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Betrachtungen zu Odo Marquards Kompensationsbegriff / Aesthetica und Anaesthetica Seminararbeit Bertl Mütter Gleinker Gasse 30, 4400 Steyr [email protected] Matr.-Nr. 8310528 4. Semester des Studienganges Dr. artium „Kunsttheorie / Ästhetik der Gegenwart” (LV-Nr. 14.0037) – WS 2011/12 Univ.Prof. Dr. Andreas Dorschel Universität für Musik und Darstellende Kunst Graz, Institut 14 Musikästhetik 18. März 2012 [mit wenigen Ergänzungen versehen am 4. April 2012]

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Page 1: Betrachtungen zu Odo Marquards …...Geboren wurde Odo Marquard 1928 in Kolberg, Hinterpommern. (Die folgenden Zitate sind seiner launigen „Selbstvorstellung”4 entnommen.) „1940

Betrachtungen zuOdo Marquards

Kompensationsbegriff / Aesthetica und Anaesthetica

Seminararbeit

Bertl Mütter

Gleinker Gasse 30, 4400 Steyr

[email protected]

Matr.-Nr. 8310528

4. Semester des Studienganges Dr. artium

„Kunsttheorie / Ästhetik der Gegenwart” (LV-Nr. 14.0037) – WS 2011/12

Univ.Prof. Dr. Andreas Dorschel

Universität für Musik und Darstellende Kunst Graz, Institut 14 Musikästhetik

18. März 2012

[mit wenigen Ergänzungen versehen am 4. April 2012]

Page 2: Betrachtungen zu Odo Marquards …...Geboren wurde Odo Marquard 1928 in Kolberg, Hinterpommern. (Die folgenden Zitate sind seiner launigen „Selbstvorstellung”4 entnommen.) „1940

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung …………………………………………………………………... 2

2. Odo Marquard ………………………………………………………………. 3

3. Kompensation ……………………………………………………………… 4

4. Aesthetica und Anaesthetica ……………………………………………….. 9

5. Schlussbemerkung …………………………………………………………. 12

6. Quellenangabe ………………………………………………………………. 13

Marquardschwert (Marquard I. von Randeck, 1365-81 Patriarch von Aquileia)Cividale des Friuli, Museo diocesano cristiano e del tesoro del duomo di Cividale del Friuli

Foto: Bertl Mütter, 27.3.2012

– 1 –

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„Pflicht oder Neigung – wem soll der Mensch folgen?”

Geh von persönlichen Beispielen aus.

Fülle nicht mehr als zweihundert Seiten

und nicht unter zehn. Zehn Seiten sind Pflicht.

Robert Gernhardt, Deutscher Aufsatz1

1. Einleitung

Da nun zur Aufgabe steht, als Abschluss des Seminars zu Texten der gegen-

wärtigen Ästhetik eine Arbeit über einen der in der Literaturliste angegebenen

Bände zu verfassen2, will ich gleich vorweg gestehen, dass ich meine Auswahl

ohne alle sorgfältige Recherche rein nach dem Titel des Buches getroffen und

mich dann ins Werk des Autors weiter vertieft habe. Zu Materialien für meine

Kompositionen und konzeptuellen Arbeiten komme ich in der Regel auf ver-

gleichbar chaotischem Wege: Es gibt eine Thematik, über die künstlerisch-ver-

dichtend gearbeitet werden will, und ich stelle mein Radar gewissermaßen auf

Empfang. Um eine Formulierung von der Homepage des Ensembles Mnozil

Brass zu zitieren: „kein ton ist uns zu hoch, keine lippe zu heiss und keine mu-

sik zu minder.”3 Das bedeutet in meinem Fall: Was auch immer irgendetwas mit

dem entstehenden Werk zu tun haben könnte, wird wahrgenommen und in

meinem (realen gleichwie imaginären) Zettelkasten abgelegt. Die Erfahrung mit

dieser intuitiven Methode (ich nenne sie eine Methode und bin mir der Prekari-

tät dieser Behauptung im wissenschaftlichen Kontext einigermaßen bewusst)

– 2 –

1 Gernhardt, Robert: Körper in Cafés – VII Kunst (1987), in: Robert Gernhardt, Gesammelte Gedichte, 1954–2006. Frankfurt 2010, S. 257f.

