biomechanische und patho mechanische aspekte des humeroskapulargelenks

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Physiotherapie/Manuelle Therapie | Manuelle Medizin 4•2000 242 Zusammenfassung Schmerzsyndrome im Bereich der Schulter (z. B.Tendinitiden im Bereich der Rotatoren- manschette oder Kompressionssyndrome im subakromialen Raum) sind meistens sekun- däre Pathologien. Die primäre Ursache ist häufig eine Dezentrierung des Humeruskop- fes. Es ist daher wichtig, die Ursache zu be- handeln und nicht die Folgen. Die Schulter ist ein Gelenk, das im Alltag überwiegend auf Zug belastet wird, da es sich in einer Art Aufhängung befindet. Große Inkongruenzen der Gelenkflächen reduzieren die Stabilität des Gelenkes. Der Oberarm ist nicht am Rumpf fixiert, sondern an der Skapula. Die einzige knöcherne Gelenkverbindung zum Thorax ist das Sternoklavikulargelenk. Das Schultergelenk wird in erster Linie mecha- nisch durch die Muskulatur und den Kapsel- Band-Apparat gesteuert. Es besteht eine physiologische Tendenz des Humeruskopfes sich in der Pfanne zu de- zentrieren. Am häufigsten kommt es zu De- zentrierungen des Humeruskopfes nach kra- nial und ventral. Die Ursachen sind die ana- tomischen Pfannen- und Kopfverhältnisse und die Ungleichgewichte im Bereich der Muskulatur. Ziel dieses Artikels ist es, die Ent- stehung der pathomechanischen Zustände zu erklären und Konsequenzen aufzuzeigen, die sich daraus für die Therapie von Schulter- pathologien ergeben. Grundlage der bio- und pathomechani- schen Betrachtungen sind die Erkenntnis- se von Raymond Sohier. Er war Leiter der Physiotherapie im C. H. U. Tivoli La Lo- uvière in Belgien, Lehrer an der I. P. K. und Direktor des internationalen Instituts für analytische Physiotherapie. Er hat 7 Bü- cher über die bio- und pathomechani- schen Aspekte der Gelenke der Wirbelsäu- le, Schulter, Hüfte und Knie verfasst. Das Humeroskapularglenk besteht aus dem Glenohumeralgelenk und dem „Gelenk“ zwischen Akromion und Tu- berculum majus. Die Stellung der Ska- pula und der Bewegungsablauf im ska- pulothorakalen Gleitlager bieten we- sentliche Voraussetzungen für eine zen- trierte Schulter. Das Glenohumeralgelenk Ein relativ großer Kopf artikuliert mit einer kleinen Pfanne. Die Pfanne stellt eine flache Gleit- und Stützebene dar. Obwohl sie vom Labrum glenoidale um- geben ist, bietet sie keine Stütze für den Humeruskopf. Der Humeruskopf ist nicht kugelrund.Für jede Winkeleinstel- lung des Humerushebels lassen sich prä- zise, periartikuläre Spannungen, ein se- lektiver Pfannen-Kopf-Kontakt und ein Momentandrehpunkt definieren. Diese Aspekte beeinflussen die mechanozep- tiven Informationen, die die Stellung der Gelenkflächen, das Gleiten im Gelenk, die Geschwindigkeit der Bewegung, den Bewegungsablauf und die kapsuloliga- mentäre Spannung kontrollieren. Die Pfannenebene Die Pfannenebene bildet in der Frontal- ebene und in der Transversalebene je- weils ein schiefe Ebene für den Hume- ruskopf. In der Frontalebene zeigt sie ei- ne Ausrichtung von medial, kranial nach lateral, kaudal; in der Transversalebene zeigt sie eine Ausrichtung von dorsal, la- teral nach ventral, medial. Die Hangab- triebskräfte labilisieren den Humerus- kopf nach ventral und nach kranial (Abb. 1) Physiotherapie/Manuelle Therapie Manuelle Medizin 2000 · 48:242–247 © Springer-Verlag 2000 M. Dölken Schule für PhysiotherapeutInnen Biomechanische und patho- mechanische Aspekte des Humeroskapulargelenks und deren Auswirkungen auf die Rehabilitation der Schulter Mechthild Dölken Schule für PhysiotherapeutInnen, Käfertaler Straße 162, 68167 Mannheim Schlüsselwörter Dezentrierung · Glenohumeralgelenk · Pfannenebene · laterale Passagebahn · ventrale Passagebahn · Geschwindigkeitshebel

