biomechanische erkenntnisse für die sitzentwicklung im personenwagen

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Biomechanische Erkenntnisse für die Sitzentwicklung im Personenwagen Mobilität ist bei Grammer Automotive auch das konsequente Streben nach Neuem, das Verwirklichen von Visionen mit dem Ziel, Innovationen für Men- schen zu schaffen. Mit dem Zusammenführen von Ergonomie und Biomechanik zum neuen Begriff Ergomechanics gibt es nun die Möglichkeit, neueste Erkenntnisse aus der Sitzforschung von Grammer auch als neues Konzept in den Personenwagen zu transferieren: Ergebnis ist eine in den Pkw-Sitz zu inte- grierende Sitzmechanik, die dem Wohlbefinden und der Sicherheit des Menschen im Fahrzeuginnenraum dient. ENTWICKLUNG ATZ 01I2007 Jahrgang 109 54 Ergonomie

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Page 1: Biomechanische Erkenntnisse für die Sitzentwicklung im Personenwagen

Biomechanische Erkenntnisse

für die Sitzentwicklung

im Personenwagen

Mobilität ist bei Grammer Automotive auch das konsequente Streben nach Neuem, das Verwirklichen von Visionen mit dem Ziel, Innovationen für Men-schen zu schaffen. Mit dem Zusammenführen von Ergonomie und Biomechanik zum neuen Begriff Ergomechanics gibt es nun die Möglichkeit, neueste Erkenntnisse aus der Sitz forschung von Grammer auch als neues Konzept in den Personenwagen zu transferieren: Ergebnis ist eine in den Pkw-Sitz zu inte-grierende Sitzmechanik, die dem Wohlbefinden und der Sicherheit des Menschen im Fahrzeuginnenraum dient.

ENTWICKLUNG

ATZ 01I2007 Jahrgang 10954

Ergonomie

Page 2: Biomechanische Erkenntnisse für die Sitzentwicklung im Personenwagen

1 Einleitung

Viele Millionen Jahre lang mussten sich der Mensch und seine Vorfahren für den Lebenserhalt bewegen. Er musste jagen und sammeln, große Strecken zu Fuß zu-rücklegen. Die biologische Evolution gab ihm die dazu notwendigen körperlichen Fähigkeiten. Das komplexe System des menschlichen Körpers ist in mehr als 500 Millionen Jahren Evolutionsgeschichte ge-reift. Der Mensch hat sich allerdings auf-grund der Evolution des Zentralnervensys-tems und damit einhergehend der Evoluti-on von Hand, Auge und Zunge weitgehend von den biologischen Fesseln befreit. Er hat sich Werkzeuge geschaffen, die den En-ergieeinsatz für die Nahrungsbeschaffung und die Gestaltung der Lebensbedin-gungen reduzierten – bis hin zu Maschi-nen und Fahrzeugen, die die Notwendig-keit zur Bewegung auf ein Minimum ge-bracht haben.

Der Körper jedoch hat sich dieser tech-nischen Evolution, die ihre größten Fort-schritte in der industriellen Revolution aufzuweisen hat, (noch) nicht angepasst. Seit 1,5 Millionen Jahren hat sich das Ske-lett nicht viel geändert. Die Ausbildung der charakteristischen Doppel-S-Form der Wirbelsäule erfolgte bereits mit dem Über-gang vom Vierbeiner zum Zweibeiner und ist Folge der mechanischen Beanspruchung des Körpers durch die aufrechte Körperhal-tung, also evolutionär und nicht erblich bedingt. Dieses Doppel-S fehlt beispielswei-se noch bei Babys, solange diese noch nicht stehen und laufen. Der Mensch hat sich also über die letzten Jahrhunderte von dem gehenden beziehungsweise stehenden Wesen zu einem sitzenden Wesen entwi-ckelt, obwohl unser Körper dafür ursprüng-lich nicht konzipiert wurde.