2 Der verspäteten Abgabe stehen durchaus ansehnliche Prokrastinationsfrüchte gegenüber: Neben den idealtypisch als dringlich erkannten Umbau- und Reinigungsarbeiten im Haushalt waren das die ausführliche Lektüre auch abschweifender Sekundär- und Tertiärliteratur; die (immer asymptotische) Ergänzung und Neuordnung meiner Internetpräsenz; posaunistische Studien, auch in weiteren bemerkenswerten Kirchenräumen Oberösterreichs (u.a. Linz, St. The-resia und Steyr, Resthof); Entwicklungsdialoge mit meinem Instrumentenbauer (die leider noch unfertige, für mich jedoch ohnehin völlig neue Basstrompete); Recherchen Über die Dummheit (u.a. Erasmus v. Rotterdam, Gustave Flaubert, Robert Musil, Matthijs van Boxsel) für eine Komposition für zwei Bajane; Auf-die-Schiene-Setzen meines Soloprojekts sostenuto (ein heim-liches Monumentalkonzert zum Spätwerk Morton Feldmans, mit Seitenblicken auf Bachs Cello-suite d-moll, BWV 1008, Beethovens Sonata quasi una fantasia, op. 27/2, Schuberts Streich-quintett C-Dur, D 956 und Schostakowitschs Violasonate, op. 147); Studienadministratives; und, nicht zuletzt: körperliche Ertüchtigung – derart, dass ich bei Abgabe dieser Arbeit nur mehr zu etwa 90% vorhanden bin, jedoch bzw. gerade deshalb agiler und neugieriger denn je.

3 http://mnozilbrass.at/die_band.html [17.3.2012]

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hat gezeigt, dass sich die Dinge – unter meiner ordnenden Hand (aber auch an

ihr vorbei sich schummelnd) – den ihnen zukommenden Platz finden.

2. Odo Marquard

Wenn mir sein Name auch bislang unbekannt war, so darf ich zufrieden feststel-

len, dass diese intuitive Wahl ein meinen Horizont erfreulich bereichernder Voll-

treffer war. Zuallererst hat mich der sprachspielerische Titel (der natürlich mit

der zentralen Ästhetik-Thematik zu tun hat und inhaltlich anzustreben war) an-

gezogen: Wer eine Aufsatzsammlung mit einem (ernsthaften) Augenzwinkern

benennt, hat bereits vorweg meine Sympathie gewonnen. Im Lesen der Texte

konnte ich dann zudem etliches Anregendes finden, und das ist denn auch der

Grund für meine Wahl.

Geboren wurde Odo Marquard 1928 in Kolberg, Hinterpommern. (Die folgenden

Zitate sind seiner launigen „Selbstvorstellung”4 entnommen.) „1940 kam ich –

ich erwähne das, um es nicht nicht zu erwähnen – auf ein Naziinternat, eine A-

dolf-Hitler-Schule, war schließlich Luftwaffenhelfer und beim Volkssturm; im Au-

gust 1945 mit siebzehn hatte ich meine Kriegsgefangenschaft schon hinter

mir.”5 Er entschied sich, seinen Neigungen (Architektur, Malerei) widerstehend,

Philosophie (weiters: Germanistik und Theologie) zu studieren, in Münster (Jo-

achim Ritter) und Freiburg (Max Müller), habilitierte sich 1963 in Münster und

war dort zwei Jahre lang Privatdozent („mein Lebensziel” – fügt er augenzwin-

kernd hinzu), bevor er 1965 nach Gießen berufen wurde, wo er 1993 emeritiert

wurde. 1995 ernannte ihn die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung zu

ihrem ordentlichen Mitglied. Weitere Ehrungen (u.a.): Ehrendoktor (Uni Jena,

1994), Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik (1996), Cicero-Rednerpreis

(1998), Großes Bundesverdienstkreuz (2008).

– 3 –

4 „… als neues Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung am 20.10.1995 in Darmstadt” in: Marquard, Odo: Philosophie des Stattdessen. Stuttgart 2000, S. 8f.

5 Das demonstrative Nichtauslassen dieses frühen Teils seiner Biographie (für den er naturge-mäß nicht verantwortlich zu machen sein kann) unterstreicht seine Lauterkeit, den Dingen so wie sie nun mal sind ins Auge zu sehen. Für M. resultiert aus den in seiner frühen Jugend ge-machten Erfahrungen seine grundlegende Skepsis: „Mein Mahnsatz (…) war zunächst: ,ich’ kann mich irren.”

