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PRINZ Faisal Bjarne Reuter

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PRINZFaisal

Bjarne Reuter

PRINZFaisal

Bjarne Reuter

www.sauerlaender.de

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(A)

Die Karibik im 17. Jahrhundert

Der Fischerjunge Tom Collins wünscht sich nichts mehr, als eines Tages frei zu sein, zur See zu fahren und wilde Aben-teuer zu erleben. Als ihm eines Nachts zwei Schiffbrüchige ins Netz gehen, der sagenhafte Lügenbold Ramón und ein schwarzer Junge, wähnt Tom sich seinem Traum ganz nah: Denn der Junge ist kein Sklave, wie Tom zunächst vermutete, sondern der Sohn des Königs von Kap Verde. Demjenigen, der den Prinzen in seine Heimat zurückbringe, winke eine reiche Belohnung, erfährt Tom. Das Glück scheint zum Greifen nah. Doch plötzlich ist Ramón mit dem Prinzen verschwunden …

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Bjarne ReuterPrinz Faisal

Bjarne Reuter,geboren 1950 in Dänemark, fing bereits im Alter von zehn Jahren an, Geschichten zu schreiben. Mittlerweile sind von ihm über 60 Kinder- und Jugendbücher sowie Drehbücher für Film und Fernsehen erschienen. Seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, z. B. auch mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis.

Bjarne Reuter

PRINZFaisal

Aus dem Dänischen von Gabriele Haefs

Für Filip, Anders, Anna, Sophie und Max

Originaltitel: Prins Faisals RingCopyright © 2000 by Bjarne Reuter

First published by Gyldendal, Copenhagen, 2000Published in Germany by agreement

with The Gyldendal Group Agency, Denmark

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© für die deutsche Übersetzung 2002 Patmos Verlag GmbH & Co. KG, Sauerländer Verlag, Düsseldorf

© für die deutschsprachige Neuausgabe:Sauerländer 2012

Bibliographisches Institut GmbHDudenstraße 6, 68167 Mannheim

Alle Rechte vorbehalten.Umschlaggestaltung: Regina Solf

Umschlagabbildungen:Schiff: shutterstock.com/Sarah Holmlund

Kompass: shutterstock.com/MaugliJunge: shutterstock.com/CURAphotography

Druck: Friedrich Pustet KG, Gutenbergstraße 8, 93051 RegensburgISBN 978-3-411-81020-8

