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03/ November 03 Internes Forum zum Austausch von Erfahrungen und Informationen für hauptamtlich und ehrenamtlich Engagierte und Interessierte der Behindertenarbeit in Deutschland Themenschwerpunkt: Heilsame Seelsorge Behinderung & Pastoral

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03/ November 03

Internes Forum zum Austausch von Erfahrungen und Informationen für hauptamtlich

und ehrenamtlich Engagierte und Interessierte der Behindertenarbeit in Deutschland

Themenschwerpunkt: Heilsame Seelsorge

Behinderung & Pastoral

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Die Mutter von Jesus gemalt von Margit Struhberg (3. Preis) im Bibelmal- und Zeichenwettbewerb, Bistum Limburg

(s. Artikel: Aus den Fachbereichen der Arbeissstelle und Verbände: Artikel Aug` in Aug` mit dem Walfisch S. 38)

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INHALT 03/ November 03

Editorial02 Pfarrer Dr. Hermann-Josef Reuther

Themenschwerpunkt: Heilsame Seelsorge03 Heilsame Seelsorge

Über die Notwendigkeit eines Perspektivwechsels auch in der Pastoral mit Menschen mit Behinderungen

Pfarrer Dr. Wolfgang Reuter

07 Nicht nur satt, sauber und sichergestellt

Das ganz Andere in der seelsorgerlichen Begleitung von Menschen in der psychiatrischen Klinik

Pfarrer Karl-Hermann Büsch

12 „Versprechen Sie mir bitte, dass Sie mich nicht vergessen...“

Wenn die letzten Dinge ins Spiel kommen: Seelsorge mit Suchterkrankten als Lernort eschatologischer Pastoral

Simone Bell-D’Avis

14 Zurück zur kindlichen Bedürftigkeit

Erfahrungen und Einsichten in der seelsorgerlichen Begegnung mit psychiatrisch veränderten, alten Menschen

Diakon Johannes Schmitz

Aus Kirche, Kultur, Politik und Wissenschaft18 „Hauptstadtregion will sich Mongoloide sparen“ Kristeligt Dagblad

19 Wohin es führen kann, wenn Menschen mit Behinderung als bloßer Kostenfaktor angesehen werden

Regine Gabriel / Uta George

21 Pränataldiagnostik – Schwangerschaftskonfliktberatung – Seelsorge

Ein Konzept der katholischen Schwangerschaftsberatung Christa Pesch

26 Menschen mit geistiger Behinderung haben ein Recht auf kirchliche Eheschließung Franz M. Herzog

27 Tun, was man kann Interview mit Esther Weber-Kranz

Aus den Fachbereichen der Arbeitsstelle, Diözesen und Verbände29 Hörgeschädigte in einer integrativen Gemeinde (3. Teil) Pfarrer Dr. Hermann-Josef Reuther

31 Schwerhörigenvereine – Kundschafter für hörbehinderte Menschen

Zum 75jährigen Jubiläum des Schwerhörigenvereins Köln Andreas Heek

32 Kinder und Jugendliche, die anders sind Matthias Mader

34 Jericho Susanne Krahe

35 Fest für Körper und Sinne Vom Miteinander zum Füreinander Jochen Straub

37 Unser Schatz Ein behindertes Kind im Gemeindegottesdienst

38 Aug in Aug mit dem Walfisch – der etwas andere Malwettbewerb Jochen Straub

40 Bürgerrechte und Bürgerpflichten für Menschen mit geistiger Behinderung Hannes Peters

41 Termine

42 Impressum

43 Materialien und Buchtipps

Behinderung & Pastoral / Inhalt _ 01

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02 _ Behinderung & Pastoral / Editorial

Liebe Leser!

Heilsame Seelsorge heißt der Themenschwerpunkt dieser dritten Ausgabe von Behinderung und Pastoral.

Zunächst einmal kann man fragen: Was bedeutet heilsame Seelsorge? Die Älteren unter Ihnen erinnern sich vielleichtnoch an die Formulierung in alten Messtexten: In Wahrheit ist es würdig und heilsam, dich ewiger Gott, zu loben…Heißt heilsam, dass es uns schon noch ein heilsamer Schock oder eine heilsame Lehre sein wird, wenn wir etwasBestimmtes nicht tun? Spricht sich darin etwa eine Drohung aus?

Eine solche Bedeutung ist hier nicht gemeint. Heilsame Seelsorge meint eine Pastoral, die den Menschen als GottesGeschöpf betrachtet und sein ganzheitliches Wohl, – theologisch eben: sein Heil, in den Blick nimmt. Sie ist nicht eine Therapieform, die etwa im medizinischen Sinne heilt und damit gleichsam die Gottebenbildlichkeit des Menschenrepariert. Daher ist nicht die Rede von heilender, sondern von heilsamer Seelsorge. Wie konkret sie beim Menschen,zumal bei Menschen mit Behinderung ankommen kann, damit beschäftigen sich die Beiträge in dieser Zeitschrift.

Wolfgang Reuter, Seelsorger an einer Düsseldorfer psychiatrischen Klinik, beschreibt für dieses Thema den grundle-genden Horizont und spannt den Bogen zur Pastoral für Menschen mit Behinderung. Aus den unterschiedlichenPraxisfeldern der Behindertenpastoral werden darauf aufbauend Aspekte der Seelsorge aufgezeigt, die deutlich machen, welche Anforderungen, Chancen und Fragen sich für die Pastoral vor Ort ergeben.

Einen breiten Raum nehmen wieder die Informationen aus den Fachbereichen der Arbeitsstelle sowie aus denDiözesen und Verbänden ein. Hierin wird über Tagungen, Lehrgänge und Seminare berichtet, und es werden Wünscheund Visionen formuliert, was denn vielleicht dazu beitragen könnte, dass eine Pastoral für Menschen mit Behinderungsich leichter tut in der Zusammenarbeit mit Pfarreien, aber auch mit großen und kleinen Verbänden, Einrichtungenoder Initiativen.

Nur wenn wir mehr voneinander wissen, können wir voneinander profitieren, miteinander Visionen entwickeln undfüreinander Neues wagen. Unser großes Für zielt auf diejenigen in unserer Gesellschaft, die unsere Unterstützung brauchen, damit das Für-sorgliche immer mehr zum Mit-einander werden kann. Menschen mit Behinderung sollennicht Objekte der Versorgung und gnädigen Fürsorge sein, sondern Partner in einem fairen Miteinander auf Augenhöhe.

Viel Spaß beim Lesen und eine gute, gesegnete Advents- und Weihnachtszeit wünscht IhnenIhr

Pfarrer Dr. Hermann-Josef ReutherLeiter der Arbeitsstelle Pastoral für Menschen mit Behinderung der Deutschen Bischofskonferenz

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Die Sehnsucht nach Heil und HeilungDer Wunsch nach Heil und Heilung, Gesundheit, Glückund Zufriedenheit durchzieht die Geschichte derMenschheit. Diese Sehnsucht ist gegenwärtig ähnlich großwie zur Zeit Jesu, von dessen heilvollem Wirken die Über-lieferung der Evangelien kündet. Sie manifestierte sich imLaufe der Geschichte unter anderem in der rasantenAusdifferenzierung medizinischer Fachgebiete, als derenErgebnis seit dem 18. Jahrhundert auch die Psychiatrie alseigenständiges medizinisches Fach existiert. SigmundFreud, der Begründer der Psychoanalyse, kommt 1926 amEnde seiner Schrift: „Die Frage der Laienanalyse“ in einerzusammenfassenden Aussage über seine Patienten zudem Schluss, dass sie bereit seien, Heilung anzunehmen,von wem immer sie ihnen auch geboten werde. Nochdeutlicher wird Freud 1938 in seiner Schrift ‚Abriss derPsychoanalyse‘. Hier schreibt er, die rationale Absicht derMenschen sei es, gesund und leidensfrei zu werden.

Der Wunsch nach Heilung, gerade wenn er vonchronisch Kranken oder Behinderten zum Ausdruck ge-bracht wird, ist nur allzu verständlich. Zurecht betreibtnicht nur die gegenwärtige Psychiatrie intensiveForschung im Hinblick auf die Frage, was unsere Seelekrank mache und jeder Kongress wird mit großer Hoffnungauf Besserung für psychisch Kranke erwartet. Wo dieSchulmedizin (noch) nicht zu den erhofften Ergebnissenführt, blühen alternative, häufig esoterische Therapie-modelle auf. Der Markt ist unüberschaubar. Kranke undbehinderte Menschen erhoffen sich durch immer differenziertere Therapie und Rehamaßnahmen, wennschon keine Heilung, so dann aber doch Fortschritte unddie Verbesserung ihrer konkreten Situationen.

