behrens gesellschaft und erkenntnis

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  • Diethard Behrens (Hg.)

    Gesellschaft und Erkenntnis

    Mit Beitrgen von Diethard Behrens, Kornelia Hafner,

    Harald Kerber und Claus Roishausen

    a ira

  • Deutsche Erstausgabe a ira-Verlag 1993 Postfach 273 7800 Freiburg Satz: Eigensatz Druck: Diverse, GmbH, Rastatt Umschlag: Dieter Roeschmann (Freiburg) ISBN: 3-924627-34-7

    CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

    Gesellschaft und Erkenntnis : zur materialistischen Erkenntnis- und konomiekritik / Diethard Behrens (Hg.) Mit Beitr. von Diethard Behrens ... -Freiburg i. Br.: a-Ira-Verl., 1993 SBN 3-924627-34-7 NE: Behrens, Diethard, [Hrsg.]

  • INHALT

    Diethard Behrens Der stliche, der westliche und

    der kritische Marxismus Vorwort

    7

    Harald Kerber Erkenntnistheorie und materialistische Gesellschaftstheorie

    13

    Claus Roishausen Die Traditionalisierung der Kritischen Theorie

    39

    Kornelia Hafner Gebrauchswertfetischismus

    59

    Diethard Behrens, Kornelia Hafner Totalitt und Kritik

    89

    Diethard Behrens Erkenntnis und konomiekritik

    129

    Diethard Behrens Der kritische Gehalt der Marxschen Wertformanalyse

    165

    Anmerkungen und Literatur 191

  • Vorwort

    Der stliche, der westliche und der kritische Marxismus

    Unzeitgem scheint es gegenwrtig, ber Karl Marx, den Marxismus und die soziale Revolution auch nur zu diskutieren. Offenbar ist die Weltgeschichte ber den realen Sozialismus und ber den Marxismus-Leninismus, der seit 1917 als der Marxismus der Gegenwart sich ausgab, hinweggeschritten. Nur wenige trauern diesem Marxismus nach - die meisten sind lngst zu den vermeintlich neuen Ufern der sozialkologischen Zivilgesellschaft aufgebrochen. Aber beide Richtungen beziehen sich immer noch, sei es affirmativ und kadersektiererisch, sei es postmodern und parlamentarismusglubig, auf den Marxismus-Leninismus als den legitimen Erben von Marx.

    Das Recht darauf, Diamat- und Histomat-Gewiheiten ex cathedra zu verkndigen, war dem Marxismus-Leninismus von Anfang an bestritten worden. Die Kritik an seinem Monopol-anspruch reichte vom linken Flgel der Sozialdemokratie ber Rosa Luxemburg und, wenn auch nur zeitweilig, Leo Trockij, bis hin zu den proletarischen Anti-Bolschewisten und Links-kommunisten - Amadeo Bordiga in Italien, Karl Korsch in Deutschland und Anton Pannekoek in den Niederlanden.1 Selbst der Anarchismus beteiligte sich an der Debatte. Prsen-tierte sich der sozialdemokratische Marxismus vor Lenin schon vielfltig und facettenreich, so der sptere Marxismus nicht minder.

    Die politische Macht, die den Marxismus-Leninismus legi-timierte und jede linke Kritik als Hochverrat aburteilte, ist nun dahin. Es war eine Macht, die, aus einer einzigartigen hi-storischen Situation entstanden, die widersprchlichsten Tra-ditionen verschmolz. Der Marxismus-Leninismus nahm die jakobinischen Vorstellungen der franzsischen Revolution eben-

    7

  • so in sich auf wie die revolutionre Strategie eines Auguste Blanqui in der von 1848; der konomische Proudhonismus fand Eingang genauso wie das jesuitische Organisationskonzept Necajevs. Er empfand sich als Teil der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und grenzte sich doch von deren allmhlich zutage tretender nationalstaatlicher Perspektive ab; er erklrte sich zur Avantgarde des revolutionren Internationalismus und sah sich doch zurckgewiesen auf die zentralstaatlichen Struk-turen des russischen Imperiums. Der Imperativ der Machtsiche-rung in der jungen Sowjetunion zog die Ideologie des Sozia-lismus in einem Land nach sich. Trotz deren widersprch-lichem Verhltnis zum proletarischen Internationalismus, je-doch gerade wegen des relativen machtpolitischen Erfolgs der bolschewistischen Fhrungselite im Innern, dem sie selbst aller-dings bald zum Opfer fiel, war der Marxismus-Leninismus lange Zeit eine Kraft, mit der die Innen- und Auenpolitik der brgerlichen Staaten zu rechnen hatte.

    Diese Konstellation bestimmte die Interessenlage des in der Sowjetunion herrschenden und von seiner Genese her auf den Titel Marxismus festgelegten Personals derart, da ihm das Marxsche Projekt einer Kritik der politischen konomie, wie der Untertitel des Kapital immerhin lautet, nur vllig uerlich sein konnte. Man las das Buch scholastisch, verstand es als Handbuch der Volkswirtschaftslehre und sprach von Staats wegen von der Anwendung des Wertgesetzes und der systematischen Nutzung der Ware-Geld-Beziehung, d.h. vom gemeinntzigen Gebrauch jener kapitalistischen Formen, gegen die Marx nicht nur die Waffen der Kritik mobilisieren wollte. Der kritischen Theorie der Gesellschaft wurde der Stachel ge-zogen, und sie wurde sich selbst zum Feind, zur Ideologie.

    Alle theoretische Kritik bedeutet eingreifendes Denken, richtet sich also stets gegen Affirmation und Apologie. Dies gilt insbesondere auf dem Feld der Marxschen Theorie, die viele als Anleitung revolutionrer Praxis lesen. Das einfache, in der Tradition des Marxismus-Leninismus technisch verkrzte Theorie-Praxis-Verhltnis wird jedoch immer schon transzen-diert, wenn im Zusammenhang politischer Bewegungen die eigenen Grundlagen thematisiert werden und so Selbstreflexion stattfindet, die die im Zuge historischer Prozesse notwendige

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  • Selbstvernderung zu verstehen sucht. Diese Reflexion ist das Gegenteil der beliebten und sogenannten undogmatischen Hal-tung des Ein jeder kehre vor seiner Tr.

    Parteinehmendes Denken als notwendige Anteilnahme ein-zusehen, bedeutet hingegen einen ersten Schritt zu einer ernsten aufklrerischen Diskussion. Parteinehmendes Denken teilt die Orientierung auf eine humanitre Entwicklung, ohne sich auf die Vereinnahmung in Lager einzulassen. Es wei sich vom parteilichen Bewutsein (Lukcs) abgegrenzt, aber auch von bloer Einbindung in einen sozialen Interessenzusammenhang.2 Es bezieht sich gleichwohl auf einen sozialen Handlungs-zusammenhang, insofern er Resultat der konomischen Verhlt-nisse ist.

    Die Parteinahmen vieler politischer Individuen scheinen gegenwrtig gewechselt. Sie scheinen dies blo, denn allzu oft schimmern unter gewendeten Gewndern alte Werte, etwa ein dogmatisch-politischer Moralismus, der die zur Schau gestellte Liberalitt Lgen straft.

    Gegen die Moden der Zivilgesellschaft, die sich in Attitden gefllt, will dieses Buch Reflexion setzen, Reflexion in bestimmter Perspektive. Wertvorstellung und Interpretation, Aufklrung3 und Kritik werden erst in ihrem Zusammenhang zur Erkenntnis. Die Beitrge dieses Buches ordnen sich in eine Debatte ein, die seit den 70er Jahren vor allem in Westeuropa gefhrt wurde und die zuletzt durch verschiedene Veranstal-tungen zum 100. Todestag von Karl Marx wieder erffnet wurde.4

    Zur Diskussion wird hier der kritische Marxismus gestellt, so, wie er aus der Tradition des westlichen Marxismus5 entstanden ist. Aber whrend der westliche Marxismus in seinen italie-nischen, franzsischen und deutschen Formen wenig mehr war als ein durchaus heterogener Sammelbegriff des dissidenten Marxismus, versucht der kritische Marxismus ber die bloe Dissidenz zum Marxismus-Leninismus hinauszukommen. Zwar bezieht er sich auf die Kritische Theorie, aber er kritisiert sie dort, wo sie sich als Reduktion der kritischen Dimension des Marxismus auf Gesellschaftsphilosophie und soziologische Theoriebildung erwiesen hat. Das vorliegende Buch reflektiert auf die Tradition des Marxismus und ist bestrebt, daraus

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  • Zugnge zu einer Theorie des kritischen Marxismus zu entwickeln und diesen neuen Ansatz zu explizieren.

    Einfhrend zeichnet Harald Kerber in seinem Aufsatz Erkenntnistheorie und materialistische Gesellschaftstheorie die Entwicklung der erkenntnistheoretischen Probleme von Kant ber Hegel bis Marx nach, stellt dessen eigenen erkennt-nistheoretischen Weg dar und prsentiert schlielich die von Lukcs ausgehende Entwicklung des westlichen Marxismus, insbesondere die Positionen von Adorno, Alfred Sohn-Rethel und Jrgen Habermas.

    Von der gegenwrtigen Situation ausgehend und insbeson-dere von der Problematik des Marxismus-Leninismus, verweist Claus Roishausens Arbeit Die Traditionalisierung der Kri-tischen Theorie auf zentrale erkenntnis- und gesellschafts-theoretische Topoi bei Lukcs, um vor diesem Hintergrund die Kritische Theorie zu kennzeichnen. Im Zentrum steht hier die Kritik an Habermas, vor allem an dessen Marxverstndnis.

    Kornelia Hafners Kritik des Gebrauchswertfetismus pro-blematisiert die Anstze, die Wolfgang Pohrt, Helmut Reinicke und Stefan Breuer im Anschlu an die Kritische Theorie entwickelt haben, und kritisiert ihre erkenntnis- und konomie-kritische Reduktion der Marxschen Theorie.

    Um die Auseinandersetzung mit dem Hegelmarxismus geht es in dem Beitrag Totalitt und Kritik von Diethard Behrens und Kornelia Hafner. Hier werden ausgehend von Lukcs erkenntnis- und konomietheoretische Probleme diskutiert sowie die verschiedenen Varianten der Kritik am Hegelmar-xismus, von positivistischen bis strukturalistischen, ihrerseits einer Kritik unterzogen. Schlielich wird als neuer, sich selbst als hegelmarxistisch verstehender Ansatz die Position von Helmut Brentel diskutiert, vor allem in der Absicht, die hier zugrundeliegenden erkenntnistheoretischen Probleme kritisch zu prsentieren.

    Der Aufsatz von Diethard Behrens, Erkenntnis und ko-nomiekritik, formuliert eine systematische Kritik des Ansatzes

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  • von Helmut Brentel auf konomietheoretischer, gesell-schaftlicher und historischer Ebene. Zugleich werden die Aus-einandersetzungspunkte in bezug auf die erkenntnistheoreti-sche Dimension der Marxschen konomiekritik verdeutlicht.

    Am Schlu des Bandes - in dem Aufsatz Der kritische Gehalt der Marxschen Wertformanalyse - stellt Diethard Behrens eine deskriptive Analyse der Marxschen Wertform-problematik vor, indem er die erkenntnistheoretischen Proble-me der konomiekritischen Darstellung am Material verdeut-licht. So versucht er die Perspektive des kritischen Marxismus zu explizieren - in Differenz zur herkmmlichen Lesart des Marxschen Textes als positive sozialkonomische Theorie.

    Diethard Behrens

    11

  • Harald Kerber

    Erkenntnistheorie und materialistische Gesellschaftstheorie

    (a) Vorerklrungen

    Um die erkenntnistheoretische Fragestellving in bezug auf die Marxsche Theorie zu diskutieren, ist es zunchst notwendig, kurz die erkenntnistheoretische Problemstellung zu errtern, wie sie fr den deutschen Idealismus, namentlich Kant, relevant war.

