betrachtungen zu einem fall von torsionsdystonie

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From Sanerva Sjukhus, Helsingfors, Finland (Head: L. Baumann, M.D.) BETRACHTUNGEN ZU EINEM FALL VON TORSIONSDY STONIE LEENA LND JORG BAUMANN Die Torsionsdystonie ist ein Syndrom, charakterisiert durch Storungen der Muskeltonusregulierung, die sowohl den Haltungstonus des gesammten Korpers wie auch den Tonus einzelner antagonistischer Muskelgruppen be- treffen. Die erstere Storung erzeugt sekundar die oft vorkommende Lor- dose, die man vor allem beim Gehen, im Sitzen und bei Riickenlage be- obachten kann (Dysbasia lordotica von Oppenheim). Die Letztere besteht in raschem Wechsel von Hyper- und Hypotonie in Antagonisten, vor allem in der Nacken-, Gesichts-, Zungen-, Phonationsmuskulatur und in den proximalen Muskelgruppen der Extremitaten, besonders bei intendierten Bewegungen (Spasmus mobilis) . D a m gesellen sich polymorphe unwill- kiirliche Bewegungen rotatorischer, tordierender, myoclonischer oder choreo-athetotischer Art, die meist langsam ablaufen. Diese Bewegungen verlieren in der Ruhe an Intensitat, verschwinden im Schlaf und neh- men bei emotioneller Spannung zu. Wegen dieser oft merkwiirdigen und bunten Symptomatik wurdc die Erkrankung lange als psychogen angesehen, bis Ojjenheim ( 19 1 1 ) sie als organisch auffasste und ihren chronisch-progressiven Verlauf betonte. Bei der Durchsicht der einschlagigen Literatur geht hervor, dass die Atiologie dieses Syndroms sowie die gefundenen patholoSisch-anatontischen Veraizdcraingen manigfaltig sein konnen. Man muss eine genuine, heredo- degenerative Form, die sich sowohl dominant wie recessiv vererben kann (Beiliit 193 j), von der Mehrzahl der symptomatischen Formen abtrennen (Meizdel 1936, Ojjcnbeim 191 1, v. Bogaert 1929 etc.). Der Symptomen- komplex kommt station& beim status marmoratus und demyelinisatus vor, deren Atiologie z. Bsp. anoxische Schadigungen bei der Geburt oder Ker- nicterus sein konnen. Er kann, wie es meist der Fall ist, progressiv verlaufen wie bei der Hallervorden-Spatz’schen Krankheit, der Wilson’schen Pseudosclerose, der Encephalitis lethargica und anderen encephalitischen

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From Sanerva Sjukhus, Helsingfors, Finland (Head: L. Baumann, M.D.)

BETRACHTUNGEN ZU EINEM FALL VON TORSIONSDY STONIE

LEENA LND JORG BAUMANN

Die Torsionsdystonie ist ein Syndrom, charakterisiert durch Storungen der Muskeltonusregulierung, die sowohl den Haltungstonus des gesammten Korpers wie auch den Tonus einzelner antagonistischer Muskelgruppen be- treffen. Die erstere Storung erzeugt sekundar die oft vorkommende Lor- dose, die man vor allem beim Gehen, im Sitzen und bei Riickenlage be- obachten kann (Dysbasia lordotica von Oppenheim). Die Letztere besteht in raschem Wechsel von Hyper- und Hypotonie in Antagonisten, vor allem in der Nacken-, Gesichts-, Zungen-, Phonationsmuskulatur und in den proximalen Muskelgruppen der Extremitaten, besonders bei intendierten Bewegungen (Spasmus mobilis) . Dam gesellen sich polymorphe unwill- kiirliche Bewegungen rotatorischer, tordierender, myoclonischer oder choreo-athetotischer Art, die meist langsam ablaufen. Diese Bewegungen verlieren in der Ruhe an Intensitat, verschwinden im Schlaf und neh- men bei emotioneller Spannung zu.