„Heilende Seelsorge“ und „Theologie als Therapie“?Nicht nur Patienten und Menschen mit Behinderungen,sondern auch viele Angehörige therapeutischer und an-derer helfender Berufe lassen sich von dieser Sehnsuchtnach Heilung, Heil und Ganzheit leiten. Aus diesemGrunde ist allenthalben von heilender Beziehung dieRede. Auch im kirchlichen Handlungsfeld der Seelsorge,wie gleichermaßen innerhalb der Theologie, habenEntwürfe „heilender“ (Isidor Baumgartner, WunibaldMüller) oder „therapeutischer Seelsorge“ (DietrichStollberg), „therapeutischer Spiritualität“ (Michael

Gmelch), „heilender Verkündigung“ (Joachim Hänle) und„Theologie als Therapie“ (Eugen Biser), um nur einige zunennen, große Konjunktur. Sollten sich Theologie undSeelsorge, so lautet eine immer wieder gestellte Frage, an-gesichts der Heilungssehnsucht der Menschen nicht auchals heilend und therapeutisch erweisen? Wäre es nichtrichtig, die heilende Dimension der Seelsorge und die the-rapeutische Dimension der Theologie in den Vordergrundzu stellen, wie es ja viele Autoren mit nicht geringemErfolg tun? Hier ist, bei allem Verständnis für dieseFragestellung Vorsicht anzumahnen. Verspricht dieSeelsorge nicht zu viel, wenn sie sich, gemessen an denHeilungswünschen der Menschen, als „heilend“ und „the-rapeutisch“ definiert? Wie ist aus der Perspektive „heilen-der Seelsorge“ denen zu begegnen, bei denen alleHeilungsbemühungen und Therapiemaßnahmen nicht zudem gewünschten Erfolg führen?

PerspektivenwechselDie Seelsorge ist gut beraten, sich von Charakterisierungenwie „heilend“ oder „therapeutisch“ zu trennen, um in die-ser Abgrenzung ihre eigene Perspektive anzubieten, die ich‚heilsam‘ nenne. ‚Heilsame Seelsorge‘ (Wolfgang Reuter)bringt einen Perspektivenwechsel mit sich. Sie orientiertsich nicht in heilend-therapeutischer Grundhaltung an denHeilungswünschen der Menschen. Stattdessen nimmt siedie Leidenserfahrung als Grund- und Kontrasterfahrungder gesunden, behinderten und kranken Menschen in denBlick und löst sich von dem in unserer Gesellschaft viru-lenten Gesundheits- und Ganzheitsideal. In diesem Idealwirkt weiterhin die alte Definition der Weltgesundheits-behörde (WHO) fort, in der Gesundheit als „Zustand voll-ständigen körperlichen, geistigen und sozialenWohlbefindens und nicht nur als das Freisein von Krankheitund Gebrechen“ (Ulrich Eibach) festgelegt wurde.Wiewohl alle diese Ziele als wünschenswert anzusehensind, ist diese Definition gerade aus der Perspektive vonTheologie und Seelsorge zu kritisieren. Hier wird ein reinnormatives Ziel beschrieben, an dem sich dieHeilungsvorstellungen und -wünsche unserer Zeit orien-tieren. Gerade für chronisch (psychisch) Kranke, wie auchfür Behinderte, sind die in dieser Definition vorgegebenenZiele nur schwer und in vielen Fällen gar nicht zu errei-chen.

Behinderung & Pastoral / Themenschwerpunkt: Heilsame Seelsorge _ 03

Über die Notwendigkeit eines Perspektivwechsels auch in derPastoral mit Menschen mit Behinderungen

Pfarrer Dr. Wolfgang Reuter*

THEMENSCHWERPUNKT:HEILSAME SEELSORGE

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de Praxis der Kirche. Jesu eigene Leidensfähigkeit und seinLeidbewusstsein bilden die Grundlage für eine derartig leidempfindliche und leidbewusste Theologie und Seel-sorge. Es ist charakteristisch für dieses theologischeSelbstverständnis, den Kranken, Leidenden und Be-hinderten die Erlösung durch Jesu Kreuzestod und seineAuferstehung nicht im Sinne einer vorschnellen Ver-tröstung zu verkünden. ‚Heilsame Seelsorge‘ setzt viel-mehr eine Gesamtschau auf das Leben Jesu voraus, diedas mit dem Kreuz verbundene Leiden und die Auf-erstehung als das unzertrennbar zusammengehörendezentrale Erlösungsgeschehen nicht außer Acht lässt. DerBlick auf den „Gekreuzigt-Auferstandenen“ bildet somitdie theologisch reflektierte Grundlage des Ansatzes ‚heil-samer Seelsorge‘.

‚Heilsam‘ – nicht heilend. Eine Provokation?‚Heilsame Seelsorge‘ mit dem Blick auf den „Gekreuzigt-Auferstandenen“ als Grund und Ursprung christlicherHoffnung stellt den Menschen nun jedoch mitten hineinin die Dynamik der von den Theologen so genannten „es-chatologischen Spannung“. Demnach ist „Heil“ mit demLeben, Sterben, Tod und Auferstehen Jesu Christi zwar un-widerruflich angebrochen, der gegenwärtig lebende – undauf unterschiedliche Weisen leidende – Mensch erfährtdies jedoch zugleich als noch ausstehend. Um dieseSpannung zwischen der bereits gewährten „Gabe desHeiles und deren eschatologischer Ausständigkeit“ (JosefWohlmuth) nicht aufzulösen und um Seelsorge und

Definiert Seelsorge sich nun als „heilend“ oder „therapeutisch“, so nährt sie die mit dem Gesundheits-und Ganzheitsideal einhergehenden Hoffnungen undErwartungen. Dabei unterliegt sie jedoch zugleich derGefahr, den Kontakt zu Kranken, gerade den unheilbarKranken, den Leidenden und den Behinderten zu verlie-ren. Seelsorge würde sich hingegen dort als ‚heilsam‘ er-weisen, wo sie sich an die Seite leidender, kranker und be-hinderter Menschen stellt, ohne gleich von ihnen Heilungoder therapeutischen Fortschritt zu erwarten. Der Ort derSeelsorge ist dort, wo nach allem therapeutischenBemühen, Linderung, Besserung oder gar Heilung nicht zuerwarten ist. Gerade hier, wo jegliche Heilkunde an ihrenatürlichen Grenzen stößt, ist ‚heilsame Seelsorge‘ erfor-derlich. Sie folgt nicht den in der Definition der WHO be-schriebenen idealen Zielen. Vielmehr weiß sie sich ihrembiblischen Auftrag verbunden.

Das biblisch-theologische Fundament‚Heilsame Seelsorge‘ gründet auf der biblischenVerkündigung der Solidarität Gottes mit allen Menschen,die in Jesus Christus als dem „Gekreuzigt-Auferstandenen“(Josef Wohlmuth) ihren konkreten Ausdruck findet. In ihmereignete – und ereignet sich weiterhin – das „Heil von Gotther für alle Menschen“ (Edward Schillebeeckx), insbe-sondere für die wegen Krankheit und Behinderung ‚Ins-Aus-Gesetzten‘ und alle Leidenden, wie es die biblischeBotschaft immer wieder betont. ‚Heilsame Seelsorge‘ istdemnach eine leidensfähige und zum Leiden befähigen-

04 _ Behinderung & Pastoral / Themenschwerpunkt: Heilsame Seelsorge

(Foto: Anna Rosa Bonato)

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Behinderung & Pastoral / Themenschwerpunkt: Heilsame Seelsorge _ 05

Sakramente und Symbole des christlichen GlaubensFolgt ‚heilsame Seelsorge‘ der Perspektive des Glaubens,so sind nicht primär die Kenntnisse der Krankheitslehre,der Psychopathologie, der Heilpädagogik oder auch diefachliche Qualifikation in einer Therapieform für dasHandeln der SeelsorgerInnen ausschlaggebend. IhrHandeln ist vielmehr durch die Texte und Symbole, auchund gerade durch die Feiern des christlichen Glaubens be-stimmt. Leitmotiv dieses Handelns ist das Menschen- undGottesbild Jesu, und der Versuch, in den Texten undSymbolen der Lebens- und Leidensgeschichten derMenschen die Texte und Symbole des Glaubens zu ent-decken. So verstandene Seelsorge könnte sehr gut als„Lebensdeutung“ (Gert Hartmann) bezeichnet werden. Besondere Bedeutung kommt den Sakramenten undSymbolen des christlichen Glaubens zu. Sie können als‚heilsam‘ bezeichnet werden, weil in ihnen die Nähe undSolidarität Gottes in den Erfahrungen des Leidens auf-scheint. Deshalb zieht sich der Seelsorger ja auch dannnicht von den Menschen zurück, wenn im Einzelfall alleheilkundliche Therapie schon längst an ihre Grenzenstößt. Gerade in den Symbolen des Glaubens und insbe-sondere in der Feier der Sakramente „ist dem Seelsorgereine Möglichkeit gegeben, in Bereiche vorzustoßen undihnen Ausdruck zu verleihen, die der Sprache und demBewusstsein nicht immer zugänglich sind“ (Dieter Funke).Bei dem sich hier erschließenden symbolischenErfahrungsraum handelt es sich um einen Bereich desLebens, der in der Regel von ärztlichen, psychotherapeu-tischen und heilpädagogischen Methoden nicht erreichtwerden kann und auch primär nicht erreicht werden soll.Der Seelsorger und die ihm begegnenden Menschen kön-nen hingegen einander selbst zu einem Symbol desGlaubens werden. Das ist die ursprüngliche Aufgabe ‚heil-samer Seelsorge‘. Sie unterscheidet sich also in ihrer „re-ligiösen, kulturellen, gesellschaftlichen, sozialenVerankerung und Tradition, in Umfang und Differenziert-heit (z.B. Symbolbereich), in der Komplexität ihrerPerspektiven“ (Karl-Heinz Ladenauf) fundamental vomHandlungsfeld psychotherapeutischen, ärztlichen, pflege-rischen und heilpädagogischen Handelns. Wie sich diesertheologisch reflektierte Ansatz der Seelsorge auf die ein-gangs erwähnten Heilungswünsche in kritischer Weiseauswirkt, sei als Letztes angedeutet.

