biomechanische forschung – von der testung zur klinischen anwendung; biomechanical research from...

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Trauma Berufskrankh 2013 · 15:249–258 DOI 10.1007/s10039-013-2044-4 Online publiziert: 29. November 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 H.-J. Wilke 1  · H. Schmidt 2  · A. Kienle 3 1 Institut für Unfallchirurgische Forschung und Biomechanik, Zentrum für Muskuloskelettale Forschung Ulm (ZMFU), Universitätsklinikum Ulm 2 Julius Wolff Institut, Charité-Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow-Klinikum, Berlin 3 SpineServ GmbH & Co. KG, Ulm Biomechanische Forschung –   von der Testung zur  klinischen Anwendung Biomechanik der intakten und der   mit Implantat versorgten Wirbelsäule Hintergrund Problematik Die Wirbelsäulenchirurgie machte in den vergangenen 30 Jahren enorme Fort- schritte. Durch den wissenschaftlichen Austausch über die vielen Disziplinen der Unfallchirurgie, Orthopädie und Neuro- chirurgie mit Ingenieuren, Biomechani- kern und Biologen wurde eine Vielzahl an modernen Implantattechnologien ent- wickelt, die v. a. die operative Behandlung von Wirbelsäulenproblematiken stark vo- rantrieb. Obwohl viele dieser Eingriffe an der Wirbelsäule insgesamt gute Ergeb- nisse erbrachten, wurde in einigen Fäl- len festgestellt, dass es in den benachbar- ten Segmenten der Wirbelsäule zu einer beschleunigten Degeneration kommen kann [15, 25]. Es ist zwar nach wie vor noch nicht eindeutig bewiesen [24], aber es wurde schnell vermutet, dass eine Fu- sion für das sog. „adjacent level syndrom“ verantwortlich ist, weil die durch die Ope- ration versteifte Region zu einer Überbe- lastung in den ober- und unterhalb an- grenzenden Segmenten führt. Klinische Ergebnisse suggerieren darüber hinaus eine Abhängigkeit der Anschlussdegene- rationsrate von der Länge der Instrumen- tation bzw. der Zahl der fusionierten Seg- mente [21]. Deshalb ist man heute, obwohl die Fusion nach wie vor als Goldstandard gilt, häufig bestrebt, die Funktion der Segmente und möglichst viele Strukturen bestmöglich zu erhalten. Der Einsatz neuer Implantate oder Biomaterialien wird auch in Zukunft zu vielen neuen interessanten Operations- verfahren führen. Meist wird voller Eu- phorie an die Entwicklung neuer Implan- tate herangegangen, da man überzeugt ist, mit dieser Idee die Lösung für ein spezifi- sches Problem gefunden zu haben. Auch ändert man bestehende Implantate ab, weil man sich von den Modifikationen Verbesserungen im Vergleich zu den bis- herigen oder konkurrierenden Systemen verspricht. Es handelt sich dabei jedoch zunächst nur um Ideen und Hypothesen, deren Werthaltigkeit erst überprüft wer- den muss. So zeigten beispielsweise experimen- telle Untersuchungen, dass ein mit dy- namischen Fixateuren versorgtes Bewe- gungssegment weniger beweglich ist als erwartet und beispielsweise in den Last- fällen Flexion und Seitneigung annähernd so steif ist wie nach der Versorgung mit- tels Fixateur interne [18, 28]. Interspinö- se Implantate, wie Coflex™ (Paradigm Spi- ne, Wurmlingen, Deutschland), Wallis™ (Abbott Laboratories, North Chicago, IL, USA), Diam™ (Medtronic, Memphis, TN, USA) oder X-Stop™ (St. Francis Medi- cal Technologies, Medtronic, Minneapo- lis, MN, USA), scheinen alle verschiede- ne Funktionsprinzipien zu haben. Unter- suchungen ergaben jedoch, dass sie ge- nerell alle im implantierten Zustand zu einem ähnlichen Segmentverhalten füh- ren [41]. Die Implantate schränken die Be- wegung in Extension zwar wie angenom- men ein, sind aber nicht in der Lage, in Flexion und Seitneigung eine gewisse In- stabilität, die durch Defekte im Segment entsteht, zu kompensieren. Sie stabilisie- ren auch nicht die Bewegung in axialer Rotation, wie dies von einigen Herstel- lern angenommen wurde. Optimierung der Prothesenentwicklung Biomechanische Untersuchungen kön- nen helfen, Implantate während des Ent- wicklungsprozesses zu optimieren. Das TOPS™-Implantat (TOPS: „total poste- rior element replacement system“, Impli- ant, Dorchester, Großbritannien) konn- te z. B. mit Hilfe von Erkenntnissen aus einer Serie von In-vitro-Experimenten kontinuierlich so weit verbessert wer- den, dass der Bewegungsumgang des ver- sorgten Segment wieder annähernd dem 249 Trauma und Berufskrankheit 4 · 2013| Leitthema

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Trauma Berufskrankh 2013 · 15:249–258DOI 10.1007/s10039-013-2044-4Online publiziert: 29. November 2013© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

H.-J. Wilke1 · H. Schmidt2 · A. Kienle3

1 Institut für Unfallchirurgische Forschung und Biomechanik,

Zentrum für Muskuloskelettale Forschung Ulm (ZMFU), Universitätsklinikum Ulm 2 Julius Wolff Institut, Charité-Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow-Klinikum, Berlin3 SpineServ GmbH & Co. KG, Ulm