www.sauerlaender.de

INHAlT

1. BUCH

Erstes Kapitel: Tom Collins · 11

Zweites Kapitel: Feodora Dolores Vasgues · 24

Drittes Kapitel: Ramón der Fromme · 42

Viertes Kapitel: Pater Innozenz · 53

Fünftes Kapitel: Bibido · 75

INHAlT

2. BUCH

Sechstes Kapitel: Nikolaus Kopernikus · 95

Siebtes Kapitel: Luzifers Stiefel · 115

Achtes Kapitel: Joop van den Arle · 140

Neuntes Kapitel: Master Briggs · 156

Zehntes Kapitel: Sugar George · 173

Elftes Kapitel: Sarah Briggs · 188

Zwölftes Kapitel: Sunday Morning · 205

Dreizehntes Kapitel: Toto · 219

Vierzehntes Kapitel: Kanuno · 230

INHAlT

3. BUCH

Fünfzehntes Kapitel: El Casto Josephine · 245

Sechzehntes Kapitel: Viva España · 265

Siebzehntes Kapitel: El Caballito del Diablo · 275

Achtzehntes Kapitel: Nyo Boto · 288

Neunzehntes Kapitel: Die Insel · 312

Zwanzigstes Kapitel: Gráinne Ní Mháille · 329

INHAlT

4. BUCH

Einundzwanzigstes Kapitel: Des Teufels Schädelspitze · 355

Zweiundzwanzigstes Kapitel: C.W. Bull · 382

Dreiundzwanzigstes Kapitel: Indigo Moon · 406

Vierundzwanzigstes Kapitel: Der Gürtel des Orion · 424

Fünfundzwanzigstes Kapitel: Gianlucca aus Portofino · 446

Sechsundzwanzigstes Kapitel: São Miguel · 458

Siebenundzwanzigstes Kapitel: Prinz Faisals Ring · 477

Epilog

Worterklärungen

1. BUCH

11

1

TOM COllINS

Im Jahre des Herrn 1639 kenterte ein portugiesischer Vollmaster vor der Küste von Saint Christopher und ging mit Mann und Maus unter. Auf ihrer Fahrt von Afrika zur Neuen Welt in Bra-silien war die Galeone in einen Orkan geraten, danach war eine Meuterei ausgebrochen und deshalb war der Kurs verändert worden. Was aus der Besatzung und den vierhundert Sklaven geworden war, wusste niemand, aber das Gerücht von ihrem Schiffbruch verbreitete sich wie ein lauffeuer zwischen den klei-nen Inseln der Karibik. Nacht für Nacht waren Männer und Frauen zu sehen, junge wie alte, die mit ihren kleinen Booten, auf denen laternen wie tausend Feuerfliegen glühten, auf Jagd nach dem wertvollen Treibgut in See stachen.Die dreimastige Galeone war ein prachtvolles Schiff mit Rahen an allen Masten gewesen, außergewöhnlich groß und von male-rischer Schönheit. Sie hinterließ nur ein paar Kräusel an der Wasseroberfläche, eine dahintreibende Galionsfigur sowie zwei verängstigte Seelen, von denen diese Geschichte handelt. Außer-dem handelt sie natürlich auch von Tom Collins, einem vier-zehnjährigen Jungen, geboren und aufgewachsen auf Nevis, einer für ihren dichten Regenwald und den erloschenen Vulkan bekannten Insel. Der Vulkan lag mitten auf der Insel und war oben von einem kleinen Wolkenkragen umgeben.Die Familie Collins bestand nur aus drei Mitgliedern. Neben Tom waren das die Mutter und Toms Halbschwester Feodora, die ein Jahr älter war als ihr Bruder. Sie verdienten sich ihr Brot

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in einer kleineren Schenke in einem der Inselhäfen. Der Wirt, Señor lopez, hatte der Familie Zuflucht gewährt, als Feo-doras spanischer Vater bei einem Duell ums leben gekommen war. Später heiratete die Mutter noch einmal, diesmal einen Iren, der zwei Jahre nach Toms Geburt einem tückischen Fieber erlag.Die Witwe war nun von Señor lopez’ launen und dem Fleiß ihrer Kinder abhängig. Sie wohnten in der Schenke, konnten dort jeden Tag essen und hatten Kleider am leib, aber sowie Tom laufen lernte, fing er an, die Strände abzusuchen, in der Hoffnung den Schatz zu finden, der eines Tages die Familie aus den Händen des brutalen Gastwirts befreien würde.

Die Geschichte setzt in einer dunklen, stürmischen Nacht im September ein.Tom hatte eben die Tische abgewischt und die Tür zum Hin-terzimmer geschlossen, wo Señor lopez sich mit der Mutter über den Inhalt der Kasse stritt. Tom wusste, dass seine Mutter nicht einmal im Traum daran denken würde, irgendwen zu betrügen – und Señor lopez schon gar nicht. Jede Woche muss-ten sie und Feodora dem Wirt die Füße waschen, seine Nägel reinigen, seinen Bart stutzen, seine Haare entlausen und seinen Rücken schrubben. Sie verabreichten ihm Rainfarn* gegen Würmer, Majoran für seine Verdauung und Rotwein gegen Weltschmerz.»Ich weiß, wie scharf du auf Geld bist«, kreischte der Wirt. »Ich kenne die ewige Flamme, in der die Menschenherzen sich nach dem Mammon verzehren, und du bist um nichts besser, und deine naseweise Tochter mit ihrer scharfen Zunge und ihrem hochmütigen Gemüt ekelt inzwischen so viele Gäste aus dem Haus, dass ich bald den Schlüssel umdrehen und mich nach einer anderen Erwerbsmöglichkeit umsehen muss. Und was dann aus

* Siehe die Worterklärungen hinten im Buch.