Der heilsame Blick aufs Fragment – Pastoral jenseitsder Ganzheitlichkeit‚Heilsame Seelsorge‘ widersteht den in der gegenwärtigenGesellschaft virulenten Illusionen und Utopien im Hinblickauf Heilung und Gesundheit. Sie widersetzt sich demGesundheits- und Ganzheitsideal. Dadurch schafft sie ei-nen Raum, in dem das nicht Ganze, das nicht Gesunde,das Unvollständige und das Gebrochene in den

Theologie gegenüber anderen Wissenschaften undBerufen, deren Aufgaben und Ziele eindeutig die sym-ptomatische Behandlung und Heilung sind, abzugrenzen,schlage ich den grundsätzlichen Verzicht auf eineQualifizierung der Seelsorge als „heilend“ vor und charak-terisiere sie stattdessen als ‚heilsam‘. Hierbei ist es meinAnliegen, eine in Vergessenheit geratene Perspektive prak-tisch-theologischer Reflexion und seelsorglichen Handelnsin Erinnerung zu bringen.

Vergessen wurde eine Praxis der Seelsorge, die beiden Erfahrungen der Leidenden ansetzt und sowohl ih-nen, als auch den Seelsorgern mannigfaltige neuePerspektiven eröffnet. So können sie gemeinsam eineneue Art des Umgangs mit dem Leid und den Leidendensuchen, dies bewusst unter der Prämisse, dass hierdurchkeine symptombezogene Linderung oder gar Heilung er-zielt werden muss. Seelsorge, welche die Spannung zwi-schen gegebenem und zugleich ausständigem Heil nicht leugnet, sondern ausdrücklich thematisiert und dieLeidenden genau darin ernst nimmt, heilt also nicht imheilkundlichen Sinne. Sie wird sich jedoch als ‚heilsam‘erweisen.

Die neue Perspektive – Der Blick des Glaubens‚Heilsame Seelsorge‘ als leidbewusstes und leidbefähi-gendes pastorales Handeln versteht natürlich dieSehnsucht kranker, behinderter und leidender Menschennach Besserung und Heilung und wird alles daran setzen,hier – wo immer es möglich ist – vermittelnd tätig zu wer-den. Sie widersetzt sich jedoch vorschnellen oder gar uto-pischen Heilungsangeboten, dies gerade dann, wenn siedem in unserer Gesellschaft virulenten Gesundheits-,Schönheits- und Ganzheitsideal folgen. Zugleich wahrt‚heilsame Seelsorge‘ eine kritische, vielleicht auch ‚heilsa-me‘ Distanz gegenüber heilend-therapeutisch ausgerich-teten Ansätzen von Theologie und Seelsorge. Sie grenztsich sowohl gegenüber fachkundigem und fachgerechtemärztlich-therapeutischem Handeln ab – dies kann sie nichtleisten! –, wie auch gegenüber jeglichen defizitbezogenenhelfend-heilend und therapeutisch orientierten Seelsorge-konzepten – dies soll sie nicht leisten! –, wie sie allzu häufig anzutreffen sind.

‚Heilsame Seelsorge‘ folgt einer eigenen Perspektiveund sieht den anderen „mit den Augen des Glaubens“(Isidor Baumgartner). Daraus folgt, dass sie sich nichtprimär über therapeutische, heilpädagogische oder heil-kundliche Fähigkeiten definiert, sondern auf Grundlagedes dargelegten theologischen Fundamentes diePerspektive des Glaubens in die Lebens- undErfahrungswelt Leidender, Behinderter und Kranker ein-bringt. Dies ist eine Perspektive, die von anderenBerufsgruppen, die ebenfalls mit Leidenden, Kranken undBehinderten umgehen, so nicht verfolgt wird.

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06 _ Behinderung & Pastoral / Themenschwerpunkt: Heilsame Seelsorge

Vordergrund der Wahrnehmung treten. ‚HeilsameSeelsorge‘ lenkt den Blick auf die Fragmentarität jeglichenLebens und einer jeden Lebensgeschichte. Sie prokla-miert einen Lebensentwurf, der das Recht aufUnvollkommenheit und das Leiden hieran mit einschließt.Damit bietet sie einen an der Grunderfahrung des Leidensund der Fragmentarität menschlichen Lebens orientiertenAnsatz von Pastoral. In Bezug auf die Sehnsucht derMenschen nach Heil und Heilung folgt hieraus, dass diesnicht im Erreichen von Ganzheit, Gesundheit und Glück,sondern in der Auseinandersetzung mit dem abwesendenGanzen, dem „Nicht-Ganz-Sein, dem Unvollständig-Bleiben, dem Abgebrochenen – kurz: dem Fragment“(Henning Luther), zu suchen und zu finden ist. Der Begriff‚heilsam‘ gibt hierbei eine eindeutige Richtung an.

Diese ‚heilsame‘ Perspektive der Seelsorge ver-schließt sich natürlich nicht ideologisch gegen Heilungoder gegen Ganzheitlichkeit. Mit dem „heilsamen Blickaufs Fragment“ (Wolfgang Reuter) folgt sie jedoch einerhäufig verdrängten Perspektive und erweist sich als kri-tikfähig gegenüber gesellschaftlichen, wie auch kirchli-chen Strömungen. Seelsorge mit dem Blick aufs Fragmentist in der Lage, eine neue Weise der Wahrnehmung unddes Verstehens der Wirklichkeit zu initiieren und sich hier-in für Gesellschaft und Kirche nicht nur im Hinblick auf diePastoral mit Kranken und Behinderten als ‚heilsam‘ zu er-

weisen. Der Ansatz ‚heilsamer Seelsorge‘ wird also die inGesellschaft und Kirche wirksamen unbewusstenIdentifikationen mit optimistischen und idealisierendenGesundheitsvorstellungen und Heilungsangeboten offen-legen und ihnen widersprechen. An die Stelle desHeilungsideals tritt der Blick aufs Fragment als Impuls fürpastorales Handeln. Leidbewusste Theologie und leidbe-fähigende Seelsorge sind dann, diese Kränkung müssensie ertragen, nicht heilend und auch nicht therapeutisch!‚Heilsam‘ hingegen sind sie insofern, als sie das Leiden alsKontrasterfahrung nicht leugnen und zur Leidensfähigkeitermutigen, den Blick aufs Fragment praktizieren undKonflikte im Leben zulassen. Es mag paradox klingen,doch mit genau diesem Ansatz ist den Menschen imHinblick auf ihre Vorstellungen von Heil und Heilung sehrgedient.

* Der Autor ist Leiter der Behindertenseelsorge in der StadtDüsseldorf und Pfarrer an den Rheinischen Kliniken derUniversität Düsseldorf.Der Band: ‚Heilsame Seelsorge‘. – Ein psychoanalytisch orien-tierter Ansatz von Seelsorge mit psychisch Kranken“ erscheintim Herbst 2003 beim LIT-Verlag Münster

(Foto: Rolf-Georg Bitsch)

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Behinderung & Pastoral / Themenschwerpunkt: Heilsame Seelsorge _ 07

Nicht nur sauber, satt und sichergestellt! Das ganz Andere in der seelsorgerlichen Begleitung von Menschen in der psychiatrischen Landesklinik Köln

Pfarrer Karl-Hermann Büsch*

Der institutionelle AspektSeelsorge gehört Dank kirchlichen Engagements in derStadt Köln noch zum selbstverständlichen Angebot fürMenschen in Lebenskrisen, so auch in der RheinischenLandesklinik Köln-Merheim, einem psychiatrischenKrankenhaus. Seelsorge ist hier durch staatlicheRechtsverordnungen und durch spezifische Verein-barungen zwischen dem Erzbistum Köln und demLandschaftsverband Rheinland institutionell verankert.

Als Pfarrer bin ich formalrechtlich Mitarbeiter in derKlinik, nicht aber Mitarbeiter der Klinik: Ich gehöre dazu,komme aber dennoch von außen!

Für meine Arbeit bedeutet dies inhaltlich, dass ichdie Freiheit habe, die Patienten zunächst einmal nichtdurch die therapeutisch-klinische Brille sehen zu müssen.Hierdurch wird eine gleichrangige Subjekt-Subjekt-Begegnung eher möglich, weil ich eben nicht zum thera-

peutischen Team gehöre. Somit begegnet mir imPatienten der Klinik zunächst einmal ein Mensch, so wieer gerade in der Welt ist: entzückt, verrückt, traurig, ver-schlossen, aufgedreht.