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Über sich selbst berichtet Odo Marquard in seiner erfrischenden „Selbstvorstel-

lung”, ein Vielschläfer zu sein, weiters „(…) immer noch fallen mir Denken und

Schreiben schwer; aber es lohnte sich nicht, wenn das anders wäre.” Nun, ist

seinen Texten auch ein mild-ironischer Ton eigen, so erfordern sie jedenfalls

höchste Konzentration, denn Marquard versteht es, in der von ihm bevorzugten

Form des kurzen Aufsatzes, Gedankengänge und Sachverhalte recht dicht zu

verpacken6.

3. Kompensation

Eng mit Marquards Biographie verbunden steht sein Kompensationsbegriff:

Was uns fehlt, seien es Defizite oder Mängel, ergänzen bzw. kompensieren wir

nicht primär durch direkte Aktionen, sondern durch umweghafte Reaktionen.7

Diesem kompensatorischen Re-Agieren schreibt Marquard jedoch nur Linde-

rung, nicht aber die Heilung von aus diesen Defiziten resultierenden schadhaf-

ten Beeinträchtigungen zu.

Was also nützt das alles?, fällt mir sogleich die erste Szene von Wagners Parsi-

fal ein: „Toren wir, auf Lindrung da zu hoffen, wo einzig Heilung lindert!”8 – Im

Gegensatz zum bedauernswerten (gleichwie vor Verachtung über sein Sich-

Gehen-Lassen nicht zu verschonenden) Amfortas brauchen bzw. können wir

gar nicht Jahrzehnte auf die Rückkehr irgend eines Heiligen Speers warten,

sondern wir müssen uns eben (nolens volens?) mit allerlei mehr oder weniger

tauglichen Linderungen zufrieden geben – auf mehr zu hoffen, es wäre vermes-

sen und letztlich nicht den (irdischen, materiellen) Bedingungen entsprechend.

Dem sich dreingebend gewinnt Marquard dieser Verfasstheit stets eine ver-

schmitzte Heiterkeit ab, eine Grundhaltung, die mich im Lesen und (etwas lang-

sameren) Mitdenken nach und nach wohliger durchströmt hat: Das hat etwas

grundlegend Mutmachendes.

In seinem Vortrag „Kompensationstüchtigkeit. Überlegungen zur Unterneh-

– 4 –

6 verpacken, da ist mir eine Worthülse passiert; eig. (Kraus…): verkörpern (ist auch plastischer)

7 Seinen Kompensationsbegriff (konzentrisch; spiralartig) einkreisende Aufsätze finden sich be-sonders in: Marquard, Odo: Philosophie des Stattdessen. Studien. Stuttgart 2000.

8 Wagner, Richard: Parsifal. Ein Bühnenweihfestspiel. Textbuch mit Varianten der Partitur, Hg. v. Eugen Voss. Stuttgart 2005, S. 8.

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mensführung im Jahr 2005”9 erläutert er seinen Begriff der Kompensation als

„Ausgleich von Mangellagen durch ersetzende oder wiederkehrende Leistun-

gen”, verweist auf Ciceros Theorie des Weisen: „Der Weise ist der ausgegli-

chene Mensch: der, der Schicksalsschläge, Übel, Mängel zu kompensieren

vermag, indem er – zum Ausgleich – Bonitäten mobilisiert: er ist nicht aus dem

Gleichgewicht zu bringen.” Es folgt ein Blick auf die Theodizeen des 18. Jahr-

hunderts (Bayle, Leibniz, der frühe Kant), eine „auf die Welt bezogene Aus-

gleichstheorie: Gott hat die Übel durch Bonitäten kompensiert; der Saldo aus

Übeln und Gütern kann trotzdem negativ bleiben oder positiv sein oder Null.