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Page 1: Biomechanische und patho  mechanische aspekte des Humeroskapulargelenks

Physiotherapie/Manuelle Therapie

| Manuelle Medizin 4•2000242

Zusammenfassung

Schmerzsyndrome im Bereich der Schulter(z. B.Tendinitiden im Bereich der Rotatoren-manschette oder Kompressionssyndrome imsubakromialen Raum) sind meistens sekun-däre Pathologien. Die primäre Ursache isthäufig eine Dezentrierung des Humeruskop-fes. Es ist daher wichtig, die Ursache zu be-handeln und nicht die Folgen. Die Schulterist ein Gelenk, das im Alltag überwiegendauf Zug belastet wird, da es sich in einer ArtAufhängung befindet. Große Inkongruenzender Gelenkflächen reduzieren die Stabilitätdes Gelenkes. Der Oberarm ist nicht amRumpf fixiert, sondern an der Skapula. Dieeinzige knöcherne Gelenkverbindung zumThorax ist das Sternoklavikulargelenk. DasSchultergelenk wird in erster Linie mecha-nisch durch die Muskulatur und den Kapsel-Band-Apparat gesteuert.

Es besteht eine physiologische Tendenzdes Humeruskopfes sich in der Pfanne zu de-zentrieren. Am häufigsten kommt es zu De-zentrierungen des Humeruskopfes nach kra-nial und ventral. Die Ursachen sind die ana-tomischen Pfannen- und Kopfverhältnisseund die Ungleichgewichte im Bereich derMuskulatur. Ziel dieses Artikels ist es, die Ent-stehung der pathomechanischen Zuständezu erklären und Konsequenzen aufzuzeigen,die sich daraus für die Therapie von Schulter-pathologien ergeben.

Grundlage der bio- und pathomechani-schen Betrachtungen sind die Erkenntnis-se von Raymond Sohier. Er war Leiter derPhysiotherapie im C. H. U. Tivoli La Lo-uvière in Belgien,Lehrer an der I.P.K.undDirektor des internationalen Instituts füranalytische Physiotherapie. Er hat 7 Bü-cher über die bio- und pathomechani-schen Aspekte der Gelenke der Wirbelsäu-le, Schulter, Hüfte und Knie verfasst.

Das Humeroskapularglenk bestehtaus dem Glenohumeralgelenk und dem„Gelenk“ zwischen Akromion und Tu-berculum majus. Die Stellung der Ska-pula und der Bewegungsablauf im ska-pulothorakalen Gleitlager bieten we-sentliche Voraussetzungen für eine zen-trierte Schulter.

Das Glenohumeralgelenk

Ein relativ großer Kopf artikuliert miteiner kleinen Pfanne. Die Pfanne stellt

eine flache Gleit- und Stützebene dar.Obwohl sie vom Labrum glenoidale um-geben ist, bietet sie keine Stütze für denHumeruskopf. Der Humeruskopf istnicht kugelrund. Für jede Winkeleinstel-lung des Humerushebels lassen sich prä-zise, periartikuläre Spannungen, ein se-lektiver Pfannen-Kopf-Kontakt und einMomentandrehpunkt definieren. DieseAspekte beeinflussen die mechanozep-tiven Informationen,die die Stellung derGelenkflächen, das Gleiten im Gelenk,die Geschwindigkeit der Bewegung, denBewegungsablauf und die kapsuloliga-mentäre Spannung kontrollieren.

