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CATHERINE ALLIOTT Das Chaos hat einen Namen

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CATHERINE ALLIOTT

Das Chaos hat einen Namen

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Buch

Hübsch, chaotisch und hoffnungslos romantisch – das ist PollyMcLaren, die liebenswerte Heldin dieses turbulenten Romans. Siearbeitet in einer Londoner Werbeagentur, hat Probleme mit ihremFreund, Ärger mit ihrem Chef und Meinungsverschiedenheiten mitihren Freundinnen, die normalerweise mit ihr durch dick und dünngehen. Sie hat gelegentliche Anwandlungen von Weltschmerz, eu-phorische Momente und das Pech, dass Traum und Wirklichkeit ei-

nander oft diametral entgegengesetzt sind.Eines Tages wird Polly auf dem Weg zur Arbeit von einem Amerika-ner angesprochen, der sie bittet, ihm bei der Suche nach seiner Ver-lobten zu helfen. Polly lässt sich darauf ein, den Detektiv zu spielen– und bevor sie noch bis drei zählen kann, steckt sie bis über beide

Ohrringe im größten Schlamassel …

Autorin

Catherine Alliott ist in Hertfordshire geboren und aufgewachsen.Nach ihrem Studium an der Warwick University zog sie nach Lon-don, wo sie als Werbetexterin arbeitete. Heute lebt sie zusammen mitihrem Mann und ihren drei Kindern wieder in ihrer Geburtsstadt.Ihre heiteren Frauenromane wurden schon mehrfach ausgezeich-

net.

Von Catherine Alliott sind bei Blanvaletim Taschenbuch bereits erschienen:

Und tschüss, Liebling (35196)Heute ist nicht mein Tag (35694)

Ein Mann aus zweiter Hand (35979)

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Catherine Alliott

Das Chaos hateinen Namen

Roman

Aus dem Englischenvon Katrine von Hutten

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Umwelthinweis:Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches

sind chlorfrei und umweltschonend.

1. AuflageTaschenbuchausgabe Dezember 2005 bei Blanvalet,

einem Unternehmen derVerlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © der Originalausgabe 1994 by Catherine AlliottCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1995 by

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch GladbachUmschlaggestaltung: Design Team München

Umschlagfoto: Photonica/Paul Burley PhotographyUH · Herstellung: NT

Satz: deutsch-türkischer fotosatz, BerlinDruck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germanyisbn-10: 3-442-36395-0

isbn-13: 978-3-442-36395-0

www.blanvalet-verlag.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel»The Old-Girl Network«

bei Headline Book Publishing, London.

Dieser Roman ist unter dem Titel»Das Chaos hat einen Namen: Polly McLaren«

bereits als Bastei-Lübbe-Taschenbuch erschienen.

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Für George

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1. Kapitel

Ich setzte mich und musterte mit geschultem Auge die zehnLeute, die mir gegenübersaßen. Auf den ersten Blick sah ich,dass es kein guter Tag war. Genau genommen war es einaußerordentlich schlechter Tag. Sechs Frauen und nur vierMänner; und als ob das nicht schon schlimm genug gewesenwäre, sahen alle Männer so aus, als hätten sie einen schwe-ren Autounfall nur ganz knapp überlebt. Nicht gerade eineviel versprechende Auswahl, und ich musste mit einem vonihnen ins Bett. Verdammt.

Ich lehnte mich zurück und schaute mir die vier Kandida-ten mit meinen kurzsichtigen Augen genau an: zu fett, zujung, zu chinesisch und zu rothaarig. Typisch. Wo war zugut aussehend, den ich doch am meisten brauchte? Aber esbrachte nichts, sich darüber aufzuregen, dass der Märchen-prinz nicht dabei war; Spielregeln waren Spielregeln, und ei-ner dieser glücklichen Typen würde bald noch glücklicherwerden. Ich biss die Zähne zusammen und nahm mir jedeneinzeln vor, suchte nach verborgenen Qualitäten. Ich würdeziemlich tief graben müssen.

Nummer eins war ein feister Fiesling in der Verkleidung ei-nes Geschäftsmannes. Die Knöpfe an seinem blauen Nylon-hemd leisteten unter dem ständigen Druck seiner verfettetenBrust beinharte Arbeit, und der Hosenbund war nicht zu se-hen, weil sein dicker Bauch darüber hing. Wie hübsch. Dochdamit nicht genug, er war auch noch kahl. Hinter dem lin-ken Ohr hatte er sich eine lange Strähne wachsen lassen undsie sorgfältig über die Glatze gekämmt, aber darauf fiel nie-

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mand herein. Ich ahnte, dass eine Geschichte mit ihm bald indie Hose gehen würde, ließ ihn fallen und wandte michNummer zwei zu.