Wegen dieser oft merkwiirdigen und bunten Symptomatik wurdc die Erkrankung lange als psychogen angesehen, bis Ojjenheim ( 19 1 1 ) sie als organisch auffasste und ihren chronisch-progressiven Verlauf betonte.

Bei der Durchsicht der einschlagigen Literatur geht hervor, dass die Atiologie dieses Syndroms sowie die gefundenen patholoSisch-anatontischen Veraizdcraingen manigfaltig sein konnen. Man muss eine genuine, heredo- degenerative Form, die sich sowohl dominant wie recessiv vererben kann (Beiliit 193 j ) , von der Mehrzahl der symptomatischen Formen abtrennen (Meizdel 1936, Ojjcnbeim 191 1, v. Bogaert 1929 etc.). Der Symptomen- komplex kommt station& beim status marmoratus und demyelinisatus vor, deren Atiologie z. Bsp. anoxische Schadigungen bei der Geburt oder Ker- nicterus sein konnen. Er kann, wie es meist der Fall ist, progressiv verlaufen wie bei der Hallervorden-Spatz’schen Krankheit, der Wilson’schen Pseudosclerose, der Encephalitis lethargica und anderen encephalitischen

Prozessen, zum Beispiel Diphterie oder Morbilli und chronischen rheuma- tischen Encephalitiden (Benda 1949). Die Atiologie kann naturlich auch vascularer Natur sein, wie zum Beispiel bei Endarteritis syphilitica.

Wie die ftiologie bunt ist, so sind auch die pathologisch-anatomiscben Vcraizderungcn heterogen und deren Lokalisation manigfaltig. Man fin- det sie sowohl im Palao- wie im Neostriatum, doch scheint das Neostriatum der Hauptangriffspunkt zu sein. Doch hat man auch Storungen im Nu- cleus dentatus, in der Grosshirnrinde, im Thalamus (C. & 0. V o g t ) , in der Medulla oblongata und im Riickenmark gefunden (Davison &Good- hard) . Die Veranderungen bestehen im Unltergang der kleinen &I- len mit Proliferation der Glia sowie Lipoidreichtum der Ganglienzellen. In ganz seltenen Fallen wurden Ablagerungen von eisznhaltigem Pigment gefunden (Benda 1949).

Die Forschungszrgebnisse der Physiologie des sogen. extrapyramidalen Systems und dessrn Pathophysiologie zeigen, dass die Symptomatik der Torsionsdystonie nicht nur durch die Lasion einer einzelnen Struktureinheit der Basalganglien erklart werden kann, was auch die klinischen und anatomo-pathologischen Befunde bestatigen. Sic kann offenbar durch die verschiedensten Lokalisationen ausgelost werden und stellt nur eine Storung der feingetrimmten Regulationen innerhalb der einzelnen Formationen des extrapyramidalen Systems dar. So wird die Drehung um die Korperachse sowohl bei Lasionen des Striatums, des Pallidums wie auch des Nucleus dentatus hervorgerufen (van Bogaert 1929, Mosfeldt Laurscn 1963, Fulton 1952). Die Richtung der Drehung scheint van der Hohenlokalisa- tion der Storung abhangig zu sein: so dreht sich der Kopf bei Verander- ungen im Pallidum nach der gesunden, bei Affektion des Nucleus dentatus nach der kranken Seite ( V Q ~ Bogaert 1929). Die Muskeldystonie wird wohl z. T. durch Enthemmung tieferer tonogener Formationen und sicher auch durch Storungen in corticalen Abschnitten (pramotorische Rindc) be- dingt. Die iibrigen unwillkiirlichen Bewegungen konnen wie bekannt auf direkten, wenn nur genugend ausgedehnten Lasionen des pallido- striaren Systems beruhen, wie z. Bsp. die choreo-athetotischen Bewegungen dieses Symptomkomplexes. Zusammenf assend konnen wir van Bogaert (1929) zitieren: aLe spasme de torsion ne serait donc que l’expression d’un disiquilibre de notre automatisme riflexe, statique et basique, pouvant f t re provoqui par des lesions de nature e t de localisation tres diffirentes.,