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der Witwe Collins und ihren beiden unehelichen Bälgern wer-den soll, das weiß Gott allein.«»Euer Gasthaus ist eine kleine Goldgrube«, widersprach Toms Mutter, die hinter dem Wirt stand und seine schwarzen Haare frisierte.Señor lopez saß in seinem Polstersessel, der dreimal im Jahr erweitert werden musste, um Platz für sein enormes Hinterteil zu bieten, das den Spitznamen »die dritte Welt« erhalten hatte.»Goldgrube«, jammerte der Spanier und schloss die Knöpfe an seinem Wams. »Was weißt du schon von den Ausgaben, die man hat, von den vielen Spekulationen, mit denen ein Gastwirt sich abplagen muss? Dazu ist man noch mit einem weichen Gemüt belastet, was du und deine Nachkommen nach Kräften ausnutzt.«Tom schüttelte den Kopf und stellte die Stühle auf die Tische, um den Boden zu putzen. »Und deine Tochter erlaubt sich freche Widerworte«, schimpf-te lopez weiter, »wo ich doch ihr einziger Schutz vor Armut und Seuche bin. Ich, der die Hand über dein Haupt hält, wie ich die Hand über die Häupter deiner Tochter und deines Sohnes halte, dieses Teufels-Iren, in dessen krankhaften Augen sich ein wahrer Satan verbirgt. Er atmet durch Kiemen, so ist das. Er hat so viel Zeit unter Wasser verbracht, dass sein Gesicht grün und absto-ßend geworden ist. Man nährt eine Schlange an seinem Busen und hat nachts Albträume bei der Vorstellung, was der Knabe alles anstellen kann, während man im warmen Bett liegt.«»Señor lopez kann ruhig schlafen«, sagte Toms Mutter.»Aber ich schlafe nicht ruhig. Am schlimmsten sind die Geschich-ten, die er sich aus den Fingern saugt. lügen, von Anfang bis Ende. Sie quellen aus ihm heraus, sowie er auch nur den Mund aufmacht.«»Tom ist ein guter Junge und das wisst Ihr sehr wohl, Señor. Er hat eine lebhafte Phantasie, aber das heißt noch lange nicht, dass er lügt.«

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»Er ist ein Schlingel und seine Schwester ist hochmütig, frech und schnippisch und macht sich lustig über andere. Als sei man an seinem Aussehen selber schuld.«»Ich werde mit Feo sprechen, Señor lopez.«Die tiefe ruhige Stimme der Mutter konnte den dicken Wirt in der Regel besänftigen.

Das Gespräch hatte sich um die üblichen Themen gedreht, zum Beispiel um Feodoras scharfe Zunge. Ein Thema, bei dem Tom ein Wörtchen mitreden konnte. Die Vorstellung, dass seine Schwester noch an diesem Abend eins auf die Finger bekommen würde, schenkte Tom frischen Mut und zauberte ein kleines lächeln auf seine lippen, als er losging, um den Riegel vor die Tür zu schieben.»Einfach unbegreiflich, dass das Mädel einen Spanier zum Vater gehabt haben soll«, sagte lopez jetzt. »Das ist ja gerade das Problem«, murmelte Tom und wollte schon das licht über dem Tresen löschen, als an die Tür geklopft wurde.Er seufzte und betrachtete den lichtstreifen, der die dunkle Schankstube vom Hinterzimmer trennte, in dem immer zwei massive Kerzenleuchter brannten. Der Wirt fürchtete sich näm-lich im Dunkeln und stopfte sich zum Schlafen einen Zipfel sei-nes Nachthemdes in den Mund.Tom ging zur Eingangstür und sagte leise, aber energisch, die Schenke sei geschlossen.Wieder wurde geklopft.»Ich habe gesagt, wir haben geschlossen. Kommt morgen wieder!«In diesem Moment fiel das licht aus dem Hinterzimmer in die Schankstube.Tom drehte sich um und sah, wie seine Mutter dem Wirt die Füße wusch; der dicke Mann dagegen zeigte mit seinem mit Silber beschlagenen Stock auf Tom.