Ich unterdrückte einen Schauder. Dieser unreife Typschlug sich noch mit etwas herum, das ich schon lange abge-hakt hatte, und ich hatte keine Lust, mich noch einmal da-mit zu beschäftigen. Pubertät. Als ich sein mit Aknepustelnübersätes Gesicht mit kühlem Blick fixierte, verzog er denMund zu einem anzüglichen Grinsen. Er warf mir einen he-rausfordernden Blick zu und kratzte sich mit der Hand amReißverschluss seiner Jeans. Du liebe Zeit, allein die Vorstel-lung! Angewidert schüttelte ich den Kopf. So eine Frechheit.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit Nummer drei zu. Oh.Also das war ein Fall für sich. Wissen Sie, ich habe nichts ge-gen chinesische Männer per se; der Chinese in dem kleinenLokal bei mir um die Ecke hätte gar nicht netter sein können,es ist eben nur so, dass – na ja, alles in allem ziehe ich einfachenglische Männer vor. Ich bin ziemlich sicher, dass Chinesenwunderbare Liebhaber sind, aber, wie ich schon sagte, mirpersönlich ist jemand lieber, der von nicht ganz so weit her-kommt, jemand wie – wie Harry, zum Beispiel.

Einen glücklichen Augenblick lang dachte ich sehnsüchtigan den göttlichen Harry Lloyd-Roberts. Ach ja, mit seinemwirren blonden Haar, seinem gebräunten, lächelnden Ge-sicht, den leuchtend blauen Augen, den schlanken, langenBeinen, den breiten Schultern, dem … Ich riss mich zusam-men. Konzentrier dich, Polly, Harry steht heute Morgennicht auf der Speisekarte, dafür aber dieser orientalischeGentleman, und du kannst jetzt nicht einfach behaupten,dass du mehr Appetit auf waschechte Engländer hast, unddich damit aus der Affäre ziehen.

Also nahm ich ihn widerwillig noch mal unter die Lupeund bemerkte mit großer Freude, dass er ausgesprochenmerkwürdige Zähne hatte. Dankbar betrachtete ich dieses

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ungewöhnliche Gebiss. Tut mir Leid, aber bei mir müssenZähne absolut regelmäßig sein; regelmäßig gewachsen undsehr weiß, da bestehe ich drauf. Nein, ich bin wirklich keinRassist, ich bin einfach – ja, ich bin ein kleiner Zahnist, ge-nau das!

Ich verwarf ihn also und stellte schweren Herzens fest,dass ich nur noch einen Kandidaten hatte, und ich merkteplötzlich zu meinem Entsetzen, dass rote Haare für mich fastgenauso unerträglich waren wie schiefe Zähne. Ich betrach-tete den rotschopfigen Gentleman und seufzte. Aber nichttief. Denn ich sagte mir: Moment mal, Polly McLaren, nichtso schnell. Bei näherer Betrachtung war dieser hier gar nichtso übel. Rothaarig natürlich, aber nicht karottenrot oder sowiderlich rot wie Kapuzinerkresse, eher – na ja, eher einherbstliches Rostrot. Machte ich mir was vor, oder warenseine Gesichtszüge auffallend ebenmäßig? Und hatte seinGesicht nicht eine angenehme Bräune? Und hatten wir hiernicht ganz besonders leuchtend blaue Augen? Die hattenwir! Noch dazu mit schönen Lachfältchen rechts und links.Das reichte eigentlich, ich stehe nämlich auf Lachfältchen,aber vernünftigerweise besah ich mir auch noch schnell denRest, bevor ich zugriff. Breite Schultern, lange Beine, keineSpur von Bauch. Gut.

Er trug ein hellblaues Hemd von Brooks-Brothers, darü-ber eine teure marineblaue Jacke, einen Ledergürtel von gu-ter Qualität und eine schwere Baumwollhose – nicht zu sa-ckig, nicht zu eng –, und, was noch wichtiger war (und wiedumm von mir, dass ich es nicht gleich gesehen hatte), amkleinen Finger seiner linken Hand blitzte ein Siegelring. Er-leichtert lehnte ich mich in meinem Sitz zurück. Ich hatte ei-nen Fang gemacht.

Es gab keinen echten Rivalen, aber ich musterte die ande-ren noch einmal kurz, nur um sicherzugehen, dass es fair zu-gegangen war. Zu chinesisch und zu jung waren nie aus den

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Startlöchern rausgekommen, zu fett war ganz eindeutig zuglatzköpfig; es muss einfach mal gesagt werden, dass einMädchen etwas braucht, wo es mit den Fingern durchfahrenkann, selbst wenn’s was Rotes ist, deshalb war und blieb esder Rothaarige – netterweise ließ ich das »zu« unter denTisch fallen. Es war ein einfaches Rennen für ihn gewesen, erhatte gewonnen, weil die anderen zu wenig Haar, zu vieleHormone und zu schiefe Zähne hatten. Was für ein Glücks-pilz!