Wir mochten nun kurz einen Fall von Torsionsdystonie vorstellen, den wir seit 4 Jahren klinisch regelmassig beobachten und der u. E. in atio- logischer und therapeutischer Hinsicht von Interesse ist:

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Patj. M . gcb. 1 9 2 8 , Bauer. Keine hereditare Belastung. Der Patient war fruher gesund, sprach aber schon immer ein wenig undeutlich und hatte als Kind anfallsweise Kopfschmer- Zen. Drei Jahre vor der jetzigen Erkrankung hatte der Patient Morbilli, wies aber keine sicheren Zeichen von meningealer oder encephaler Beteiligung auf. Einige Monate vor dem Krankheitsbeginn leichte Schmerzen in verschiedenen Gelenken mit Geschwollenhcit, die ohne Behandlung verschwanden. Im November 19 5 8 traten akut ziehende Schmerzen zwischen den Schulterblattern und im Nacken auf, rasch gefolgt von einem Schwache- gefiihl in der Nackenmuskulatur (der Kopf fie1 nach vorne) und Unsicherheit beim Gehen. Kurz nachher traten ruckartige Zuckungen in der Muskulatur des Schultergiirtels und der Nackens auf.

Erste klinische Beobachtutrg i m D ~ z e m B r r 1958: Der Kopf und der Oberkorper sind stark nach hinten gebeugt, der Kopf rotiert zuerst nach links hinten (starke Kontraktur des linken m. sternocleido-mastoideus)um dann plotzlich nach rechts unten zu fallen. Dazu gesellten sich bald progredierende athctotische Bewegungen im Bereich des Schulter- giirtels mit Pradominanz rechts, kombiniert mit Hin- und Zuruckwerfen der Arme in Flexionsstellung. Wegen der starken Lordose, dem Hintenhinubergeneigtsein der Ober- korpers und des Kopfes und den unaufhorlichen unwillkiirlichcn Bewegungen war der Gang stark erschwert. (Dromedargang nach Oppenheim). Am Oberkorper war die Haut stark blau-rotlich verfarbt und es bestand ein uberaus starker weisser Dermographismus. Starke generalisierte Schweissausbruche. Innerhalb der nachsten Monate nahmen diese Symptome rasch an Intensitat zu und es entwickelte sich in der Skapular- und Ober- armmuskulatur eine deutliche Atrophie mit Pradominanz rechts.

Weiterer Verlauf der Krankheit: Sechs Monate nach Krankheitsbeginn konnte der Pat. nicht mehr gehen, die unwillkurlichen Bewegungen und die dystonischen Storungen kamen auch im Liegen vor. Nur die Ruckenlage in starkcm Opisthotonus und das Fest- halten mit den Handen am oberern Bettende brachten dem Kranken einige Erleichterung. Der Patient klagte dauernd uber starke Muskelschmerzen im Nacken und den Schultern und die neurovegetativen Storungen hatten stark zugenommcn.

Pneumencephalogram, Elektroencephalogram, Liquor cerebrospinalis und die Blutun- tersuchung waren normal, ausser einer leichten Eosinophilie (inkonstant bis zu 7,5 %). Das Elektromyogram der Riicken- und Schultermuskulatur zeigte Veranderungen von myopathischem Charakter. Die Reflexe an den oberen Extremitaten waren gesteigert und die reflexogenc Zone erweitert, doch fand sich kein Babinski.