Kann man ihn – durch zusätzliche Kompensationen – aufbessern?” Folge sei

der Utilitarismus, in dem Kompensationsgesetze formuliert wurden wie „Alles

Gute hat seinen Preis” (Ralph Waldo Emerson, 1803-1882) bzw., umgekehrt,

vorher schon (Antoine de La Sale, ca. 1385-1460; Pierre-Hyacinthe Azaïs,

1766-1846, etwa:) „Jedes Unglück ist durch Glück kompensiert.” Wilhelm

Busch, in seiner Frommen Helene (1872), sagt es, gewohnt flapsig, so: „Es ist

ein Brauch von alters her: Wer Sorgen hat, hat auch Likör”10, und spontan fällt

mir der Geiger und Hauptconférencier Klemens Lendl vom Ensemble Die Strot-

tern ein, wie er ein Wienerlied mit trocken-sarkastischen Beispielen für Kom-

pensation anmoderierte, darunter auch jenes bekannte, „dass der Herrgott,

wenn einem ein zu kurzer Fuß gewachsen ist, auf der anderen Seite dafür ei-

nen längeren hat wachsen lassen…”11

Trefflich gezielt: Der aktuellen „Weltveränderung durch Vereinheitlichung”, in der

„Besonderheiten neutralisiert” werden steht das Besondere entgegen, ein Be-

sonderheitsbedarf, begründet dadurch, dass eben die modernen Vereinheitli-

chungen das Nicht-Globale nicht zum Verschwinden bringen, sondern, im Ge-

genteil, das Überraschende hervorbringen, das Randständige, die Regionalisie-

rung. „Die durch Gleichförmigkeit überraschungsarm werdende moderne Welt

erzwingt kompensatorische Überraschungspotentiale, die es vorher nicht gege-

– 5 –

9 gekürzte Druckfassung, Zürcher Tages-Anzeiger vom 21.12.1996; in: Philosophie des Statt-dessen, S. 55–59.

10 Busch, Wilhelm: Die fromme Helene (1872), in: Sämtliche Werke I, Hg. v. Rolf Hochhuth. München 1982, S. 628.

11 abgelauscht beim Doppelkonzert der Strottern mit dem Duo Loibner-Mütter, Wien 14, Breit-enseer Lichtspiele, 14.12.2011.

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ben hat: z.B. das Ästhetische.”12

Abermals stelle ich einen Bezug zu meiner Arbeit als Künstler her, denn auch

ich darf (und durfte, implizit; nun hat es mir Odo Marquard benannt) meine

Kunst durchaus (und gerne!) als kompensatorisch im Sinne des durch diese

Durchschnittlichmachungen erwachsenden Besonderheitsbedarfs erleben (aktiv

wie passiv). Es ist eine schöne Aufgabe, und etwas pathetisch füge ich noch

einen Nebengedanken aus Honoré de Balzacs unbekanntem Meisterwerk

(1837) bei, wo er an einer Stelle von „jenen eigensinnigen Menschen” spricht,

„denen man die Erhaltung des heiligen Feuers in schlechten Zeiten verdankt.”13

– Manche von ihnen kommen zu meinen oft (vielerlei schwellenartiger Ursa-

chen wegen) nicht so leicht aufzuspürenden Konzerten, und manchmal darf ich

in Spuren selber spüren, jetzt in absichtsloser Wachheit, an den feinfädrigen

Seilzügen der Gewichter der Welt zu trimmen. Das ist durchaus tröstlich, mithin:

kompensatorisch. (Und Trost, aktivmachend angenommen, macht Mut!)

Und ein großer Druckwegnehmer ist Marquard, wenn er die Kompensationsphi-

losophie den Menschen „statt als absolutes vielmehr als endliches Wesen” be-

greifen lässt.14 „Die Kompensationstheorie (…) bestimmt den Menschen (…)

statt als triumphierendes vielmehr ,nur’ als kompensierendes Wesen. Das ist

keine Schwäche der Kompensationstheorie, sondern gerade ihr Vorzug; denn

es vermeidet Absolutheitsillusionen, indem es die menschliche Endlichkeit

respektiert.” (…) „Kompensationen: nicht das Absolute, sondern das Men-

schenmögliche” (…) „die Vizelösungen, die zweitbesten Möglichkeiten, das,

was nicht das Absolute ist, das Menschenmögliche, das Unvollkommene.”

Ich kann mir gut vorstellen, wie sehr man Marquard für diese Bescheidung ge-

scholten hat; es wäre aber ein böswilliges Missverstehenwollen, aus diesen

grundsätzlichen Vergeblichkeiten unserer Existenz(form) ein wurschtig-resigna-

tives erst-gar-nicht-probieren-Wollen abzuleiten (weil was soll’s, wozu denn, bit-

te?, es ist ohnehin alles vergebens und eitel…) – vgl. dazu die jesuanische

– 6 –

12 Philosophie des Stattdessen, S. 58.

13 Balzac, Honoré de: Das unbekannte Meisterwerk (Le chef-d’œuvre inconnu), dt. von Herma Goeppert-Frank. Frankfurt am Main 1987, S. 38.