Biomechanische Forschung –  von der Testung zur klinischen AnwendungBiomechanik der intakten und der  mit Implantat versorgten Wirbelsäule

Hintergrund

Problematik

Die Wirbelsäulenchirurgie machte in den vergangenen 30 Jahren enorme Fort-schritte. Durch den wissenschaftlichen Austausch über die vielen Disziplinen der Unfallchirurgie, Orthopädie und Neuro-chirurgie mit Ingenieuren, Biomechani-kern und Biologen wurde eine Vielzahl an modernen Implantattechnologien ent-wickelt, die v. a. die operative Behandlung von Wirbelsäulenproblematiken stark vo-rantrieb. Obwohl viele dieser Eingriffe an der Wirbelsäule insgesamt gute Ergeb-nisse erbrachten, wurde in einigen Fäl-len festgestellt, dass es in den benachbar-ten Segmenten der Wirbelsäule zu einer beschleunigten Degeneration kommen kann [15, 25]. Es ist zwar nach wie vor noch nicht eindeutig bewiesen [24], aber es wurde schnell vermutet, dass eine Fu-sion für das sog. „adjacent level syndrom“ verantwortlich ist, weil die durch die Ope-ration versteifte Region zu einer Überbe-lastung in den ober- und unterhalb an-grenzenden Segmenten führt. Klinische Ergebnisse suggerieren darüber hinaus eine Abhängigkeit der Anschlussdegene-rationsrate von der Länge der Instrumen-tation bzw. der Zahl der fusionierten Seg-

mente [21]. Deshalb ist man heute, obwohl die Fusion nach wie vor als Goldstandard gilt, häufig bestrebt, die Funktion der Segmente und möglichst viele Strukturen bestmöglich zu erhalten.

Der Einsatz neuer Implantate oder Biomaterialien wird auch in Zukunft zu vielen neuen interessanten Operations-verfahren führen. Meist wird voller Eu-phorie an die Entwicklung neuer Implan-tate herangegangen, da man überzeugt ist, mit dieser Idee die Lösung für ein spezifi-sches Problem gefunden zu haben. Auch ändert man bestehende Implantate ab, weil man sich von den Modifikationen Verbesserungen im Vergleich zu den bis-herigen oder konkurrierenden Systemen verspricht. Es handelt sich dabei jedoch zunächst nur um Ideen und Hypothesen, deren Werthaltigkeit erst überprüft wer-den muss.

So zeigten beispielsweise experimen-telle Untersuchungen, dass ein mit dy-namischen Fixateuren versorgtes Bewe-gungssegment weniger beweglich ist als erwartet und beispielsweise in den Last-fällen Flexion und Seitneigung annähernd so steif ist wie nach der Versorgung mit-tels Fixateur interne [18, 28]. Interspinö-se Implantate, wie Coflex™ (Paradigm Spi-ne, Wurmlingen, Deutschland), Wallis™ (Abbott Laboratories, North Chicago, IL,

USA), Diam™ (Medtronic, Memphis, TN, USA) oder X-Stop™ (St. Francis Medi-cal Technologies, Medtronic, Minneapo-lis, MN, USA), scheinen alle verschiede-ne Funktionsprinzipien zu haben. Unter-suchungen ergaben jedoch, dass sie ge-nerell alle im implantierten Zustand zu einem ähnlichen Segmentverhalten füh-ren [41]. Die Implantate schränken die Be-wegung in Extension zwar wie angenom-men ein, sind aber nicht in der Lage, in Flexion und Seitneigung eine gewisse In-stabilität, die durch Defekte im Segment entsteht, zu kompensieren. Sie stabilisie-ren auch nicht die Bewegung in axialer Rotation, wie dies von einigen Herstel-lern angenommen wurde.

Optimierung der Prothesenentwicklung

Biomechanische Untersuchungen kön-nen helfen, Implantate während des Ent-wicklungsprozesses zu optimieren. Das TOPS™-Implantat (TOPS: „total poste-rior element replacement system“, Impli-ant, Dorchester, Großbritannien) konn-te z. B. mit Hilfe von Erkenntnissen aus einer Serie von In-vitro-Experimenten kontinuierlich so weit verbessert wer-den, dass der Bewegungsumgang des ver-sorgten Segment wieder annähernd dem

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Leitthema

eines intakten Segments entspricht [40]. Die zuletzt getestete Version des Implan-tats ergab, dass das versorgte Segment die physiologische gekoppelte Bewegung wie-dergibt, d. h. bei zunehmender Flexion kommt es zur Zunahme der axialen Ro-tation, während diese mit zunehmender Extension abnimmt.

Tests mit Bandscheibenprothesen zeig-ten, dass diese im Allgemeinen zu größe-ren Bewegungen des versorgten Bewe-gungssegments führen. Dies gilt insbe-sondere für ungekoppelte Implantatver-sionen, durch welche sich die segmentale Lordose stark vergrößert [4]. Die momen-tanen Drehpunkte können sich in Abhän-gigkeit vom Konstruktionsprinzip stark ändern. Dies muss zwar nicht das Aus-maß des Bewegungsumfangs verändern, aber die veränderte Kinematik kann einen starken Einfluss auf die Kräfte in den Ge-lenkfacetten haben. Experimente mit Nu-kleusprothesen zeigten ähnlich Ergebnis-se. Zwar können sie ebenfalls den Bewe-gungsumfang der intakten Situation wie-der angleichen, bergen aber das Risiko einer erheblichen Veränderung der Kine-matik, bis hin zur Erzeugung eines unphy-siologischen Scharniergelenks [7, 38, 39].