    Diese Problemstellung beginnt mit der Frage Kants: Es gibt synthetische Urteile a priori, wie sind sie mglich? Gefragt ist hier nach den Bedingungen der Mglichkeit der Erkenntnis und darin den Bedingungen der Mglichkeit der Erkenntnisgegen-stnde unter Rekurs auf das transzendentale Subjekt als dem obersten Einheitspunkt fr die Mglichkeit von Erkenntnis, dem Ich-denke, das alle meine Vorstellungen begleiten knnen mu1 sowie unter Rekurs auf die Stammbegriffe des Verstandes und die Anschauungsformen. Das Material der Erkenntnis selbst wird unseren Sinnen durch das fr uns nicht erkennbare Ding-an-sich gegeben, gedacht als Grenzbegriff fr unsere Erkenntnis. Es ist durch die Tatsache des Gegebenseins des empirisch Mannigfaltigen als diese Grenze zu denken. Die Stammbegriffe des Verstandes, die Kategorien, sind ohne Anschauung leer, die Anschauung ohne Kategorien blind. Um zu wirklichen Erkenntnissen zu kommen, ist es notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen ..., als seine Anschauungen sich verstndlich zu machen.2 Auf diese fr das Zusammen-spiel beider Erkenntnisstmme relevante Problematik bezieht sich das Schematismuskapitel in der Kritik der reinen Vernunft (K.d.r.V.). Eine aus reiner Vernunft prtendierte Erkenntnis hingegen hat nach Kant eine den Erfahrungsproze transzen-

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  • dierende Struktur und verstrickt sich in Paralogismen und An-tinomien, wie sie in der transzendentalen Dialektik diskutiert werden.

    Es gibt, so kann nun gesagt werden, bei Kant einen relativen Dualismus zwischen den apriorischen Bestandstcken unseres Geistes und dem, da der Begriff des Ding-an-sich zurckver-weist auf die unsinnliche Ursache fr das unseren Sinnesor-ganen gegebene Empirisch-Mannigfaltige fr die Erkennt-nismglichkeit. Die Anschauungsformen nehmen hier eine ei-genartige Zwischenstellung zwischen Verstand und Sinnlich-keit ein. Im Begriff der Anschauungsform ist, verstanden als reine Anschauung, zusammengefat, da diese, im Unterschied zur Spontaneitt des Verstandes, der seine Gegenstnde selbst hervorbringt, einen rezeptiven, andererseits aber, wie der Ver-stand, einen apriorischen Charakter hat. Kant will hier, wie Adorno sagt, mit einem Schlag ... Unmittelbarkeit und Aprio-ritt auf den gemeinsamen Nenner bringen.3 Reine Anschau-ung meint dabei gegenber der empirischen Anschauung formale Sinnlichkeit. Im Sinne der Interpretation der K.d.r.V. durch Adorno ist nun reine Anschauung ein hlzernes Eisen, Erfahrung ohne Erfahrung, reine Sinnlichkeit keine Anschau-ung mehr, sondern einzig >Gedanke

  • eine reine Anschauung zum Grunde liegen msse, in welcher sie alle ihre Begriffe in concreto und dennoch a priori darstellen oder, wie man es nennt, sie konstruieren kann.8 Und: Geometrie legt die reine Anschauung des Raumes zu Grunde. Arithmetik bringt selbst ihre Zahlbegriffe durch sukzessive Hinzusetzimg der Einheiten in der Zeit zustande.9 Es bleibt damit nun aber weiterhin vorausgesetzt die logische Zu-flligkeit und damit Irrationalitt der uns durch das Ding-an-sich gegebenen empirischen Mannigfaltigkeit. Bezogen auf das Problem der Konstruktion auch der empirischen Begriffsinhalte bzw. einer Totalittserkenntnis, die auch und gerade die empi-rischen Begriffsinhalte mit umfate, kommt Kant in der Kritik der Urteilskraft auf den anschauenden Verstand, den Intellectus intuitivus, zu sprechen. Er ist als Idee vorstellbar, fr uns aber nicht realisierbar. Die mathematische Erkenntnis hat in bezug darauf nur den Charakter einer analogischen Erkenntnis. Sie bleibt, im Unterschied zum Intellectus intuitivus, auf die formale Sphre der Bedingung der Mglichkeit von Erfahrungs-erkenntnis berhaupt beschrnkt. Insofern gilt hier, da die Kluft der Irrationalitt zwischen Begriff und Anschauung ... beseitigt, die Vereinzelung des Exemplars aufgehoben, aber dennoch eine Identifikation von Allgemeinem und Besonde-rem, Inhalt und Umfang ... noch nicht anzunehmen ist.10 Solches hat erst die Hegeische Logik zu leisten versucht, der Intellectus intuitivus wies hier, bezogen auf die klassische deutsche Philosophie, den Weg.

    Hegel kritisiert, da Kant die Kategorien dem Selbst-bewutsein, als dem subjektiven Ich zuschlage, und da gerade deshalb die Ansicht innerhalb des Bewutseins und seines Gegensatzes stehen bleibe, nmlich dem eines Etwas, das nicht durch das denkende Selbstbewutsein gesetzt und bestimmt ist, ein Ding-an-sich, ein dem Denken Fremdes und uerliches. Ein solches Abstraktum ist nach Hegel aber nur das Produkt des, und zwar nur abstrahierenden, Denkens.11 Die sogenannte Voraussetzungslosigkeit der Erkenntnistheorie erfhrt hier ihre immanent-philosophische Kritik. Bezogen auf die praktische Philosophie Kants ergibt sich eine entsprechende Kritik an deren Dualismus.12

    Hegel argumentiert dabei mit einem Vernunftbegriff, gedacht

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  • als Mitte des Denkens, wo der Verstand nicht ausgeschlossen ist, aber dergestalt in Vernunft bergeht, da wechselseitig von einem vernnftigen Verstand wie einer verstndigen Vernunft gesprochen werden kann.13 Es kann insofern mit einigem Recht gesagt werden14, da bei Hegel die Erkenntnisbeziehung von Subjekt und Objekt Funktion der genetischen Beziehung beider ist im Unterschied zum konstitutionstheoretischen Charakter bei Kant.

    Die von Lukcs versuchte Rekonstruktion der historisch-gesellschaftlichen Bedingungen fr die Entwicklung der Marx-schen Theorie und die mit Bezug darauf vorgenommene radikale Kritik der Erkenntnistheorie geht nun von einem kritisch gewendeten ganzheitlichen Erkenntnisansatz aus, wie er in anderer Gestalt auch schon die Bewegungsrichtung der klassischen deutschen Philosophie charakterisiert. Einem solchen Ansatz versagen sich hingegen aus prinzipiell theore-tischen wie auch historisch gewordenen Grnden Interpre-tationen der Marxschen Theorie, die sich, so Adorno, Sohn-Rethel, Habermas, der in der einen oder anderen Weise an Marx anknpfenden kritischen Theorie von der Gesellschaft ver-pflichtet wissen. Mit Bezug auf die Herleitung des Selbstver-stndnisses von Marx ber seine Theorie mu dann in Relation zu den hier herangezogenen Anstzen der Interpretation dieser Theorie direkt oder indirekt immer gefragt werden, wie der Begriff der Totalitt bei Marx in Hinsicht auf die Entwicklung einer konkreten Gesellschaftsanalyse zu verstehen ist und wie, sofern man ihm auch hier Gltigkeit zumessen darf, dieser Ansatz mit Bezug auf das Verhltnis des Austauschprozesses von Menschengattung und Natur begriffen werden kann, bzw. ob und wenn, dann wie beides zusammenhngt und wie dann diesbezglich die Erkenntnistheorie ins Spiel kommt, bzw. kritisiert wird. Die Linie der Argumentation verluft also ber Marx, Lukcs, Adorno, Sohn-Rethel und Habermas.

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  • (b) Zur Auseinandersetzung von Marx mit Hegel und Feuerbach

    Die Kritik des jungen Marx an Hegel setzt an beim absoluten Wissen, wo der Erfahrungsproze zwischen Bewutsein und Gegenstand des Bewutseins aufgehoben ist. Die erkenntnis-theoretische Beziehung zur Welt aber, also das allgemeine Subjekt-Objekt-Schema, war fr ihn mit der Hegeischen Philosophie philosophisch berwunden. Die Kritik an Hegel verlief dabei zunchst ber die Kritik der Philosophie ber-haupt durch Feuerbach. Hegels Philosophie ist fr diesen eine realistische innerhalb der Schranken des Idealismus. Hegel, so sagt Feuerbach, negiert das Denken, nmlich das abstrakte Denken, selbst wieder im abstrakten Denken, so da die Ne-gation selbst wieder eine Abstraktion ist. Er wolle das Ding selbst ergreifen, aber im Gedanken des Dings, auer dem Denken sein, aber im Denken selbst.15 Fr Feuerbach ist dabei der Mensch die Basis - fr Marx wiederum eine nur abstrakte Kategorie.

    Sagt Marx einerseits, Feuerbach sei der wahre berwinder der alten Philosophie16, so erfolgt doch gerade mittels einer immanenten Kritik an Hegel eine Kritik an der abstrakten Negation der Philosophie durch Feuerbach. Spter, in den Feuerbach-Thesen, erfolgt eine Kritik auch noch des Feuer-bachschen Materialismus dahingehend, da er die Wirklichkeit nur unter der Form des Objekts fasse, die Ttigkeit nicht ken-ne, im Unterschied zum Idealismus gefat als sinnliche ge-genstndliche Ttigkeit.17 Insofern ist fr Marx dieser Materialismus kontemplativ.18

    Knpft die Kritik von Marx an Hegel an Feuerbachs Natur-begriff an, so ergibt sich doch, da fr ihn innerhalb eines entfremdeteten Denkens Hegel die brgerliche Gesellschaft auf den ihr eigenen Begriff gebracht hat und da andererseits dagegen im Beharren auf einer abstrakten Natur, wie bei Feuerbach, die brgerliche Gesellschaft gerade als Natur verklrt wird.19 Der Begriff der gegenstndlichen Ttigkeit, den Marx gegen Feuerbach kehrt, meint gegenber der Identi-fikation von Vergegenstndlichung und Entfremdung und damit der Aufhebung des Gegenstndlichen im Selbstbe-

    17

  • wutsein bei Hegel, da der Mensch ein Gegenstnde setzendes Wesen ist, weil er durch Gegenstnde gesetzt ist.20 Natura-lismus und Idealismus, auch in seiner transzendentalen Gestalt, sind hier als abstrakte, einseitige Positionen berwunden und damit dann auch die Identitt von Denken und Sein als eine des Denkens wie bei Hegel. Theorie kann sich danach dann nur-mehr als Darstellung und Kritik einer konkreten gesellschaft-lichen Verfassung ausweisen, aus der heraus die vereinseitigten Positionen von anschauendem Materialismus und Idealismus ideologiekritisch zu begreifen sind.

    Der Mensch ist nach Marx schon in den Frhschriften, also schon vor den Feuerbach-Thesen, die ideale Totalitt, das sub-jektive Dasein der gedachten und empfundenen Gesellschaft fr sich.21 Das Bewutsein kann, in seinem vollen Umfange gemeint, danach nichts anderes sein als bestimmt-historisch bewutes Sein. Es ist insofern weder erkenntnistheoretisch-allgemeines Bewutsein im Kantischen Sinne, noch sind Den-ken und Sein identisch im Sinne einer Denkbewegung wie bei Hegel. Fat man Bewutsein als bestimmtes bewutes Sein, so sind nach Marx in diesem Sinne Denken und Sein ... zwar unterschieden, aber zugleich in Einheit miteinander.22 Und das gilt dann auch fr die theoretische Gestalt des Bewutseins. Sie ist nach Marx nur der theoretische Ausdruck davon, wovon das reelle Gemeinwesen, gesellschaftliche Wesen, die lebendige Gestalt ist.23 Die Abstraktion des Bewutseins von der Gesell-schaft als das allgemeine Bewutsein kann daher nur, und hier wird die Kritik am Idealismus, sei's in transzendentaler oder absoluter Gestalt, wieder eingeholt, dort mglich werden, wo die Gesellschaft infolge ihrer konkreten Struktur von sich selber, ihrem historisch gewordenen Charakter, abstrahiert. Die sptere Kapitalanalyse zeigt dann, da es der Wert als das bergreifende Subjekt ist, das seine Identitt im Gelde mit sich selbst konstatiert24, wodurch solche verdinglichten Be-wutseinsstrukturen bedingt sind. - (Hierzu ist die gedank-liche Rekonstruktion der kapitalistischen Produktionsweise vorausgesetzt und damit der Unterschied von Forschungs- und Darstellungsproze25.)Erst vermittels des Darstellungspro-zesses wird, wie es schon in der Deutschen Ideologie heit, die Sache in ihrer Totalitt26 entfaltet. Dieser Unterschied von

    18

  • Forschungs- und Darstellungsproze ist auch einer des Un-terschiedes, von den Erscheinungsformen zum Wesen, im Sinne Hegels vom unmittelbaren Sein zu seinem Grund fortzu-schreiten27, begriffen aber, anders als bei Hegel, als konkrete Totalitt, wie sie durch das Kapital, als Reproduktion des Konkreten im Gedanken, reprsentiert ist. Insofern kann Marx sagen, da seine Methode von der Hegeischen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil28 ist. - Unter dem Gesichtspunkt nun des Begriffs einer konkreten Totalitt, die mitnichten, wie es ein transzendentallogischer Ansatz implizie-ren wrde29 als Konstruktion a priori30 zu verstehen ist, ergibt sich auch eine Kritik des philosophischen Bewutseins. Die Einleitung zur Kritik der politischen konomie, die gleichsam eine Abbreviatur des methodischen Vorgehens von Marx ist, liefert dazu Kriterien.