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»Du irischer Hund«, stöhnte er. »Mach sofort auf, wenn der Gast hereinwill. Was glaubst du wohl, wovon du lebst, Knabe?«Tom zuckte mit den Schultern und öffnete, und obwohl die Gestalt zur Hälfte in eine eng sitzende Kutte gehüllt war und die pechschwarze Nacht kein anderes licht aufwies als das leuchten des Meeres, erkannte er sofort die heimatlose Zamora. Es gingen Gerüchte, sie sei bereits zweihundert Jahre alt. Sie selbst wollte gesehen haben, wie der Ozean aus dem Maul des Frosches ström-te – des Frosches, der der Ursprung aller Dinge war und der Zamora ihre tiefe Weisheit und das milchige Auge geschenkt hatte, mit dem sie in die Menschen hineinblicken konnte. Ansons-ten ernährte sie sich durch das Anrühren seltsamer Salben, die die Wunden der Menschen heilten und diese von ihrer Verstop-fung befreiten. Niemand kannte die Anzahl der Bootsleute, die ihr eine Flasche vom besten Wein des Hauses spendiert hatten, um zu erfahren, dass ihnen sehr bald liebe und Unglück in ein und derselben Gestalt begegnen würden. Es war allerdings auch allgemein bekannt, dass Zamora vor nicht allzu langer Zeit noch eine gute und zuverlässige Geburtshelferin gewesen war, zum Beispiel für Elinore Collins, als Tom zur Welt kommen sollte.Zamora setzte sich an den nächststehenden Tisch und bat um einen Becher Wasser.»lass dir zuerst das Geld geben«, mahnte der Wirt, dann zog er mit seinem Stock die Tür zu.Tom ging hinter den Tresen zu dem Eimer, den er beim Putzen benutzt hatte. Er verschenkte kein frisches Trinkwasser, und schon gar nicht an Zamora, die nur selten bezahlen konnte und die ihn jetzt daran hinderte, aufs Meer hinauszufahren, ehe die anderen Glücksjäger sich im Morgengrauen auf den Weg machten.Er füllte einen lederbecher mit dem schmutzigen Wasser und stellte ihn vor die Alte hin, die mit müder Bewegung ihre Kapu-ze nach hinten streifte. Auf ihrem kleinen, hart verbrannten Kopf waren nicht mehr viele Haare übrig. Das eine Auge war immer