Froh über das »Happy End« stand ich auf. Ich freute michbuchstäblich so, dass ich etwas Unverzeihliches tat. Ich lä-chelte dem Sieger zu. Das Lächeln entschlüpfte mir, bevorich es zurückhalten oder wenigstens bösartig schief verzer-ren konnte. Es war da, hieß ihn strahlend willkommen, undmeine Zähne blitzten wie Leuchtfeuer. Der Rotschopf blick-te überrascht auf und erwiderte mein Lächeln, und wie er-wartet rahmten die schönsten Lachfältchen seine blauen Au-gen ein.

Ich war ganz entsetzt über mich, wickelte mir den Schalum den Hals und lief zur Tür, gerade als – Gott sei Dank –die U-Bahn in die South-Kensington-Station einfuhr. Unan-genehmerweise klemmte die Tür einen Moment, aber kurzdarauf raste ich – na ja, ging schnell – zur Rolltreppe. Wiegrauenhaft. Er musste ja glauben, dass ich ihn wirklich ab-geschätzt, sogar versucht hatte, ihn anzumachen. Als ichmich in das idiotisch langsame Gestapfe zum Ausgang hineinreihte, schaute ich mich um, sah mich aber glücklicher-weise von keinem hoffnungsvollen roten Lockenkopf ver-folgt.

Du hast Glück gehabt mit deiner Flucht, Polly, sagte ichmir streng; tu so was nie wieder, um Gottes willen – werweiß, in was für Schwierigkeiten du dich bringen könntest!Schlimm genug, dass du sie jeden Morgen so anstarrst, ohnesie wenigstens auch nur ein bisschen anzumachen.

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Ich grinste etwas dümmlich, als ich daran dachte, wie ichmir auf dem Weg zur Arbeit die Zeit vertrieb. Es war einharmloses Vergnügen, aber in letzter Zeit wurde es immerdeprimierender. Zum Beispiel gestern. Es schüttelte mich,wenn ich daran dachte. Gestern hatte ich mich durch einenoch nie erlebte Überzahl von Frauen dazu gezwungen gese-hen, zu einem Achtzigjährigen mit wackelndem Unterkieferund Bläschen auf der Unterlippe in die Kiste zu steigen. Ei-nen Augenblick lang hätte ich zur Lesbierin werden können,aber nein, ich blieb bei meinen Spielregeln. Schließlich wares mein eigenes Spiel, und ich konnte mich doch nicht selbstbetrügen, oder?

Während ich meinen Platz in der sich drängelnden Men-schenmenge an der Rolltreppe hehauptete, entdeckte ich denanzüglich grinsenden »zu Jungen« vor mir in der Schlange.Oje, er schien die Regeln wirklich nicht zu kennen. Er schobsich vorwärts und blieb dann unverzeihlicherweise wie ange-wurzelt auf der linken Seite der Rolltreppe stehen, die, wiejeder städtische Verkehrsteilnehmer weiß, für eilige Leutefreigehalten wird. Es war mir eine Genugtuung, als er vonein paar wütenden Leuten auf die rechte Seite geschubst wur-de. »Man steht rechts«, murmelte jemand tadelnd – murmel-te, verstehen Sie, denn niemand, der regelmäßig die U-Bahnbenutzt, wäre so plump vertraulich geworden, mit jemandanderem zu sprechen. Ich starrte den Jungen im Vorüberge-hen zornig an und trug damit wie alle anderen zu seiner ri-tualisierten Demütigung bei. Zu meiner Überraschung hatteer die Stirn, mich wieder anzüglich anzugrinsen.

Na ja, dachte ich, als ich die Rolltreppe weiter hinaufstapf-te, es ist immer schön, angegafft zu werden; selbst von einempickeligen Vierzehnjährigen. Ich muss heute ja verdammt gutaussehen.

Wir kamen oben an, und ich streckte mich, um mich kurzim Spiegel am Fotoautomaten zu begutachten, in den jeder

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reinguckt, obwohl er so tut, als ob ihm nichts ferner läge.Oje, dachte ich, als ich mich eine Zehntelsekunde lang sah,der muss ja völlig verzweifelt sein. Unmögliche Frisur, un-mögliches Make-up (zu hastig geschminkt) und eine nochunmöglichere Jacke, gespickt mit Hundehaaren. LottiesSchuld, weil sie sich einen verdammten Yorkshireterrier ge-kauft hatte. Ich klopfte mich ab und verwünschte meine im-pulsive Mitbewohnerin. Wenigstens war alles nur oberfläch-lich. Das Haar konnte gewaschen, die Jacke gewechselt unddas Make-up vorsichtig und rechtzeitig für das abendlicheTreffen mit dem göttlichen Harry erneuert werden. Bitte, lie-ber Gott, mach, dass es zu einem Treffen kommt! Bitte, lie-ber Gott, mach, dass er mich anruft und etwas mit mir un-ternimmt!