    (c) Einleitung zur Kritik der politischen konomie

    Ausgangspunkt ist hier fr die Theorie eine vorausgesetzte bestimmte konkrete gesellschaftliche Verfassung. Das Konkrete ist fr Marx die Zusammenfassung vieler Bestimmungen, also Einheit des Mannigfaltigen.31 Diese Einheit ist nicht primr eine des Denkens. Der von Marx hier gemachte Hinweis, da diese Einheit im Denken Resultat, nicht aber Ausgangs-punkt sei, zeigt die abhngige Gestalt des Denkens von dem, was nicht Denken ist, gerade darin, da es auf der Anschauung und der Vorstellung32 basiert. Anschauung ist hier nicht, wie das eine kantianisierende Interpretation dieser Stelle vermuten lassen knnte, als Form gemeint, sondern im Zusammenhang mit der menschlichen Praxis, dem Vergegenstndlichungs-proze gedacht und insofern immer schon historisch vermittelt. Marx wendet sich hier nicht als Kantianer gegen Hegel, indem er das aus sich selbst sich bewegende Denken33 kritisiert, sondern er will zeigen, da das Reale dem Denken vor-ausgesetzt ist, da Denken nicht den Entstehungsproze des Konkreten selber darstellt.34 Das Denken hat eine bestimmte Struktur - der Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten -, die keineswegs die Struktur der Erzeugung des empirisch Kon-

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  • kreten ist. In ihm erscheint als eine Abfolge rein kategorialer Beziehungen, was nicht nur eine Abfolge solcher Beziehungen ist. Da nun in etwa der Gang des Denkens dem wirklichen Gang der kategorialen Abfolge in der Realitt entspricht und damit die Reproduktion des Konkreten im Gedanken die vollgltige Reproduktion dieses Konkreten selbst ist, das hngt nach Marx selber mit einer bestimmten historisch gewordenen gesellschaftlichen Verfassung zusammen, wo die einfachsten Kategorien allgemeine Formen gerade eines extensiv entwickel-ten Ganzen - der brgerlichen Gesellschaft - geworden sind. Marx nennt hier die Arbeit, die hier nicht nur in der Kategorie, sondern in der Wirklichkeit als Mittel zum Schaffen des Reichtums berhaupt geworden35 ist. In einem bestimmten Sinne ist das Entwicklungsgesetz der brgerlichen Gesellschaft gerade wegen der Allgemeinheit der die Gesellschaft als ganze charakterisierenden Kategorien - im Kapital wird mit der Analyse des Doppelcharakters der Ware als Keimform des kapitalistischen Systems begonnen und hier der so entscheiden-de Begriff der Wertform thematisiert - in einem angenherten Sinne rekonstruierbar. Es kann diesbezglich die Bewegungs-gesetzlichkeit einer so verfaten Gesellschaft erschlsselt wer-den unter der Magabe dessen, da a) die brgerliche Gesell-schaft selbst nur eine gegenstzliche Form der Entwicklung ist und sie b) selber mit verkmmerten Formen frherer gesell-schaftlicher Verhltnisse behaftet ist.36 Die drei Bnde des Kapitals beschreiben diesen Proze: Produktion - Zirkulation - und Gesamtproze des Kapitals, wobei sich Marx im dritten Band den Gestaltungen des Kapitals auf der Oberflche der Gesellschaft37 zu nhern versucht, d. h. der Aktion der ver-schiedenen Kapitale aufeinander. Insofern begreift man auch, da Marx sich im Zusammenhang der Entwicklung seiner Kritik der politischen konomie wieder mit der Hegeischen Logik auseinandergesetzt hat, wobei es denn allerdings hier, wie er schon in der Kritik des Hegeischen Staatsrechts formuliert hatte, nicht um die Sache der Logik, sondern um die Logik der Sache geht, hier also um den Aufweis des historisch-transitorischen Charakters einer Produktionsorganisation, die infolge der ihr inhrenten spezifischen, das Verhltnis von Subjekt und Objekt verkehrenden Handlungsstruktur Denk-

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  • formen erzeugt, die von der Natrlichkeit dieses Verhltnisses ausgehen. An dieser Vorgehensweise ist nun auch zu messen, ob Marx die erkenntnistheoretische Selbstreflexion seiner Theorie versumte, wie das sptere Kritiker monieren. Vielmehr scheint, da hier eine implizite Kritik erkenntnistheoretischen Denkens in seiner durch Kant berkommenen Form vorliegt.

    (d) Darstellung der Kritik der Erkenntnistheorie durch Lukcs

    Lukcs geht von der Kategorie gesellschaftlicher Totalitt aus. Die Kritik der Erkenntnistheorie wird als Ideologiekritik syste-matisiert. Sie erfolgt unter der Prmisse des Verdinglichungs-theorems.

    Lukcs fhrt die fr den Transzendentalismus sich ergebende Problematik, da es fr ihn nur eine bestimmte Weise des Erkennens gibt, die mit dem diskursiven Verstand und mit der Ding-an-sich-Problematik gesetzt ist, auf die Universalitt zurck, die die Warenstruktur im Kapitalismus erlangt hat. Der bei Kant vorliegende Rekurs auf eine Weise des Erkennens, in welcher die Irrationalitt der Begriffsinhalte als gegeben hingenommen und damit ihre prinzipielle Nichtauflsbarkeit durch die Formen des Verstandes einbekannt wird, schliet nach Lukcs gleichzeitig einen Begriff von Praxis in sich, der die durch die Universalitt der Warenstruktur gesetzten Schranken nicht zu berschreiten vermag, d.h. so wie das Erkennen selbst kontemplativ bleibt. Die Philosophie wiederholt hier in bezug auf ihre Stellung zur Wissenschaft die Stellung der Wissenschaft zur Gesellschaft. Ergibt sich fr letztere, da sie nur ein System von speziellen Teilgesetzen ist, fr das die auerhalb des eigenen Bereichs liegende Welt und das eigene Wirklich-keitssubstrat als methodisch und prinzipiell unerfabar gilt38, so ergibt sich fr die Philosophie, da sie die Resultate und die Methode der Einzelwissenschaften als notwendig, als gegeben begreift und sich selbst nur als eine Disziplin versteht, die den Grund der Gltigkeit dieser Begriffsbildungen aufzudecken und zu rechtfertigen39 hat. Das ist mit der gesellschaftskri-tischen Selbstreflexion der Kantischen Frage nach den synthe-tischen Urteilen a priori gemeint. Gerade aber weil nun die

    21

  • Differenz zwischen den Formen des Verstandes und dem Ding-an-sich als der unsinnlichen Ursache des Empirisch-Mannig-faltigen fr den formalen Rationalismus Kants nicht aufhebbar ist, worin sich das Problem des Zusammenhanges von Wissenschaft und Philosophie innerphilosophisch spiegelt, ergibt sich hieraus die Bewegungsrichtung der klassischen deutschen Philosophie, so ber Fichtes Tathandlung als dem obersten Prinzip der Erzeugung aller Inhalte und dann hin bis zu Hegels Verflssigung des Subjekt-Objekt-Gegensatzes. Es wurde hier versucht, die Irrationalitt des Seins selbst, wie es Lukcs formuliert, zu erfassen. Thema der klassischen deut-schen Philosophie war es, die Gleichgltigkeit der Form gegenber dem Inhalt40 aufzuheben - was innerphilosophisch aber milingen mute. Der formale Rationalismus, wie er sich bei Kant zeigt, tritt nicht mit dem Anspruch auf, konkrete Inhal-te zu erzeugen. Die Realitt ist hier, wie es Lask formuliert41, nur eine Regel der Vorstellungsverbindungen, eine Notwendigkeit und Allgemeingltigkeit des Urteilens. Die Begriffe selber sind nominalistisch gefat. Ihr empirischer Umfang ist nur durch den Gedanken der gemeinschaftlichen Unterordnung des em-pirischen Materials bestimmt, hat also aggregathaften Cha-rakter. Begriffsumfang und -inhalt verhalten sich gegenlufig zueinander. Je grer der Umfang um so geringer der Inhalt et vice versa. Sie haben eine subsumtionslogische Struktur.

    Gerade nun durch das Festhalten an dem logischen Gegen-satz von Form und Inhalt ergibt sich deren Dynamisierung und Relativierung im deutschen Idealismus. In Analogie knnte davon gesprochen werden, da das, was bei Kant fr die Sphre der Mathematik gilt, nun auch fr die Sphre des Sinnlichen berhaupt gelten soll. Im mathematischen Erzeugungsprinzip fallen Erzeugung und Begreifbarkeit (Praxis und Theorie, wenn man so will) zusammen, whrend auf der auermathe-matischen, sich auf empirische Inhalte beziehenden Ebene Erzeugung fr den abstrakten Verstand nur die Begreifbarkeit der Tatsachen42 bedeutet. Dieser Verstand ist nicht der Ver-stand auch ihrer Erzeugung (fr Kant gibt es keinen Newton ..., der auch nur die Erzeugung eines Grashalms ... begreiflich machen werde.43) Fr Lukcs ist er ein abgespaltener Verstand vermittels der Eigenart der aus der Universalitt der Waren-

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  • struktur in der brgerlichen Gesellschaft sich ergebenden Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhltnisse. Dieser Verstand kann nicht auf seine eigenen gesellschaftlich vermittel-ten Ursprnge zurckkommen, sondern versteht sich als Ur-sprung aus sich selbst. Die Dynamisierung des Form-Inhalt-Gegensatzes bis hin zur Hegeischen Philosophie trasnszendiert die philosophische Sphre nicht wirklich. Ist die Auseinander-Folge der Kategorien und hiermit der Begriff des Ganzen bei Hegel nicht, wie Adorno sagt, ohne einen Zeitkern44 vor-stellbar, so ist es doch in Relation zur brgerlichen Gesellschaft gerade die Abschluhaftigkeit des philosophischen Systems, in welchem die Geschichte nur einen Teilbereich au-macht, wo-durch die Auflsung des philosophisch-kontemplativen Gedan-kens bewirkt wird.45

    Die innerphilosophische Dynamisierung und damit der Versuch der Auflsung der Dualitt von Form und Inhalt stoen auf die Schranke der nichtreflektierten konkreten, gesell-schaftlich vermittelten Verdinglichungsstrukturen, die, hinge-nommen als zweite Natur, sich in der Abschluhaftigkeit des philosophischen Systems und der hier gemeinten Vershnung von Subjekt und Objekt im absoluten Geist spiegeln. Die wirkliche Auflsimg dieser Dualitt, das wirkliche Auffinden des Subjekt(s) der Tathandlung als dem identische(n) Sub-jekt-Objekt, sieht Lukcs gegeben in dem Proletariat, dessen Selbsterkenntnis nach ihm zugleich die objektive Erkenntnis des Wesens der Gesellschaft46 ist. In diesem Sinne weist nach ihm die dialektische Methode ber die brgerliche Gesell-schaft hinaus47, sie wird zum Medium der kritischen - der Marxschen - Gesellschaftstheorie.

    Ist damit in einem bestimmten, allerdings problematisch bleibenden Sinne die Selbstauflsung des Rtsels der Geschichte in einer gleichsam geschichts-ontologischen Weise garantiert, so wird dagegen in der Marx-Interpretation, die von solcher Gewiheit nicht ausgeht, formuliert, da Marx in seiner Kritik ... den durch Hegel aufgehobenen Vico mit Kant48 vershne. -Die geschichts-ontologische Konzeption des Klassenbewut-seins bei Lukcs verweist jedenfalls auf Motive, die schon fr den vormarxistischen Lukcs aus der Theorie des Romans relevant waren.49 Unbeschadet dessen aber liegt bei Lukcs eine

    23

  • erste gesellschaftstheoretisch verstandene Kritik der Erkennt-nistheorie vor, die, gemessen an der Kategorie historisch gewordener Totalitt der gesellschaftlichen Verhltnisse, die Antinomien des philosophischen Bewutseins thematisch macht.