14 Philosophie des Stattdessen, in: Philosophie des Stattdessen, S. 41ff.

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Gleichniserzählung von den anvertrauten Talenten15. Im Bescheiden – Be-

scheidenheit kommt von Bescheid wissen16 – aber wird uns, ich habe es oben

schon ausgeführt, Druck weggenommen, und so läßt sich’s einrichten im Le-

ben. Nach Höherem streben, wir dürfen es trotzdem, sollen es gar, aber bitte

nicht verbissen und, um ein nicht nur manchen ihre Kräfte unergo- bzw. -öko-

nomisch dosierenden Bläsern vertrautes Schmerzensbild zu skizzieren, mit fest

zusammengepresstem Ringmuskel. – Hämorrhoiden (physisch wie im übertra-

genen Sinn) sind fürwahr eine Plage unserer so hartleibigen Zeit.

Abschließend zu diesen Betrachtungen über Marquards Kompensationsbegriff

noch ein gleichwohl abschweifender Seitenblick auf ein verstörendes Werk (ich

musste es mir sogleich – antiquarisch – besorgen und habe es atemlos von

vorne bis hinten durchgelesen: ein Steinbruch bizarrster Inspirationsquellen!),

das Marquard in Homo compensator (1981)17 erwähnt – nach der „gleichwohl

beiseite gelassenen”18 Erwähnung „der Aristophanes-Rede in Platons Sympo-

sion: dass jeder Mensch (…) auf der Suche nach Kompensation durch seine

andere und vielleicht bessere Hälfte sei und so (…) unterwegs zur ursprüngli-

chen und kugelförmig idealen Korpulenz.”

Ich meine Carl von Linnés Nemesis Divina19, jene Sammlung von Aufzeichnun-

gen, die zwischen 1740 und 1775 aufgeschrieben wurden, „ein Kompensati-

onskonzept”, so Marquard, das „– trotz jenes Zweifels, am Jenseits als Straf-

raum, der in jeder Befriedigung über Vergeltungen schon im Diesseits steckt –

nicht eine frühe Version des modernen, sondern eine späte Version des alten

Kompensationsgedankens [ist], demzufolge (…) Kompensation die Wiederher-

stellung einer Ordnung meint durch strafende Ahndung jener Übeltat, die diese

Ordnung verletzte.” Linné legt seiner (zu keiner, auch nicht postumen Veröffent-

lichung bestimmten!) Studie die karmamäßig gewaltige Hypothese zugrunde,

– 7 –

15 Mt 25,14-30 (bes. 24ff) bzw. Lk 19,12-27 (bes. 20ff).

16 Trawöger, Norbert: Laudatio zum 80. Geburtstag Balduin Sulzers, gehalten am 15.3.2012 im Landestheater Linz (dem Jubilar zugeschrieben).

17 in: Philosophie des Stattdessen, S. 19f.

18 also nicht unerwähnten

19 Linné, Carl von: Nemesis Divina, Hg. v. Wolf Lepenies und Lars Gustafsson. Aus dem Latei-nischen und Schwedischen übersetzt von Ruprecht Volz. München 1981.

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dass ein verborgenes Gleichgewicht von Schuld und Strafe existiere, eine

Symmetrie, die bis zur exakten Abbildung gehe, Erbarmungslosigkeit ohne jed-

wede mildernde Umstände. Dies ,untermauert’ Linné durch Bibelworte und sei-

ne zeitgenössischen Fälle sinnfällig illustrierende Beispiele vor allem aus der

klassischen Antike, wobei er, wie es scheinen muss, sich recht beliebig (fest

verwurzelt in seinem uns Heutigen sehr alttestamentarisch-patriarchal anmu-

tenden protestantischen Glauben) der dicta probantia-Methode bedient, die „mit

einzelnen Zitaten allgemeine Wahrheiten oder Behauptungen ohne Berücksich-

tigung des Zusammenhanges oder der historischen Bedeutung belegt. So ar-

beitete die Orthodoxie und so auch die frühe Aufklärung.”20

Ein einziges Beispiel aus der Nemesis Divia soll seine Natur recht plastisch il-

lustrieren: „Jacob in Såanäs in der Gemeinde Stenbrohult in Småland lebte

schlecht mit seiner Frau. Als sie auf dem Eis am Weihnachtsfest (…) zur Kirche

gehen wollte, bricht sie hinunter durch das Eis, hält sich lange, ¼ Stunde, mit

den Händen am Eisrand, ruft um Hilfe. Der Mann steht am Strand, denn es ge-

schah unmittelbar beim Hof, und sagt, er wage sich nicht hinaus aufs Eis, denn

er verlor sie gern. Sie ertrinkt.