Michael Klessmann spricht in diesem Zusammen-hang von einer gewollten naiven Position der Seelsorge,die bestimmte Vor- und Nachteile hat: „Die Vorteile liegendarin, dass der Seelsorger Normalität in eine Begegnunghineinbringt, eben weil er/sie erst einmal ohne den kli-nisch-diagnostischen Blick kommt. Patienten wissen dieszu schätzen: Da ist einer, der will und soll nicht diagnosti-zieren und therapieren, der kann nicht eine Erhöhung derMedikation veranlassen, wenn man ihm etwas erzählt, derkommt vielmehr „einfach so“, um zu begegnen, um einGespräch ohne besondere Absicht zu führen, um bei derBewältigung dieser schwierigen Lebenssituation behilflichzu sein. [vgl. M. Klessmann, Seelsorge in der Psychiatrie –

(Foto: SENSUM, Wiesbaden, Bernd Schermuly)Kreuz aus der Kapelle Seelsorge und Begegnung für psychiatrieerfahrene Menschen, Köln

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08 _ Behinderung & Pastoral / Themenschwerpunkt: Heilsame Seelsorge

eine andere Sicht vom Menschen? WzM, 48. Jg. (1996),25 - 28?, bes. 26].

Diese Rolle des „Von-außen-kommens“ muss derSeelsorger immer wieder neu ausbalancieren. Einerseitsist eine begrenzte Kooperation mit dem therapeutischenTeam notwendig, andererseits darf es nicht zu einer distanzlosen Vergeschwisterung kommen, weil in einem solchen Fall der vom Patienten gegebeneVertrauensvorschuss gegenüber der Seelsorge gefährdetwäre.

Die Patienten müssen den Seelsorger als unabhän-gig und frei gegenüber dem System Klinik erleben, als ei-nen, der nicht dem behandelnden Arzt oder derStationsleitung gegenüber verpflichtet ist. Diese beson-dere Rolle drückt sich signifikant für jedermann erlebbarim Ureigensten des seelsorglichen Vollzugs aus, z.B. inden gottesdienstlichen Feiern oder Angeboten zurSakramentesspendung. Mit diesen findet ein StückNormalität in der Klinik statt, denn es sind prinzipiell alleeingeladen: Patienten wie Mitarbeitende.

In den gottesdienstlichen Feiern und der Sakra-mentenspendung erleben sich die Besucher als gleichran-gige Menschen, es wird nicht unterschieden und einge-teilt nach Krankheiten. Für jedermann wird sofort ersicht-lich, dass diese „zweckfreien“, religiösen Vollzüge sich imKern grundsätzlich unterscheiden von den therapeuti-

schen Angeboten. Die religiösen Angebote sprechenMenschen primär als Glaubende, Hoffende, Zweifelnde,auch als Verzweifelte an, denen als Geschöpfe Gottes sei-ne Menschenfreundlichkeit, seine Liebe und Zuwendunguneingeschränkt gilt. [a.a.O., S. 27].

Seelsorgerliche Begleitung als Hinweis auf die trans-zendentale Dimension des Lebens Als Seelsorger bin ich unvermeidbar auch Projektions- undSymbolfigur. So erlebe ich Begegnungen, in denen ich als„Hoffnungsträger und Heilsbote“ gesehen werde oderaber auch umgekehrt als „Sündenbock“ herhalten mussfür Ärger, Enttäuschungen und Schmerzen, die meinGesprächspartner mit Repräsentanten von Kirche undReligion in der Vergangenheit erlebt hat.

Darüber hinaus hat die Präsenz von Seelsorgernnach Klessmann einen Hinweischarakter: „Die Seelsorgersind Repräsentanten der Religion, Repräsentanten eineranderen, tieferen oder transzendentalen Dimension desLebens. Allein durch ihr Vorhandensein weist sieMenschen darauf hin, dass es diese Dimension Gottesgibt und dass es vielleicht bedeutsam sein könnte, sichmit Fragen der Sinnorientierung, der Sinnsuche gerade ineiner so tief greifenden Krise wie in einer psychiatrischenErkrankung, auseinander zu setzen“.

Die Existenz von seelsorgerlicher Begleitung,Begegnung und Beratung weist auf eine Dimension desLebens hin, die in der Psychiatrie und Psychotherapie häufigzu kurz kommt, für die die psychiatrisch Tätigen oft keineSprache und keine Wahrnehmung haben. [a.a.O., S. 27 f.].

Seelsorger im Kontext von institutioneller „Ohnmacht“Ein weiteres Moment gilt es zu beachten, um die unbe-wusste Dynamik meiner Patientenkontakte besser im spe-zifischen örtlichen Kontext verstehen zu können: EinePsychiatrische Klinik ist eine Institution mit einerMachthierarchie: Chefarzt, Oberarzt, Stationsarzt,Psychologe, Pflegedienst. In dieser Hierarchie habe ich alsSeelsorger formell keine Macht: Ich habe in der Kliniknichts zu bestimmen, nichts anzuordnen, nichts„Klinikrelevantes“ anzubieten! Dieses Faktum erzeugt oft-mals unbewusst auf dem Weg von Übertragung undGegenübertragung eine Solidarität der „Ohnmächtigen“,in diesem Falle zwischen Seelsorger und Patient. Dieseunbewusste Dimension erzeugt mitunter im Gesprächund im Kontakt eine intensive Begegnungsqualität. AlsErläuterung hierzu ein Bespiel: meine Begegnung mitHerrn E.:

Herr E. sitzt seit Tagen in jeder freien Minute für sichalleine in der Cafeteria und signalisiert durchKörperhaltung und Ausdruck: „Ich bin in einer ande-ren Welt.“ Nicht aggressiv, sondern mit einemLächeln im Gesicht.

Aus dem Fürbittenbuch der Rheinischen Landesklinik Köln

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Behinderung & Pastoral / Themenschwerpunkt: Heilsame Seelsorge _ 09

Als ich ihm zum ersten Mal begegne, und ich ihn be-grüßen will, ist er in eine Aura von Erhabenheit ein-getaucht. Gütig und würdevoll lehnt er mit vernei-nendem Kopfschütteln meine ausgestreckte Handab. Einige Patienten, die meine hilflose Reaktion mit-bekommen, lachen verschmitzt und erklären mir,dass Herr E. zurzeit mit niemandem spricht, sogarheute morgen bei der Visite nicht. Genau dies wirdauch bei der Teambesprechung thematisiert, und al-le Beteiligten sind sich darin einig, dass Herr E. sehrangenehme Stimmen hören muss, weil er immer soglückselig lächelt. Es werden Vermutungen dahin ge-hend ausgesprochen, dass Herr E. vielleicht dieStimme von einer schönen Frau hört.In den folgenden Tagen sehe ich Herrn E. des öfte-ren an verschiedenen Orten auf dem Klinikgelände.Ich begrüße ihn immer freundlich, aber zugleich sig-nalisiere ich ihm, dass ich sein Distanzbedürfnis re-spektiere. Umso mehr bin ich überrascht, als Herr E.mich eines Morgens nach der Frühandacht vor derKapelle anspricht und mich um ein Gespräch bittet:Bedächtig und sehr vorsichtig beginnt er mit seiner

Erzählung, hierbei taxiert er genau meine Reaktion.Ich erfahre von ihm, dass er türkischer Staatsbürgerist und ehrfurchtsvoll seinen moslemischen Glaubenpraktiziert. Er erklärt mir in klarer gedanklicher Folgeeinige Bestimmungen des Korans und in diesemZusammenhang erwähnt er, dass Jesus vonNazareth im Koran eine hohe Wertschätzung ge-nieße, und dass er als gläubiger Moslem zurEhrerbietung gegenüber Jesus angehalten sei. Völligkorrekt klärt er mich darüber auf, dass der islamischeGlaube aber die Gottessohnschaft Jesu verneine.Jetzt wird die Stimme von Herrn E. leiser: Er wendetsich mir ein Stück näher zu und unser Kontakt wirdintensiver. Herr E. vergewissert sich noch einmal, obauch niemand zuhört, dann weiht er mich in seingroßes Geheimnis ein: Er selbst sei Gottes Sohn, ersei Jesus Christus. Hier stutze ich erstaunt, weil HerrE. mir eben noch erklärt hatte, dass der moslemischeGlaube die Gottessohnschaft Jesu verneine. Herr E.registriert mein Erstaunen und bemüht sich sofort umeine präzisere Erklärung: In Wirklichkeit sei er Gott,aber Gott sei allmächtig. Nun sei es aber so, dass er

(Foto: Rolf-Georg Bitsch)