    (e) Aspekte der Kritik der Erkenntnistheorie durch Adorno

    Gegenber der Klassenbewutseinstheorie von Lukcs ist die Kritik der Erkenntnistheorie bei Adorno bar eines revolution-ren Subjekts. Was bleibt, ist die Zurckfhrung der transzen-dental-logischen Problematik auf die Struktur des Tauschs, wobei allerdings gegenber der Kategorie der Totalitt, wie sie von Lukcs artikuliert wird, der transzendentallogische Ge-sichtspunkt derart thematisch bleibt, da, da die gesell-schaftliche Totalitt nach Adorno einen hermetischen Charakter hat, das Nichtbegriffliche nur mittels begrifflicher Konstruktion eingefangen werden kann. Begriffe haben vermge ihres allgemeinen Charakters zwar Herrschaftscharakter, knnen aber, solange Denken berhaupt notwendig bleibt, nicht preisgegeben werden. Allerdings thematisiert damit auch der Begriff seine Unzulnglichkeit gegenber dem, was begriffen werden soll. Denken und das zu Denkende fallen nach Adorno insofern zusammen wie auseinander, als das Denken die Mglichkeit hat, sich dem Denkzwang zu entziehen. Es kann auch gegen sich selbst denken, die logischen Regeln trans-zendieren. Dadurch verweist es auf das, was in Denken nicht total eingefangen werden kann, wird mikrologisch, ohne doch seine Allgemeinheit ganz transzendieren zu knnen.

    Hatte Max Weber in neukantianistischer Manier gefordert, da, gerade weil die Inhalte der historischen Begriffe not-wendig wandelbar sind,... sie jeweils notwendig scharf formu-liert werden50 mssen und geht er hierbei aus von der unauf-hebbaren Differenz von Begriff und Inhalt des Begriffs, so drckt sich fr Adorno in solcher Differenz nur ein bestimmtes gesellschaftliches Verhltnis aus. Im Sinne solcher den Begriff festhaltenden Einstellung ist hiernach erforderlich, das Nicht-denken zu denken, wodurch der denkerische Totalittsan-

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  • spruch suspendiert werde.51 Insofern ist nach Adorno die Er-kenntnistheorie gerade darin wahr, da sie der Unmglichkeit des eigenen Ansatzes Rechnung trgt und in jedem ihrer Schritte von dem Ungengen der Sache selbst sich treiben lt 52 Kritik der Erkenntnistheorie heit auch das Festhalten an ihr in der Weise, da beim Begriff anzuheben ist, weil das Seiende nicht immittelbar, sondern nur durch den Begriff hindurch ist.53 Aber das Nichtbegriffliche, dem Begriff unabdingbar, desavouiert dessen An-sich-Sein und verndert ihn. Der Begriff des Nicht-begrifflichen kann nicht bei sich, der Erkenntnistheorie verwei-len.54 Erkenntnistheorie als Konstitutionstheorie, die nicht die Anstrengung des Begriffs kennt, ist nach Adorno die wissen-schaftliche Gestalt der Ursprungsphilosophie.55 Nur die ge-sellschaftliche Selbstbesinnung der Erkenntnis, so sagt er, er-wirkt dieser die Objektivitt, die sie versume, wenn sie den gesellschaftlichen Zwngen gehorche, ohne sie mitzudenken. 56 Die die Intention der Erkenntnistheorie transformierende Po-sition von Adorno ist schlielich darin zusammengefat, da sich nach ihm keine Materie von den Formen des Denkens ab-sondern lt, da aber dennoch die Form nur als Vermittlung der Materie vorstellbar ist, und da sich in solchem Wider-spruch, wie er sagt Einsicht in die Nichtidentitt, die Unmg-lichkeit sich ausdrckt, in subjektiven Begriffen ohne berschu einzufangen, was nicht des Subjektes ist, schlielich das Schei-tern von Erkenntnistheorie selber 57

    Die Vorrangigkeit des Objekts vor jeder Zurstung durch den Begriff ist es, die diese, als materialistisch verstandene, Wende impliziert und das transzendentale Subjekt als Ideologie einer auf der Subjekt-Objekt-Spaltung beruhenden Gesellschaft ent-larvt, wo Gesellschaft selber gegenber den Individuen zur nicht mehr hinterfragten Subjektivitt gerinnt. In der Lehre vom transzendentalen Subjekt, sagt Adorno, erscheint getreu die Vorgngigkeit der von den einzelnen Menschen und ihren Ver-hltnissen abgelsten, abstrakt rationalen Beziehungen, die am Tausch ihr Modell haben.58 Erkenntnis selbst msse dag-gen geleitet werden von dem, ... was unter den Tauschvorgngen sich verbirgt.59

    Diese Kritik an der Suprematie der Erkenntnistheorie bleibt nun, da sie sich an kein Subjekt der gesellschaftlichen Vernde-

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  • rung mehr binden kann, - ja dadurch gerade bedingt - in einer, wenn auch am Nichtidentischen orientierten Erkenntnisbe-wegung stecken. An die Stelle einer ausgefhrten Gesellschafts-theorie, wie sie durch Marx gegeben ist, tritt der allgemeine Begriff des Tauschs resp. der der Arbeit. Adorno sieht in Hegels Theorie, namentlich in der Phnomenologie, eine berwindung des transzendental fixierten Subjekt-Objekt-Verhltnisses durch seine Verflssigung in bestimmte Bewutseins-Gegenstands-verhltnisse. Und er bezieht sich in diesem Zusammenhang auf den jungen Marx, wo dieser davon spricht, da das Groe an der Phnomenologie sei, da Hegel hier den Proze der Arbeit erfat habe (allerdings Arbeit nur als geistige Arbeit verstan-den). Er amalgamiert hier nun aber, so scheint mir, Arbeit, begriffen als Vergegenstndlichungsproze, mit Arbeit, in einem strikten Sinne begriffen als Herrschaft ber die uere Natur und Arbeit als gesellschaftliche Arbeit nach dem Tauschverhltnis.60 Damit ist der Vergegenstndlichungsbe-griff, den Marx meint, implizit im wesentlichen noch selber kritisiert. Diese Unterschleifung in der Definition von Arbeit rhrt daher, da sich fr Adorno im Tausch eine Form der Aus-einandersetzimg mit der Natur fortsetzt, die, so in der Dialek-tik der Aufklrung thematisiert, nur als Herrschaft verstanden werden kann. So lautet das Credo schon gegenber Bacon: Was die Menschen von Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen. Nichts anderes gilt.61 Die Subsumtion des Arbeits- unter den Verwertungs-proze, der fr die Marxsche Gesellschaftstheorie relevant ist, wird hier nicht mehr deutlich, sondern mehr umstandslos Arbeit selbst zum Zwangszusammenhang. Hier setzt dann die nichtsdestoweniger die Position Adornos kritisch vorausset-zende Differenzierung zwischen einer gesellschaftlichen Syn-thesis durch Arbeit und andererseits durch Warentausch bei Sohn-Rethel ein, wie die Differenzierung von instrumentellem Handeln und Interaktion bei Habermas.

    (f) Zur Position von Sohn-Rethel

    Fr Habermas, ber welchen noch zu sprechen sein wird, ergibt sich, da das naturwissenschaftliche Paradigma an der Syn-

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  • thesis von Arbeit hngt und gleichsam seine Unschuld behlt, solange nicht die Sphre der Interaktion auf es reduziert wird, was zu einer dem Subjekt-Objekt-Schema verhaftet bleibenden Einstellung auch der Gesellschaftstheorie fhren msse. Dem-gegenber ist Sohn-Rethel in gewisser Weise noch der lteren kritischen Gesellschaftstheorie gerade darin verpflichtet, da er die Dimension, die fr ihn in der Marxschen Theorie ausgespart ist, die Kritik der Erkenntnistheorie und des naturwis-senschaftlichen Paradigmas, gesellschaftstheoretisch unter Rekurs auf die sogenannte Tauschgleichung einzuholen ver-sucht. Gegenber dem Marxschen Begriff historisch vermit-telter und als transitorisch zu begreifender gesellschaftlicher To-talitt, der auch bei Lukcs Thema bleibt, obwohl Lukcs keine in dem Sinne konkrete Gesellschaftsanalyse betreibt wie Marx, sondern die Kategorie der Totalitt mehr als methodisches Konstrukt fr die Gesellschaftstheorie diskutiert, geht aber Sohn-Rethel, in Aufnahme der Tradition der Kant-Kritik durch die Frankfurter Schule, ebenfalls von der Synthesisproblematik aus wie Habermas. Solche Problematik luft, bezogen auf die Gesellschaftstheorie, auf die Frage hinaus, wie Gesellschaft mglich sei. Sie geht nicht im eigentlichen Sinne wie Marx von Abstraktionsschnitten aus, die durch eine bestimmte Totalitt von Gesellschaft innerhalb derselben gegeben sind.

    Die Kritik des naturwissenschaftlichen Paradigmas bezieht sich bei Sohn-Rethel auf die Genesis der Wertform, deren Realabstraktion sich nach ihm aus dem Austauschproze erklrt, whrend sich nach ihm der Wert (die Wertgre) aus der quantitativ bestimmte(n) Aufgabe der Arbeit gem den jeweiligen Produktionsbedingungen62 ergibt. Insofern grenzt Sohn-Rethel die Herleitung der das naturwissenschaftliche Paradigma charakterisierenden Denkabstraktion aus der so ver-standenen Realabstraktion ab von den Argumenten der politischen konomie, die sich nach ihm mit Recht auf die abstrakt menschliche Arbeit bezieht, aber einen verflschenden Charakter bekommen mu, wenn geglaubt wird, hierdurch auch eine Kritik der Erkenntnistheorie63 zu erbringen. Sohn-Rethel grenzt also, indem er strikt zwischen Arbeit- und Tauschabstraktion trennt, die Kritik der politischen konomie von einer Kritik der Erkenntnistheorie und dem fr ihn daran hngenden naturwissenschaftlichen Paradigma ab und ver-

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  • sucht durch eine unter dieser Voraussetzung gefaten Trennung von Geist- und Handarbeit die Kritik der politischen konomie durch die der Erkenntnistheorie64 zu erweitern bzw. zu ergn-zen. Fragt er in diesem Sinne einerseits transzendentalistisch wie ist Vergesellschaftung durch Warentausch mglich? und meint er mit Bezug darauf, da eine entsprechende Synthesis dasjenige tatschlich enthlt, was Kant in einer geschichtlich zeitlosen Synthesis a priori geistiger Art zu finden geglaubt hat 65, so meint er andererseits, da sein Vorgehen sich nur auf einen Teilbereich der Marxschen Theorie beziehe. Die Trennung von Hand- und Kopfarbeit, von welcher er ausgeht, wird nun aber gerade mangels einer Totalittsanalyse in ihrer Extensivitt nicht mehr als bestimmte Trennung innerhalb einer bestimmten Produktionsorganisation verstanden, sondern doch mehr oder minder in Form von Entitten. In der Vollvergesellschaftung von Arbeit soll dieses Beziehungsgerst verschwinden. Erst mit Bezug darauf knnte aber eventuell erst gefragt werden, ob nicht allererst hier, wo a priori eine bewute gesellschaftliche Regelung der Produktion66 stattfinden soll, mit einigem Recht, aber auch dann nur metaphorisch, von Synthesis gesprochen werden kann. Aber auch hier, so meine ich, scheint dieser Begriff zu Miverstndnissen zu fhren.

    Eine Transzendentalanalyse ber den Charakter geistiger Arbeit mu, wenn auch bezogen auf die aus der Tausch-handlung als solcher resultierenden Realabstraktion, kon-stitutionstheoretischen Charakter haben, der gerade Gegen-stand fr die Kritik am falschen Bewutsein durch Marx war. Der Synthesis-Begriff setzt bei den Mglichkeitsbedingungen von Gesellschaft an. Er steht quer zu der Marxschen Analyse des Zusammenhangs von Arbeits- und Verwertungsproze, aus welchem sich nach Marx erst die Prdominanz bestimmter Denkformen ergibt. Insofern mu auch der Begriff der politischen konomie bei Sohn-Rethel relativ anders konzipiert sein als bei Marx. Fr den Standpunkt von Marx mu sich ergeben, da eine reine Transzendentalanalyse geistiger Formen in einem bestimmten Sinne der aus der Warenproduktion und dem Warentausch sich ergebenden Verselbstndigung der gesellschaftlichen Verhltnisse verhaftet bleibt, die nach Marx deren realen Schein darstellt. Eine gesellschaftstheoretische Ein-

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  • Stellung aber, die von der Frage nach den Mglichkeits-bedingungen von Gesellschaft ausgeht, kann nicht auf den historisch-gesellschaftlichen Grund der Wirklichkeit solcher Er-kenntnisbedingungen zurckgehen, sondern kann nur generell die Gltigkeitsvoraussetzungen diskutieren, die bei Sohn-Rethel in dem aus sich selbst seienden realabstraktiven Charakter der Tauschhandlung begrndet sind. Die Kritik von Lukcs am Transzendentalismus trifft demnach indirekt dann auch die Synthesis-Problematik, wie sie in der Kritischen Theorie artiku-liert wird.