5 Jahre danach beginnen die Finger bei Jacob zu faulen, mit welchen er seiner

Frau hätte helfen können, und faulen fort an beiden Händen, woran er auch

stirbt.”21

… Welch Wucht! – Schließen wir (scheinbar?) versöhnlich diesen Abschnitt mit

dem mit schopenhauerischer (Kompensations-?) Weisheit geimpften Schluss-

satz der Buschschen Helene:

Das Gute – dieser Satz steht fest –

Ist stets das Böse, was man läßt22

Nun gut, wir sollten, will ich meinen (so wurde ich erzogen und bin bislang gut

– 8 –

20 Malmström. Elis: Entstehung, Quellen und Charakter der Aufzeichnung Linnés zur Nemesis Divina, in: Nemesis Divina, S. 34.

21 Nemesis Divina, S. 227f. Die eigenwillige, das skizzenhafte des schwedisch-lateinischen Or-ginals abbildende Orthographie wurde unverändert übernommen.

22 Busch, Wilhelm: Die fromme Helene, S. 637. (Aber das ist ja gar nicht der Schlusssatz – der folgt unmittelbar darunter und lautet, entzückend bigott: „Ei, ja! – Da bin ich wirklich froh! / Denn, Gott sei Dank! Ich bin nicht so!!”)

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damit gefahren), stets etwas mehr tun als das Notwendige. (Auch wenn, März

2012, der konservative österreichische Vizekanzler just die Losung „Tun, was

notwendig ist.” affichieren lässt: Das wird und kann aber nicht reichen!) – Also

das Gute, unverbissen, als Zweitbestes, mithin: Bestmögliches.

[Ein kompensatorischer Nachsatz – nach Erhalt eines von Andreas Dorschel mit

Anmerkungen versehenen Exemplars dieser Arbeit: Der Übergang zu einem

modernen, nichtvergelterischen Kompensationsgedanken dürfte eine Frucht der

(postlinnéschen – wenn auch durch ihn mit betriebenen) Aufklärung sein. Er ist

– siehe allein die Entwicklung der Haltung der Gesellschaft gegenüber der To-

desstrafe – ein stetiger Prozess, mit hartnäckigen, klettenartig sich verhaken-

den Rückzugsgefechten (sind es tatsächlich Rückzüge oder ist derart dumpfes

Kurzdenken wieder auf dem Vormarsch? – ich glaube: ja), deren sichtbarste

Schlachtfelder unsere modernen Medien darstellen, vor allem der sog. Boule-

vard, in dem – nunja – doch eine recht alttestamentarische Vergeltungssucht

(eig.: Lust!) ihre trüb-fröhlichen Urständ’ feiert. Denken wir auch an ebenso

rückwärtsgewandte Tendenzen zu einer alles und jeden unter Pauschalverdacht

stellenden Kontrollgesellschaft, sowie allerlei obskure antirationale Fundamen-

talismen.]

4. Aesthetica und Anaesthetica

Auch als Einleitung untertitelt Marquard seinen ursprünglich 1986 als Nach der

Postmoderne verfassten und 1989 überarbeiteten Einstiegsaufsatz zum gleich-

namigen Sammelband23, dessen erste Auflage erstmals 1989 veröffentlicht

wurde. Marquard fasst in ihm einige grundlegende Thesen zusammen, die ich

hier in aller gebotenen Kürze andeuten will.