Die Pfannenebene

Die Pfannenebene bildet in der Frontal-ebene und in der Transversalebene je-weils ein schiefe Ebene für den Hume-ruskopf. In der Frontalebene zeigt sie ei-ne Ausrichtung von medial,kranial nachlateral, kaudal; in der Transversalebenezeigt sie eine Ausrichtung von dorsal, la-teral nach ventral, medial. Die Hangab-triebskräfte labilisieren den Humerus-kopf nach ventral und nach kranial(Abb. 1)

Physiotherapie/Manuelle TherapieManuelle Medizin2000 · 48:242–247 © Springer-Verlag 2000

M. DölkenSchule für PhysiotherapeutInnen

Biomechanische und patho-mechanische Aspekte desHumeroskapulargelenks undderen Auswirkungen auf dieRehabilitation der Schulter

Mechthild DölkenSchule für PhysiotherapeutInnen,Käfertaler Straße 162, 68167 Mannheim

Schlüsselwörter

Dezentrierung · Glenohumeralgelenk · Pfannenebene · laterale Passagebahn · ventrale Passagebahn · Geschwindigkeitshebel

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Manuelle Medizin 4•2000 | 243

Die Stabilität des Gelenks ist durchdie Gelenkflächenverhältnisse in kein-ster Form gewährleistet. Diese Aufgabeerfüllt in erster Linie die Muskulatur.Optimale Spannungsverhältnisse derligamentären Strukturen, vor allem der„Kreuzbänder“ der Schulter, sorgen fürdie korrekte Lage des Momentandreh-punktes bei den Bewegungen. RaymondSohier bezeichnet das Lig. coracohume-rale und das Lig. glenohumerale alsKreuzbänder der Schulter. Sie weisen ei-nen isometrischen Bandverlauf auf undunterstützen sich gegenseitig. Die Band-strukturen müssen aufgrund der schie-fen Ebene der Pfanne in der Transversal-ebene im ventralen Anteil am stabilstensein. Die Spannungsverhältnisse werdenan einigen Beispielen illustriert.

Ligamentum glenohumerale

Bei der Abduktion zwischen 60–90° ent-spannt sich der obere Anteil des Lig.

glenohumerale, der mittlere gerät bei ei-nem zentrierten Humeruskopf unterZug und bildet damit einen Momentan-drehpunkt den der M. supraspinatusnutzen kann. Ein kranialisierter Hume-ruskopf verändert die Spannungsver-hältnisse und damit die Lage der Mo-mentandrehpunkte (Abb. 2).

Die Außenrotation spannt den obe-ren und mittleren Anteil, die Innenrota-tion entspannt beide. Der untere Anteildes Lig. glenohumerale verläuft vomventralen, kaudalen Pfannenrand nachdorsal, lateral. Durch seinen nach dorsalgerichteten Verlauf in der Transversal-ebene gerät es bei der Innenrotationdurch das Dorsalgleiten des Humerus-kopfes unter Zug. Ebenso gerät es beiFlexion unter Zug und bildet einen Mo-mentandrehpunkt für den Humerus-kopf (Abb. 3).

Ligamentum coracohumerale

Das Lig. coracohumerale verläuft mit ei-nem Faserzug vom Processus coracoide-us zum Tuberculum minus mit dem an-deren zum Tuberculum majus. Die Ad-duktion setzt beide Faserzüge unter Zug,die Abduktion entspannt beide. Beidegeraten bei Außenrotation aus der Null-stellung unter Zug, die Innenrotationentspannt beide. Bei der Extensionspannt sich der ventrale Anteil, der zumTuberculum minus zieht und bildet ei-nen Momentandrehpunkt, bei der Flexi-on spannt sich der dorsale Teil und bil-det ebenfalls den Momentandrehpunkt.Bei einer Ventralisation des Humerus-kopfes verändert sich die Spannung.

Die Spannungsverhältnisse sind ab-hängig von der aktiven Führung des Hu-meruskopfes bei der Bewegung des Ar-mes. Jede Bewegung,vor allem gegen dieSchwerkraft, hat eine leicht subluxieren-de Komponente, die hier am Beispiel derAbduktion noch dargestellt werden soll.

Zwei Muskelgruppen

In der Nullstellung des Armes wirkenzwei Muskelgruppen gegeneinander.Dieerste Muskelgruppe, die Stabilisatorender Schulter,wird gebildet aus: M.supra-spinatus, M. infraspinatus; M. teres mi-nor, M. subscapularis, M. teres major, M.latissimus dorsi und dem M. biceps bra-chii caput longum.