Diese Entwicklung hat uns neben einer Vielzahl von Vorteilen auch eine Reihe von gravierenden Nachteilen und Problemen eingebracht. Denken wir beispielsweise nur einmal an die Fortbewegung, die heut-zutage in vielen Fällen mit dem Automobil erfolgt. Dieses hohe Maß an Mobilität wird bezahlt mit langem statischen Sitzen mit wenigen sehr stark eingeschränkten Bewe-gungen, die sich in erster Linie auf die Ex-tremitäten sowie den Kopf beschränken. Dies erzeugt Muskelverspannungen, Rü-ckenschmerzen, Ermüdung durch Monoto-nie. Damit verbunden ist der Verlust von Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit, aber auch eine vergleichsweise geringe Leistungsfähigkeit am Ziel. Dabei wird also nicht nur das persönliche Befinden beein-trächtigt, sondern auch ein Risikopotenzial

geschaffen, das schlimmsten Falls zu schweren und schwersten Verkehrsunfäl-len führen kann.

Zur Lösung der nur exemplarisch ge-nannten Probleme sollte deshalb zunächst klar gemacht werden, wie wir eigentlich sitzen, das heißt wie man uns gelehrt hat, richtig zu sitzen.

2 Aufrecht Sitzen – Biomechanik der 1960er- und 70er-Jahre

Schon von Kindesbeinen an wurde bezie-hungsweise wird uns beigebracht, aufrecht zu sitzen. Die Aufforderung „Sitz gerade“ ist jedem sicherlich hinlänglich bekannt. Mit schlechtem Gewissen ertappen wir uns auch als Erwachsene immer wieder einmal dabei, entspannt zu sitzen. Das Becken tendiert im Sitzen aufgrund der Schwer-punktlage des Oberkörpers in Bezug zur Auflagefläche zu einer rückwärtsgerichte-ten Rotation um die Sitzbeinhöcker. Dabei wird die Wirbelsäule im Lendenbereich entlordosiert, also die Vorwärtskrümmung (Lordose) begradigt. Zur Aufrechterhaltung der Lendenlordose im Sitzen ist Muskelar-beit notwendig. Um die aufrechte Sitzhal-tung zu erleichtern, hat man eine Reihe von Hilfsmitteln entwickelt, wie beispiels-weise den so genannten Schneiderkeil, den Pezziball, den Kniehocker oder ähnliches.

Wieso aber haben unsere Eltern, aber auch die Rückenschule, immer wieder auf dieser speziellen Sitzhaltung bestanden, bei der die Wirbelsäule in der Doppel-S-

Form gehalten wird, die wir im Stehen au-tomatisch einnehmen?

Ihren Ursprung haben diese Forderungen und Empfehlungen im Wesentlichen in Inter-pretationen der intradiskalen Druckmes-sungen (Bestimmung des Bandscheiben-drucks), die von Professor Dr. med. Alf Nachem-son in den 1960er- und 70er-Jahren durchge-führt wurden [1]. Bei diesen Messungen in vivo (am lebenden Menschen) wurden Sensoren in die Bandscheiben der Lendenwirbelsäule (L3–L4, L4–L5) eingebracht und der Druck in Abhängigkeit von verschiedenen Körperhal-tungen bestimmt. Der schwedische Professor stellte dabei fest, dass der Bandscheibendruck und die damit korrelierende Bandscheibenbe-lastung im Sitzen höher sind als im Stehen, Bild 1. Darüber hinaus nahm man an, dass bei einer entspannten, kyphotischen Haltung die Wirbelkörperdeckplatten bauchseitig einen

Der Autor

Walter Schöpfist Internationaler

Direktor Marketing

bei der Grammer AG

Automotive in Amberg.

Bild 1: Intradiskale Druckmessungen von Nachemson – ErgebnisseFigure 1: Spinal disk pressure measurements of Nachemson – results

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spitzen Winkel bilden würden. Diese Schräg-stellung würde eine horizontale Kraftkompo-nente auf den Bandscheibenkern in Richtung Spinalkanal erzeugen. Damit verbunden könnte es zu Quetschungen empfindlicher Nervenstränge in diesem Bereich kommen. Man nennt dieses Phänomen „Kernwande-rung“.

Man folgerte, Sitzen sei schlechter als Stehen, also sollte man im Sitzen zumin-dest das Stehen nachahmen. Das Sitzen in lordosierter Haltung, mit der Wirbelsäule in ihrer so genannten physiologischen Doppel-S-Form, galt also als das geringere Übel. Diese Erkenntnisse hatten weitrei-chende Auswirkungen auf Medizin und Rehabilitationstherapie, aber auch auf die Ergonomie. Denn dort wurde das „Sitze aufrecht!“ in entsprechendes Sitzprodukt-design umgesetzt.