Mit geeigneten Versuchen können fer-ner potenzielle Risiken für den Patienten aufgezeigt werden. Beispielsweise konnte in dynamischen Tests eine Extrusion des Implantats provoziert werden, was in vor-eiligen klinischen Anwendungen tatsäch-

lich beobachtet wurde [30]. Dies gilt für fast alle Implantate dieser Art. Eventuell können diese Anwendungen mit Ideen zum Anulusverschluss verbessert wer-den [44].

Um derartige Erkenntnisse zu er-halten, die eine Weiterentwicklung von Ideen unterstützen oder für die klinische Diskussion hilfreich sein können, müssen neue Ideen entsprechend geprüft werden. In-vitro-Experimente bieten den Vorteil, dass man an realen Strukturen unter ver-einfachten, aber doch möglichst physio-logischen Lastbedingungen die Funktion des Implantats überprüfen kann. Paral-lel dazu ermöglichen mathematische Ver-fahren wie die Finite-Elemente-Analyse (FEA) den Vergleich prinzipieller Unter-schiede zwischen einzelnen Implantatde-signs oder Implantationstechniken und ergänzen Erkenntnisse zu Parametern, die in vitro messtechnisch nicht erfasst wer-den können. Ist die konstruktive Kon-zeption abgeschlossen, wird das Implan-tatdesign anhand solcher In-vitro-Unter-suchungen und FEA evtl. noch optimiert oder vorerst zurückgestellt. Vor der Zulas-sung für die klinische Abwendung müs-sen die Implantate in mechanischen Tests ihre Zuverlässigkeit unter Beweis stellen.

Im Folgenden soll am Beispiel von Bandscheibenprothesen gezeigt werden, wie In-vitro-Experimente und FEA da-zu beitragen können, Implantatprinzipi-en zu untersuchen oder verschiedene De-

signvarianten miteinander zu vergleichen und wie genormte mechanische Tests für die Zulassung oder speziell entwickelte Prüfungen zur Sicherheit der Implantate beitragen können.

In-vitro-Experimente

Biomechanische In-vitro-Experimente werden vorzugsweise mit nichtfixierten Humanpräparaten des jeweiligen Wir-belsäulenabschnitts in einem Wirbel-säulenbelastungssimulator durchgeführt (. Abb. 1, [18, 19, 20, 22, 29, 32, 34]).

Tests im Wirbelsäulenbelastungssimulator

Material und VersuchsaufbauBis zur Testung werden die Präpara-te in Kunststoffbeutel eingeschweißt, bei −20°C tiefgefroren und vor der Testung langsam aufgetaut [37]. Fixierte Präpa-rate sollten nicht verwendet werden, weil sich die biomechanischen Eigenschaften von Knochen und v. a. von Weichgeweben durch die Fixierung z. T. erheblich verän-dern [36, 42]. Bei der Präparation wird das angrenzende Muskelgewebe entfernt, wobei darauf geachtet wird, dass die Ge-lenkkapseln, Bandstrukturen und knö-chernen Strukturen intakt bleiben.

Das eingespannte Präparat sollte sich im Allgemeinen in allen nicht kontrol-lierten Freiheitsgraden zwanglos bewegen können oder je nach Bedarf sollten trans-latorische und rotatorische Freiheitsgrade gesperrt oder freigegeben werden können. Es wird empfohlen, in allen 3 Hauptbe-wegungsebenen, d. h. Seitneigung rechts/links (±Mx), Flexion/Extension (±My) und axiale Rotation links/rechts (±Mz), reine Momente (lumbal ±7,5 Nm oder ±10 Nm und zervikal ±2,5 Nm) auf die Präparate einzuleiten [37]. Durch die Ap-plikation von axialen Vorlasten muss mit Artefakten gerechnet werden, da es zu einem unkontrollierten Ausknicken der Präparate kommen kann, was ein unrea-listisches Bewegungsverhalten provoziert.

Um eine Vergleichbarkeit von Unter-suchungen zu gewährleisten, sollten Stan-dardtests zunächst jeweils ohne Vorlast durchgeführt werden. Zusätzlich kann die axiale Vorlast mit einer sog. „follower load“ [22] oder mit Muskelkräften [35]

Abb. 1 9 Flexibilitäts-test mit einem Human-präparat L2–L5 im Wir-belsäulenbelastungs-simulator und opti-schem Bewegungs-analysesystem Vicon-MX™, L lumbal

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Leitthema

simuliert werden, wobei die Ergebnisse häufig ähnliche Tendenzen zeigen [23].

Während den Flexibilitätstests werden die segmentalen Bewegungen der Präpa-rate mit einem geeigneten Bewegungs-analysesystem erfasst und die Parameter Bewegungsumfang („range of motion“, ROM) und neutrale Zone (NZ) bestimmt. Bei jedem Test sollten mindesten 3 Bewe-gungszyklen ausgeführt werden, wobei die ersten beiden zur Präkonditionierung der Präparate dienen und der dritte aus-gewertet wird. Je nach Fragestellung kann auch der intradiskale Druck in den Band-scheiben mit Hilfe von Druckmesssonden gemessen werden.

