bodenforschung im deutschen alpenraum: rück- und ausblick

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Forstw. Cbl. 114 (1995), 302-304 1995 BlackweUWissenschafts-Verlag, Berlin ISSN 0015-8003 Bodenforschung im deutschen Alpenraum: ROck- und Ausblick Soil researchin the German Alps: History and Future Vorl H. ZIERL Zusammenfassung Stoff- und MassenverIagerung geh6ren von Anfang an zum Gebirge. In dieser Grundaussage treffen sich Erfahrungen der Bergev61kerungund Forschungsergebnisse. Intakte B6den und intakte Vegeta- tion, insbesondere gesunde Bergwiilder, k6nnen die Verlagerungsvorg~inge zwar nicht verhindern, jedoch auf ein Minimum reduzieren. Der Aspekt der Stoff- und Massenverlagerung bietet sich als zentraler Ansatz eines Hochgebirgs-Monitorings an. Mit ihm k6nnen nicht nur der reine physikalische Vorgang erfafit, sondern auch Zustand und Entwicklungen der Bergwelt insgesamt beurteilt werden. Summary Mass and material desplacement has always been an integral part of the mountains. This s~atement reflects both the experience of mountain dwellers and the results of scientific research. Intact soils and intact vegetation and, in particuiar, sound mountain forests may perhaps not be able to prevent displacement processes, but they can reduce them to a minimum. Aspects of mass and material displacement can be used as the main approach to alpine monitoring. This would not only permit the recording of purely physical processes but also the assessment of the overall state of and development in the mounains. ,,Man muff dem Hochgebirge zugestehen, dat~ es erodiert." Diese Aussage faint die Erfahrung des Bergbewohners treffend zusammen. Sie steht im Einklang mit dem physikalischen Gesetz, nach dem in die H6he gehobene Stoffe und Massen sich in einem labilen Zustand befinden und der Schwerkraft folgend wieder nach unten bewegen. Der Weg vom Berg zum Tal kann krachend und donnernd erfolgen, dabei mehr oder weniger grot~e Schnee-, Eis-, Gesteins- und Erdmassen mit sich reifiend, er kann sich aber auch still und leise und fiir die menschliche Beobachtung kaum wahrnehmbar vollziehen. Die Bergbewohner sind nicht bei der eingangs erw~ihnten Erkennmis stehengeblieben. Sie haben fiber Generationen einen reichen Erfahrungsschatz angesammett, der ein Leben und Wirtschaften im Hochgebirge erm6glichte. Ein Mit~achten der Erfahrungen konnte schlimme Fotgen nach sich ziehen und fiihrte zu der Erkennmis, dat~ man den zur Verfiigung stehenden Spielraum besser nicht voll aussch6pft, sondern zu den Grenzen des Gefahrem raums, die ohnehin nicht genau zu erfassen sind, zweckm~ifligerweise einen Sicherheitsab- stand einhiilt. Solche Erkennmisse sind in jiingster Vergangenheit bisweilen in Vergessenheit geraten oder werden als iiberholt betrachte~. Das Schicksat von Neuansiedlungen in Abla- gerungsgebieten yon Muren oder nachtr~igliche Sanierungskosten von beispielsweise knapp 1 Million DM nach Anlage einer gar nicht so groflen Skipiste haben gezeigt, dat~ der Hinweis der Bibel auf die abgetragenen Berge und die aufgefiillten T~ter noch immer gilt. Eine iiber Jahrhunderte mit hoher Intensit~it, mit reichlichen und billigen Arbeitskr~fften und in ihrer Art durchaus mit Erfolg betriebene Bewirtschaftung von Berggebieten hat wohl auch zu der Auffassung gefiihrt, daft nur der ordnende Mensch die Kr~ifte und Abliiufe der Verlagerung vom Berg zum Tal beherrschen kann. Doch die traditionelle Landnutzung der Wald- und Landwirtschaft hat sich aus erheblichen Fliichen zuriickgezogen und wird auch kiinftig noch weitere Fl~ichen aufgeben. Die daraus gelegentlich abgeleiteten Schreckensvi- sionen, die der sich selbst iiberlassenen Natur keine oder kaum eine erosionshemmende U.S. Copyright Clearance Center Code Statement: 0015-8003/95/11405-0302 $ 11.00/0