Die zweite Muskelgruppe kraniali-siert den Humeruskopf. Sie besteht zumgroßen Teil aus großen, kräftigen Mus-keln, dem M. deltoideus, M. pectoralismajor, M. triceps caput longum, M. cor-acobrachialis und dem M. biceps caputbreve.

Die Stabilisatoren verhindern eineSubluxation des Humeruskopfes nachkranial.

Bei Zerlegung der Kraftkomponen-ten am Beispiel vom M. supraspinatusund M. infraspinatus erkennt man, dasdie longitudinalen Kraftkomponenten(Wirkungslinie vom Angriffspunkt derKraft durch den Drehpunkt) eine Kraft-richtung nach medial aufweisen. Die ro-tatorische Komponente des M. infraspi-natus kaudalisiert den Humeruskopf.Das Schultergelenk befindet sich bei die-sem Beispiel in Nullstellung (Abb. 4).

dorsal

ventralHumerus-Kopf

a b

Abb. 1a, b � Die Pfannenebene bildet eine schiefe Ebene in der Frontalebene und Tranversalebene.a Skapula in der Frontalebene (Ansicht von ventral), b Skapula in der Transversalebene (Ansicht vonkranial)

oberer Zug

mittlerer Zug

60°-90°

Abb. 2 � Verhalten des Lig. glenohumerale beider Abduktion; mittlerer Zug gespannt, obererZug entspannt

Abb. 3 � Verlauf der „Kreuzbänder“ der Schul-ter in der Transversalebene

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Physiotherapie/Manuelle Therapie

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Die physiologische Tendenz derbiomechanischen Dysbalance besteht indem Überwiegen der Muskelgruppe des2. Typs, der dynamischen Muskelgrup-pe gegenüber den Muskeln des Typ 1.

Die Muskeln des Typ 1 werden un-terstützt von den Muskeln, die die Ska-pula auf dem Thorax stabilisieren. Beijeder Veränderung der Stellung der Ska-pula auf dem Thorax neigt sich die Pfan-nenebene, dadurch erhöhen sich u. U.die Hangabtriebskräfte, die den Hume-ruskopf labilisieren.

Das skapulothorakale Gleitlager

Zwischen Skapula und Rumpf gibt eszahlreiche muskuläre Verbindungen, dieeine entscheidende Rolle für die Stellungder Skapula und die Koordination derSkapulabewegung spielen.

Ein sehr wesentlicher Stabilisatorder Skapula ist der M. serratus anterior.Der Muskel hat ein sehr breitflächigesUrsprungsgebiet an der Skapula. Die Fa-sern 1–4 entspringen am Margo media-lis, die Fasern 5–9 am Angulus inferior.Am Angulus inferior hat der Muskel ei-ne sehr differenzierte Anheftung, dieKnochenstruktur ist hier sehr dicht.SeinAnsatzbereich befindet sich am latera-len, ventralen Thorax an den Rip-pen 1–9.Durch seinen breitflächigen An-satz am Thorax liegt der Thorax in ihmwie in einer Hängematte, wenn die Ar-me und der Schultergürtel ein Punctumfixum sind. Im Wachstum bedingt seineAktivität im wesentlichen die spätere

Thoraxform. Defizite in der Stützfunk-tion, während der Krabbelphase in dermotorischen Entwicklung, haben einenflachen Thorax mit einem verkleinertensagittotransversalen Thoraxdurchmes-ser zur Folge.Die Kraftarme der Muskel-fasern (senkrechte Verbindung der Wir-kungslinie zum Drehpunkt der Skapu-la) sind bei einem flachen Thorax deut-lich kleiner als bei einem normal ausge-prägten.