Generell wird bei jedem Test zuerst das intakte Präparat gemessen, und diese Werte werden als Basis verwendet. Dann folgen, je nach Fragestellung, Tests mit entsprechend definierten Defekten, wel-che Degenerationen oder spezielle klini-sche Szenarien simulieren und mit ent-sprechenden Implantaten versorgt wer-den, welche die postoperative Situation nachahmen.

Eigene ErgebnisseIn eigenen In-vitro-Studien verglichen wir verschiedene Bandscheibenprothe-sen miteinander. Allgemein lässt sich zu-sammenfassen, dass alle Prothesentypen den Bewegungsumfang des implantier-ten Segments deutlich vergrößerten und dass nicht geführte Prothesen („uncon-strained“) die segmentale Lordose mehr verstärkten als teilgekoppelte („semi-con-strained“; [43]). Die Durchtrennung des hinteren Längsbandes verstärkte diesen Effekt noch weiter, was wiederum durch die Implantation eines höheren Implan-tats kompensiert werden konnte [5]. In Bezug auf die Steifigkeit der versorgten Segmente zeigte sich, dass die Prothesen-höhe ausschlaggebender ist als der Erhalt des hinteren Längsbands.

In den letzten Jahren etablierten wir eine Reihe neuer Messmethode, um das mechanische Verhalten von Bewegungs-segmenten nach der Implantation detail-lierter beurteilen zu können. Mittels eines Laserscanners besteht beispielsweise die Möglichkeit, die Bandscheibenauswöl-bung und die Dehnungen auf der Band-scheibenoberfläche kontaktlos dreidi-mensional zu bestimmen (. Abb. 2). In

bisherigen In-vitro-Experimenten unter-suchten wir den Einfluss verschiede-ner posteriorer Implantatkonzepte auf das Dehnungsverhalten der Bandscheibe [12]. Es konnte gezeigt werden, dass eini-ge dynamische Implantatsysteme (DSS™, Coflex™, ParadigmSpine, Wurmlingen, Deutschland) in der Lage sind, die Deh-nungsverteilung und Bandscheibenaus-wölbung physiologisch zu halten. Das TOPS™ hingegen verdoppelte die Deh-nungen an der Bandscheibe trotz gleicher Bewegungsumfänge in Seitneigung, was bedeutet, dass die Lastverteilung inner-halb eines Segments nach der Implanta-tion von derjenigen einer intakten Band-

scheibe abweicht. Die ermittelten Deh-nungsprofile können ferner zur Validie-rung von FE-Modellen (FE: Finite Ele-mente) dienen.

Dynamische Testsysteme

Die Untersuchungen in unserem Wirbel-säulenbelastungssimulator sind v. a. ge-eignet, das biomechanische Verhalten von Präparaten unter quasistatischen Bedin-gungen zu untersuchen. Da ein Versagen aber im Allgemeinen erst nach einer ge-wissen postoperativen Zeit auftritt, müs-sen weitere In-vitro-Untersuchungen in dynamischen Prüfaufbauten erfolgen.

Zusammenfassung · Abstract

Trauma Berufskrankh 2013 · 15:249–258 DOI 10.1007/s10039-013-2044-4© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

H.-J. Wilke · H. Schmidt · A. Kienle

Biomechanische Forschung – von der Testung zur klinischen Anwendung. Biomechanik der intakten und der mit Implantat versorgten Wirbelsäule

ZusammenfassungNotwendigkeit der Testung. Um den Erfolg eines operativen Eingriffs an der Wirbelsäule zu erhöhen, werden ständig Operationstech-niken verbessert und neue Implantatsysteme entwickelt. Für die Beurteilung und Quan-tifizierung der postoperativen Funktionsfä-higkeit der Implantate sollten In-vitro-Expe-rimente mit humanen Präparaten und In-si-lico-Analysen durchgeführt werden. Für die mechanische Zuverlässigkeit der angeführ-ten Techniken sind genormte und standardi-sierte Prüfverfahren am Implantat selbst vor-geschrieben. Implantatprüfung. Bei allen Tests ist es wichtig, dass die Implantate möglichst phy-

siologischen, aber auch extremen Lastsitua-tionen ausgesetzt sind. Ziel ist, Schwachstel-len des Implantats vor dessen klinischem Ein-satz zu identifizieren, um später implantatbe-dingte Revisionsoperationen zu vermeiden. Für jedes Implantat ist daher eine individuelle Versuchsplanung erforderlich.

SchlüsselwörterWirbelsäule · In-vitro-Experiment · Flexibilitätstest · Finite-Elemente-Simulation · Mechanische Implantatprüfung

Biomechanical research from testing to clinical application. Biomechanics of intact and implanted spinal cords

AbstractNecessity of testing. In order to increase the success of a surgical procedure on the spine, new and improved implant systems and sur-gical techniques are constantly being devel-oped. Analyses should be performed using in vitro human specimens and in silico mod-els to assess and quantify postoperative and long-term functional ability. To ensure the mechanical reliability of these techniques, standardized test methods are prescribed on the implant itself. Testing of implants. In all tests, it is impor-tant that the implants are exposed to both

possible physiological and extreme loading situations. The goal is to identify weak points of the implant prior to its clinical use in order to avoid later implant-related revision sur-gery. Therefore, an individual experimental design is required for each implant.