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Page 1: Bodenforschung im deutschen Alpenraum: Rück- und Ausblick

Forstw. Cbl. 114 (1995), 302-304 �9 1995 BlackweU Wissenschafts-Verlag, Berlin ISSN 0015-8003

Bodenforschung im deutschen Alpenraum: ROck- und Ausblick Soil research in the German Alps: History and Future

Vorl H. ZIERL

Zusammenfassung

Stoff- und MassenverIagerung geh6ren von Anfang an zum Gebirge. In dieser Grundaussage treffen sich Erfahrungen der Bergev61kerung und Forschungsergebnisse. Intakte B6den und intakte Vegeta- tion, insbesondere gesunde Bergwiilder, k6nnen die Verlagerungsvorg~inge zwar nicht verhindern, jedoch auf ein Minimum reduzieren. Der Aspekt der Stoff- und Massenverlagerung bietet sich als zentraler Ansatz eines Hochgebirgs-Monitorings an. Mit ihm k6nnen nicht nur der reine physikalische Vorgang erfafit, sondern auch Zustand und Entwicklungen der Bergwelt insgesamt beurteilt werden.

Summary Mass and material desplacement has always been an integral part of the mountains. This s~atement reflects both the experience of mountain dwellers and the results of scientific research. Intact soils and intact vegetation and, in particuiar, sound mountain forests may perhaps not be able to prevent displacement processes, but they can reduce them to a minimum. Aspects of mass and material displacement can be used as the main approach to alpine monitoring. This would not only permit the recording of purely physical processes but also the assessment of the overall state of and development in the mounains.

,,Man muff dem Hochgebirge zugestehen, dat~ es erodiert." Diese Aussage faint die Erfahrung des Bergbewohners treffend zusammen. Sie steht im Einklang mit dem physikalischen Gesetz, nach dem in die H6he gehobene Stoffe und Massen sich in einem labilen Zustand befinden und der Schwerkraft folgend wieder nach unten bewegen. Der Weg vom Berg zum Tal kann krachend und donnernd erfolgen, dabei mehr oder weniger grot~e Schnee-, Eis-, Gesteins- und Erdmassen mit sich reifiend, er kann sich aber auch still und leise und fiir die menschliche Beobachtung kaum wahrnehmbar vollziehen.

Die Bergbewohner sind nicht bei der eingangs erw~ihnten Erkennmis stehengeblieben. Sie haben fiber Generationen einen reichen Erfahrungsschatz angesammett, der ein Leben und Wirtschaften im Hochgebirge erm6glichte. Ein Mit~achten der Erfahrungen konnte schlimme Fotgen nach sich ziehen und fiihrte zu der Erkennmis, dat~ man den zur Verfiigung stehenden Spielraum besser nicht voll aussch6pft, sondern zu den Grenzen des Gefahrem raums, die ohnehin nicht genau zu erfassen sind, zweckm~ifligerweise einen Sicherheitsab- stand einhiilt. Solche Erkennmisse sind in jiingster Vergangenheit bisweilen in Vergessenheit geraten oder werden als iiberholt betrachte~. Das Schicksat von Neuansiedlungen in Abla- gerungsgebieten yon Muren oder nachtr~igliche Sanierungskosten von beispielsweise knapp 1 Million DM nach Anlage einer gar nicht so groflen Skipiste haben gezeigt, dat~ der Hinweis der Bibel auf die abgetragenen Berge und die aufgefiillten T~ter noch immer gilt.