Gemeinsam mit dem M. rhomboi-deus und dem M. levator scapulae kon-trolliert der M. serratus anterior die ro-tatorische Bewegung der Skapula.Wäh-rend der M. levator scapulae und der M.rhomboideus gemeinsam eine Innenro-tation der Skapula (Schwenkbewegungdes Angulus inferior zur Wirbelsäule)auslösen, bewirkt der M. serratus ante-rior die Außenrotation der Skapula, diebei Flexion und Abduktion des Armesauftritt. Eine gute Spannung des M. ser-ratus anterior verhindert ein Abrut-schen der Skapula in die Innenrotationin jeder Stellung. Eine vermehrte Stel-lung in Innenrotation hat durch die Ab-senkung des Akromions eine Verengungdes subakromialen Raums zur Folge.DieSkapula hängt in den von kranial an-greifenden Muskeln, im M. levator sca-pulae und M. trapezius pars descendenz,hier kommt es zu Überlastungen mitAuswirkungen auf die HWS.

Die Muskelgruppe, die am Proces-sus coracoideus entspringt ( M. pectora-lis minor, M. coracobrachialis, M. bicepsbrachii caput breve ) und der M.serratusanterior verhalten sich antagonistisch.

In der Sagittalebene verhindert derM. serratus anterior eine Ventralrotati-on des Schultergürtels (der Angulus in-ferior entfernt sich nach dorsal vomThorax ). Die Coracoidgruppe zieht denProcessus coracoideus nach ventral,kaudal. Der Angulus inferior entferntsich vom Thorax.

Bei einer reduzierten Spannung desMuskels rutscht der Schultergürtel nachventral, kaudal auf dem Thorax.

Durch die Rotation des Schultergür-tels verstärkt sich die schiefe Ebene derPfanne in der Transversalebene nachventral, medial. Dadurch kann der Kopfleichter nach ventral rutschen.

Die Pfanne des Glenohumeralge-lenks hat eine birnenförmige Form. Derkaudale Anteil ist breiter. Die größte Be-lastung sollte in diesem unteren Teil lan-den, z. B. die longitudinale Kraftkompo-

nente bei der Abduktion über 90° desArmes.Bei einer Kranialisation des Kop-fes kommt es im kranialen Pfannenbe-reich zur Überlastung, da dieselbe Bela-stung auf eine viel kleinere Fläche wirkt.

Durch die Rotation des Schultergür-tels mit Ventralisation des Humeruskop-fes verändert sich die Gelenkkontaktflä-che von Kopf und Pfanne, der Kopf trifftauf den kranialen Pfannenbereich(Abb. 5).

Das „Gelenk“ zwischen Akro-mion und Tuberculum majus

Das Tuberculum majus stört bei einerDezentrierung des Humeruskopfes alserstes den Abstand zum Akromion. Beider Ansicht von lateral weist das Akro-mion eine schiefe Ebene nach dorsal,kaudal gegen den Humeruskopf auf. Da-durch findet der Humeruskopf nachdorsal Stabilität, nach ventral ist erdurch die Pfannenebene labil. Die Nei-gung des Akromions muss beim Dorsal-gleiten berücksichtigt werden, durch ei-ne leichte zusätzliche Kaudalkomponen-te wird ein Anschlag des Humeruskopfesverhindert.

Ein nach kranial dezentrierter Hu-meruskopf schlägt bei Außenrotationmit dem Tuberculum majus gegen dasAkromion. Bei der Flexion und Innen-rotation ist der Weg des Dorsalgleitensdurch die fehlende Kaudalkomponenteebenfalls reduziert.

Raymond Sohier hat die Bewegun-gen des Armes in 2 Passagen eingeteilt,diese beschreiben den Weg des Tubercu-lum majus im Verhältnis zum Akro-mionschnabel:

Abb. 4 � Zerlegung der Kraft des M. supra-spinatus und M. infraspinatus in eine longitudi-nale (FL) und rotatorische (FR) Komponente

1

2

3

456789

Abb. 5 � Verlauf des M. serratus anterior; bir-nenförmige Pfanne des Glenohumeralgelenks(rechts) und Ursprünge des M. serratus anterior

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● Laterale Passagebahn: Das Tubercu-lum majus passiert den Akromion-schnabel dorsal. Diese Bewegung istdie Abduktion (in der Skapulaebene)mit Außenrotation (Abb. 6).

● Ventrale Passagebahn: Das Tubercu-lum majus passiert den Akromion-schnabel ventral. Der Humerus be-wegt dabei in Abduktion (in der Ska-pulaebene) mit Innenrotation.