KeywordsSpine · In vitro experiments · Flexibility tests · Finite element analysis · Mechanical implant testing

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Hierzu kann man z. B. spezielle Prüf-aufbauten konstruieren und in dyna-mischen Standardmaterialprüfmaschi-nen verwenden (. Abb. 3). Dabei wer-den durch Einleitung einer exzentrischen Kraft und Rotation des Präparats um die eigene Achse komplexe Lasten, wie Kom-binationen aus Flexion/Seitneigungsmo-menten und axialer Kompression, in das Präparat eingeleitet.

Ausblick

In absehbarer Zeit werden wir die Ent-wicklung eines neuen dynamischen Wir-belsäulenbelastungssimulators abge-schlossen haben (. Abb. 4). Dieser er-laubt die Applikation von Torsionsmo-menten in alle 3 Raumebenen und Kräf-ten in allen 3 Richtungen und ermöglicht somit die zyklische Belastung von Wirbel-

säulensegmenten in allen 6 Freiheitsgra-den jeweils getrennt oder mit allen Kom-binationsmöglichkeiten. Ziel wird es sein, sinnvolle Kombinationsbewegungen und Belastungen zu finden, um physiologi-sche Alltagsbelastungen über einen länge-ren Zeitraum zu simulieren und bestimm-te Versagensfälle wie Schraubenlockerun-gen sowie die Sinterung oder die Disloka-tion von Implantaten zu provozieren.

Abb. 2 8 Humanpräparat während eines Flexibilitätstests (a) mit Laserscanner (b) zur Erfassung der dreidimensionalen Band-scheibenoberfläche, Falschfarbendarstellung der äußeren Dehnung in Anulusfaserrichtung und Bandscheibenauswölbung bei Flexions- (c, oben) und Extensionsbewegung (c, unten)

Abb. 3 8 Aufbau eines komplexen zyklischen Dauerbelastungstests an der servohydraulischen Materialprüfmaschine Instron 8871 (Instron Wolpert GmbH, Darmstadt, Deutschland), Beispiel mit Videodokumentation beim Test eines Nukleusersatzes

Abb. 4 8 Dynamischer Wirbelsäulenbelastungssimulator, jede beliebige Be-lastungskombination bis zu 6 Freiheitsgraden bei hohen Frequenzen mög-lich

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Leitthema

Finite-Elemente-Rechnungen

Seit einigen Jahren gewinnen FE-Modelle zur Untersuchung biomechanischer Vor-gänge in der menschlichen Wirbelsäu-le zunehmend an Bedeutung (. Abb. 5). Gegenüber In-vitro-Untersuchungen bie-ten sie die Möglichkeit, eine größere indi-viduelle Variationsbreite von Wirbelsäu-lenmorphologien zu analysieren, und ge-ben Zugang zu Parametern, die messtech-nisch kaum oder gar nicht erfassbar sind. Einer der wichtigsten Schritte in der Ent-wicklung von FE-Modellen biologischer

Strukturen ist die Modellvalidierung. Hie-runter versteht man die Festlegung der Gültigkeitsgrenzen des Modells, d. h. in-wieweit das Modell in der Lage ist, das an-gestrebte Ziel (ein spezielles Messergeb-nis) mit der erforderlichen Richtigkeit und Präzision zu erreichen. Vergleichs-parameter können beispielsweise die ge-messenen Dehnungsprofile mit dem oben beschriebenen Laserscanner sein [10, 11].

Häufig von Interesse sind die Bewe-gungsachsen eines behandelten im Ver-gleich zum intakten Wirbelsäulenseg-ment. Eigene Rechnungen mit ungekop-

pelten Bandscheibenprothesen und teil-gekoppelten Versionen, welche Transla-tionen des Kerns in der unteren Deck-platte des Implantats in a.-p. und medio-lateraler Richtung zuließen, und dieselbe teilgekoppelte Version mit festem Kern er-gaben bei allen Implantaten ein bewegli-ches Rotationszentrum (. Abb. 5, [26]). Abgesehen von der axialen Rotation wie-sen die ungekoppelten und die gekoppel-ten Konfigurationen ein mit dem intak-ten Zustand vergleichbares Bewegungs-verhalten auf. In axialer Rotation zeig-te lediglich das teilgekoppelte Implantat,

Abb. 5 9 Finite-Elemen-te-Modell des Bewegungs-segments L4–L5 mit De-tailansicht der Bandschei-be (oben), Slide-Disc-Pro-these mit beweglichem und mit fixem Kern (Kern an der Unterplatte fixiert – gekennzeichnet durch ro-te Linie), SB-Charité-III-Pro-these im unbelasteten und belasteten Zustand (unten), L lumbal

Abb. 6 8 Resultierende Rotationszentren (RZ) in unterschiedlichen Belastungsbereichen im intakten Zustand und nach der Implantation unterschiedlicher Bandscheibenprothesen (SD-BK Slide-Disc-Prothese mit beweglichem Kern; SD-FK Slide-Disc-Prothese mit fixiertem Kern; SB-Charité-Prothese), kaum Bewegung bei kleinen Momenten (mit zunehmendem Moment in axialer Rotation Wanderung des RZ in Richtung belasteter Facette), x und y Koordinaten in mm

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welches die Translation des Kerns zulässt, ein dem des intakten Segments nahe kom-mendes Verhalten (. Abb. 6). Die FE-Er-gebnisse unterstützen somit die Resulta-te unserer In-vitro-Untersuchungen, dass unterschiedliche Implantatdesigns nicht zwingend zu starken Änderungen beim

Bewegungsumfang und der Lokalisation des Rotationszentrums führen.