Eine iiber Jahrhunderte mit hoher Intensit~it, mit reichlichen und billigen Arbeitskr~fften und in ihrer Art durchaus mit Erfolg betriebene Bewirtschaftung von Berggebieten hat wohl auch zu der Auffassung gefiihrt, daft nur der ordnende Mensch die Kr~ifte und Abliiufe der Verlagerung vom Berg zum Tal beherrschen kann. Doch die traditionelle Landnutzung der Wald- und Landwirtschaft hat sich aus erheblichen Fliichen zuriickgezogen und wird auch kiinftig noch weitere Fl~ichen aufgeben. Die daraus gelegentlich abgeleiteten Schreckensvi- sionen, die der sich selbst iiberlassenen Natur keine oder kaum eine erosionshemmende

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Wirkung zutrauen, m~issen ernsthaft hinterfragt werden. Bezieht man die Zeitspanne seit der letzten Eiszeit - also immerhin gut 10.000 Jahre - mit in die Betrachtung ein, so muf~ zugestanden werden, daf~ die vom Menschen nicht manipulierte Natur die Stoff- und Massenverlagerung fiber mehrere Jahrtausende auch alleine in Grenzen zu halten vermochte

- vorausgesetzt, sie hatte die Chance, sich immer wieder zu regenerieren. Eine R~ickschau [iber etwa 10.000 Jahre erm6glicht ein aus dem Funtensee (1600 m

Seeh6he) im Nationalpark Berchtesgaden gezogener Bohrkern. Er ist 8,60 m lang und reicht an die Wende zwischen Sp~it- und Nacheiszeit zur/.ick. Die Analyse des Bohrkerns l~it~t zusammenfassend folgende Rekonstruktion des Abtragsgeschehens im Einzugsgebiet des Funtensees zu:

Die ersten etwa 1000 Jahre waren gepr~igt yon einer offenen Tundrenvegetation, die nach R/.ickzug des Eises die zu~ckgelassenen Schuttmassen allm~ihlich wiederbesiedelte. Abtrag und Ablagerung in dem damals noch gr6f~eren Funtensee m~issen m~ichtig gewesen sein. Die untersten 6 Meter des Bohrkerns sind dieser ersten Periode zuzuordnen.

Im Verlauf des folgenden Temperaturanstiegs erreichte die Waldgrenze den Funtensee- kessel und stieg bis fiber 2000 m an. In dieser Periode maximaler Waldausbreitung erreichten Abtrag und Sedimentation im See ein bisheriges Minimum.

In dem jiingsten zu~ckliegenden Jahrtausend nimmt die Ablagerung am Seeboden wieder zu. Ki~hler werdendes Klima drtickt die Waldgrenze nach unten. Bald nach Gr/~n- dung des Augustiner Chorherrenstifts in Berchtesgaden zu Beginn des 12. Jahrhunderts dringt die Almwirtschaft in das Funtenseegebiet vor. Der Wald weicht auf gr6i~eren Fl~ichen dem Weidevieh oder lichtet sich unter dem Einflu!~ der Waldweide.

In den drei zusammenfassend vorgestellten Perioden (offene Tundrenvegetation - maxi- male Waldausbreitung- Waldr~ickzug) steht die Ablagerung im See in einem Verh~ittnis von 30:1:3. Ein eindrucksvollerer Beweis f~ir die Wirkung des Bergwatdes als Erosionsschutz ist kaum vorstellbar.