Eine hellsichtige Warnung stellt er diesen voran, jene nämlich „vor der Gefahr

des Umschlags des Ästhetischen in das Anästhetische, vor der Verwandlung

von Sensibilität in Unempfindlichkeit, von Kunst in Betäubung.”24 – Und wurde

– 9 –

23 Marquard, Odo: Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen (1989). Mün-chen 2003, S. 11–20.

24 Marquard, Odo: Aesthetica und Anaesthetica, S. 12.

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ja in einem in seiner Konsequenz beängstigenden Beschleunigungsprozess seit

der Abfassung des Textes die Rolle der Kunst im öffentlichen (mehr noch: im

veröffentlichten) Leben weiter und weiter zurückgedrängt bzw. ersetzt durch

pseudokünstlerisch angereicherte Formate des Trivialen, sodass mittlerweile –

immerhin Hinweis auf Selbstreflektion im System – ein Smartphone-Hersteller

damit werben kann, in seinem neuesten Gerät stecke mehr Talent als in allen

Castingshows, die man sich damit anschauen könne. Längst schon wird dümm-

lichst kopierendes Marionettentum mit eigenständigen künstlerischen Aussagen

verwechselt, will verwechselt werden, wodurch sich der träg-freiwillige bzw.

freiwillig träge Anästhetisand selbst das Attribut eines Kultur-, wenn nicht bern-

hardschen Geistesmenschen umhängen kann: es ist eine große (Selbst-)Täu-

schungsmaschinerie und, mehr noch, -Industrie am werken. (Ich unterbreche

meine kulturpessimistische Suada, zu viel ist darüber schon geschrieben wor-

den, man lese wieder einmal eben bei Thomas Bernhard hinein oder verfolge

die Journalbücher eines Karl-Markus Gauß; und gilt es ja, positiv, künstlerisch

aktiv an verfeinerter Wahrnehmung zu arbeiten.)

Marquards Kunstbegriff lässt sich aus ebendieser Gegenüberstellung des Äs-

thetischen mit dem, was nicht ästhetisch (und in diesem Sinn an-ästhetisch) ist,

herausschälen: Das Außerkünstliche als wesentliches Konstitutivum alles

Künstlerischen – wenn auch nicht nur: Kunst ist zugleich stets auch ein Antwor-

ten auf innerkünstlerische Vorgänge.

Eine weitere Warnung stellt jene vor einem falsch verstandenen Wahn des Ge-

samtkunstwerkes dar (einesteils wagnerscher Prägung – Synthese aller ausdif-

ferenzierten Kunstformen; andererseits des Futurismus bzw. Surrealismus, wel-

che alle Einzelkünste zerstören wollen), in der eine zu weit gehende, weil alles

mit sich reißende Ästhetisierung der Wirklichkeit erfolge, ein totalitäres Pro-

gramm, das Marquard mit dem Adjektiv dubios markiert, und dubios sind sie al-

lemal, die Konzepte zu einer Selbsterlösung des Menschen: ein Spiel (mit dem

Feuer – es hat schon mehrmals aufgelodert) mit der Illusion, selbst herbeige-

führte Betäubung, Preisgabe also von selbstdenkender, selbstbestimmter Erfah-

rung: „Und das – meine ich – ist nicht gut.”25

– 10 –

25 Marquard, Odo: Aesthetica und Anaesthetica, S. 17.

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Nun zu den Thesen.26 Die ersten beiden sind – Überraschung! – kompensatori-

sche: (1) „Die Ästhetisierung der Kunst kompensiert (…) die moderne Entzau-

berung der Welt”. – Indem sie sich aus allem vormodern Kultischen emanzi-

piert, wird sie autonom und – ästhetisch.

(2) „Die Ästhetisierung der Kunst kompensiert – als ästhetisches Festhalten der

Kunst gegen ihr Ende – den eschatologischen Weltverlust.” – Die Kunst musste

sich vom Religiösen befreien, ihre Autonomie behaupten, um Kunst bleiben zu

können und das künstlerisch zu beackernde Schöne der vorhandenen (nun-

mehr außereschatologischen) Welt gegen die eschatologische Negation in die

Kunst zu retten. Analoges gilt auch gegenüber gnadenlos tribunalisierenden to-

talitären Weltsystemen. Somit ist die Ästhetisierung der Kunst „Entlastung vom

Weltgericht und insofern profan das, was christlich göttliche Gnade war: ein

Gnadenstand unter Bedingungen der nicht mehr eschatologischen Welt.”

(3) „Die Ästhetisierung der Kunst gehört als Moment zum – spezifisch moder-

nen – Prozess der Entübelung der Übel.” – Unter einem modern gewandelten

Theodizeedruck müssen Übel aller Art qua Ästhetisierung verwandelt werden.