Im Gegensatz dazu hingen die auftre-tenden Facettengelenkkräfte stark vom Implantatdesign ab [26]. Vergleicht man allerdings deren publizierte große Streu-ung [26], könnte spekuliert werden, dass diese Kräfte eher von der individuellen

Wirbelsäulengeometrie als vom spezifi-schen Implantatdesign beeinflusst sind.

Die FE-Simulationen zeigten ferner, dass die Implantate, wenn sie nahe der Wirbelkörperhinterkante platziert sind, die Bewegung des intakten Segments gut wiedergeben. Darüber hinaus wurden bei der operativen Versorgung von monoseg-mentalen Bandscheibenerkrankungen be-wegungserhaltende Implantate mit guten bis sehr guten postoperativen Ergebnissen eingesetzt [9], sodass bereits seit einigen Jahren Bandscheibenprothesen auch für multisegmentale Implantationen verwen-det werden [3, 6, 8, 9, 16, 31, 33]. Jedoch führten bereits bisegmentale Implantatio-nen zu schlechteren klinischen Ergebnis-sen [31]. Die Anwendung dieser Implan-tattechnologie über 3 bis sogar 4 Band-scheibenetagen ist daher umstritten.

Eigene FE-Untersuchungen ergaben, dass die gleichzeitige Implantation in mehreren Segmenten erhebliche mecha-nische Konsequenzen hat. Je mehr Pro-thesen implantiert werden, desto größer sind der Bewegungsumfang und die wir-kenden Kräfte in den Facettengelenken. Dieser Anstieg ist hauptsächlich auf einen erhöhten Bewegungsumfang und eine größeren Gelenkfacettenkraft in den im-plantierten Etagen zurückzuführen. Eine dauerhaft höhere Gelenkbelastung kann eine Facettengelenkarthrose zur Folge ha-ben. Dies würde bedeuten, dass das Pro-blem der fusionsbedingten Anschluss-segmentdegeneration auf die Degenera-tion der Facettengelenke des implantier-ten Segments verlagert wird.

Ähnlich wie bei der Untersuchung mo-nosogmentaler Implantation führen auch multisegmentale Implantationen nahe der Wirbelkörperhinterkante zur besten Rekonstruktion des Bewegungsumfangs der intakten Lendenwirbelsäule. Jedoch können Abweichungen von der zentralen Implantationsposition zu Lift-Offs füh-ren, die eine Luxation des Gleitkerns be-günstigen können (. Abb. 7). Außerdem kann es aufgrund lokaler Spannungsspit-zen zu einem frühzeitigen Versagen des Polyethylenkerns kommen, was Rever-sionsstudien bestätigten [14]. Ähnlich wie in den Simulationen lokalisierten die Au-toren einen erhöhten Verschleiß an den verjüngten Bereichen des Polyethylen-kerns. Die Lift-Offs traten im Modell je-

Abb. 7 8 Abweichungen von der zentralen Implantationsposition bei multisegmentalen Implantatio-nen können zu Lift-Offs und lokalen Spannungsspitzen im Polyethylenkern führen

Last / Deformation

Zeit

Dynamische Belastungen

kurz

e,sc

hlag

artig

e La

stsp

itze

Zyklische Belastungen

Last / Deformation

Zeit

Multiaxiale zyklische Belastungen

Last / Deformation

Zeit

Statische Belastungen

b d

a c

Last / Deformation

Zeit

langsam

ansteigende

Belastung

Abb. 8 8 a,b Häufig verwendete Implantatprüfung auf mechanische Sicherheit unter a zyklischer oder b statischer Lasteinleitung, c,d üblicherweise bei der mechanischen Implantatprüfung nicht vor-gesehene Tests, c Test mit schlagartigen, dynamischen Belastungen – einem realistischen Lastszena-rio in vivo entsprechend, d multiaxiale zyklische Testungen mit in mehreren Ebenen gleichzeitig ein-geleiteter Last

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Leitthema

doch nur auf, wenn 2 künstliche Band-scheiben in benachbarten Segmenten im-plantiert wurden.

Mechanische Testung

Die mechanische Implantatprüfung dient der Beurteilung und Quantifizierung der mechanischen Sicherheit von Implanta-ten. Mechanisch sichere Implantate halten den Belastungen im menschlichen Körper stand, ohne zu versagen.

Für die Zulassung eines Implantats sind oft Prüfungen nach bestimmten Nor-men [ASTM („American Society for Test-ing and Materials“), ISO (Internationale Organisation für Normung)] gefordert. Diese sind auf Implantattypen, beispiels-weise Bandscheibenprothesen, Cages, Hüftendoprothesen usw., ausgelegt. Sol-len aber designspezifische Schwachstel-len eines Implantats untersucht werden, sind meist individuelle Testverfahren er-forderlich. Diese können sich vom Set-up über die eingeleiteten Lastkomponenten und -amplituden bis hin zur Lasteinlei-tungsgeschwindigkeit von den Normprü-fungen unterscheiden. Meist sind derarti-ge individuelle Prüfverfahren nicht zulas-sungsrelevant, liefern aber für die späte-re Patientensicherheit wesentliche Infor-mationen.

Im Folgenden werden anhand eines Beispiels unterschiedliche mechanische Testvarianten dargestellt.