Allerdings konnten viele Biomechaniker die von Nachemson gemessenen erheb-lichen Druckunterschiede zwischen Sitzen (+ 40 %) und Stehen argumentativ nicht nachvollziehen. Deshalb wurde in den letz-ten Jahren eine Reihe von indirekten Methoden zur Messung des Bandscheiben-drucks entwickelt. Diese Messungen, wie beispielsweise die Höhenpräzisionsmes-sungen, konnten die Nachemson-Unter-schiede nicht bestätigen.

3 Dynamisches Sitzen – Biomechanik heute

Eine intradiskale Druckmessung ist eine invasive Methode, deshalb konnte eine Wiederholung nur mit freiwilligen Proban-den und mit Zustimmung der Ethikkom-mission vorgenommen werden. 1999

wurden solche Messungen von Wilke et al. [2] mit moderner Messtechnik durchge-führt. Das Testprogramm dort wurde um dynamische Übungen erweitert.

Das Ergebnis dieser intradiskalen Druck-messung zeigte, dass der Druck beim Sit-zen sogar etwa 10 % geringer ist als beim Stehen, Bild 2. Den größten Druck in der Bandscheibe erzeugt die häufig empfohle-ne aufrechte Sitzhaltung. Abgestütztes lässiges Sitzen dagegen belastet die Band-scheiben am geringsten (50 % des Drucks im Stehen). Diese von vielen als bequem empfundene Haltung erlaubt eine Hydrata-tion (Quellung) der Bandscheibe während des Tags. Diese Hydratation ist für die Band-scheibe von essentieller Bedeutung, weil die Bandscheibe nicht über Blutgefäße, sondern über druckabhängige Prozesse ernährt wird. In einem Zustand niedriger Belastung kann die Bandscheibe Flüssig-keit und Nährstoffe aufnehmen, bei hoher Belastung wird Flüssigkeit „ausgepresst“, und verbrauchte Stoffwechselprodukte können abtransportiert werden. Diese Prozesse sind vergleichbar mit dem Vollsau-gen und Auspressen eines Schwamms. Da-mit also immer wieder Nahrung gegen Stoffwechselprodukte ausgetauscht wer-den kann, braucht die Bandscheibe – und im Übrigen auch die daneben liegenden Knorpel – eine wechselnde Belastung. Da-mit wurde das Hauptargument für das Dogma des aufrechten Sitzens entkräftet.

Bleibt noch die Angst vor Wanderung des Bandscheibenkerns in Richtung Spinal-kanal im Falle des kyphotischen (oder besser entlordosierten) Sitzens. Betrachtet man aber Röntgenaufnahmen (oder auch NMR-Bilder) der Lendenwirbelsäule bei auf-rechtem und bei entspanntem Sitzen, so

findet man, dass die Wirbelkörper bei der kyphotischen Haltung maximal parallel zueinander stehen, aber keinesfalls bauch-seitig einen spitzen Winkel bilden. Das bedeutet, es besteht keine Gefahr der Kern-wanderung. Darüber hinaus ist der Spinal-kanal, wie Aufnahmen mit Kontrastmittel zeigen, in kyphotischer Haltung weiter ge-öffnet als in lordotischer Stellung.

Die bis dahin verpönte lässige Sitzhal-tung verliert damit ihren schlechten Ruf. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Bandscheibe zur Ernährung Belastungs-wechsel braucht und die Bestandteile des menschlichen Bewegungsapparats (Kno-chen, Gelenke, Muskeln, Knorpel, Bänder und Sehnen) sowohl Belastung als auch Bewegung brauchen, liegt die Forderung nach „bewegtem oder dynamischem Sit-zen“ nahe. Denn Strukturen, die nicht be-lastet und bewegt werden, baut der Körper ab oder um. Damit gibt es nicht die eine richtige Sitzposition, sondern der Wechsel zwischen den Haltungen ist notwendig.