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10 _ Behinderung & Pastoral / Themenschwerpunkt: Heilsame Seelsorge

zurzeit nicht allmächtig sei. Er selbst könne ja nichteinmal entscheiden, hier in der Klinik von derBeschäftigungstherapie in die Arbeitstherapie zuwechseln. An diesem Ort hier sei er ohnmächtig, ge-nau wie die Seelsorge, die hätte hier in dem Ladenja eigentlich auch nichts zu melden. Ja, auch Jesussei ohnmächtig seinen Feinden ausgeliefert, darumsei er selbst jetzt auch nicht Gott, sondern GottesSohn und Gott würde ihm das immer wieder neu zu-sagen. Jetzt strahlt Herr E. mich mit einer inneren tie-fen Genugtuung an und taucht nach kurzer Zeit wegin eine andere – in seine – Sphäre. Unser Kontakt istabgebrochen. Ich erreiche ihn nicht mehr. So steheich auf und verabschiede mich. Mehr mechanischund sehr abwesend reicht Herr E. mir die Hand. In den nächsten Tagen kommt es zu zweiBegegnungen zwischen uns. Herr E. ringt mit sich undseinen inneren Stimmen, die er hört. Er will von mirmehr über Jesus erfahren. Ich erzähle ihm von Jesusvon Nazareth, wie er den schwachen und ohnmäch-tig ausgegrenzten Menschen die Liebe Gottes vorge-lebt und gepredigt habe. Sehr inwendig und konzen-triert lauscht Herr E. mir zu und signalisiert seineZustimmung durch Kopfnicken. Ich habe den sicherenEindruck, dass ihm diese Nähe zu Jesus gut tut.

Nach 7 Tagen ändert sich der Zustand von Herrn E.Die pharmakolische Behandlung führt aus dem psy-chotischen Akuterleben heraus. Damit verändert sichauch sein religiöses Erleben, und ich habe den Ein-druck, für Herrn E. als Gesprächspartner nicht mehrinteressant zu sein.

Glaube und theologisches Reflektieren als eigeneHoffnungs- und LebensressourceMeine Arbeit als Pfarrer in der Psychiatrieseelsorge istnicht zuletzt Begegnung mit menschlichem Leid, mitZusammenbrüchen hoffnungsvoller Lebensperspektivenoder mit noch nie zustande gekommener Lebensqualität:

Ich denke an Frau D. (52 Jahre) und Herrn S. (28 Jahre), deren Leben sich seit vielen Jahren zu-meist in der Tristesse geschlossener und offenerStationen abspielt.Ich denke an Herrn St., der mit seinen 29 Lebensjahrenfast die Hälfte seines kurzen Lebens abwechselnd inder Kinder- und Jugendpsychiatrie, im Gefängnis undin der geschlossenen forensischen Psychiatrie ver-bracht hat und fast keine Erfahrungen eines so ge-nannten normalen Lebens in sich trägt.Ich denke an Herrn Z., dessen berufliches und privatesLeben völlig vom Alkohol zerstört ist und der als ehe-

Erfahrungen aus der Psychiatrie

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Behinderung & Pastoral / Themenschwerpunkt: Heilsame Seelsorge _ 11

maliger Leistungssportler und Erfolgsmensch physischund psychisch zerstört auf der Straße lebt.Ich denke an Herrn H., der als angehender, hoff-nungsvoller Wissenschaftler zu Beginn seiner Universi-tätskarriere durch seine schizophrene Erkrankung ausseiner Lebensbahn geworfen ist und z.Zt. wieder aufder geschlossenen Station mit Hilfe hoher pharmako-logischer Dosierung dumpf und stumpf seine Ver-zweiflung überbrückt. Vier Suizidversuche hat er in denletzten zwei Jahren überlebt.

Diese Beispiele verdeutlichen, wie sehr die Begegnungenin einer psychiatrischen Klinik die Fragen nach dem Sinndes Leidens, nach dem Bösen, nach Schuld und Zer-störung täglich herausfordern. Wie viel Angst und Not exi-stent und wie groß die Sehnsucht nach Heilung und Heilist.

Im Angesicht solchen Leids erlebe ich mich oft ohn-mächtig, hilflos und resigniert, aber auch in so genannterprofessioneller Abwehr, um erst gar keine Betroffenheit inmir aufkommen zu lassen. Die existentiell-christliche wieauch theologisch-anthropologische Auseinandersetzungmit diesen Grenzfragen menschlichen Lebens undZusammenlebens ist für mich eine Kraftquelle. Diese en-ge Berührung mit menschlichen Schicksalen lässt immerwieder neu fragen nach Sinn und Sein kreatürlicherExistenz.

Die Psychiatrie ist eingebettet in eine Gesellschaft,in der Krankheit und bleibende Behinderung nicht zuletztaus Kostengründen immer mehr unter Rechtfertigungs-druck gerät.

Die Gesundheitsdefinition der WHO „Gesundheit alsZustand vollständigen psychischen, physischen und so-zialen Wohlbefindens“ bestätigt de facto, wie hartnäckigunsere Gesellschaft die Realität kreatürlicher Gebrech-lichkeit abwehrt und einer illusorischen Gesundheitsvor-stellung hinterherrennt, koste es, wen und was es wolle.Was D. Hildebrandt mit Blick auf alte Menschen prägnantauf den Punkt bringt, lässt sich ohne weiteres auf psy-chisch kranke Menschen übertragen: „An und für sich istAltsein bei uns noch erlaubt. Nur man sieht‘s nicht gerne“.

Umso mehr muss der Seelsorger unverwechselbarseinen Glauben, das christliche Menschen- undGottesbild, ins Wort bringen, erneut und immer wieder of-fenbar und erfahrbar werden lassen.

– Niemand gibt sich selbst das Leben. Leben ist immer gegeben: Leben ist also immer Geschenk!

– Da Leben immer fragmenthaft, endlich, brüchigund vorläufig ist, zerstören ideale perfekteZielvorstellungen letztendlich Humanität: Lebenist immer Fragment!

H. E. Richter beschreibt in seinem Buch „DerGotteskomplex“ die radikale Verdrängung des Leidens inunserer narzisstischen Kultur „Die totale Auslöschung des

Leidens wurde zu einem vorrangigen gesellschaftlichenZiel als Kehrseite des Dranges nach narzisstischerOmnipotenz. Die absolute Selbstsicherheit als Rettungvor der verzweifelten Verlorenheit verlangt eine beständi-ge Abwehr der Brüchigkeit, der Versehrtheit, desSterbenmüssens“. [vgl. H. E. Richter, Der Gotteskomplex,Reinbek 1979, S. 129].

Gegen diesen Zeitgeist muss aus christlicher Sichtentschieden dagegen gehalten und aufgezeigt werden:Leiden, Endlichkeit und Gebrochenheit sind menschlicheWirklichkeit und Bestandteil des Lebens!

Anstelle eines Resümees die bewegende Feststellung einer ehemaligen Psychiatriepatientin:

„Fünfzehn Jahre durchlitt ich in unterschiedlichenAbständen manische und schwerste depressiveZustände. Versuche ich in der Erinnerung dem nach-zuspüren, was mich jahrelang bedrängte, so war esdas Gefühl, tief unten gefangen zu sein, gejagt undgetrieben von Pfeilen, die aus mir nicht entweichenkonnten, immer gegen mein tiefstes Inneres gerichtet.Jeder Mensch, der in die Nähe des Bettes kam, indem ich in dumpfen Ängsten verstrickt lag, jagte mirSchrecken ein, wenn er mir Medikamente brachteoder Unmögliches forderte, nämlich meine zuge-mauerte Seele aufzubrechen und aufzustehen. Wiesollte ich mich aufrichten können, wo mich Gefühleumfassender Schuld und qualvolle Gedanken bis insTiefe niederdrückten?Zwei Jahre gleichsam im Inferno, aufgegeben, in derPsychose gefangen mit dem Gefühl, das alle Schuldauf einen Gedanken verengte: „Ich bin der Teufel“. Dies war meine ganz persönliche Brücke zu der mirzuvor fremd gewordenen christlichen Religion. In die-ser Phase begegnete mir ein Mensch in ungewöhn-licher Weise, zwar tief betroffen aber nicht hilflos undbeschwichtigend. Er verstand es, meine Zeichen zudeuten, obwohl ich nicht mehr sprechen konnte. ImGebet! In der Annahme kam das Licht!“

* Der Autor ist Fachreferent der Arbeitsstelle der DeutschenBischofskonferenz, Köln

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12 _ Behinderung & Pastoral / Themenschwerpunkt: Heilsame Seelsorge

„Versprechen Sie mir bitte, dass Sie mich nicht vergessen...“Wenn die letzten Dinge ins Spiel kommen: Seelsorge mit Suchterkrankten alsLernort eschatologischer Pastoral

Simone Bell-D’ Avis*

Der Verlust sozialer Identität infolge schwererAbhängigkeitDie in der Überschrift zitierte Bitte äußerte ein fünfzig-jähriger Mann, Patient in der Suchtabteilung einer psy-chiatrischen Klinik, am Ende eines Gespräches. Herr M. istmedikamentenabhängig und Messie. Seine Wohnung warin einem so verwahrlosten Zustand, dass sie aufgelöstwerden musste. Neben der schweren Abhängigkeits-erkrankung weist Herr M. weitere schwere psychischeSymptome auf. Mit dieser Doppeldiagnose ist er seitMonaten auf derselben Station einer psychiatrischenKlinik. Man versucht, Herrn M. so lange in der Klinik zu hal-ten, bis sich eine Möglichkeit soziotherapeutischerUnterbringung für ihn auftut. Genau diese fürchtet er. DerVerlust seiner eigenen Wohnung wiegt für ihn schwer. Ermöchte nicht „untergebracht“ werden, sondern einZuhause. Dass in der Erinnerung seine Wohnung, in derer zunehmend verelendete, so ein Zuhause gewesen seinsoll, ist eher als Ausdruck der Sehnsucht nach einem solchen, denn als realistische Einschätzung zu verstehen.Aber die eigene Wohnung barg alles: die Erinnerungenund ihre Vergegenständlichungen: Fotos, Studien-unterlagen, Briefe – alles wurde im Müllcontainer ent-sorgt.