Behandlung: Wahrend den sechs ersten Monaten wurde der Patient psychoterapeutisch (die Krankheit wurde als psychogen aufgefasst) und mit Ataractica behandelt, ohne jeden Erfolg. Nach diesen sechs Monaten hatte sich der Zustand des Patients so verschlim- mert, dass ein letaler Ausgang befurchtet werden musste. Die Diagnose einer schweren und rasch progredierenden Torsionsdystonie war in diesem Zeitpunkt unzweifelhaft und da in der Anamnese Morbilli sowie ein leichte rheumatische Erkrankung vorkam, dachten wir an die Moglichkeit einer inflammatorischen Atiologie und begannen mit einer antiphlo- gistischen Behandlung. Diese bestand in einer initialen ACTH- Kur gcfolgt von einer regelmassigen verabfolgung von Delta-Phenylbutazon wahrend eines Jahres (8 Tabletten pro Tag ganz regelmassig). Unmittelbar nach der Behandlung mit ACTH trat cine sehr leichte Verbesserung ein, die sich nach drei Wochen Verabreichung von Delta-Phenyl- butazon accentuierte: die unwillkiirlichen Bewegungen und die dystonischen Storungen nahmen progressiv und kraftig an Intensitat ab, der Kranke begann wieder zu gehen, die Atrophien schritten nicht mehr weiter fort und auch die neurovegetativen Symptome wurden wesentlich schwacher. Die Symptomatik begann sich auf rotatorische und Tors- sionsbewegungen des Kopfes nach rechts zu beschranken, verbunden mit einem Hoch- heben der rechten Schulter. Auch die Muskelschmerzen verschwanden vollstandip.

Nach einem Jahr war der Zustand stationar geworden und der Prozcss offenbar zum Stillstand bekommen, worauf wir zur Behandlung mit Artane @ iibergingen. Seither ist der Patient in seiner Arbeitsfahigkeit weitgehend hergestellt, kann aber nicht ohne Artane @ auskommen.

Diskussion: Angesichts des unzweifelhaften Erfolges der antiphlogis- tischen Therapie ist die Hypothese berechtigt, dass es sich bei dem vor- liegenden Fall u m eine Torsionsdystonie auf Grund eines inflammato- rischen, moglicherweise rheumatischen Prozesses handelt. Nach dem kli- nischen Verbauf ist die Annahme naheliegend, dtass dieser Prozess vernarbt ist. Falle von sicheren rheumatischen encephalitischen Prozessen mit tor- sionsdystonischem Symptomenkomplex wurden schon beschrieben (Benda 1949). Das ist nicht erstaunlich, da ja das extrapyramidale System sich auch sonst fur rheumatische Affektionen anfallig erweist wie bei der Chorea minor und der Torticollis spastica.

In unserm Fall sind ausser den klassischen Symptomen der Torsions- dystonie noch zwei Storungen hervorzuheben, die in der Literatur nur sehr selten erwahnt werden: die hochgradigen Muskelotrophien und die starken vasumotorischen Erscheinungen. Die Ersteren weisen auf einc Be- teiligung der Vorderhornzellen hin, wie es auch Davison & Goodhard in ihrem Fall beschriaben haben. Die Letzteren lassen auf eine Be- teiligung des Hypothalamus und der subthalamischen Kerne schliessen. (Verbindung zum pallidurn durch die ansa lenticularis.)

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pyramidalen Bewegungsstorungen. Nervenarzt 1, 224.

RESUME

Nous avons present6 un cas dc spasme de torsion typique, grave et i evolution rapidc- ment progressive, combine avec des atrophies musculaires prononcees ct de troubles vaso- moteurs. La possibilite d’une Ctiologie rheumatismale est discutie et I’effet d’un traitement antiphlogist que est dicrit.

SUMMARY

A severe case of typical torsion spasm is presented, which had a rapidly progressive

The possibility of a rheumatic etiology is discussed, and effect of anti-phlogistic treat- course, combined with pronounced muscle atrophy and vasomotor disturbances.

ment is described.