Ich erlaubte mir für einen Moment den Luxus, mir vorzu-stellen, wie wonnig es sein würde, mit Mr. Harry Lloyd-Ro-berts auszugehen, der so hinreißend war, dass es einen glattumwarf. Mein Herz schlug wie verrückt, wie immer, wennich an ihn dachte, aber nach dem ersten Begeisterungssturmrutschte es gleich ein bisschen tiefer. Ich seufzte. Wenn er nurnicht so schwer zu fassen wäre! Wenn nur nicht jede Verabre-dung mit ihm eine solche Riesensache mit Trompetenstoß undrotem Teppich wäre, weil sie so selten stattfand. Wenn nur –also ganz ruhig, Polly. Und da ist noch etwas, dachte ich bit-ter, als ich mich zur Fahrkartensperre durchkämpfte, es kos-tet alles so viel Zeit. Ich wollte wirklich nicht zu den Frauengehören, die nichts anderes als Männer im Kopf haben, aberbis dieser Kerl nicht mit Haut und Haar mir gehörte, würdeich mich auf absolut nichts anderes konzentrieren können. Esverstand sich von selbst, dass ich, wenn er erst einmal so aufmich abgefahren wäre wie ich auf ihn, viel mehr Zeit habenwürde, um an – na ja, Sie wissen schon – Shakespeare, Kunst,hungernde Waisen und Ähnliches zu denken. Doch bis zu die-sem wunderbaren Tag hatte ich einfach keine Zeit dafür.

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Als ich mich der Sperre näherte, wühlte ich in meiner Ta-sche nach etwas Kleingeld. Der kleine Beamte, der einem denFahrschein abnahm, streckte die Hand schon mit der Innen-fläche nach oben aus. Wir hatten stillschweigend eine Über-einkunft getroffen. Er wusste, dass ich ein faules Stück war,das es nicht fertig brachte, an der richtigen Station einenFahrschein zu kaufen; er wiederum war ein diebischer Zeit-genosse, der mein Kleingeld gerne in die eigene Tasche steck-te. Wir lächelten uns freundlich zu, beide glücklich über daspraktische Arrangement, und die Londoner Verkehrsgesell-schaft hatte keinen blassen Schimmer davon.

Als ich die paar Stufen zur Straße hinaufstieg, hatte ichdas Gefühl, in eine Persil-Reklame hineinzugeraten. SouthKensington glänzte im Sonnenlicht in leuchtenden, fröhli-chen Farben. Hohe weiße Häuser reckten sich in den blauenHimmel, und die kleinen Grünflächen zu ihren Füßen spiel-ten Gastgeber für die allerersten Frühlingsboten – Schnee-glöckchen, Krokusse und ein paar einzelne Osterglocken. Eswar ein wunderschöner Tag, und meine Laune stieg.

Sie stieg sogar noch mehr, als ich um die Ecke bog undin die Cresswell Gardens kam, denn hier hatte ich Harrykennen gelernt, und darüber freute ich mich immer wieder.Nummer vierundzwanzig, um genau zu sein – ja, das wardas Haus. Ich blieb stehen und gab mich kurz nostalgischenGefühlen hin.

Ich kann ehrlich behaupten, dass ich an jenem Abend ver-dammt sexy aussah und sehr verführerisch in dem schwar-zen Kleid, das sich an jede meiner Kurven schmiegte – unddavon hab ich ein paar; manche finden sogar, dass es zu vie-le sind –, und mit den blitzenden Butler-and-Wilson-Klun-kern an den Ohren und um den Hals. Ich hatte mir frischeSträhnen in meine wellige blonde Mähne machen lassen undwar noch braun gebrannt … Ich hatte wirklich nicht schlechtausgesehen.

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Es war bei einer Cocktailparty anlässlich eines Geburts-tags gewesen, aber bis zum heutigen Tag kann ich mich nichtdaran erinnern, eingeladen gewesen zu sein, obwohl ichnoch weiß, wie überrascht die Gastgeberin mich ansah, alsich sie herzlich auf beide Wangen küsste. Ich war ganz offen-sichtlich hereingeplatzt, vielleicht mit Lottie, die ja alle Weltkennt. Es war eine kleine Einladung mit ausgewählten Gäs-ten, und die Party fand im Wohnzimmer dieses edlen Hausesstatt. Es war voll gestopft mit alten Ölgemälden, geschmack-vollen Antiquitäten und anderen teuren und extrem zer-brechlichen Familienerbstücken; die ganze Atmosphäre warso vornehm, dass auch die Gäste nur flüsternd miteinandersprachen. Die Leute standen stocksteif in kleinen Gruppenda, statt umherzugehen und sich mit anderen zu unterhalten,und es kam mir so vor, als würden sich im nächsten Momentalle in Stein verwandeln und Teil der kostbaren Einrichtungwerden.