    Marcuse hatte in dem Aufsatz Transzendentaler Marxis-mus? gegen das Sozial-Apriori Max Adlers, verstanden als Bedingung der Mglichkeit von Gesellschaft, formuliert: Alle Miverstndnisse kmen hier daher, da den Mglichkeiten des Bewutseins berhaupt Wirklichkeiten unterschoben und diese Wirklichkeiten dann wieder transzendental gedeutet werden.67

    Der Synthesisbegriff bei Sohn-Rethel meint nun nicht, da der kantische Begriff der Synthesis konstitutiv sein msse fr die Gesellschaftsbildung wie das z.B. im Sozial-Apriori bei Max Adler thematisch ist. Der kantische Synthesisbegriff wird vielmehr dahingehend seiner Universalitt entkleidet, da der abstrakte Verstand der Verstand der Tauschabstraktion ist, die einen historischen Ursprung hat, in ihrer Eigenstruktur aber einen enthistorisierenden Charakter aufweist. In der Tausch-handlung artikuliert sich die Form der gesellschaftlichen Abstraktion von der Gesellschaft.68 Sie erfolgt unter dem Gestus mein - also nicht dein; dein - also nicht mein69 - der Aneignungsexklusion. Die wechselseitige Aneignung im Wa-rentausch beruht nach Sohn-Rethel hier aber auf einem Einheit stiftenden reinen Willensverhltnis. Er bleibt hier bei der Marxschen Feststellung stehen, da die Waren nicht selbst zu Markte gehen knnen und sich nicht selbst austauschen ... um diese Dinge als Waren aufeinander zu beziehen, mssen die Warenhter sich zueinander als Personen verhalten, deren Willen in den Dingen haust.70 Die die Kapitalanalyse vorweg-nehmende damit gekoppelte Bemerkung von Marx, da hier die Personen nur die Personifikation der konomischen Ver-hltnisse sind, als deren Trger sie sich gegenbertreten,

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  • nmlich als konomische Charaktermasken71, kann in der Analyse Sohn-Rethels so nicht mehr diskutiert werden. Entsprechend ergibt sich fr ihn, anders als fr Marx, da der Fetischcharakter der Warenwelt aus dem Tausch als solchem resultiert. Der Tausch sorgt selbst fr seine Blindheit als gesellschaftlich synthetische Verkehrsform.72 Damit sind, indem der Tausch als synthetische Leistung verstanden ist, em-pirisch-synthetische Leistungen und Transzendentalbewut-sein zusammen dergestalt auf einer Ebene angesiedelt, da nur der Entstehungsort der Tauschabstraktion geschichtlichen Cha-rakter hat, nicht aber die Abstraktion in ihrer Vollgltigkeit selbst. Demgegenber ergibt sich fr Marx aus der Analyse der Wertform bis hin zur Thematik der allgemeinen quivalent-form, in welcher sich fr ihn vermittels der Tauschgleichung selbst nur die Verstellung ber den Herkunftscharakter des Wertes aus der abstrakten Arbeit manifestiert, da die Wert-form immer Wertform des Arbeitsprodukts ist, zu verstehen als allgemeinste Form der brgerlichen Produktionsweise, die hierdurch als eine besondere Art gesellschaftlicher Produktion und damit zugleich historisch charakterisiert wird.73 Ver-dinglichung ist damit immer die Verdinglichung bestimmter Verhltnisse, die sich in der Wertform manifestiert, nicht aber der Tauschabstraktion als solcher - der Tauschwert ist die Erscheinungsform des Wertes bei Marx - inhrent.

    Emanzipation ist nun nach Sohn-Rethel gefat unter der Prmisse der Vereinigung von Hand- und Kopfarbeit, wo Wahrheit eine zeitgebundene sein soll und wo also weder das starre Gerst der Stammbegriffe des Verstandes magebend bleibt noch die Anschauungsformen a priori.74 Der Synthesis-begriff, bezogen auf die Vollvergesellschaftung durch Arbeit, umfat hier sowohl die Interaktions- wie die Ebene des Stoffwechselprozesses mit der Natur, wenn Sohn-Rethel sagt: Das neue bestimmende Formgesetz ist das Prinzip der operativen Maeinheit der im Produktionsproze ntigen menschlichen Ttigkeit mit den technischen Funktionen der an-gewandten materiellen Produktivkrfte. Was produziert wer-den soll, untersteht keiner konomischen Determination mehr, sondern ist Sache der freien Entscheidung der gesellschaftlich bestimmenden Mchte.75 Die Naturwissenschaften wrden

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  • hier, ohne da dadurch ihre Freiheit behindert sein soll, selbst Teil des Produktionsprozesses werden, die Disparatheit zwischen Naturwissenschaft und konomie76 aufgehoben sein.

    Bei Marx lst sich im Begriff der Geschichte das positi-vistische einheitswissenschaftliche Konzept auf. Die Ge-schichte kann von zwei Seiten aus betrachtet in die Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes von der Zeit (!) nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig.77 Naturwissenschaft ist hier synonym mit Geschichte der Natur gedacht. Aus diesem Grunde bemht Marx fr die Menschengeschichte Vico, fr die Geschichte der Arten Darwin (unter impliziter Ideo-logiekritik), und mit Bezug auf die Naturgeschichte wird, so bei Engels, u.a. an die Kant-Laplacesche Theorie angeknpft. Eine, wenn ich recht sehe, entsprechend verstandene Logik unter der Prmisse der Vereinigung von Hand- und Kopfarbeit ist nun nach Sohn-Rethel die Logik der zeitgebundenen Wahrheit78 gem der Hegeischen Intention, aber die Abschluhaftigkeit des Hegeischen Denkens transzendierend. Der Hegeische Satz, da die Identitt die der Identitt und der Nichtidentitt von Subjekt und Objekt ist, wre dann gegenber der Abschlu-haftigkeit des Systems bei Hegel zugunsten eines so ver-standenen Identittsbegriffs zu fassen, der an dem Besonderen seine nicht in eine letzthinnige Identitt aufgehende Grenze htte. Es wrde hier der Begriff einer unendlichen Vermittlung des Menschen mit der Natur materialistisch eingeholt werden. Und so ist denn, sehe ich recht, wohl Sohn-Rethel hier zu verstehen, wenn er betont, da der Unterschied zwischen der idealistischen und der materialistischen Konzeption der Synthesis bei dem Begriff des >Mannigfaltigen

  • Vergegenstndlichung bei Marx, wo die Subjektivitt nicht die absolute Voraussetzung der Vermittlungsleistungen ist, zu er-setzen wre. Die Negation des Transzendentalismus htte dann aber auch, konsequent, nicht bei einem Funktionswandel des Synthesisbegriffs von der Tauschabstraktion zum Begriff voll vergesellschafteter Arbeit anzusetzen, sondern bei einer Analyse der gesellschaftlichen Mechanismen, die zur Mehrwert-produktion fhren und damit zu dem Schein - und nicht zu der angeblich aus dem Tausch selbst sich ergebenden Realab-straktion -, als sei die Gesellschaft nur ber eine aus der Tauschabstraktion selbst resultierende Synthesis konstituierbar und als sei demzufolge die Unabhngigkeit der Denkformen von der krperlichen Arbeit darauf zentriert und nicht auf der Herrschaft der gegenstndlichen Arbeitsfaktoren ber die le-bendige Arbeit. Es bedrfte insofern nicht einer ausdrcklichen Vernderung der Logik des wissenschaftlichen Denkens, damit dieses einen Weg zur Handarbeit findet, sondern in solcher Ver-nderung, soweit solche geschieht, wrde sich nur das allge-meine fortschreitende Vergegenstndlichungsverhltnis der Menschen zur Natur ausdrcken, innerhalb dessen die Ab-spaltung von Hand- und Kopfarbeit einem bestimmten Pro-duktionsverhltnis geschuldet ist, nicht aber einer aparten Synthesis.

    (g) Zur Position von Habermas

    1. Erkenntnis und Interesse

    Im Rekurs auf einen Arbeitsbegriff, wonach Arbeit Vinter dem Gesichtspunkt einer Empirisierung des kantischen Synthesis-theorems verstanden ist, verschiebt sich bei Habermas die Kritik des Kritizismus von seinem Verhaftetsein ans kapitalistische Produktionsverhltnis auf eine Kritik des transzendentalen Subjekts zugunsten empirischer Regeln der Synthesis. Haber-mas formuliert, da in der Arbeit die Naturgegenstnde mit der Natur das Moment des An-sich-Seins teilen, von der Ttigkeit des Menschen aber das Moment der erzeugten Gegenstndlichkeit an sich tragen.80 Subjekt und Objekt

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  • bleiben so letztlich einander uerlich. Das Erzeugungsprinzip ist transzendentallogisch reduziert. Es ist hiermit, obwohl Habermas diesen Arbeitsbegriff dem Marxschen unterlegt, etwas anderes ausgedrckt als in der Marxschen Feststellung, da der Mensch dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenbertritt und indem er durch Ttigkeit auf die Natur auer ihm wirkt und sie verndert ... er zugleich seine eigene Natur81 verndert. Das idealistische Moment, wenn man so will , da der Mensch hier zugleich seinen Zweck verwirklicht82, fllt nicht aus dieser Ansicht der Selbstvermitt-lung von Mensch und Natur heraus, denn der Mensch kann in seiner Produktion nur verfahren, wie die Natur selbst, d.h. nur die Formen der Stoffe ndern.83 Das setzt - mittelbar auch bezogen auf das Reich der Notwendigkeit84 - die Einheit von Natur und Mensch in ihrer Trennung voraus, nicht aber umgekehrt, wie bei Habermas, eine durch die Natur erzeugte schlechthinnige Trennung in subjektive und objektive Natur, wodurch dann die Auseinandersetzung der subjektiven mit der objektiven Natur immer nur eine des Subjekts bleibt. Habermas kritisiert zwar den von Invarianten des Handelns wie der Welt-auffassung ausgehenden Transzendentalismus, aber Synthesis, auch als empirisch gebrochene und diesbezglich als das historisch sich erzeugende Gattungssubjekt verstanden, bleibt bezogen auf das nur-subjektive Prinzip der Erzeugung. Die transzendental-anthropologische Reinterpretation der Marx-schen Theorie mu dann, soweit Arbeit, und d.h. der Funktionskreis instrumentellen Handelns gemeint ist, von der Restituierung der Ding-an-sich-Problematik dergestalt aus-gehen, da der Natur ein Rest unaufhebbarer Fremdheit85 anhaften bleibt. Die empirisch gebrochene Synthesis hat an dem Nicht-Angeeigneten und der letztgltigen Fremdheit der u-eren Natur (in einer anderen Weise bezieht sich das auch auf die Identittsbildung in Hinsicht auf die innere Natur) ihre Grenze. Wird aber eine strikte Differenz zwischen angeeigneter und nicht angeeigneter Natur behauptet, dann bewegen sich sowohl Handeln als auch Wissen entweder nur in einer bleibenden Vorlufigkeit gegenber der Natur oder sie sind Vorgnge nur ber die Erscheinungsformen der Dinge.

    Im Sinne einer erkenntniskritischen Reinterpretation der

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  • Marxschen Theorie und der empirischen Umformulierung des Kantischen Subjekt-Begriffs werden von Habermas entspre-chend Arbeitsmaterial, Arbeitsinstrument und lebendige Arbeit mit Empfindungsmaterial, den Verstandeskategorien und der Einbildungskraft bei Kant zu parallelisieren versucht, wobei hier, im Unterschied zur Sphre der Interaktion, technische Regeln der Synthesis gemeint sind.