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geschlossen, das andere, das milchige, sah Tom dagegen mit unergründlichem Ausdruck an.Mit zitternden Händen leerte sie den Becher und wischte sich mit der Unterseite ihres Ärmels den Mund.»Tom Collins«, seufzte sie. »Dein Vater war mir Geld schul-dig.«Zamora war bekannt für solche Bemerkungen, die niemand wei-ter beachtete. »Aber das soll nicht zwischen uns stehen, mein Junge. Wo ist deine Mutter?«»Meine Mutter ist hinten bei Señor lopez und die Kneipe hat geschlossen.«»Deine Mutter verweigert mir nie ein Glas von dem Wein, den ihr aus den Resten, die die Gäste hinterlassen, in Schüsseln zusammenpanscht. Aber den hast du vielleicht schon selber getrunken? Ach, du bist deinem Vater ja so ähnlich. Zankst du dich noch immer mit deiner Halbschwester? Ja, das tust du, Tom. Du hasst alles Spanische und sie hasst dein irisches Blut. Das kann ich in deinen irischen Augen lesen. Also, schenk mir ein Glas ein und dann reden wir über deinen Vater. Das war wirklich noch ein Mann, der diesen Namen verdiente. Zum Teufel mit dem Fieber, das ihn geholt hat. Heil Hippokrates dem Weisen, denn der Aberglaube ist weiterhin der beste Freund der Seuche. Schreib dir das hinter die Ohren, junger Tom! Das Fieber hat nichts mit Gottes Willen zu tun und Pest bekommen wir von Ratten. Aber jetzt bring schon den Wein auf den Tisch.«Tom schlug seine Arme übereinander.»Wenn du Wein willst, dann musst du bezahlen.«»Ach, sicher, natürlich werde ich bezahlen, Tom.«»Womit denn?«Zamora schaute sich um, ein kleines lächeln umspielte ihre vio-letten lippen. Tom schielte zu ihrem Schatten hinüber, der sich schief und verkrüppelt über den Boden gelegt hatte.»Es ist ein seltsamer Wind, der heute Nacht weht«, schnaufte Zamora. »Bald kommt er von Osten, bald von Westen, er fegt

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über das Meer dahin, hinterlässt aber nicht einmal einen Kräusel an der Oberfläche. Weißt du, wie ein solcher Wind genannt wird? Er wird ›Schicksalsatem‹ genannt. Er strömt aus dem gro-ßen Mund des Schicksals, und wer ihm zuhört, kann viel davon lernen. In einer Nacht wie dieser begegnet der Mensch seinem Schicksal.«Zamoras milchiges Auge glitt über Toms Körper. »Aber wie immer erhebt das Schicksal sich mit geballter Faust, denn in sei-ner Hand liegt der Weg, den du gehen sollst. Die Frage ist jetzt: Welche Hand willst du, lieber Tom?«Tom seufzte und schüttelte den Kopf.»Reich mir deine Hand, junger Collins.«»Ich bedanke mich.«»Ich weiß, es erfordert Mut, sich die Hand lesen zu lassen, aber man sollte doch meinen, du seist Manns genug, um dir anzuhö-ren, was dich erwartet. Dein Vater war ein mutiger Mann. Hitzig und auffahrend, aber mutig.«»Das weiß ich.«»Ich, die ich gesehen habe, wie das Meer entstand und wie die Erde zu Feuer wurde, habe kaum noch etwas zu erwarten, aber ich habe den Eindruck, dass gerade dein Schicksal sich von allen anderen unterscheidet.«»Wirklich?«Mit einer plötzlichen Bewegung und mit überraschender Kraft hatte Zamora Toms Handgelenk gepackt. Ihr milchiges Auge durchbohrte ihn wie ein Dorn.»Für ein Glas Wein, ein einziges Glas, biete ich dir den Rest deines lebens.«»lass meinen Arm los, Zamora!«»Ein einziges Glas aus der Resteschüssel, von deiner Schwester durch ein rotes leinentuch gegossen, damit Essensreste, Tabak und Krankheitskeime ausgesondert werden. Ach, ich weiß doch, wie es in einer Schenke zugeht. Verstehst du, Tom, ich war über-all. Ich habe gesehen, wie Männer im Suff gestorben sind, wie

