franklin, 1996, S. 394). Steinbrecher und Huber (2006, S. 26) gelangen in einer Untersuchung für die Wahlen 1994

Page 29: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

30 Christina Holtz-Bacha & Jacob Leidenberger

und 1999 ebenfalls zu dem Schluss, dass die Kampagne für die Wahlbeteili-gung von Bedeutung ist und sogar von der einen Wahl zur nächsten noch zugenommen hatte. Ähnlich sieht auch der Befund von Weßels für den Europawahlkampf 2004 aus: "Mehr Wahlkampfanstrengungen bedeuten auch mehr Wähler an den Urnen." (2005, S. 103; vgl. auch Wessels, 2007).

Den Medien wird gemeinhin ein schlechtes Zeugnis ausgestellt, wenn es um Europa und Europawahlen geht, und damit die (Mit-)Schuld am viel diskutierten Öffentlichkeitsdefizit der EU gegeben (vgl. z. B. Brettschneider & Rettich, 2005). Europawahlkämpfe finden in den Medien wenig Auf-merksamkeit. Das Interesse der Medien an Europawahlen bleibt weit hinter dem an nationalen Wahlen zurück, das gilt für Deutschland ebenso wie für andere EU-Mitgliedstaaten (vgl. de Vreese, Banducci, Semetko, & Boomgarden, 2006; Kevin, 2001; Wilke & Reinemann, 2005; Zeh & Holtz-Bacha, 2005). 2 Wie europäisch war die Kampagne? Wie sah es also 2009 aus mit dem Engagement der Parteien für Europa? Welche Akzente die Wahlkampagne setzte und ob die Parteien die Europa-wahl als ein europäisches oder doch eher als ein nationales Ereignis behan-delten, lässt sich am besten an denjenigen Kampagnenmaterialien ablesen, die allein in der Verantwortung der Parteien stehen und nicht der medialen Verarbeitung unterliegen. Darunter fallen ihre Werbemittel wie Plakate, Anzeigen in den Printmedien, die Parteienspots in Radio und Fernsehen sowie ihre Online-Angebote. Plakate und die Werbespots, die die Parteien für die Ausstrahlung im Fernsehen produzierten, dienen im folgenden dazu, um zu prüfen, wie europäisch die Kampagne zur Europawahl 2009 konzi-piert war, oder ob eher nationale Bezüge im Vordergrund standen.

Das markanteste Element der Plakate sind die Slogans der Parteien. Slo-gans verdichten die Kampagne einer Partei zu einer zentralen Wahlkampf-aussage; sie sollen Aufmerksamkeit für die Partei wecken und zur Mobilisie-rung der Wählerschaft beitragen (vgl. Toman-Banke, 1994, S. 47). Daher sollten die Bezüge zu Europa in den Slogans am deutlichsten hervortreten. Bilder der Kandidatinnen und Kandidaten für das Europäische Parlament sowie europäische Symbole können als weitere Indikatoren dafür dienen, wie europäisch die Kampagne ausfiel oder ob die Parteien die Europawahl

Page 30: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.) Die Massenmedien im Wahlkampf · wahlkampf zu einem Thema und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar zu einem Titelfoto werden konnte, mag das Symbol

Europawahl 2009: Wahlkampf im Schatten der Bundestagswahl? 31

doch mehr für den innerdeutschen Konkurrenzkampf einsetzten (für eine detaillierte Analyse der Plakate vgl. Lessinger & Holtz-Bacha, in diesem Band.)

Eine eindeutig europäische Zielrichtung demonstrierten die Plakate der Grünen, die sich auch schon 2004 durch einen klaren Europabezug aus-zeichneten. Für die Europawahlkampagne 2004 hatten sich die Grünen mit ihren Schwesterparteien aus anderen Mitgliedstaaten zu einer einheitlichen Kampagne zusammengetan und die Plakate zeigten das auch, indem neben dem Logo der deutschen Grünen auch das Logo des europäischen Zusam-menschlusses The Greens zu sehen war (vgl. Holtz-Bacha, 2007; Dillen-burger, Holtz-Bacha, & Lessinger, 2005). Ihr Slogan "Mit Wums! für ein besseres Europa" blieb wohl für manche kryptisch, weil die Bedeutung des lautmalerischen Wums! (= Wirtschaft & Umwelt, menschlich & sozial) nur durch genaueres Studium der Plakate zu entschlüsseln war, zielte aber ein-deutig und nur auf Europa. Zwei Kandidatenplakate zeigten die Spitzen-kandidaten der Grünen für die Europawahl, Rebecca Harms und Reinhard Bütikofer. Alle anderen Plakate, die ein einheitliches Design aufwiesen, kombinierten Sachthemen mit dem Europa-Slogan. Klare Europareferenzen wiesen auch die Plakatkampagnen von FDP und CDU auf, die diese aller-dings mit Bezügen zu Deutschland kombinierten. In der Plakatkampagne der FDP dominierte eine Serie, die die Europaabgeordnete und Spitzenkan-didatin der FDP Silvana Koch-Mehrin mit dem Slogan "Für Deutschland in Europa" oder einem Sachthema und der Aufforderung "Wählen Sie Ihr Europa" abbildete. Die traditionellen Parteifarben der FDP, die mit gelb und blau zugleich die Farben Europas sind, machen es der Partei leicht, auch in der Farbsymbolik den Bezug zu Europa herzustellen. Entsprechend ihrem Slogan "Für Deutschland in Europa" ließen die Plakate zusätzlich die deutsche sowie die europäische Fahne erkennen.

Noch stärker als die FDP balancierte die CDU zwischen Deutschland und Europa. Der beherrschende Slogan ihrer Plakate lautete "Wir in Euro-pa", das durch themenbezogene Claims ergänzt wurde. Indem die CDU das "Wir" ihres Slogans mit den Nationalfarben unterlegte, setzte sie einen ein-deutigen nationalen Akzent und bot so eine Identifikationsmöglichkeit für die Wählerinnen und Wähler. Eine Serie ihrer Plakate wies einen jeansblau-en und ebenso strukturierten Hintergrund mit applizierten goldenen Sternen auf, eine weitere Serie umfasste ebenfalls Themenplakate, die jedoch visuell den Europabezug weniger deutlich herausstellten. Ein Plakat zeigte den