Als der Abend sich quälend in die Länge zog, kam derGastgeberin glücklicherweise eine gute Idee. Sie goss eiligeine Zweiliterflasche Brandy in den langweiligen Punsch. EinMädchen, das große Ähnlichkeit mit einem Pferd hatte, sag-te zu mir, sie habe noch nie etwas so Dummes gesehen. Ichaber fand es ausgesprochen erfreulich. Innerhalb von zwan-zig Minuten kam die Party endlich in Schwung, und ichkratzte meinen frisch angetrunkenen Mut zusammen undquatschte den attraktivsten Mann im Raum an.

Er stand am Fenster, hatte eine alte beigefarbene Cordho-se, ein blaues Hemd und einen leuchtend roten Skipulloveran. Ein paar störrische Strähnen seines blonden Haarschopfsfielen ihm immer wieder in die Augen – die blauesten, die ichjemals gesehen hatte. Er war fast zu schön, um wahr zu sein.In aller Seelenruhe knabberte er Pistazien und blickte aus demFenster auf die Straße. Er tat so, als habe er keine Ahnung, wiehimmlisch gut er aussah und welchen Aufruhr er auslöste.

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Nicht weniger als drei betörende Schönheiten schlichenum ihn herum, warfen meterweise seidiges Haar nach hintenund zogen ihre Röcke entweder rauf oder runter, je nach-dem, ob sie schöne oder weniger schöne Beine hatten. Ichentschloss mich, diese Formalitäten zu übergehen und michgleich auf ihn zu stürzen. Ermutigt von etwas zu viel Alko-hol und meinem scharfen Kleidchen atmete ich tief durchund trat auf ihn zu.

Irgendwie schaffte ich es – und weiß bis heute noch nicht,wie –, ihn für den Rest des Abends mit meiner witzigenSchlagfertigkeit zu fesseln und gleichzeitig die Konkur-renz kaltzustellen. Die um ihn herumwandernden Gierhälsemerkten allmählich, dass ich gesiegt hatte, und drehten ab,um ihre Egos anderweitig zu befriedigen. Eine Stunde spätersaß ich ihm gegenüber in einem Restaurant irgendwo in derFulham Road. Bevor man auch nur sagen konnte, gehn wirzu dir oder zu mir, waren wir bei ihm, tranken Remy Martinund sanken aufs Bett – und das Weitere gehört, wie man sosagt, der Geschichte an. Leider hatte ich inzwischen dasdeutliche Gefühl, dass ich, wenn ich meinen Witz und meineVitalität nicht beibehalten konnte, auch bald der Geschichteangehören würde. Unglücklich biss ich mir auf die Unterlip-pe. Warum war Liebe nur eine so verdammt mühsame Sa-che? Vielleicht sollte ich ein paar Mal ins Sonnenstudio ge-hen.

Ich bog in die Egerton Street ein, wo die Häuser noch grö-ßer, noch weißer und noch schöner sind. Hier legte ich aufdem Weg zur Arbeit eine zweite Pause ein, genau – hier. Vordem größten und weißesten Haus blieb ich stehen und schau-te es mir an, denn hier würden Harry und ich wohnen, wennwir erst einmal verheiratet waren. Für mich war es schon seitEwigkeiten das absolut perfekte Haus. Ich konnte fast hören,wie ich mit meinen Manolo-Blahnik-Absätzen über die aufHochglanz polierten Holzböden klapperte und nach meinen

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wunderschönen schlafenden blonden Kindern schaute, be-vor ich in dem riesigen Spiegel in der Eingangshalle meinChanel-Kostüm überprüfte und dann mit meinem Ehemannzum Dinner oder ins Theater ging – oder zum Dinner und insTheater.

Bevor ich das Haus verließ, würde ich meiner schwedi-schen Kinderfrau noch ein paar Instruktionen geben …Habe ich schwedisch gesagt? Großer Gott, nein, ich meinerumänisch, oder besser noch – mongolisch. Oder waren esdie Mongolinnen, die diese attraktiven hohen Wangenkno-chen hatten? Ich war ziemlich durcheinander. Na ja, dannhätten wir eben keine Kinderfrau. Babysitter waren genausogut und viel billiger. Aber jünger. Ich seufzte. Die Sache wür-de nicht leicht werden, wenn Harry sogar in meinen eigenenFantasien unfähig war, seine Hände bei sich zu behalten.

Mit diesem Problem im Kopf ging ich die Treppe zu mei-ner Firma rauf, Penhalligan and Waters, Nummer dreiund-dreißig. Ich klingelte Sturm, als ob ich schon lange vor demHaus gestanden hätte und überhaupt nicht spät dran wäre.

»Ich bin’s!«, schrie ich in die Quäkbox hinein, und die Türsprang auf.

Der Einzige, der mich jetzt noch aufhalten würde, warBob. Nervös schaute ich mich in der marmorverkleidetenEingangshalle um. Bob war ein großer schwarzer Labrador,der Maurice gehörte, dem alten, mürrischen Portier, der Be-suchern und Kunden den Weg in die verschiedenen Büros desGebäudes zeigte. Man sagt, dass ein Hund immer seinem Be-sitzer ähnlich sieht, aber diese beiden hätten wirklich nichtverschiedener sein können.