    Die materialistische Theorie ist hier bei Habermas nun dergestalt ins Spiel gebracht, da sie unter Verweis auf die auf dieser Synthesis aufruhenden Identittsbildungen der Men-schengattung den Fichteschen Begriff der Tathandlung in die Schranken verweist, die durch Kants Transzendentalphi-losophie und Darwins Evolutionstheorie gezogen sind.86 Im Begriff des aus Fichte entlehnten in sich selbst zurcklaufenden Handlungskreises wiederholt sich bei Habermas die Form-Inhalt-Differenz, die auch den instrumenteilen Handlungskreis prgt. Die von Habermas vorgenommene Differenzierung von Arbeit und Interaktion terminiert hier dergestalt in einer Kritik an Marx, da das Aneignen, da es immer an ein Stck kontingenter Natur87 gebunden bleibe, nicht, wie bei Marx -der sich dadurch nach Habermas um seine Hegel-Kritik bringt -, den Charakter eines in sich zurcklaufenden Prozesses hat. In-sofern vermenge Marx Arbeit mit Reflexion, knne zwischen dem logischen Status der Naturwissenschaften und dem der Kritik nicht88 unterscheiden. Aber hier gilt, so meine ich, was Marx ber den Zusammenhang von Arbeit und institutionellen Rahmen sagt: Da es eine Tautologie sei, zu sagen, da von keiner Produktion, also auch von keiner Gesellschaft die Rede sein knne, wo kein Eigentum existiert ... eine Aneignung, die sich nichts zu eigen mache, sei eine Contradictio in adjecto.89 Hiermit ist bei Marx die Sphre gemeint, die bei ihm in den Distributionsformen thematisch wird und die Habermas von der Produktion abkoppeln mchte.

    Entsprechend der Differenzierung von Interaktion und instrumentellem Handeln ist dann bei Habermas auch das Klassenverhltnis, einzig orientiert an der Distribution der Produkte, wiederum nur eine Synthesis, und zwar eine durch Kampf.90 Kampf ist eine von der Synthesis durch gesellschaftliche Arbeit zu unterscheidende Bewegung der

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  • Reflexion.91 Beide Handlungskreise haben nach Habermas einen historisch-variablen und variationsfhigen Spielraum gegeneinander, wodurch er unter Rekurs auf einen bestimmten Stand der Entwicklung der Produktivkrfte die Notwendigkeit der Vernderung des institutionellen Rahmens zu erklren versucht. Die Kategorie der Totalitt als bestimmt historisch gewordene Gesellschaft ist hier nicht mehr Thema.

    2. Theorie des kommunikativen Handelns

    Dieser Position gegenber ist in der Theorie des kommuni-kativen Handelns die Unterscheidimg von Interaktion und instrumentellem Handeln zugunsten der von Lebenswelt und System aufgegeben. Sie ersetzt gleichsam diese zuvor festge-machte Differenz. Der transzendentallogische Ansatz, von dem noch Erkenntnis und Interesse geleitet war, wird in dieser Weise nicht mehr aufgegriffen. Aus der Unterscheidung von System und Lebenswelt erfolgt eine Kritik an der Marxschen und der lteren Kritischen Theorie dergestalt, da diese, statt von der Differenz von Subjekt-Objekt und Subjekt-Subjekt auszugehen, mehr oder minder selber noch an der Subjekt-Objekt-Thematik der lteren Erkenntnistheorie in ihrer Kritik an dieser Theorie orientiert gewesen sei. Sie knne insofern nicht zwischen den notwendigen, die kommunikative Vernunft betreffenden Rationalisierungsschben und Phnomenen der Verdinglichung unterscheiden, die aus dem bergreifen von Systemimperativen (Macht und Geld) auf die Lebenswelt erfolgen. Habermas geht vermge seiner evolutionstheoretisch gemeinten Entkopplungsthese von System und Lebenswelt dementsprechend von zwei gegenber der lteren Kritischen Theorie vorgenommenen Abstraktionsschnitten aus:

    (a) Von der Abstraktion der Entfaltung kognitiver Strukturen von der geschichtlichen Dynamik der Ereignisse. Auf dieser Ebene kann u.a. die Lerntheorie von Piaget fr die Gesell-schaftstheorie, wie Habermas sie versteht, fruchtbar gemacht werden, da hier von der Einholung des Apriori ber lerntheoretisch zu fixierende Entwicklungsstufen ausgegangen wird, mit welchem Kant einfach begann;

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  • (b) ergibt sich eine Abstraktion der gesellschaftlichen Evolution von der geschichtlichen Konkretion der Lebens-formen.92 Hier kann auf die historisch bewirkte Entkopplung von System und Lebenswelt rekuriert werden und damit auf Verdinglichungsphnomene, begriffen nun nicht mehr als Selbstverkehrung der gesellschaftlichen Verhltnisse vermittels einer bestimmten Handlungsstruktur, woraus sich in der lteren Kritischen Gesellschaftstheorie die Kritik des Transzenden-talismus ableitet, sondern als innere Kolonialisierung der Lebenswelt. Die Differenz zwischen Lebenswelt und System hat den Charakter einer unter evolutionstheoretischen Gesichts-punkten verstandenen nicht zurcknehmbaren Entitt. Daraus folgt nun, gerichtet gegen die ltere Kritische Theorie: nicht mehr die Erkenntnis und Verfgbarmachung einer objek-tivierten Natur sind, fr sich genommen, die explikations-bedrftigen Phnomene, sondern die Intersubjektivitt mg-licher Verstndigung ... Der Fokus der Untersuchung verschiebt sich damit von der kognitiv-instrumentellen zur kommunika-tiven Rationalitt.93 System ist dabei als das Reich der Not-wendigkeit94 begriffen, das bei Marx erst durch Etablierung des general intellect95 als besondere Sphre in Erscheinung tritt. Es ist mit gesellschaftlichen Bestimmungen behaftet - dem Subsystem Wirtschaft und dem politischen Subsystem wie den entsprachlichten Medien Macht und Geld -, deren Verselb-stndigung bei Marx nicht einen sui-generis Charakter hat, son-dern einer bestimmten gesellschaftlichen Produktionsorga-nisation geschuldet ist, durch deren Aufhebung dann auch allererst Verdinglichung, begriffen als Selbstverdinglichung, obsolet wrde. Daran wre dann ideologiekritisch die Theorie von Habermas zu messen.

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  • (h) Schlubemerkungen

    Bezogen auf die Marxsche Theorie fiele in einer dem Verwertungsinteresse nicht mehr unterstehenden Gesellschaft die Dichotomie zwischen Natur und Gesellschaft tendenziell weg, ohne da damit die Unterschiedlichkeit zwischen Subjekt und Objekt geleugnet wre. Aber diese Unterschiedlichkeit mte sich in einem reziproken Verhltnis artikulieren, der-gestalt, da einerseits die Menschengattung sich als Produkt der Natur sieht, andererseits die uere Natur gesehen wird als Material zur Bedrfnisbefriedigung der Menschen. Bezogen auf die erkenntnistheoretische Problemstellung heit das soviel, da, da das Subjekt, die Menschengattung, notwendig in der Differenz von der Natur als Objekt existiert und sie als Objekt aus dieser vorausgesetzten Differenz begreift, sie nicht positiv vom Zusammengeschlossensein der Natur mit sich selbst ausgehen kann, sondern nur negativ-spekulativ, d.h. ber die Entwicklung des wissenschaftlichen Horizontes und der Praxis. Mit diesen etwas kursorischen uerungen soll verdeutlicht werden, da hier also weder die Hegeische Position gemeint ist, wonach der Geist in seinem Anderssein immer schon unter dem Aspekt des Bei-sich-selbst-Seins verstanden ist, noch eine materialistische Ontologie, wonach die Materie, vorgestellt als Subjekt, sich selber differenziert, um sich dann in den Menschen und deren Praxis mit sich selbst zusammenzuschlieen, noch aber auch ein prinzipielles Aufeinanderzulaufen von Natur als objektiver und als subjektiver, wie bei Bloch, aber auch in keiner Weise eine strikt transzendentallogische Einstellung. Wie die Natur durch unsere vergegenstndlichenden Leistungen hin-durch sich ber uns und durch uns mit sich selbst zu-sammenschliet, das knnen wir nur hypothetisch-prospektiv aufgrund unseres jeweils erreichten Wissensstandes ber sie (und darin ber uns) formulieren und knnen hier u.U. rektifizierend verfahren, aber da unsere vergegenstndli-chenden Leistungen eine Dimension implizieren, die die uni-verselle Vermittlung von Mensch und Natur der Mglichkeit nach beinhaltet, davon mssen wir ausgehen, soll sich nicht der materialistische Begriff der Ttigkeit und Erkenntnis selbst dementieren.

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  • Claus Roishausen

    Die Traditionalisierung der Kritischen Theorie

    In den letzten Jahren haben wir gesehen, wie schnell sich Gesellschaftsstrukturen und Herrschaftssysteme verndern knnen. Das Modell eines Sozialismus, in der Sowjetunion entwickelt, auf andere Lnder bertragen, ist gescheitert. In einem in Deutschland weit verbreiteten konservativen Bewut-sein ist die Sachlage klar - theoretisch war sie es schon immer: nun liegt aber gewissermaen das Ergebnis eines Groversuchs vor, in dem theoretische Einsichten in praktische Politik und Gesellschaftsplanung umgesetzt wurden. Dieser Groversuch hat, folgt man dieser Interpretation, gezeigt, da die Marktwirt-schaft der Planwirtschaft berlegen ist. Da die Planwirtschaft von Marx konzipiert wurde, so der Spiegel, ist dessen Theorie selbst gescheitert. Zu bedauern sind nur noch die-jenigen, die immer noch auf einen gewandelten Sozialismus hoffen: Der Frther Ludwig Erhardt, so die einprgsame Formel aus Bayern, hat ber den Trierer Karl Marx gesiegt.

    Die Marktwirtschaft wird dabei zu einem neuen Mythos. Keine andere Ordnimg, formuliert Ernst Gnther Vetter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, ist zur Kontrolle konomi-scher Macht und zugleich zu so weitgehenden sozialen Leistun-gen fhig wie eine als Erzkapitalismus diffamierte freiheit-liche Wirtschaft. Aber: Wie ist es mit der Kontrolle konomi-scher Macht? Ist sie in den Funktionsprinzipien dieses Wirt-schaftssystems angelegt? Stammen die sozialen Errungenschaf-ten nicht aus sozialen Kmpfen? Muten sie nicht gegen markt-wirtschaftliche Bewegungsgesetze erstritten werden? Sind sie denkbar ohne die Friedens-, kologie- und Frauenbewegung? Zweifel jedenfalls sind angebracht.

    Andererseits: Wie steht es um die sozialistische Utopie einer

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  • sozialen Demokratie - ein unentfremdetes System gesellschaftli-cher Arbeit und eine konsequente Verwirklichung der Men-schenrechte? Ist mit der Selbstauflsung der vom Stalinismus geprgten, von Superbrokratien mhsam am Leben erhaltenen Gesellschaftssysteme nunmehr alles zu Ende? War dieser So-zialismus von Anbeginn an zum Scheitern verurteilt? Begann die Verwirklichimg des Projektes verfrht, am falschen Ort, zu einem falschen Zeitpunkt, nmlich vor einer kapitalistischen Epoche?

    Die kommunistische Opposition in den realsozialistischen Lndern hat immer wieder betont, da zwischen dem Sozialis-musmodell von Marx und dem sogenannten Realen Sozialismus ein Gegensatz besteht. Marx selbst wollte kein konkretes Bild der sozialistischen Gesellschaft entwerfen. Er untersuchte reale Prozesse und gab Entwicklungstendenzen an; eine Beschrei-bung idealer Zustnde, Gesellschaftsplanung und detaillierte berlegungen ber das Funktionieren der zuknftigen Gesell-schaft waren fr ihn aus methodischen Grnden ausgeschlos-sen. Gerade damit grenzte sich sein wissenschaftlicher Sozia-lismus gegenber dem utopischen Sozialismus seiner Vor-gnger ab - er war und ist eine Kritik bestehender Verhltnisse. Die zuknftige Gesellschaft sollte funktionieren, wenn erst einmal ihre Grundlagen geschaffen waren. Abschaffung des Privateigentums und Aufhebung der Entfremdung, wirkliche Aneignung, in der die Individuen zu Besitzern von Dingen werden, die ihnen entfremdet gegenberstehen. Kommunismus sollte - wie Engels es formulierte - die Lehre von den Bedingun-gen der Befreiung des Proletariats sein, die theoretischen Aus-drcke der Kommunisten allgemeine Ausdrcke tatschlicher Verhltnisse - eines existierenden Klassenkampfs, einer vor ihren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung. Daher knnen Revolutionen nicht unabhngig von Umstnden gemacht werden. In einer demokratischen Staatsverfassung sollte direkt oder indirekt die politische Herrschaft des Prole-tariats gesichert werden - in allen zivilisierten Lndern.