Die Untersuchungsergebnisse des Projekts ,,Bodenforschung im deutschen Alpenraum" best~itigen und unterstreichen die Bedeutung von geschtossener Vegetation und insbeson- dere von intakten Bergw~ildern zugunsten einer Minimierung der Stoff- und Massenverla- gerung im Gebirge. Sie f~igen eine Reihe zus~itzlicher Erkennmisse hinzu. Sie kommen aus den Fachbereichen traditioneller und neuer, vor allem trouristischer Nutzungen, aus dem Fachgebiet von Klima und Witterungsverlauf und insbesondere aus dem weitgespannten Wissensgebiet des Bodens. Die vorausgehenden Einzelbeitr~ige stellen vor, welches Gewicht intakten Gebirgsb6den zukommt. Skelett- und Steingehalte, Porenvolumen, Sauerstoffver- sorgung, Wasseraufnahme- und Wasserspeicherf~ihigkeit, Versickerung und Grundwasser- neubildung, Humusgehalt und Aggregatstabilit~it, Ionenaustausch, Vitalit~it und Leistungs- verm6gen der Bodenfauna sowie ihr Beitrag zur Regeneration der B6den werden behandelt und deren Rolle fiir Stoff-und Massenverlagerung dargelegt. Intakte Boden erweisen sich als Voraussetzung f~ir intakte Vegetation und Ber~ilder, deren erosionshemmende Rolle der Bohrkern aus dem Funtensee so eindrucksvoll dokumentiert.

Die Stoff- und Massenverlagerung ist ein zentraler Aspekt der naturr~iumlichen Dynamik des Hochgebirges. Diese These stellt der AKTIONSPLAN ALPEN-FORSCHUNG (Erste Ergeb- nisse des Alpen-Forums 1994 in Disentis, Schweiz) an den Anfang der dort formulierten Forschungsschwerpunkte und Forschungsinitiativen. DEUTSCHER BUNDESTAG und BAYE- RISCHER LANDTAG haben sich wiederholt, insbesondere in den Jahren 1987 und 1988, mit der Situation des Alpenraumes und dabei eingehend mit der Thematik von Abflui~- und Massenverlagerung besch~iftigt.

Stoff- und Massenverlagerung einschtiefflich des Abflut~verhaltens k6nnten der zentrale Ansatz eines Hochgebirgs-Monitorings sein. Nur bei oberfl~ichlicher Betrachtung erscheint dies als ein sektoraler abiotischer Ansatz. Die Verlagerungsvorg~inge vom Berg zum Tal sind das Ergebnis des Zusammenspiels vieler abiotischer und biotischer Faktoren sowie des menschlichen Wirkens in der Bergwett. Uber den Abfluf~ und seine Fracht wirkt das

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Hochgebirge auch weir in die Ebene hinaus. Stoff- und Massenverlagerung werden so zu einem zentralen Indikator ftir Prozesse der Hochgebirge und dies nicht nur der Alpen, sondern aller Hochgebirge der Erde. Ein auf diesem Ansatz aufbauendes Hochgebirgs-Mo- nitoring wtirde eine Forderung des Alpen-Forums 1994 erftillen:,,E~n ideales Beobachtungs- system muff ein Instrument sein fiir den Umgang mit globalen Fragen".

Literatur

BAYERISCHE STAATSREGIERUNG, 1987: Der Bayerische Alpenraum: Situatton - Belastungen - Mat~nah- men', Beantwortun.. . g yon Interpellationen. der CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion. - Bayer. Staatsmmistermm ffir Landesentwlcklung und Umweltfragen.

DEUTSCHER BUNDESTAG, 1988: Zur Datenerhebung fiber die 6kologische Situation in den Alpen und zu vorbeugenden Magnahmen gegen Katastrophen.- Bundestagsdrucksache 11/2773.

NATIONALPARKVERWALTUNG BERCHTESGADEN (Hrsg.), 1985: Der Funtensee. Naturkundliches Pro- trait eines subalpinen Sees. - Forschungsbericht der Nationatparkverwaltung Berchtesgaden Nr. 7/1985.

SCHWEIZERISCHE AKADEMIE DER NATURWISSENSCHAFTEN SANW (Hsg.), 1994: Aktionsplan Alpen- Forschung. Erste Ergebmsse des Alpen-Forums 1994 1I.-16. September t994 in Disentis (CH).

Anschreft des Verfassers: Dr. HUBERT ZIERL, Leiter des Nationalparks Bercbtesgaden, Doktorberg 6, D-83471 Berchtesgaden