Maurice stammte aus Yorkshire; er war mürrisch, schlechtdrauf, grauhaarig und jenseits von Gut und Böse. Bob hinge-gen war gut erzogen, verspielt, freundlich, hellwach und hat-te eine Bombenkondition. Er begrüßte die meisten Leute be-geistert und voller Zuneigung, was ganz in Ordnung war, so-

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lange er saubere Pfoten hatte und man nichts Weißes trug;aber ich hatte eine Sonderstellung bei ihm. Bob betete michan. Genauer gesagt: Bob war heiß auf mich. Wenn er michsah, bellte er vor Freude. Ein paar Sekunden später lagen sei-ne Pfoten auf meinen Schultern, und er leckte mir das Make-up vom Gesicht. Wenn ich versuchte, ihn zurückzustoßen,glaubte er, das gehöre zum Vorspiel. Er streckte mir dieSchnauze zwischen die Beine und jaulte vor Vergnügen. Unddas war alles andere als lustig, weil Bob ein Riesenhund war.Da stand ich an die Regency-Treppe oder den georgianischenTisch gedrückt und bettelte, dass er mich freigeben solle.

»Es sieht ganz so aus, als ob er spielen will«, sagte Mau-rice aus der Sicherheit seiner Portiersloge heraus.

»Ja – ja, kann man wohl sagen«, keuchte ich, als Bob mirnoch einmal seinen großen schwarzen Kopf sehr schmerz-haft zwischen die Beine stieß. »Au! Hau ab, Bob! Maurice,ich bin heute ein klein bisschen spät dran, könnten Sie – ru-fen Sie ihn bitte zurück! Ah!«

»Na, so was«, murrte Maurice leicht verletzt. »Er ist dochnur freundlich, viel netter als diese aggressiven Rottweiler,oder?«

»Ja, absolut, viel, viel netter«, stieß ich hervor und nicktewie eine Wahnsinnige. »Ich muss halt nur – na ja, Sie wissenschon, ich muss zur Arbeit und bin spät dran …«

»Hierher, Bob«, knurrte Maurice misslaunig und schüt-telte den Kopf. »Sie will deine Aufmerksamkeiten nicht ha-ben. Spar sie dir für jemanden auf, der sie zu schätzen weiß.«

Zum Glück folgte Bob seinem Herrn aufs Wort – vielleichthatte er so große Angst vor ihm wie wir alle –, er ließ sofortvon mir ab und legte sich in seinen Korb. Ich murmelte einDankeschön und rannte dann die Treppe hinauf. Dabei we-delte ich erfolglos mit meinem Rock, um den scheußlichennassen Fleck trocken zu kriegen, den Bobs Geifer zurückge-lassen hatte.

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Heute Morgen war der liebestolle Bob Gott sei Dank nichtzu sehen. Maurice schien in seiner Loge zu schlafen, ichschlich auf Zehenspitzen vorbei und hoffte, dass Bob nebenihm in seinem Korb im Tiefschlaf lag oder, noch besser, miteiner schweren Hundegrippe zu Hause geblieben war.

Ich schaute auf die Uhr und sprang, zwei Stufen auf ein-mal nehmend, die Treppe hinauf. Meine Güte! Mir war nichtklar gewesen, dass es schon so spät war. Ich lief einen der vie-len Korridore in dem vornehmen alten Haus entlang, in demeinst unzählige Ölgemälde und Familienporträts gehangenhatten. Jetzt beherbergte der zweite Stock eine Werbeagen-tur, und an den Wänden hingen Fotos von Katzenfutter undTampaxwerbung. Ich raste am Empfang vorbei, rief Josie»Morgen« zu, stieß dann völlig außer Atem mit der Schulterdie nächste Tür auf und fiel in der Kaschemme, die ich mitPippa teilte, auf meinen Stuhl.

Selbst für meine Verhältnisse herrschte hier eine irre Un-ordnung. Es war ein kleines Büro mit zwei riesigen Schreib-tischen, die fast völlig unter Magazinen, Zeitungen, Dreh-büchern für Fernsehspots, Vorführbändern, Synchronisa-tionskassetten und einem oder zwei von diesen blödenSchreibcomputern verschwanden. Die Wände waren mit Po-laroidfotos gespickt, die die Entwicklung einer ausschwei-fenden Party im Büro dokumentierten – eine wahrhaft bun-te Collage aus Zungen, idiotischen Hüten, nackten Hintern,Ginflaschen und Hosenträgern. Auf dem Fensterbrett, demAktenschrank und jeder anderen leeren Fläche standen ext-rem fleißige Lieschen und ihre Nachkommen; Ableger vonAblegern von Ablegern hatten riesige Dimensionen ange-nommen. Auf dem Boden lagen noch mehr Magazine; ge-stapelt, gebündelt oder einfach in unordentlichen Haufen.Und mitten in diesem Chaos hing eine junge Frau in einemblauen Mantel wie ein armseliges Häufchen über ihremSchreibtisch.