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Matrosen kielgeholt und später an dem Seil aufgehängt wurden, das sie als Rettungsleine benutzt hatten, als sie den Atlantischen Ozean überquerten. Dein Weg, Tom Collins, ist übersät von Steinspänen und Scherben und er wird dich weiter hinausführen, als dir lieb ist; aber es gibt immer einen Rat und solltest du eines Tages das Ende der Welt erreichen, dann denk an meine Worte: Auf Jamaika steht ein sogenanntes Wirtshaus namens Luzifers Stiefel. Das sollst du aufsuchen, wenn alle anderen Möglichkeiten aufgebraucht sind, denn der Stiefel ist der Friedhof der verlore-nen Seelen; doch selbst dort ist die Resteschüssel bekannt und niemand verwehrt einer durstigen Seele den Wein, der einmal im Mund gewesen ist. Ich bin jedoch kein zartes Gemüt und kann auch den Most trinken. Gib mir deine rechte Hand. In der linken kann ich nicht lesen, denn die hält das Schwert, das das Werkzeug des Todes ist. Du bist doch linkshänder, oder nicht, Tom Collins, das war schon zu sehen, als du dem Mutterleib entschlüpft bist, ebenso rothaarig wie heute. Aber du kannst es vielleicht nicht ertragen, noch mehr über das leben zu hören, das dich erwartet?«Tom gab keine Antwort, sondern ging rückwärts zur Theke, nahm sich einen leeren Becher, versenkte ihn in der Resteschüs-sel und schaute verstohlen zum Hinterzimmer hinüber.Zamora kippte den Wein ebenso schnell hinunter wie vorher das Wasser. Ihr milchweißes Auge war plötzlich von Glut erfüllt, als verbreite die schwarze Pupille sich wie Ringe in der kranken Iris, die sich verschob, sodass das Auge schwarz wurde wie der Him-mel über dem Dachfirst.»leg jetzt deine Hand auf den Tisch, ball sie hart zur Faust, drücke zu, bis das Blut aus deinen Fingern weicht und der Schmerz bis in die Achselhöhle zu spüren ist.«Tom starrte seine geballte Faust an, die weißer und weißer wurde, und spürte, wie der Schmerz seinen Arm erfüllte, der nun der-maßen zitterte, dass der Tisch wackelte.»Noch fester, Tom, noch fester.«

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»Ich kann … nicht mehr.«»Doch, du kannst.«Vor Toms Augen wurde alles schwarz, er schnappte nach luft und hob die Faust, wie um der Alten eins vor die Stirn zu geben.»So, Tom«, flüsterte die Wahrsagerin, »jetzt mach die Hand auf und leg sie auf den Tisch.«Tom ließ sich erschöpft auf dem Stuhl zurücksinken.»Deine Hand, Tom«, flüsterte Zamora, »ist eine Seekarte von deiner Zukunft. Nach dieser Karte kannst du deinen Kurs ab-stecken. Wenn du seine Möglichkeiten, seine Gefahren und seine Abweichungen kennst, dann kannst du zu deinem Besteck greifen und zu deinem eigenen Kapitän werden. Heute Nacht schenke ich dir ein Gedächtnis, mit dem du dich an jedes Wort erinnern kannst, das ich sage. Nichts davon wirst du vergessen.«Tom räusperte sich. »Jetzt sag schon, was du siehst.«»Du bist ein zäher Brocken, Tom.« »Ja, das höre ich nicht zum ersten Mal. Und sonst?«»Und ehrgeizig. Du willst reich werden, unendlich reich. Aber dein Begehren beschränkt sich nicht auf dich allein. Du willst deine Mutter aus diesem Haus freikaufen.«»Das wissen doch alle.« »Im tiefsten Herzen«, sagte Zamora, »im tiefsten Herzen willst du auch deine Halbschwester freikaufen.«»Da irrst du dich nun wirklich«, knurrte Tom. »Spanische Hün-dinnen müssen selber sehen, wie sie fertig werden.«Zamora beugte sich über den Tisch. »Was erhältst du, wenn du einen Trunk mischst aus dem edelsten Wein, dem stärksten Rum und dem reinsten Quellwasser?«Tom verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. »Etwas ganz und gar Untrinkbares«, antwortete er.Diese Antwort schien die Wahrsagerin zu erheitern.»Du hast dich eben selber beschrieben, Tom Collins.« Und sie lachte heiser.