Der Abstand zwischen dem Tuberculummajus und dem Akromion reduziertsich bei einer Kranialisation des Hume-ruskopfes deutlich. Durch eine zusätzli-che Verlagerung nach ventral verschiebtsich der höchste Punkt des Tuberculummajus unter das Akromion, der Abstandreduziert sich noch mehr.

Die Beweglichkeit wird durch diepassive Abduktion mit Außenrotationund Innenrotation geprüft.Eine Limitie-rung der Bewegung mit härterem End-gefühl weist auf einen dezentrierten Hu-meruskopf hin.

● Bewegungsprüfung: Passive Abduk-tion in der Skapulaebene, eine Handpalpiert die Bewegung des Humerus-kopfes im subakromialen Raum. DieBewegung sollte passiv ohne Skapu-lamitbewegung über 90° Abduktionmöglich sein. Eine reduzierte Bewe-gung weist auf einen kranialisiertenHumeruskopf hin. Am Ende der Ab-duktion wird die Bewegung der late-ralen und ventralen Passagebahn ge-prüft.

● Ventrale Passagebahn: Prüfen, ob beizusätzlicher Innenrotation die Bewe-

gung weitergeht; falls nicht, ist derKopf ventralisiert.

● Laterale Passagebahn: Prüfen, obbei zusätzlicher Außenrotation dieBewegung weitergeht; falls nicht, istder Kopf kranialisiert.

Dezentrierende Komponentenbei aktiver Bewegung des Armes

Jede aktive Bewegung des Armes enthältphysiologische, subluxierende Kompo-nenten, die bei einer koordinierten, ak-tiven Führung der Muskulatur auf einMinimum reduziert bleiben. In der Ent-wicklung von Pathologien im Bereichder Schulter gewinnen sie an Bedeu-tung. Daher sollten aktive Bewegungendes Armes gegen die Schwerkraft odermit Gewichten in der frühen Rehaphasenur sehr begrenzt und gezielt eingesetztwerden. Beim Erstellen eines Trainings-plans müssen die Wirkungen der Mus-kelkraft und die Hebelverhältnisse be-rücksichtigt werden.

Am Beispiel der Abduktion gegendie Schwerkraft sollen die dezentrieren-den Kräfte aufgezeigt werden.

Der Arm ist ein Hebeltyp III ( Ge-schwindigkeitshebel ). Von einem Ge-schwindigkeitshebel spricht man, wenndie Last einen größeren Hebel (Lastarm)als die Kraft (Kraftarm) hat. Bei der Be-wegung des Armes im Schultergelenkhaben wir diese Situation.

● Bestimmung Lastarm: SenkrechteVerbindung von der Wirkungslinieder Last (Armgewicht wirkt vom

Massenmittelpunkt des Armes verti-kal) zum Drehpunkt.

● Bestimmung Kraftarm: SenkrechteVerbindung der Wirkungslinie desMuskels zum Drehpunkt.

In der Zeichnung am Beispiel der Ab-duktion, wird deutlich, dass der Lastarmdeutlich länger ist, als der Kraftarm desM. deltoideus. Dadurch kann die Lastleichter ein größeres Drehmoment aus-lösen als die Kraft, da sie einen längerenwirksamen Hebel zur Verfügung hat(Abb. 7).

Durch diese Hebelsituation ergebensich hohe Kräfte, die bei Bewegun-gen des Armes auf das Schultergelenkwirken. Bei der Abduktion gegen dieSchwerkraft wirken Kräfte in Höhe desKörpergewichts mal 0,9 auf das Schul-tergelenk.

Die subluxierenden Komponentenwerden durch die Zerlegung der Kraft ineine rotatorische und longitudinaleKomponente deutlich. Dieses soll amBeispiel des M. deltoideus bei der Ab-duktion gegen die Schwerkraft illustriertwerden.