    In der Zukunftsgesellschaft - so die wenigen Andeutungen -sollten alle Produktionszweige fr gemeinschaftliche Rechnun-gen nach gemeinschaftlicher Planung und unter Beteiligung aller Mitglieder der Gesellschaft betrieben werden: Klassenun-

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  • terschiede werden damit berwindbar, die Existenz des Proletariats legt nicht mehr Zeugnis ab vom vlligen Verlust des Menschen. Auf der Grundlage einer entwickelten Pro-duktion und Produktivitt der Arbeit gibt es keine Ungleich-heit, kein Vorrecht des Besitzes und des Genusses(Marx).

    Die Entwicklung eines Sowjetmarxismus ist der Versuch, die Marxsche Theorie mit einer historischen Situation zu vershnen, die selbst den wenigen Andeutungen fr den bergang vom Kapitalismus zum Sozialismus nicht entspricht. Lenin versucht, am klassischen Begriff des revolutionren Proletariats festzu-halten, ihn jedoch gleichzeitig mit einer Theorie der Arbeiter-aristokratie und einer Avantgarde, gleichsam einer revolu-tionren Vorhut zu verbinden. Die These, da das Klassen-bewutsein dem Proletariat von auen beigebracht werden mu, nimmt eine Entwicklung vorweg, in der es zum bloen Objekt eines revolutionren Prozesses wird. Die Entwicklung des Marxismus zur Legitimationswissenschaft real-sozialisti-scher Herrschaftssysteme kennzeichnet das Interesse an deren Rechtfertigung, eine ohne Subjektivitt und klassenbewutes Handeln gedachte Emanzipation und eine mit einem ontolo-gischen Gewiheitsanspruch belastete Naturwissenschaft von der Gesellschaft. Das Marxsche Denken wurde in einer Vernde-rung seiner grundlegenden Kategorien und seiner praktischen Absicht zu einer materialistischen Weltanschauung herabgesetzt - nicht mehr in der Lage, fortdauernde und neu entstehende Gewaltverhltnisse zu analysieren. Die Kritik der politischen konomie wurde in einer positivistischen Umbildung zur Rechtfertigung eines der ursprnglichen Akkumulation ver-gleichbaren Industrialisierungsprozesses. Technik wurde, in der sowjetmarxistischen Version, von den konomischen Organisa-tionsformen des Produktionssystems und der Produktivkrfte abgelst und zu einer unabhngigen Variablen der gesell-schaftlichen Entwicklung. Die Reduktion der Reflexion auf Produktion, auf den Umkreis instrumenteilen Handelns wird in der Weltanschauung des Sowjetmarxismus mit der Konsequenz formuliert, da naturwissenschaftliche und gesellschaftswis-senschaftliche Erkenntnis nicht mehr unterscheidbar sind. Produktivkrfte werden zum Instrument einer neuen sozialen Kontrolle miteinander weltweit konkurrierender industrieller Gesellschaften (Marcuse).

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  • Verdinglichung fand Marx in der Struktur des Warenver-hltnisses der auf Lohnarbeit beruhenden Produktionsweise. Die mit der fortschreitenden Kapitalisierung der Gesellschaft verbundene Bewutseinsstruktur kann aufgehoben werden, wenn die richtige Erkenntnis der Gesellschaft zur unmittel-baren Selbstbehauptung einer Klasse wird, die universale Interessen verfolgt. Fr Georg Lukcs wird der kritische Gehalt der philosophischen Einsicht in der Theorie des proletarischen Klassenbewutseins wirksam. Zwar stiften Arbeitsteilung und Mechanisierung der Produktion keinen Zusammenhang der einzelnen Individuen untereinander, der Kampf der Arbeiter um die Arbeitszeit macht virtuell aber die Objektrolle des sich als Ware objektivierenden Menschen durchsichtig. Mit der Selbsterkenntnis als Ware ist fr Lukcs eine gegenstndliche Vernderung am Objekt der Erkenntnis selbst verbunden. Der Fetischcharakter jeder Ware gibt den Kern, nmlich die Be-ziehung zwischen Menschen, frei. Solange das Proletariat frei-lich in einer ideologischen Krise befangen ist, benimmt die Theorie die Rolle des wirklichen Selbstbewutseins. Die Vor-stellung einer naturgesetzlichen gesellschaftlichen Entwicklung verleiht auch einem autoritren Voluntarismus die Weihe einer historischen Notwendigkeit. Eine zentralistische Kaderpartei interpretiert schlielich autoritativ die Realitt: die kommu-nistische Partei, schlielich ihr Zentralkomitee, wird der alleinige Garant dafr, da ein idealtypisch vorgestelltes Klas-senbewutsein auch umgesetzt wird.1

    I

    Schon zuvor sprachen nach der berzeugung von Jrgen Habermas Fakten gegen Marx, historische Entwicklungen, die er in der Erfahrungsdimension seiner sozialen Realitt nicht vorfinden konnte. Die russische Revolution und die Etablierung des Sowjetsystems zeigen das Bild einer abgekrzten Industria-lisierung fr Entwicklungslnder, die in die Legalitt einer Parteidiktatur gefhrt hat. In kapitalistischen Gesellschaften bedarf der Bereich des Warenverkehrs und der gesellschaft-lichen Arbeit zunehmend der zentralen Lenkung und Verwal-tung. Staat und Gesellschaft knnen daher, wie Habermas

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  • bndig konstatiert, nicht lnger mehr im Verhltnis von berbau und Basis begriffen werden: eine Betrachtungsweise, welche die konomischen Bewegungsgesetze der Gesellschaft methodisch isoliert, kann nur solange beanspruchen, den Lebenszusammenhang der Gesellschaft zu erfassen, als Politik von der konomischen Basis abhngig ist und diese nicht umgekehrt auch schon als eine Funktion politisch ausgetragener Konflikte begriffen werden mu. Das Interesse an der Emanzi-pation der Gesellschaft artikuliert sich nicht mehr unmittelbar in konomischen Ausdrcken. Entfremdung habe die konomisch sinnfllige Gestalt des Elends eingebt. Schlielich sei der Ausschlu von der Verfgung ber Produktionsmittel nicht mehr mit dem Entzug von sozialen Leistungen derart verbun-den, da diese objektive Lage auch subjektiv erfahren und in Handlungen umgesetzt werde. Zudem habe die Ausdifferen-zierung der Sozialwissenschaften und ihre akademische Etablie-rung die Frage einer rationalen Begrndung von Kritik gestellt.2

    Sicher trifft es zu, da fr Marx die Arbeiterklasse die histo-rische Mission hatte, die Vorgeschichte zu beenden, Geschichte mit dem Ausblick auf das Reich der Freiheit berhaupt erst zu beginnen und da sich diese Hoffnung nicht erfllt hat. Auch fr das Wahrnehmen der mit der Stellung im Produktions-proze verbundenen Erkenntnischance, Gesellschaft als To-talitt zu durchschauen und in ihr handlungsfhig zu werden, gibt es kaum empirische Anhaltspunkte. Die Marxsche Analyse des Fetisch-Charakters der Ware, der Blockierung von Erfah-rungs- und Handlungspotentialen - so scheint es - bedarf der Ergnzung und Konkretisierung durch eine Analyse der Bewutseinsformen des Proletariats. Zwar zerstrte Marx mit der Analyse der Logik der Kapitalentwicklung den Schein der Freiheit, mit dem das Institut des Arbeitsvertrages das dem Lohnarbeitsverhltnis zugrundeliegende Gewaltverhltnis un-kenntlich gemacht hatte, und entfaltete den Begriff der Produk-tion als Grundlage des materiellen Lebensprozesses, entwarf den Reproduktionsproze als differenzierte Einheit von Pro-duktions- und Verwertungsproze unter Einbeziehung des All-tagsbewutseins der Handelnden, verwies auf Situationsdeu-tungen, die sich im Medium einer durch strukturelle Repres-sion erzeugten Erfahrung verndern. Aber: Alles, was dem Ka-

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  • pital nicht unmittelbar zur Verwertung dient - Bewutsein, Wille, Bedrfnis - hat keinen Vorrang in der Analyse.

    Ein gesellschaftstheoretischer Ansatz, der die Selbstmi-verstndnisse aufklren will, denen Marx unterlag und die neuen Reproduktionsbedingungen erklren kann, soll zu einer Gesellschaftstheorie des 20. Jahrhunderts fhren: eine Theorie kommunikativen Handelns mu den Bezug auf eine proletarische Massenbewegung nicht mehr systematisch in An-spruch nehmen.

    Unter dem Eindruck des Faschismus und Staatssozialismus waren fr die kritische Theorie von Horkheimer und Adorno sowohl die Perspektive einer praktischen Orientierung als auch einer befreiten Rationalitt verstellt. Die Geschichtsphilosophie Adornos rekonstruiert historische Entwicklungen als rcklu-fige Anthropogenese. Die naturbeherrschende Rationalitt wei-tet den Verdinglichungszusammenhang aus: gegenber der in-strumentellen Rationalitt gibt es keinen Fluchtpunkt, ja die Theoriebildung selbst mu aus politischen Interessenzusam-menhngen gelst werden, sich von dem empirischen Be-wutsein des Proletariats distanzieren, um Reste kritischen Bewutseins berhaupt erst bewahren zu knnen. Im Sptka-pitalismus, einer Gesellschaft totaler Verdinglichung, wider-steht nur eine Theorie des Gehalts von Kunstwerken und der negativen Totalitt: Das Kunstwerk nimmt eine Erfahrungs-form in Anspruch, die nicht von der herrschaftlichen Rea-littsaneignung dominiert wird, philosophische Kritik kann im Medium des Denkens dessen Herrschaftslogik aufzeigen.

    Habermas teilt beide Motive nicht. Er erneuert den Anspruch der klassischen politischen Wissenschaft, Antworten auf die Frage geben zu knnen, was in einer bestimmten historischen Situation getan werden kann und mu. Er macht die ur-sprngliche Intersubjektivitt gegen eine bewutseinsphi-losophische Konstruktion von Gesellschaft geltend. Er folgt der Kritik der instrumenteilen Rationalitt nur bis zu dem Punkt, an dem evolutionre Leistungen von Gesellschaftssystemen und der Eigenwert mediengesteuerter Subsysteme aus dem Blickfeld geraten, die er in der soziologischen Theorietradition und in der Wirklichkeit realisiert sieht. Er orientiert sich systematisch an der neueren Tradition soziologischen Denkens und setzt sie

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  • umstandslos mit Erkenntnisfortschritt gleich: eine neue Realabstraktion bestehe darin, da sich Integration nicht mehr im Medium des Tauschwerts, sondern ber Normen und Werte oder Prozesse der Verstndigung vollzieht. Die Werttheorie bietet keine Grundlage fr ein Konzept der Verdinglichung, das es gestatten wrde, Syndrome der Entfremdung relativ zum jeweils erreichten Grad der Rationalisierung in der Lebenswelt zu identifizieren; sie sei die berverallgemeinerung eines spe-ziellen Falls der Subsumtion der Lebenswelt unter System-imperative und erlaube schlielich keine Unterscheidung zwischen der Auflsung traditionaler und der Zerstrung post-traditionaler Lebenswelten; die Abstimmung von Handlungs-orientierungen mu von Mechanismen unterschieden werden, die nicht intendierte Handlungszusammenhnge ber die funktionale Vernetzung von Handlungsfolgen stabilisieren. Die Integration eines Handlungssystems wird in einem Fall durch einen normativ gesicherten oder kommunikativ erzielten Konsens, im anderen Fall durch eine ber das Bewutsein der Aktoren hinausreichende nicht-normative Regelung von Einzel-entscheidungen hergestellt.4

    Habermas erkennt in kapitalistischen Wirtschaftssystemen ein fortgeschrittenes Niveau der Systemdifferenzierung eigenen Rechts. Fr ihn wird daher die Frage bedeutsam, wann das Wachstum des monetr-brokratischen Komplexes Hand-lungsbereiche berhrt, die nicht ohne pathologische Nebenwir-kungen auf systemintegrative Mechanismen umgestellt werden knnen. Diese Grenze wird fr ihn mit dem Eindringen sy-stemischer Imperative in Bereiche der kulturellen Reproduktion, der sozialen Integration und der Sozialisation berschritten. Habermas projiziert das Problem, Gesellschaften als System und Lebenswelt zu konzipieren, auf die Marxsche Gesellschafts-theorie zurck. Nicht neuere Entwicklungen htten diese Pro-blemstellung hervorgebracht, sie habe sich schon fr Marx gestellt, nur habe dieser sie einseitig mit der Konstruktion einer fetischisierten Totalitt gelst. Gewissermaen unterhalb eines Prozesses der Verdinglichung lebendiger Arbeit sei das kapi-talistische Wirtschaftssystem nicht nur eine neue Formierung von Klassenverhltnissen, sondern ein fortgeschrittenes Niveau der Systemdifferenzierung eigenen Rechts: daher soll eine

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  • Vergegenwrtigung der Lebenswelt erklren, was es fr die symbolische Reproduktion des Lebens bedeutet, wenn kom-munikatives Handeln von mediengesteuerten Interaktionen abgelst und die handlungskoordinierenden Funktionen der Sprache durch Medien wie Geld und Macht abgelst werden.