Arten der Lasteinleitung

Normprüfverfahren sehen meist eine zy-klische oder eine statische Lasteinleitung vor (. Abb. 8). Erstere spiegelt die repe-titive Belastung des Implantats im alltäg-lichen Leben wider. Die statische Lastein-

leitung dagegen überprüft unter stetig an-steigender Belastung das Verformungs- und Bruchverhalten des Implantats. Ein direktes Korrelat in vivo existiert für die-se Art der Lasteinleitung nicht, da In-vi-vo-Lasten entweder zyklisch oder, wenn einmalig, meist unter rascher Lasterhö-hung eintreten.

Aus biomechanischer Sicht ist daher eine zusätzliche Prüfung unter dynami-scher Lasteinleitung sinnvoll. Sie reprä-sentiert, abhängig von der gewählten Last-einleitungsgeschwindigkeit, rasche und gleichzeitig überdurchschnittlich star-ke Bewegungen oder Stöße, wie sie bei Sprüngen, Stürzen oder Unfällen auftre-ten können.

Normprüfverfahren sehen zudem meist die Testung der Implantate in nur einer Ebene vor. Die Belastung der Wir-belsäule aber findet in allen 3 Raumebe-nen zugleich statt. Eine multiaxiale Tes-tung stellt daher eine wichtige Testme-thode dar.

Design der Bandscheiben-prothese ROTAIO®

Die Bandscheibenprothese ROTAIO® (SIGNUS Medizintechnik GmbH, Alze-nau, Deutschland) wurde für den Ein-satz in der Halswirbelsäule entwickelt. Sie besteht ausschließlich aus metallischen Komponenten (. Abb. 9). Ihre mecha-nische Sicherheit wurde in einer umfang-reichen Serie zyklischer, dynamischer und statischer Versuche untersucht. Neben zahlreichen zulassungsrelevanten Tests wurden auch individuell auf das Design der Prothese ausgelegte Untersuchun-gen durchgeführt. Die Lastbedingungen wurden an die tatsächliche Belastung der Halswirbelsäule angelehnt. Die damit er-

haltenen Ergebnisse lassen direkte Rück-schlüsse auf die mechanische Sicherheit des Implantats im Patienten zu.

Von den insgesamt 14 verschiedenen Tests werden im Folgenden beispielhaft ein Normversuch, ein individueller mul-tiaxialer zyklischer Versuch und ein indi-vidueller dynamischer Versuch beschrie-ben.

Beispiel einer zyklischen Dauerbelastung nach Norm (ASTM F2346)Die Norm ASTM F2346 beschreibt die statische und zyklische Testung von Band-scheibenprothesen [2]. Abgedeckt sind Kompressions-, Scher- und Torsionsver-suche (. Abb. 10).

Das Ziel der zyklischen Versuche ist, die sog. Dauerläuferlast zu ermitteln. Da-bei werden die Implantate mit einer indi-viduell gewählten zyklischen Last beauf-schlagt. Versagt das Implantat vor Errei-chen von 10 Mio. Lastzyklen, wird die Last erniedrigt, ansonsten erhöht. Als Dauer-läuferlast wird am Ende diejenige Last be-zeichnet, bei der mindestens 2 Implantate die geforderte Lastzyklenzahl erreichten. Je nach Zulassungsprozedere entscheiden die Firmen bzw. die Zulassungsbehörden, ob diese Last für den klinischen Gebrauch ausreichend ist. Offizielle Grenzwerte für die Zulassung existieren nicht.

Die Bandscheibenprothese ROTAIO® erreichte im Beispiel des zyklischen Scher-versuchs eine Dauerläuferlast von 1250 N. Bei diesem Versuch wurde die Prothe-se unter einem vorgegebenen Scherwin-kel zwischen 2 Ersatzwirbelkörpern ein-gespannt. Die durch die Maschine einge-leitete Kraft Fz resultierte aufgrund des Scherwinkels in einer axialen Komponen-te und einer Scherkomponente. Bei obiger Dauerläuferlast lag unter dem gewählten Scherwinkel von 30° eine Scherkraftkom-ponente von 625 N an. Diese ist deutlich höher als die in vivo im Alltag erwartete Scherbelastung [13, 17, 27].

Beispiel einer zyklischen multiaxialen DauerbelastungAufgrund der multiaxialen Belastung in vivo und der daraus möglicherweise resul-tierenden Gefahren eines Implantatversa-gens wurde ein multiaxiales Versuchsde-sign entwickelt, in welchem die Testung

Abb. 9 8 Bandscheibenprothese ROTAIO® (SIGNUS Medizintechnik GmbH, Alzenau, Deutschland) aus einer oberen und einer unteren Deckplatte mit jeweils eingelassener Gleitfläche: Gleitflächen artiku-lieren mit zentralem, sich innerhalb bestimmter Grenzen frei bewegendem, über einen Pin vor Dislo-kation geschütztem Gleitring

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sehr realitätsnah erfolgt. Dabei wurde das Implantat einer axialen und einer Scher-kraftkomponente ausgesetzt, während es phasenverschoben in Flexion und Ex-tension bewegt wurde (. Abb. 11), was für die Verankerung der Gleitflächen ein Worst-case-Szenario darstellt. Die Belas-tungen wurden in 3 Stufen erhöht, von der durchschnittlichen alltäglichen Be-lastung bis hin zur Belastung, wie sie bei-spielsweise bei PKW-Heck-Kollisionen zu erwarten ist (. Tab. 1), um alle Lastinten-sitäten in vivo mit einer angemessener Zy-klenzahl abzubilden.