Jede Kraft,die außerhalb eines Dreh-punktes wirkt löst ein Drehmoment aus.Die Kraft kann in eine rotatorische Kom-ponente und in eine longitudinale Kom-ponente zerlegt werden. Die Wirkungsli-nie der Kraft stellt die Resultierende bei-der Kraftkomponenten da. Die rotatori-sche Kraftkomponente löst das Drehmo-ment aus, die longitudinale Komponentebewirkt eine translatorische Verschie-bung (parallele Verschiebung aller Mas-senpunkte um gleichlange Strecken).Be-zogen auf ein Gelenk, bewirkt die longi-tudinale Kraftkomponente der Muskel-

Abb. 6 � a Laterale Passagebahn: Das Tuberculum majus passiert den Akromionschnabel dorsal beiAbduktion (in der Skapulaebene) mit Außenrotation. b Ventrale Passagebahn: Das Tuberculum ma-

xDp

FL

Fm

Sp Arm

LastarmKraftarm

jus passiert den Akromionschnabel ventral beiAbduktion in der Skapulaebene) mit Innenrota-tion

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Physiotherapie/Manuelle Therapie

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kraft oder der Last ( z. B. Armgewicht )einen Kompressions- oder einen Trakti-onseffekt auf das Gelenk.

Die longitudinale Kraftkomponente(FL) ist definiert als der Teil der Kraft,der vom Angriffspunkt der Kraft durchden Drehpunkt geht, die rotatorischeKraftkomponente (FR) als die Kraft, diesenkrecht zur longitudinalen Kompo-nente steht.

Bei Zerlegung der Kräfte erkenntman, dass die rotatorische Kraft desMuskels und der Last ein Kräftepaar bil-det, das eine Subluxation des Humerus-kopfes nach kranial auslöst. Zwischenbeiden Kräften bildet sich ein Momen-tandrehpunkt.

Diese Kraftkomponenten entstehensowohl bei statischer Kontraktion, wieauch bei dynamischer Kontraktion. Diestabilisierende Muskelgruppe (Typ 1)versucht dieser Subluxation entgegen zuwirken. Durch den langen Lastarm wirdsie sich immer im mechanischen Nach-teil befinden.

Daher sollte eine Abduktion des Ar-mes gegen die Schwerkraft in der frühenRehaphase vermieden werden. Dieseswird bei Verletzungen der Rotatorenman-schette noch an Bedeutung gewinnen.

Die Aktivierung der Abduktorengegen die Schwerkraft sollte im Winkel-bereich oberhalb 90° beginnen. Hierverändern sich die Kraftverhältnisse,zu-erst dominiert die medialisierendeKomponente später die kaudalisierende.Die rotatorische Komponente der Lastreduziert sich, die longitudinalen Kräfteerhöhen sich.

Die Wirkungslinie der longitudinalenKräfte zeigt,das die kaudalisierende Kom-

ponente auf den Humeruskopf bei zuneh-mender Armhebung steigt (Abb. 8).

Konsequenzen für die Therapiein der frühen Rehaphase

Ziel ist das Erarbeiten einer optimalenStabilität der Schulter. Es werden zuerstMuskelgruppen aktiviert, die einen zen-trierenden Effekt haben. Zuerst wird mitgelenknahen Widerständen gearbeitetoder in Winkelstellungen, in denen dieMuskulatur den Humeruskopf kaudal-isiert und nach dorsal zentriert. Die er-

forderliche Beweglichkeit muss zuersthergestellt werden, sie ist die Vorausset-zung.

● Passive Zentrierung des Humerus-kopfes nach kaudal und dorsal; Vor-aussetzung für das Erreichen dervollen Beweglichkeit ist ein zentrier-ter Kopf.

● Aktive Zentrierung erarbeiten:

1. Stabilität der Skapula auf demThorax, sonst hat die Muskelgrup-pe Typ 1 kein Punctum fixum undkann ihre stabilisierende Funktiondes Humeruskopfes nicht erfüllen.