Der Zusammenhang zwischen der Bedeutung derHaut und einem ZuhauseSo wie der bergende Schutz der Wohnung nicht mehr ge-geben ist, so ist auch der bergende Schutz seiner Haut ge-fährdet: Sein ganzer Körper ist von einer aggressivenSchuppenflechte gezeichnet. Der Zusammenhang zwi-schen der Bedeutung der Haut und der eines Zuhauses wirddeutlich, wenn man sich einen Gedanken desPsychoanalytikers Didier Anzieu vergegenwärtigt (vgl. D. Anzieu, Das Haut-Ich, Frankfurt/ M. 1998). Er begreift daspsychische Subjekt als so genanntes Haut-Ich. So wie dieHaut den Körper schützt und die Lebensspuren in ihn ein-schreibt, so ist auch das Haut-Ich danach bestrebt, dasSelbst zu umhüllen, es zu organisieren und es zu einer un-verwechselbaren Person zu machen – kurz: es zu integrie-ren. Dieses Haut-Ich ist wie eine Hülle bzw. eine wärmen-de Decke des Selbst. Es birgt das Selbst, beschützt und in-dividuiert es wie auch eine Wohnung dies täte. Fehlt diesepsychische Haut oder ist sie durchlöchert, empfindet sichder Betroffene, so wie Herr M., unbehaust und ungeborgen.

Wer garantiert bleibende Erinnerung?Mit Herrn M. habe ich mich in den Monaten seinesAufenthaltes regelmäßig getroffen. Herr M. redet nichtviel, trotzdem ist eine Beziehung gewachsen, in der einRaum für Klagen und Bitten entstanden ist. Als die vonihm so empfundene und bezeichnete „Unterbringung“ ineinem Wohnheim naht, geht er mehr als sonst aus sichheraus und sagt am Ende des Gespräches: „VersprechenSie mir bitte, dass Sie mich nicht vergessen...!“

Diese Bitte war anders als diejenigen, die dieInteraktion von Menschen für gewöhnlich prägt. Sie wiesim Grunde über uns hinaus. Es war die Bitte darum, blei-ben zu dürfen. In Bruchteilen von Sekunden spürte ich,dass es eine Bitte war, die uns verbindet, eine Bitte, in derunsere menschliche Endlichkeit und Vergänglichkeit auf-leuchtet; es ist die Bitte darum, dass unsere Erfahrungenund unser Schmerz nicht umsonst, eben nicht einfach nureine sinnlose Laune des Schicksals gewesen sind. Wir ver-abschiedeten uns mit einer Umarmung und ich versprachihm, worum er gebeten hat. Gleichzeitig wusste ich, dassich es nur versprechen konnte, weil ich diese Bitte Gottselbst in die Hände legen kann. Er wird am Ende unsereNamen und unsere Geschichte kennen. Jede Faser davon.Sonst könnten wir ihn nämlich vergessen. Aber was wäredas für ein Gott, der sich erst und nur am Ende erweisenwürde und was wäre pastorale Arbeit bis dahin?

Der theologische Zusammenhang von Gegenwart undVollendungOttmar Fuchs hat in einem Beitrag herausgearbeitet, in-wieweit die Pastoral selbst eschatologisch zu qualifizierenist und dass die Eschata „nicht einfach an das Ende derGeschichte angeklebt sind“ [vgl. O. Fuchs, Neue Wege ei-ner eschatologischer Pastoral, in: Theol. Quartalschrift179/1999, 260 - 288, bes. 264], sondern dass ein ele-mentarer Zusammenhang zwischen der je aktuellenGegenwart und der erwarteten Vollendung besteht.Beispielhaft verweist er auf die so genannte KleineApokalypse in Mt 25, 35 - 45, innerhalb welcher das rich-terliche Handeln des kommenden Christus über seine ei-gene Person mit dem Handeln der Menschen inVerbindung gebracht wird. „Ich war krank und ihr habtmich besucht“ (Mt 25, 36) lautet die Beschreibung desBegegnungszusammenhangs, der auch das Kriterium sei-ner zukünftigen Begegnung mit den Menschen sein wird.

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Behinderung & Pastoral / Themenschwerpunkt: Heilsame Seelsorge _ 13

Und erneut mag eine Gesprächssituation mit Herrn M. dieDringlichkeit genau dieser elementaren Verbindung zwi-schen Gegenwart und Zukunft auf den Punkt bringen.Herr M. wurde in den Monaten seines Klinikaufenthaltesvon nur einem Menschen besucht. Seine Schwester kamalle vierzehn Tage sonntags für etwa eine Stunde. DieSchwester ist in einer evangelikalen Gemeinschaft aktiv.Irgendwann eröffnete sie Herrn M., dass sie keine Zeitmehr habe, ihn zu besuchen, aber dass sie für ihn betenwerde. Herr M. schilderte mir dies mit großer Traurigkeit.Er machte eine lange Schweigepause, dann sagte er vomGrunde seines Herzens her, leise, aber bestimmt: „Ich willnicht, dass sie für mich betet – ich will, dass sie mich be-suchen kommt!“

Der Zusammenhang von Orthodoxie und OrthopraxieIn diesem Satz ist alles enthalten, was die Theologie zumZusammenhang von Orthodoxie (Gottesdienst) undOrthopraxie (Dienst am Nächsten) sagen kann. In denReflexionen Ottmar Fuchs haben genau solcheSituationen, wie Herr M. sie erleiden musste, einenZeitindex: Das Ende der Zeit und das Gericht Gottes sind

in ihnen schon enthalten – wenn auch noch nicht vollen-det. Und dieses Ende, auch das Gericht und auch das Heilwerden nicht ohne die Erinnerung an diese Situationen zuhaben sein. Es wäre vielmehr auf jede Art von Himmel zuverzichten, „der durch Amnestie und Amnesie erkauft ist.“[a.a.O., 280]

Diesen Zeitindex, der die letzten Dinge zu den ak-tuellen macht und im Hier und Jetzt die Signaturen dergöttlichen Wirklichkeit erkennbar macht, gilt es, auch inder Seelsorge und Pastoral bewusst zu machen und be-wusst zu halten. Es ist der Zeitindex unter dem das seel-sorgliche Handeln und die Kirche selbst stehen. Geradedort, wo die Seelsorge mit Menschen zu tun hat, die wieviele Schwerstabhängige aus dem sozialen Gedächtnis ih-rer Umgebung längst herausgefallen sind, und die an ei-ner Krankheit leiden, bei der der soziale und der physischeTod permanent lauern, kann sie Erfahrungen dessen ma-chen, „was am Ende mit Gott auf uns zukommt.“

* Die Autorin ist Diplom Theologin und Diözesanreferentin fürdie Seelsorge mit Suchterkranken im Erzbistum Köln

Aus dem Ausstellungsprojekt: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, Köln

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Zurück in die kindliche BedürftigkeitErfahrungen und seelsorgerliche Einsichten im Umgang mit psychiatrisch ver-änderten, alten Menschen

Diakon Johannes Schmitz*

Nicht medizinisch-diagnostische Erkenntnisse zur Lebens-situation geronto-psychiatrisch veränderter Menschen sol-len hier dargelegt werden, sondern die persönlichenErfahrungen und Einsichten eines Psychiatrieseelsorgersim Erleben und Umgang mit diesem Personenkreis.Sicherlich werden manche Fachleute aus der Geriatrieund Gerontopsychiatrie die hier aufgezeigten Überlegun-gen und persönliche Schlussfolgerungen in dem ein oderanderen Punkt anders bewerten und erklären wollen odergar gegensätzlich beurteilen, vielleicht aber auch bestäti-gen und aus fachlicher Sicht weiterführend vertiefen.