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Pippa war offensichtlich an ihrer Schreibmaschine gestor-ben. Sie saß da, den Kopf auf die Arme gebettet, und press-te das Gesicht auf die Schreibunterlage. Sie war eines vondiesen Mädchen, die an einem Tag unglaublich attraktiv undam nächsten geradezu lächerlich hässlich aussehen konnten.Heute war ganz offensichtlich der nächste Tag. Ihr unersätt-licher Appetit auf Nachtclubs, lange Nächte, Gin Tonics undMänner – nicht unbedingt in dieser Reihenfolge – zeigte sichin den Auswirkungen stets am nächsten Morgen. Meine bes-te Freundin, Seelenverwandte und Leidensgefährtin bei Pen-halligan and Waters hob ihr blassgrünes Gesicht von derSchreibunterlage und sah mich mit stark geröteten Augen an.»Sprich mich nicht an«, flüsterte sie.

»Kakao und Schinkensandwich?«, fragte ich mitfühlend.»Ja, bitte, wenn du gehst.«Zu mehr war sie nicht in der Lage. Ihr Kopf fiel wie ein

Stein zurück auf den Schreibtisch. Ich schmiss meine Hand-tasche hin und schob ein paar Papiere auf meinem Schreib-tisch herum, damit es so aussah, als sei ich schon seit Stun-den hier.

»Wenn Nick von seinem Meeting zurückkommt, sag ihm,dass ich schon ewig hier bin und nur kurz auf die Bank muss-te!«, befahl ich.

Pippa stöhnte zustimmend, und ich galoppierte die Trep-pe hinunter und entrann durch den Hintereingang, wo ichnicht an Maurice und Bob vorbeimusste.

Ich tauschte die üblichen Schmeicheleien mit den freundli-chen Italienern in der Sandwich-Bar aus und raste, ihr Arri-viderci, bella! noch im Ohr, zurück zu der Patientin, in derHand das Sandwich gegen ihren Kater.

Als ich es auf ihren Schreibtisch legte, fand ich, dass sieschon besser aussah, aber nicht viel. Sie hatte noch immer ih-ren marineblauen Wintermantel an, obwohl es ein warmerFrühlingstag war, aber ihr Kopf lag nicht mehr auf dem

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Schreibtisch, und sie tat wenigstens etwas. Sie rauchte ihreerste, zweite, dritte – vierte Zigarette an diesem Morgen,dem Inhalt des Aschenbechers nach zu schließen. Auch wennman an Pippa eine Stirnlappen-Leukotomie vornehmenmüsste, fände sie immer noch Zeit, sich einen Glimmstängelanzuzünden.

»War er es wenigstens wert?«, fragte ich selbstgefällig vonmeiner erschreckend gesunden Position am Schreibtisch ge-genüber aus.

»Oh, ganz bestimmt«, flüsterte Pippa, nestelte an demVerschluss der Kakaotüte herum und schluckte schweigenddie Tatsache, dass ich so frisch wie der junge Morgen aussah.Aber das hatte ich mir auch durch einen tödlich langweili-gen Abend vor dem Fernseher erarbeitet, und nur zwei Scho-koladenorangen und eine Schachtel Konfekt hatten michtrösten können. Ich hatte auf Lotties Hund aufgepasst, wäh-rend auch sie am Leben auf der Überholspur teilgenommenhatte. Pippa und Lottie besuchten mehr Nachtclubs undPartys, als ich heiße Dates hatte. Wozu hatte ich eigentlich ei-nen Freund, wenn ich nie mit ihm ausging? Letztere Überle-gung äußerte ich vor Pippa jedoch nicht, da ich ihre zyni-schen Bemerkungen in Bezug auf Harry schon zur Genügekannte.

»Und du?« Es war eine große Anstrengung für Pippa, abersie schaffte es, die beiden kurzen Silben auszusprechen. DieFrage »Was hast du gestern Abend gemacht?« gehörte zu un-serem unumstößlichen Morgenritual, ganz egal, wie gut oderschlecht es uns ging.

»Ach, weißt du, ich bin zu Hause geblieben, war zur Ab-wechslung mal ganz schön«, log ich. Ich hoffte, dass sie nichtfragen würde: Mit Harry? Aber sie machte den Mund auf,und ich warf hastig ein: »Nein, nicht mit Harry. Ihm ist wasdazwischengekommen.«

Pippa seufzte. »Sein Dinner?«

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»Wie meinst du das?«, hakte ich schnell nach, weil ichspürte, dass sie wichtige Informationen besaß.

»Er war im selben Restaurant wie ich, total blau.« Es fielihr immer noch schwer, zu sprechen, aber unser Ehrencodexgebot uns, schreckliche Neuigkeiten so schnell wie möglichmitzuteilen. Ich fröstelte, während ich darauf wartete, dassdie Bombe platzte.