4 Produktgestaltung von Sitzen mit Ergomechanics

Wenn diese neuen Erkenntnisse in die er-gonomische Produktgestaltung von Sitzen übertragen werden sollen, so kommt man zum so genannten Begriff Ergomechanics (ein von Grammer kreierter und ge-schützter Name, der die Zusammenfüh-rung von Ergonomie und Biomechanik symbolisiert). Dieses Konzept erlaubt und unterstützt eine Veränderung der Wirbel-säulenkrümmung im Sitzen von der auf-rechten lordosierten Haltung zur entlordo-sierten entspannten Haltung und zurück. Es entspricht dadurch dem natürlichen Be-wegungsbedürfnis des Menschen auch im Sitzen.

Wichtig ist, dass die Rückenlehnenkon-tur stets der Wirbelsäulenform an gepasst ist, so dass mögliche schädliche Scher be-lastungen vermieden werden. Dieses Prin-zip erlaubt den Wirbelsäulenstrukturen einen Belastungswechsel durch die unter-schiedlichen Sitzpositionen und eine Be-wegung der gesamten Wirbelsäule durch die Konturänderung der Rückenlehne. Di-es unterscheidet Ergomechanics-Sitze von herkömmlichen Synchronmechaniken, die den Menschen zur Beibe haltung der Doppel-S-Form der Wirbel säule auch bei Änderung der Lehnen neigung zwingen wollen.

Die Umsetzung dieses Prinzips im Fah-rersitz (sei es Pkw, Lkw, Stadt- oder Reise-bus) würde eine Bewegung vieler weiterer

Bild 2: Studienvergleich Nachemson mit Wilke – relativer intradiskaler DruckFigure 2: Study comparison Nachemson with Wilke – relative spinal disk pressure

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Ergonomie

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Gelenke wie Hüfte, Knie- und Fußgelenke bedeuten. Ergomechanics [3] bedeutet also zu fahren und zu sitzen, aber sich doch zu bewegen, Bild 3.

Der Begriff Ergomechanics steht aber auch für den Erfahrungsaustausch zwi-schen Experten der Ergonomie und Bio-mechanik. Dieser Austausch hat inzwi-schen, gefördert von der Grammer AG, ein öffentliches Podium gefunden. Ein Ergo-mechanics-Kongress findet im Turnus von vier Jahren als internationaler, interdiszip-linärer Wirbelsäulenkongress statt. Bei die-ser Veranstaltung referierten und disku-tierten 2001 und 2005 Biomechaniker, Er-gonomen, Biologen, Physiotherapeuten, Orthopäden und Psychologen über aktu-ellste Forschungen rund um das Sitzen [4].

Zur Förderung der Forschung wurde zudem der „Grammer European Spine Journal Award“ ins Leben gerufen. Dieser weltweit hochdotierte Preis für Wirbel-säulenforschung zeichnet jährlich die beste wissenschaftliche Arbeit in einer der führen-den internationalen Zeitschriften (European Spine Journal) auf diesem Gebiet aus.

5 Nutzen für den Anwender

Ergomechanics bedeutet Training für die Körperstrukturen während des Fahrens und damit Verhältnisprävention gegen Muskelverspannungen und Rücken-schmerzen. Es bedeutet weniger Mono-tonie, durch die Bewegung ein geringeres Risiko einzuschlafen, es bedeutet auch, nach langen Fahrten erholt anzukommen, also mehr Leistungsfähigkeit am Ziel. Ne-ben diesem immens wichtigen Beitrag zur Fahrerkonditionierung bringt das Prinzip aber auch schlicht und einfach mehr Kom-fort für mehr Spaß am Fahren auch bei langen und langweiligen Strecken.

Literaturhinweise[1] Nachemson, Alf: The Load on Lumbar Disks in Diffe-

rent Positions of the Body. Clin Orthop, 1966, No 45,

pp 107–122

[2] Wilke, H. J.; Neef, P.; Caimi, M.; Hoogland, T.; Claes,

L. E.: New in-vivo Measurements of Pressure in the In-

tervertebral Disc in Daily Life. Spine, 1999 Apr 15, No

24 (8), pp 755–762

[3] www.ergomechanics.com

[4] 2. Interdisziplinärer Kongress Ergomechanics. Amberg,

September 2005

Bild 3: Versuchsfahrzeug ErgonomicsFigure 3: Testing vehicle Ergonomics

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