Der Mensch – geboren um zu sterbenIn der christlichen Sorge um den Nächsten ist es wesent-lich, dass der Mensch – hier der alte, psychiatrisch verän-derte Mensch –, so wie er ist, im Vordergrund und im

Mittelpunkt steht, als eigenständige und lebensgeschicht-lich geprägte Person. Wenn ich mir den einen oder ande-ren Patienten aus der geronto-psychiatrischen Fach-abteilung in der Klinik vor Augen führe, also ihn in seinemJetztzustand, seiner Lebensgeschichte, dem Verkauf sei-ner Erkrankung betrachte, so kommt es mir oft vor, alsnähme dieser Mensch in seinem Menschsein immer mehrab, ja, er wird weniger – im Sinne seiner Person, er wirdabhängiger – im Sinne seiner körperlichen Bedürftigkeit.Er wird moribund, sterbend und es geht schrittweise,meist unerträglich langsam, aber dennoch zielsicher demEnde entgegen, begleitet von Veränderungen seinerPersönlichkeit und seines Wesens. Die zunehmendeVerwirrtheit und Aggressivität, ein oft nicht enden wollen-des Schreien, Verkennungen, etc. begleiten diesenProzess des Wenigerwerdens. Dies ist nicht selten für das

(Foto: Anna Rosa Bonato)

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Behinderung & Pastoral / Themenschwerpunkt: Heilsame Seelsorge _ 15

Klinikpersonal, die Mitarbeiter, Betreuer und Seelsorgerunverständlich, schwer nachvollziehbar, besorgniserre-gend bis hin auch beängstigend und belasten diese aufsÄußerste. Unabhängig davon, welche Ursachen sich fürdiesen Prozess des Wenigerwerdens medizinisch diagnos-tizieren lassen, ob Demenz, Alzheimer, Senilität,„Verkalkung“, etc., es handelt sich aus meiner Sicht in derSymptomatik um den Prozess des Abnehmens, desDegenerierens, des Wenigerwerdens, letztlich desSterbens.

Psychiatrisch verändertes Altsein – wie ein Kleinkindwieder bedürftig werdenDen umgekehrten Prozess im Leben oder den Prozessdes Werdens kennen wir besser. Wir kennen dieEntwicklung vom körperlich abhängigen Kleinkind, übersein Reiferwerden, sein Kindwerden, wir kennen dasLaufenlernen, bis hin zum pubertären Verhalten alsJugendlicher mit dem vermeintlichen Abschluss derReifung als dann endlich Erwachsener.

Nicht selten erscheint mir der Prozess desWenigerwerdens beim alten, psychiatrisch verändertenMenschen wie eine Umkehrung des Lebensweges wiederhin zur Bedürftigkeit und Verfasstheit eines Kleinkindes.Wenn ich mir etwa die körperlichen Veränderungen die-ses Wenigerwerdens betrachte, dann zeigen sich ähnlicheMerkmale wie in der Entwicklungsphase beim Kleinkind.Entsprechende Symptome lassen sich beim altenMenschen in diesem Wenigerwerden auch hinsichtlichseiner geistigen Veränderungen festmachen.

Stellen wir vor, unsere Gedächtnisleistung lässt zu-nehmend nach, d.h. wir können uns nicht mehr an das,was eben war erinnern, dann ist es nachvollziehbar, dassin der Erinnerungslosigkeit und Orientierungslosigkeit, wasdas Kurzzeitgedächtnis betrifft, sich Ängste entwickeln,die auch ständig größer und mehr werden. So ist es fürmich vorstellbar, dass ein offensichtlich verwirrter Menschnach Hause will, also dorthin, wo er aufgrund seinesLangzeitgedächtnisses sich einmal sicher und geborgengefühlt hat, wo immer dies auch war. Er kann ja nicht er-kennen, sich erinnern und in Gänze erfassen, wo er sichim Jetzt, Hier und Heute befindet. Denn er erfährt sichselbst aktuell in der vergangenen Lebensphase und damitund existentiell real. Alles ist jetzt daher fremd, bedrohlich,alles erscheint böse und hinterhältig. Es gibt für diesenMenschen keinen sicheren Mechanismus, der im Sinnevon Erinnern seinen Ist-Zustand und das Verhalten von an-deren zuordnen und überprüfen kann. Und die Angststeigt umso mehr, je vehementer und eindringlicher dieanderen, die er nicht kennt, auf ihn einwirken wollen undes doch so gut mit ihm meinen, die, die in die andereRichtung gehen. Und auch das Schreien, oft nur einAusdruck nach Zuwendung und Geborgenheit, kann nicht

aufhören, da es ja nicht erinnerbar ist, dass eben noch je-mand neben ihm gesessen hat und ihm die Hand gehal-ten hat. Es ist nicht erlebbar, dass hier über denAugenblick hinaus etwas bleibt. Und so sind dann dieAggressionen und bedrohlichen Wutausbrüche erklärbar,weil er sich ja seiner Haut wehren muss, wenn alles, weiles nicht mehr zuzuordnen ist, als bedrohlich und angst-einflößend erlebt werden muss. Und auf der körperlichenSeite werden dann diese Rückentwicklungsprozesse unü-bersehbar und eindruckvoll. Er kann nicht mehr so gut lau-fen, er kann seinen Körper in seinen Ausscheidungs-fähigkeiten nicht mehr kontrollieren, er muss gefahren,getragen, geschoben und gewickelt werden, auch dieNahrungsaufnahme reduziert sich bis auf Flüssiges hin,selbst sprachlich reagiert er immer unverständlicher undhört dann auf einmal ganz auf, sich mitteilen zu können.Und es bleibt nur noch das momenthafte Wahrnehmenvon Zuwendung und liebevoller Begegnung durchBerühren, Streicheln, „in den Arm genommen zu werden“.

Chance und Herausforderung einer heilsamen seel-sorgerlichen Begleitung In diesem Prozess des körperlichen und geistigenWenigerwerdens beim psychiatrisch veränderten, altenMenschen ist unsere Kirche, sind wir Christen angesichtsder Glaubens- und Gedächtnispraxis der Leiden, desSterbens und Auferstehens Jesu Christi gefordert und inden Diensten der leiblichen und geistlichen Werke derMenschenfreundlichkeit herausgefordert.

Für die betreffenden Menschen ist die Kirche oft eine entscheidende Komponente in ihrer Lebensgestaltunggewesen. Hier kann seelsorgerliches Handeln zu einemheilsamen Faktor werden: Der altersbedingt verwirrte er-krankte Mensch erlebt in seinem WenigerwerdenOrientierungslosigkeit, Unsicherheit und Angst.

Es gilt nichts mehr, was Jetzt ist, das jetzt ist bedroh-lich und beängstigend, es gilt im Höchstfalle noch das,was war, was zur Geschichte, seiner Jugend und Kindheitdazugehörte, also das, was dem Erinnerungsvermögennoch geblieben ist. Und da ist es dann oft erstaunlich, anwas sich der Betreffende noch alles erinnert: Lieder,Ereignisse der Kindertage, Orte seiner Jugend, an Mutterund Vater, und dann eben auch an Kirche, an rituelleHandlungen, Gebete, Formen des Miteinanders, bis hinzur perfekten Formulierung von Psalmen, Konfirmations-sprüchen, Gedichten und anderen Erlebnissen, die ebendamals für ihn wichtig waren.

Zu den Erinnerungen gehört dann häufig, dass deralte Mensch z.B. nicht nur mittags, sondern morgens beimAufstehen und abends vor dem Zu-Bett-Gehen gebetet hat,für sich und auch für andere. Viele von ihnen haben er-lebt, dass Glaube auch im privaten, persönlichen Bereichstattfinden konnte. Ich erinnere mich noch selbst sehr gut

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an die häuslichen Maiandachten mit meiner Großmutteraus dem katholischen Sauerland. Und darüber hinaus istz.B. bei mir das „Zu-Bett-Gehen“ immer von religiös ritu-ellen Handlungen begleitet gewesen, wir Kinder wurdenin der damaligen Zeit nicht einfach ins Bett geschickt, wirwurden gebracht, mit Weihwasser gesegnet und es wur-de gemeinsam gebetet. Und ebenso erinnere ich mich andas gemeinsame Rosenkranzgebet bei Unwetter undSturm, und sei es mitten in der Nacht.

Nun könnte man unter Bezug auf diese Erinnerungen sicherlich vieles aufzählen, was unter dieBegriffe rituelle Handlungen, gottesdienstlicher Vollzug, re-

ligiöse Tradition etc. fallen könnte. Sich hierbei mit denBetroffenen – so wie es noch geht – gemeinsam auf dieSuche zu machen, dies führt zu vielen interessantenEntdeckungen. Wenn es nun bei diesen Erkrankungenhilfreich ist, dem Betroffenen den Raum von Sicherheitund Geborgenheit, von „Sich-zu-Hause-Fühlen“ etc. eini-germaßen anzubieten, um ihn auch nur ein wenig aus derAngst und Bedrohung seiner Erinnerungslosigkeit heraus-lösen zu können, dann ist es unerlässlich, dass hier – un-abhängig von der Möglichkeit des innerlichen Vollzugbeim Betroffenen neben vielen anderen – auch diese er-lernte und erlebte Form des Lebens, also der religiöse

(Foto: Anna Rosa Bonato)

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rituelle Vollzug des Glaubens aus den Kindheitstagen,wieder rückwärts zu erinnern und damit aufleben zu las-sen. Es geht in der Seelsorge mit diesem Personenkreisdarum, Formen des religiösen Alltags unter Bezug auf sei-ne von Traditionen bestimmte Geschichte anzubieten unddiese mit ihm zu vollziehen.