2. Adduktoren der Schulter zentrie-ren den Kopf aktiv nach kaudal.

3. Flexion bzw. Abduktion zuerstüber 90° trainieren.

4. Außenrotatoren der Schulter zen-trieren den Humeruskopf nachkaudal und dorsal.

Die Beschreibungen sind hier auf dasHumeroskapulargelenk und die Skapu-la beschränkt, natürlich spielt die Funk-tion der Schultergürtelgelenke, derBrustwirbelsäule und der Halswirbel-säule zusätzlich eine wesentliche Rolleund darf in der Behandlung von Schul-terpathologien nie außer Acht gelassenwerden.

xDpFL

FR

FL

FR

Momentan-Drehpunkt

x

FL

FR

FL

FR

x

FR

FL

FL

FR

a b c

Abb. 7 � Hebeltyp III; Kraftarm des M. deltoideus kürzer als der Lastarm. (Fm Wirkungslinie Muskel-kraft; FL Wirkungslinie Last)Abb. 8a–c � Die Kraftkomponenten verändern sich bei zunehmender Abduktion. a FR der Muskel-kraft und Last bilden ein Kräftepaar. Dazwischen bildet sich ein Momentandrehpunkt. b FL der

a b

Muskelkraft und Last kompri-mieren bei ca. 130° Abduktionden Humeruskopf. c Bei zuneh-mender Abduktion kaudal-isieren beide FL den Humerus-kopf

Page 6: Biomechanische und patho  mechanische aspekte des Humeroskapulargelenks

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Selbst eine eingeschränkte Extensi-on des Ellenbogengelenkes hat patho-mechanische Einflüsse auf das Schulter-gelenk.BeieinerFlexionskontrakturliegtder Teilkörperschwerpunkt des hängen-den Arms im Stand ventral des Ellen-bogengelenks. Durch eine kompensato-rische Extension der Schulter hängt derTeilkörperschwerpunkt im Lot. DieFolge ist eine Ventralisation des Hume-ruskopfes. Die lange Bizepssehne gerätdurch die Kopfstellung unter Dauer-spannung und wird zwischen demhöchsten Punkt des Tuberculum majusund dem Acromionschnabel kompri-miert. Die Folge ist eine Tendinitis derlangen Bizepssehne, verursacht durcheine Funktionsstörung des Ellenbogen-gelenks (Abb. 9).

Fazit für die Praxis

Der Humeruskopf besitzt eine physiologi-sche Tendenz sich zu dezentrieren, am häu-figsten nach kranial und ventral.Viele Schmerzsyndrome der Schulter sindFolgen dieser pathomechanischen Vorgän-ge.Nur die Wiederherstellung einer biome-chanischen Harmonie des Kopf- und Pfan-nenverhältnisses kann die Therapie der Wahlsein.Lokale Maßnahmen wie Querfriktionenund Injektionen an den gereizten Strukturensind als alleinige Therapie denkbar ungeeig-net.Nur eine individuelle Befunderhebungund daran angepasste Behandlung mit Be-rücksichtigung der mechanischen Verhält-nisse der Schulter können die Schmerzsyn-drome dauerhaft reduzieren.Auch pauschale, standadisierte Nachbe-handlungsrezepte ( z.B.nach operativen Ein-griffen bei subakromialer Enge) werden die-sen individuell ablaufenden, pathomechani-schen Vorgängen in keinster Form gerecht.Es konnte in diesem Artikel nur ein kleinerTeil von pathomechanischen Vorgängen imHumeroskapulargelenk beschrieben wer-den.Das Bewusstmachen der komplexenVorgänge und die damit verbundenen Über-legungen zu einer individuell angepasstenTherapie der Schulter waren das Ziel.

Literatur1. Dölken M (1998) Lehrbuchreihe

Physiotherapie, Bd 7: Orthopädie.Thieme,Stuttgart

2. Hochschild J (1998) Strukturen und Funktio-nen begreifen. Funktionelle Anatomie –Therapierelevante Details, Bd 1.Thieme,Stuttgart

3. Hüter-Becker A, Schewe H, Heipertz W (1999)Lehrbuchreihe Physiotherapie, Bd 1:Biomechanik.Thieme, Stuttgart

4. Kapandji IA (1985) Funktionelle Anatomie derGelenke, Bd 1. Enke, Stuttgart

5. Sohier R, Sohier J (1991) Das analytischeKonzept, Grundlage der biomechanischenReharmonisation und Therapie der osteo-pathischen Gelenkläsionen als Einführung in das analytische Konzept.Edititions Kiné-Scienes. La Louvière, Belgiens

6. Sohier R, Seel F Kinésithérapie de l‘épaule (unveröffentlichtes Kursskript)