Die Bandscheibenprothese ROTAIO® hielt den oben genannten Lasten ohne kri-tisches funktionelles Versagen stand. Im tatsächlichen Leben repräsentieren die-se ungefähr 80 Jahre überdurchschnitt-liche alltägliche Belastung [1, 17] plus 50.000 PKW-Heck-Kollisionen [13] plus 20.000 Zyklen, die zu Verletzungen der Halswirbelsäule führen würden [27].

Beispiel einer impulsartigen BelastungSchlagartige Belastungen können bei Sprüngen, Stürzen und Unfällen auftre-ten. Diese wurden in Form eines dyna-mischen Scherversuchs berücksichtigt (. Abb. 12). Dabei wurde auf die obe-re Deckplatte schlagartig eine Scherkraft eingeleitet, während die untere Deckplat-te fixiert blieb. Eine axiale Vorkraft soll-te das Verkippen des Implantats während der Belastung verhindern und für eine rein in posteroanteriorer Richtung aus-gerichtete Scherkraft sorgen. Die Testung

Abb. 10 8 Beispiel einer zyklischen Testung der Bandscheibenprothese ROTAIO® laut ASTM F2346: a unter einem Winkel von 30° zwischen 2 die Wirbelkörper simulierenden Kunststoffblöcken [intradiskale Höhe (IDH) von 4 mm] eingespanntes Implan-tat, b eingeleitete Kraft Fz mit im Implantat resultierender axialer (Faxial) und Scherkomponente (Fshear), c bei Lasten oberhalb 1250 N Brüche der Deckplatten (weiße Pfeile Bruchverlauf)

Abb. 11 8 Beispiel einer multiaxialen Testung im MTS („spine wear simulator“), Einleitung einer Kraft Fz [im Implantat in axialer (Faxial) und Scherkomponente (Fshear) resultierend] sowie einer Flexions- und Extensionsbewegung

Abb. 12 8 Beispiel einer dynamischen Lasteinleitung auf die Bandscheibenprothese ROTAIO® zur Untersuchung deren Luxationsverhaltens bei schlagartiger Lasteinleitung (Fz; z. B. als Simulation der Belastung der Halswirbelsäule bei Unfällen)

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Leitthema

wurde stets bis zum Versagen – einer Dis-lokation der Deckplatte – durchgeführt.

Unter einer konstanten axialen Kom-pressionskraft von 45 und 250 N versag-te die Prothese nicht. Stattdessen kam es unter der schlagartigen Scherkraft zu einer Verkippung des Implantats. Die Kompressionskraft musste auf 600 N er-höht werden (weit oberhalb der Alltags-belastungen), um ein Versagen zu erzie-len. Dieses war durch ein Herausrutschen des Pins aus der unteren Kappe gekenn-zeichnet und trat bei einer Scherkraft von 1562 N auf. Dieser Wert liegt deut-lich oberhalb der Alltagsbelastungen [13, 17, 27]

Fazit für die Praxis

F  Neue Implantate oder neue Opera-tionstechniken sollen unbedingt prä-klinisch getestet werden, bevor sie klinisch Verwendung finden dürfen.

F  In-vitro-Untersuchungen helfen, die Funktionalität direkt nach der Ope-ration oder nach einer gewissen Im-plantationszeit zu beurteilen.

F  Mathematische Analysen erlauben zusätzliche Aussagen zu Parame-tern, die experimentell evtl. nicht be-stimmt werden können.

F  Mechanische Tests werden im Allge-meinen nach genormten Prüfverfah-ren durchgeführt und sind für die Zu-lassung gefordert. Häufig sind zusätz-lich spezielle Tests ratsam, um Versa-gensfälle abzuschätzen, die von ge-normten Prüfungen nicht erfasst wer-den.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. H.-J. WilkeInstitut für Unfallchirurgische Forschung und Biomechanik, Zentrum für Muskuloskelettale Forschung Ulm (ZMFU), Universitätsklinikum Ulm,Helmholtzstraße 14, 89081 [email protected]

Danksagung. Die meisten der hier beschriebenen Versuchsaufbauten und Finite-Elemente-Modelle wur-den mit finanzieller Unterstützung der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) entwickelt (Cl-77/2-1 bis 4, Wi-1352/2-1, Wi-1352/6-1, Wi-1352/8-1, Wi-1352/10-1, Wi-1352/12-1, Wi-1352/14-1).

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt. H.-J. Wilke und H. Schmidt wei-sen darauf hin, dass die erwähnten Implantatstudien finanziell oder durch die Bereitstellung der Implanta-te durch die Implantathersteller unterstützt wurden. A. Kienle berichtet über Tests, die im Auftrag der Firma Signus Medizintechnik GmbH durchgeführt wurden.

Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

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Tab. 1 Multiaxialer Versuch mit stufenweise erhöhten Belastungen der Prothese

  Scherkraft (N) Flexion (°)

Extension (°)

Zyklen Korrelat in vivo

Mini-mum

Maxi-mum

1 40 150 +6 −6 10 Mio. Etwa 80 Jahre überdurchschnittliche alltägliche Belastung [17]

2 135 270 +8 −8 50.000 PKW-Heck-Kollisionen [13]

3 135 845 +8 −8 20.000 Verletzungen der Halswirbelsäule [27]

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