Das Unschöne mutiert modern zum ästhetischen Positivum, überflügelt es gar

als ästhetischen Fundamentalwert.27

(4) „Die Ästhetisierung der Kunst ist die – spezifisch moderne – Rettung der

Werkgerechtigkeit unter Bedingungen des (lutherischen) Protestantismus.” –

Das paulinische Erbe28 im Protestantismus zwingt die guten Werke ins Profane,

ästhetische Territorium, auf dass es seine (nunmehr innerweltliche) Heilsrele-

vanz behalte. „Durch die Ästhetisierung der Kunst wurden (…) die ,guten Wer-

ke’ säkularisiert zu guten ,schönen Werken’: zu ästhetischen Kunstwerken.”

Den Aufsatz schließt ein abermaliges Plädoyer für die ästhetische Individualität

ab. „Es kommt darauf an, jene Postmoderne, die – antimodernistisch – die Mo-

derne hinter sich haben will, hinter sich zu haben: nach der Postmoderne

kommt die Moderne. Dafür braucht die moderne Welt – als Kompensation ihrer

– 11 –

26 Marquard, Odo: Aesthetica und Anaesthetica, S. 12f.

27 zu den nicht-mehr-schönen-Künsten siehe auch: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen (1853), Stuttgart 1990.

28 Röm 3,28-31

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fortschreitenden Rationalisierung – auch und gerade und immer mehr die Plu-

ralisierungskraft der ästhetischen Kunst: je moderner die moderne Welt wird,

desto unvermeidlicher wird das Ästhetische.”29 – Da haben wir sie wieder, als

unterirdisch kommunizierendes Karstgewässer, die Kompensation, und wir

brauchen sie so dringend!

5. Schlussbemerkung

„Im übrigen muss ich es dem Leser überlassen, welchen Gebrauch er von den

hier abgedruckten Texten macht: ob er sie als Aesthetica nutzt, als Merkhilfen,

oder als Schlummermittel, als Anaesthetica.”

Odo Marquard, 198930

… und sind aber, wie Marquard in seinem kleinen Wortspiel zeigt, in derartigen

Betäubungssäften durchaus jene Elemente enthalten, welche die Kunst philo-

sophisch zur Autonomie zu ermuntern vermögen31. Das kann auch berau-

schend sein, mit und ohne Katzenjammer vlg. Kater.

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29 Marquard, Odo: Aesthetica und Anaesthetica, S. 20.

30 Marquard, Odo: Vorbemerkung, in: Aesthetica und Anaesthetica, S. 9.

31 vgl. Marquard, Odo: Aesthetica und Anaesthetica, S. 12.

Page 14: Betrachtungen zu Odo Marquards …...Geboren wurde Odo Marquard 1928 in Kolberg, Hinterpommern. (Die folgenden Zitate sind seiner launigen „Selbstvorstellung”4 entnommen.) „1940

7. Quellenangabe

7.1. Verlegte Literatur

Balzac, Honoré de: Das unbekannte Meisterwerk (Le chef-d’œuvre inconnu), dt. von Herma Goeppert-Frank. Frankfurt am Main 1987.

Busch, Wilhelm: Sämtliche Werke I, Hg. v. Rolf Hochhuth. München 1982.

Gernhardt, Robert: Gesammelte Gedichte, 1954–2006. Frankfurt 2010.

Linné, Carl von: Nemesis Divina, Hg. v. Wolf Lepenies und Lars Gustafsson. Aus dem Lateinischen und Schwedischen übersetzt von Ruprecht Volz. Mün-chen 1981.

Marquard, Odo: Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen. München 2003.

Marquard, Odo: Philosophie des Stattdessen. Stuttgart 2000.

Wagner, Richard: Parsifal. Ein Bühnenweihfestspiel. Textbuch mit Varianten der Partitur, Hg. v. Eugen Voss. Stuttgart 2005.

7.2. Internet

http://mnozilbrass.at/die_band.html [17.3.2012]

http://muetter.at/cms/menu-gruen/komposition/sostenuto-2012.html [17.3.2012]

7.3. Als Ohrenzeuge protokolliert

Lendl, Klemens: Anmoderation eines Wienerliedes beim Doppelkonzert der Strottern mit dem Duo Loibner-Mütter, Wien 14, Breitenseer Lichtspiele, 14.12.2011.

Trawöger, Norbert: Laudatio zum 80. Geburtstag Balduin Sulzers, Landesthea-ter Linz, 15.3.2012.

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