»Nein, keine Angst, er war nicht mit einer Frau dort, son-dern mit einem Haufen reicher Pinkel, die einen draufge-macht haben.«

Ich atmete erleichtert auf, es war also kein tête-à-tête beiKerzenlicht gewesen. Aber warum hatte er mich nicht mitge-nommen? Ich liebe Restaurants, und reiche Pinkel störenmich nicht weiter. Und ich liebe Partys. Ich befragte Pippanun gnadenlos, nahm keinerlei Rücksicht auf ihren Kater,aber entweder wusste sie nicht viel, oder sie war sehr nett.Ihre Antworten klangen jedenfalls verdächtig diplomatisch.

»… ungefähr zehn, fast nur Männer.«»… nein, er hat mich nicht gesehen.«»… äh, ein blondes Mädchen auf einer Seite und ein Mann

auf der anderen.«»… nein, nicht sehr hübsch, eher mausgrau als blond.«»… ach, irgend so einen blauen Fummel, sah nicht gerade

nach Modellkleid aus.«»… nein, nicht mit dem Mädchen, allein – Polly, bitte

drangsalier mich nicht mehr. Du weißt, dass er nichts fürdich ist, was soll ich dir noch alles erzählen?«

Ihr Kopf fiel wieder auf den Schreibtisch. Die Fragestundewar vorbei. Ich seufzte und zündete mir eine für meine Ver-hältnisse sehr frühe Zigarette an. Sie hatte Recht, er warnichts für mich. Er ging oft aus, aber nie mit mir. Ich ent-schloss mich zum millionsten Mal, unsere so genannte Bezie-hung beim nächsten Wiedersehen zu beenden. Ganz be-stimmt. Ja, definitiv. Gleich nächstes Mal. Er war es einfach

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nicht wert. Nach diesem nicht ganz ehrlichen Entschlussfühlte ich mich besser und hatte sogar Lust auf mein Eier-sandwich und die Daily Mail.

Nick, mein Boss, genau gesagt, der Boss, hatte immernoch ein Meeting mit einem Kunden, und wenn Nick nichtda war, dann war in der Agentur schon mal gar nichts los.Wir lungerten an unseren Schreibtischen, auf den Sofasund – nach einem schweren Lunch – auf dem Boden herum.Wir verteilten uns dekorativ um die Rezeption und sahenfern, erzählten uns schmutzige Witze, führten Ferngesprächenach Australien, tranken die Flaschen leer, die »ausschließ-lich bei Besprechungen mit wichtigen Kunden« geöffnet wer-den sollten, und benahmen uns im Großen und Ganzen so,wie alle Mitarbeiter in jeder ganz normalen Werbeagentur.Wenn Nick da war, machten wir genau dasselbe, passtenaber auf, dass er nichts merkte.

Was mich zum nächsten wunden Punkt bringt. Zumnächsten heiklen Thema auf der langen Liste meiner Enttäu-schungen. Zu Nick Penhalligan.

Als ich vor sechs Monaten aus der arbeitsreichen und un-terbezahlten Welt des Verlagswesens in die schillernde undmondäne Welt der Werbebranche wechselte, hatte ich sehrgenaue Vorstellungen davon, wie mein Leben bei Penhalli-gan and Waters sein würde. Okay, es war eine kleine Agen-tur, nur fünfzehn Leute, aber kleine Agenturen machten be-kanntermaßen großen Spaß. Ich würde auch für den Besit-zer der Agentur arbeiten, wovon ich mir jede Menge Actionversprach. Ich träumte davon, der unersetzliche weiblicheFreitag eines durch und durch verrückten Werbefritzen zusein, der von irren und impulsiven Ideen nur so überspru-delte; der zum Beispiel sagte: »Machen wir den Laden heu-te mal dicht, und schauen wir mal, ob uns im Vintage umdie Ecke nichts Geniales einfällt.« Ich stellte mir einen ele-gant angezogenen Mann mit einer extravaganten roten Bril-

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Catherine Alliott

Das Chaos hat einen NamenRoman

Taschenbuch, Broschur, 512 Seiten, 11,5 x 18,3 cmISBN: 978-3-442-36395-7

Blanvalet

Erscheinungstermin: November 2005

Hübsch, chaotisch und hoffnungslos romantisch – das ist Polly McLaren. Sie hat Probleme mitihrem Freund, Ärger mit ihrem Chef und Meinungsverschiedenheiten mit ihren Freundinnen,die normalerweise mit ihr durch dick und dünn gehen. Eines Tages wird Polly auf dem Wegzur Arbeit von einem Amerikaner angesprochen, der sie bittet, ihm bei der Suche nach seinerVerlobten zu helfen. Polly lässt sich darauf ein – und noch ehe sie sich versieht, steckt sie bisüber beide Ohrringe im größten Schlamassel ...