    Weber hat in der Perspektive von Habermas eine Ratio-nalisierung der Lebenswelt gegenber der von Wirtschaft und Staat vernachlssigt. Die Theorie der Verdinglichung wird durch die fehlgeschlagenen Revolutionen und die Integrations-leistungen der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften dementiert. In der Kritik der instrumentellen Vernunft nimmt Theorie nur noch kontemplative Zge an. Demgegenber fat Habermas Vershnung in den Begriffen einer unversehrten In-tersubjektivitt und einer ungehinderten symbolischen Repro-duktion der Lebenswelt. Soziale Protestbewegungen vertei-digen in der Habermasschen Perspektive bedrohte Lebenswei-sen und deren Kern, die kommunikative Rationalitt.

    Fr Bewegungen, die alternative Lebens- und Arbeitsformen zum Ziel haben, treffen diese Annahmen sicher zu: schon fr die Anti-Kernkraft- und kologie-Bewegung werden sie pro-blematisch. Habermas mte hier seine These umkehren und eine Kolonisierung der Svsteme durch Lebensweltimperative konstatieren, denn nur auf den ersten Blick scheinen diese Bewegungen keine neuen Lebensbedrfnisse verwirklichen zu wollen. Sie richten sich jedoch auf andere Auffassungen von Recht und Moral, individuelle Freiheit, Selbstverwirklichung und Kreativitt - auf eine andere Vergesellschaftungsform insgesamt. Gerade weil sie eine andere Vergesellschaftungsform zum Ziel haben, richten sie sich gegen die Folgen von Arbeits-prozessen, die Gesundheit und Leben, ja die Reproduktion der Menschheit bedrohen - sie zielen auf das destruktive Steue-rungspotential des Systems selbst. Diese Formen politischer Praxis tendieren dazu, neue selbstbestimmte Formen von Vergesellschaftungsprozessen zu etablieren. Habermas mte einerseits erklren knnen, wie vom Boden der rationalisierten Lebenswelt Formen von Vergesellschaftung entstehen, die die aus seiner Sicht abgekoppelten mediengesteuerten Subsysteme wieder einholen knnten. Er mte andererseits zeigen knnen, da der gemeinsame lebensweltliche Vorrat von Symbolen so

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  • weit reicht, da Strategien und Entscheidungen ber Repro-duktionsbedingungen selbst noch zwanglos aus ihm hervor-gehen. Wie wir aus der Praxis der Bewegungen wissen, ist dies nicht der Fall.

    Die Rationalisierung der Lebenswelt lt sich nach Habermas von den Anfngen der Kultur bis in die moderne Zeit feststellen. Aus einem mythischen Denkgebilde, in dem Natur und Kultur noch verbunden sind, hat sich die Lebenswelt in Kultur, Gesellschaft und Persnlichkeit ausdifferenziert. Die in den Ver-stndigungsformen der Lebenswelt verankerte kommunikative Vernunft sei eine Gestalt der Vernunft in der Geschichte, unsere Aufgabe bestehe darin, Krfte zu identifizieren, welche die Interaktionsteilnehmer zwanglos dazu bringen, rational moti-vierte Bindungen einzugehen. Nur um den Preis von Krisen und Pathologien, knne verstndigungsorientierte Interaktion als sprachliches Medium, der Handlungskoordinierung auer Kraft gesetzt werden.

    Diese umfassende Vorstellung einer einheitlichen Sprache und Kultur und der damit gegebenen Mglichkeit der Ver-stndigung ist aus der Perspektive von Herrschenden in der Sprache von Herrschenden selbst formuliert. In realen Gesell-schaften finden sich viele Lebenswelten und Sprachen, haben nicht-sprachliche Elemente wie Gestik und Mienenspiel eine ebenso hervorragende Rolle wie unterschiedliche Bedeutungen. Gemeinsam waren in vorkapitalistischen Gesellschaften nur -modern gesprochen - hchste Werte und Feinde Fr die Unterschichten gab es nur einen Feind: die Oberschicht. Schon die Ableitung von Verhaltensanforderungen aus Werten war umstritten und sozial-strukturell gebrochen. In der fr uns berschaubaren Geschichte finden an den Grenzen zwischen Unter- und Oberschichten die heftigsten Auseinandersetzungen statt; nur aufgrund uerer Bedrohungen haben sich diese Gesellschaften ber lngere Zeitrume erhalten.

    Die Implikationen von Erkenntnis - reine Wissenschaft und unverzerrte Interaktion - waren schon in der antiken Auffas-sung an die unmittelbare Herrschaft ber die Produzenten, an die Sklaverei gebunden; Gerechtigkeit und gutes Leben waren in der klassischen politischen Philosophie und in der Realitt des Stadtstaates auf die freien Polis-Brger beschrnkt. Das Funda-

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  • ment der Feudalsysteme bildeten die machtlosen Bauern. So sehr sich die hheren und niederen Lehnsherren untereinander bekmpften - als in sich abgeschlossene Schicht verband sie die Verteidigung der Interessen gegenber dem Nicht-Adel, sym-bolisiert in einem bestimmten Begriff von Ehre und standes-gemem Verhalten.

    Beispiel fr eine gemeinsame Lebenswelt zwischen Herr-schern und Beherrschten war die Kirche, beruhend auf einem praktischen Machtzuwachs durch den Glauben der Menschen und die schwer bestreitbare Legitimation Gott. Auflsungs-tendenzen finden sich nicht in den Vernunftpotentialen kom-munikativen Handelns, sondern in materiellen Prozessen, in der Konkurrenz unter den Lehnsherren und in der wachsenden Unabhngigkeit der Lehnsleute, der Kapitalisierung der Frondienste, in einem Miverhltnis zwischen der Herausgabe von Mnzen und der Produktion von Gtern - einer wie wir heute sagen wrden: schleichenden Inflation. Eigentum, Han-del, Verkehrs- und Sprechfreiheit wurden aus der materiellen Lage der Eigentmer heraus begrndet. Die brgerliche Sozialphilosophie trennt praktisches Handeln und zweckra-tional aufgefate Systeme gesellschaftlicher Arbeit. Der Natur-zustand, der fr Hobbes logisch der brgerlichen Gesellschaft vorausging, zeigt die historisch erworbene Natur des Menschen: die Institutionalisierung von Machtbeziehung grenzt Konkur-renz, Mitrauen und Ruhmsucht ein. Gerechtigkeit erscheint als Gerechtigkeit des Marktes, gesttzt durch interne Klugheits-regeln.

    Ich kann daher nicht sehen, da die These der Rationalisie-rung der Lebenswelt eine historische Problemlage zutreffend erfat und worauf sich das universalistische Medium der ar-gumentativen Rede sttzt. Vielmehr wird hier der Autono-mieanspruch der traditionellen Theorie im Hinblick auf die Gleichsetzung von Selbstreflexion und gesellschaftlicher Eman-zipation erneuert. Wenn Gesellschaftstheorie als Selbst-konstituierung der Gattung durch Arbeit und Klassenkampf begreifbar bleibt, kann sie nicht als Selbstreflexion allein entworfen werden. Vielmehr rckt das Verhltnis von Hand-lungsfolgen und Systemmechanismen und deren wechselsei-

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  • tiger Beeinflussung, die Emanzipation von der Natur und gewaltfrmigen Institutionen ins Blickfeld.

    II

    Habermas begreift die Marxsche Theorie als eine erfahrungs-wissenschaftlich orientierte Kritik der politischen konomie und empirisch kontrollierte Theorie der Gesellschaft - in diesem Sinn als einen Vorgriff auf die modernen Sozialwissenschaften. Diese Einschtzung wird fr mich gerade durch die Ent-wicklung der Sozialwissenschaften selbst nicht gesttzt. Die Marxsche Theorie ist eine kritische Vergegenwrtigung der Grenze sozialwissenschaftlicher Erkenntnis und Kritik der bestehenden Verhltnisse. Sie hebt hervor, da das Ganze, wie es im Kopf als Gedankenganzes erscheint, ein Produkt des den-kenden Kopfes ist, der sich die Welt in der ihm einzig mglichen Weise aneignet, da aber das reale Subjekt auerhalb des Kopfes in seiner Selbstndigkeit bestehen bleibt, die Gesellschaft als Voraussetzung stets der Vorstellung vorschweben mu, Kate-gorien, Daseinsformen, Existenzbestimmungen, oft nur einzel-ne Seiten dieser bestimmten Gesellschaft sind.

    Marx ffnet die Perspektive einer Reproduktionstheorie, die ideologiekritisch gegen das Selbstverstndnis der brgerlichen Gesellschaft und praktisch gegen ihre eigenen Reproduktions-bedingungen gerichtet ist. Die materialistische Weltperspektive verbindet die Analyse einer Logik der konomischen Ent-wicklung mit deren Einbettimg in Herrschaftsverhltnissen und kritisiert in den realen konomischen Verhltnissen eine den gesamten Lebensproze umfassende Wissenschaft, in der sich das Selbstverstndnis der brgerlichen Gesellschaft zwanglos ausdrckt: Eine kritische Reflexion der Kategorien der br-gerlichen konomie, welche die Differenzierung von Wesen und Erscheinung fr sich in Anspruch nimmt, bersetzt die vorfindbaren absoluten Begriffe in die materialistische Kritik der politischen konomie.

    Marx konnte an die klassische politische konomie anknp-fen, weil deren Erkenntnisprogramm auf den inneren Zu-sammenhang der brgerlichen Gesellschaft gerichtet war. Die

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  • Mglichkeit der wissenschaftlichen Abstraktion ist an eine Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung gebunden, die Ablsung des Arbeitsvermgens von der Individualitt des einzelnen. Die Verdinglichung der Produzenten zu Trgern abstrakter Arbeit motiviert fr Marx die Kritik eines doppelten Positivismus: eine Kritik an der Objektivitt gesellschaftlicher Verhltnisse und eine Kritik des bisherigen Wissens als Positivismus, der diese ge-sellschaftlich gewordene Objektivitt als naturhnlich verlau-fenden Konstitutionsproze der Gattung begreift. In der Form des Bewutseins zeigt sich, da den Menschen die gesell-schaftliche Objektivitt, die sie praktisch hervorbringen, nicht als solche zugnglich ist: Die Warenformen spiegeln das Verhltnis der Produzenten als auer ihnen existierendes Ver-hltnis von Gegenstnden. Die Verwandlung von Wert und Preis der Arbeitskraft in die Form des Lohnes verschleiert das zugrundeliegende wirkliche Verhltnis und setzt Mystifika-tionen, denen Arbeiter und Kapitalisten gleichermaen unterlie-gen. Wissenschaftliche Ttigkeit mu daher die Mystifikationen bestimmter Produktionsweisen entschleiern und die auf der Oberflche festgestellten Beziehungen systematisch auf Produk-tionsbedingungen beziehen.5

    Wir knnen die Reflexion gesellschaftlicher Totalitt auch und insbesondere angesichts der heutigen Verfassung der So-zialwissenschaften verteidigen. Aus der wissenschaftstheo-retischen Diskussion ist nmlich die Einsicht hervorgegangen, da die methodologischeAbsicherung der Gewinnung sozial-wissenschaftlicher Erkenntnisse entweder konventionalistisch oder zirkulr ist.

    1. Fr die Konzeption objektiven Wissens, wie sie Popper am konsequentesten vertritt, mu im Medium der Wis-senschaftssprache ein bindender Beschlu gefat werden, mit dem sich die beteiligten Wissenschaftler ihrer intersub-jektiven bereinstimmung am Endpunkt eines Prf-verfahrens versichern, da es auf die logische Analyse von Theorien begrenzt ist. Sie mssen auf der unsicheren Grundlage einer normativen Methodologie zu einem revi-sionsfhigen Konsens ber Basisstze kommen. Wenn die Objektivitt der Wissenschaft in dieser Weise an die der

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  • kritischen Methode gekoppelt wird, die zwanglos aus einem Diskurs der Forscher hervorgehen soll, wird die deduktive Logik als Organon der Kritik und die