Dabei ist die eigene kirchliche Geschichte, also un-sere eigene religiöse Sozialisation als Seelsorger, nur be-dingt ausschlaggebend und hat um des Menschen Willen ein wenig zurückzustehen. Bezogen auf den thera-peutischen Aspekt im Sinne von heilvermittelndem undletztlich damit heilendem Umgang kann festgehalten wer-den, dass über die Aktivierung der Erinnerung an Formenreligiösen Handelns der betroffene erkrankte Mensch sichan Kindheitstage und Kindheitsstadien erinnert weiß unddamit dieses für ihn einen bekannten Raum für denMoment darstellt, in dem er – so wie er jetzt ist – Sicherheitund Vertrautheit rückwärts spüren kann.

Aus dieser Sicherheit durch die Vergegenwärtigungder Erinnerung kann eine neue Beziehungsdimension er-wachsen, die die bekannten Ängste und Bedrohungen(wenn auch nur momenthaft) ebenfalls abbaut. Ja es isttatsächlich so – (so meine Erfahrungen) – dass Menschenüber diese Formen der Begegnung für sich selbst, wieauch im Miteinander sich und anderen Betroffenen einenRaum öffnen, der die Chance bietet, sich sogar im „Jetzt“zu begegnen. Ich denke da an viele Gottesdienste auf denStationen, wo in kleinem Kreis ganz unvermutet Stille umsich greift, Mitpatienten einander auffordern, doch einmalruhig zu werden, klare Äußerungen von Menschen, denenman solches rein sprachliches Vermögen völlig abgespro-chen hat: „Nun sei doch mal still, wir sind hier in derKirche.“

Betrachtet man nun die rein religiöse Dimension ei-ner solchen Heilswirklichkeit, so ist theologisch festzuhal-ten, dass in diesen Begegnungsformen eben nicht nurmedialtherapeutischer Raum entsteht, sondern sich heil-same Begegnung durch Gottglauben vollzieht. Der Wertdieser Begegnung ist in sich letztlich unbestritten. (Ich binwirklich davon überzeugt, dass auch unabhängig vonden vermeintlichen geistigen Fähigkeiten des Einzelnensich Gnade für alle, ein von Gott aus zugeneigt Sein sichvollzieht. Voraussetzung für all dies ist jedoch, theologischund damit menschlich betrachtet, dass wir den Menschentrotz seines jetzigen Soseins nicht ausschließlich über sei-ne geistigen Fähigkeiten definieren, sondern ihn in sei-nem Menschsein schlechthin annehmen, so wie er jetztgerade ist).

Und dies kann sich dann ganz einfach praktisch voll-ziehen: Das gemeinsame Morgengebet im Vierbett-zimmer nach dem Waschen, vor dem Frühstück. DasAnzünden einer Kerze, begleitet von einem Lied oder ei-nem Gedicht vor dem im gemeinsamen Wohnzimmer er-

richteten Marienaltar. Die Nutzung bzw. die Bereitstellungvon Weihwasser für die Form der Verabschiedung nachdem Zubettgehen. Der Hinweis auf den Sonntag durchkleinste, gemeinsame gottesdienstliche Begegnungen ineinem dafür hergerichteten und Atmosphäre ausstrahlen-den kleinen Nebenraum. Die Umstrukturierung von ge-meinsamen Gottesdiensten auf bekannte und vielleichtauch traditionell klingende Formen und Lieder aus derErinnerung und Geschichte der einzelnen Patienten, dieHandauflegung, das kleine Kreuzzeichen auf der Stirnbeim Verabschieden und Hinausgehen und vieles mehr.Dies klingt vielleicht in dem ein oder anderen Ohr nacheiner Rückkehr zu alten Traditionen und auch zu traditio-nellem Gedankengut, doch eigentlich ist es umgekehrt. In-dem wir der Tradition und der Geschichte des einzelnenMenschen rückwärts ihren Raum lassen, ihn als Sicherheitvermittelnden Ort betrachten und uns dann momenthaftin ihm bewegen, ermöglichen wir ihm einen Zugang zusich selbst, der der Bedrohung, der Angst, derUnsicherheit entgegensteht. Und genau damit eröffnenwir für uns beide die Chance einer heilbringendenBegegnung, die das Hier und Jetzt von beiden Seiten auserträglicher werden lässt.

Im Mitvollzug von lebensgeschichtlichen Lebens-umständen, im Anknüpfen an die Geschichte und diedortigen Erfahrungen des Betroffenen werden wir seinemJetzt-Zustand der Endlichkeit wieder gerecht und erken-nen ihn als Menschen an. So ist Seelsorge unabhängigvom tatsächlichen Gesundheitszustand des Einzelnenund seinen geistigen Fähigkeiten genau der Moment, wodas christliche Motto tatsächlich greift: Wir müssen denMenschen dort abholen, wo er steht, also den Weg, dener zu gehen hat, mit ihm gehen, und sei es eben auchrückwärts.

* Der Autor ist Fachreferent der Arbeitsstelle der DeutschenBischofskonferenz, Köln

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Die Stadtverwaltungen von København und Frederiks-berg wollen 10 Geburten von Mongoloiden pro Jahrvermeiden und so mehr als 100 Millionen Kroneneinsparenvon Karin Dahl Hansen, übersetzt von Thomas Lotz

Allen Schwangeren in der Hauptstadtregion soll dem-nächst eine Risikoabschätzung in Form eines genetischenScannings angeboten werden, die sie über dieWahrscheinlichkeit informieren soll, dass sie ein Kindmit Down-Syndrom, auch Mongoloismus genannt, er-warten. Das beschlossen diese Woche die Politiker in der Krankenhausgesellschaft der Hauptstadtregion(Hovedstadens Sygehusfællesskab, HS), und in denSitzungsunterlagen wurde das Motiv nicht verheimlicht:Es geht darum, Geld zu sparen.

Pro Jahr werden in der Hauptstadtregion 12 mon-goloide Kinder geboren, und die Direktion der HS er-wartet, dass man mit Hilfe des Scannings 10 von ihnenvorher erkennen kann, die als Folge dieser Diagnose ab-getrieben werden sollen. Diese 10 kosten die Gesellschaftbisher 2 Millionen Kronen pro Jahr, und da mongoloideMenschen im Durchschnitt 55 Jahre alt werden, wird dieErsparnis für die Allgemeinheit weit über 100 MillionenKronen betragen, heißt es in der von der Direktion aus-gearbeiteten Beschlussvorlage.

»Ich bin nicht begeistert, dass das so formuliert ist,aber es ist die Pflicht der Direktion, uns Politikern dieökonomischen Konsequenzen vor Augen zu führen. Ichtrete aber persönlich für das Scanning ein, weil ich denFrauen gerne die freie Wahl anbieten möchte. Und ich ha-be mit vielen jüngeren Frauen darüber gesprochen, undsie wollen die Risikoabschätzung, also warum gibt manihnen nicht diese Möglichkeit«, fragt Margit Ørsted(Konservative), stellvertretende Vorsitzende der HS.

Keine gesonderte BeratungErst vor einer Woche präsentierte die Gesundheits-verwaltung (Sundhedsstyrelse) ein Gutachten, das dieRisikoabschätzung in Form eines Scannings für alleSchwangeren empfiehlt. Dennoch ist Professor emeritusJørgen Falck Larsen, Mitglied der Arbeitsgruppe, überdiese Entwicklung stark beunruhigt: »Die Einführung ei-nes generellen Scanning-Angebots geht mir zu schnell. In

der Regelung, die nun in der Hauptstadtregion eingeführtwerden soll, sind keine Mittel für ausreichendeInformation vorgesehen, die den Frauen eine verantwort-liche Entscheidung ermöglichen würde. Wenn man sichdenjenigen Teil der Ausgaben sparen möchte, der mitBeratung zu tun hat, ist das im Vergleich zur Empfehlungder Gesundheitsverwaltung eine verhängnisvolle Ver-schlechterung«, sagt Jørgen Falck Larsen.

Der Vorsitzende der HS, Lars Engberg (Sozial-demokraten), bestätigt, dass keine Mittel für eine geson-derte Beratung der Frauen beim praktizierenden Arzt vor-gesehen sind. „Die Frauen kommen ja ohnehin imZusammenhang mit der Schwangerschaft zum praktizie-renden Arzt, und ich kann mir nicht vorstellen, dass dieInformation über die Risikoabschätzung extra Zeitbenötigt, so dass das nichts extra kosten muss“, meintLars Engberg.

Angehörige vermissen ethische Debatte Beim »Verein Down Syndrom« (LandsforeningenDowns Syndrom) ist man entsetzt darüber, dass dieRegionen nun beginnen, die Risikoabschätzung einzu-führen, ohne dass im Parlament (Folketinget) eine ethi-sche Debatte stattgefunden hat.

»Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Politikerin der Hauptstadtregion das tun, um an Kindern mitDown-Syndrom zu sparen, doch gleichzeitig sagen sie,dass sie nur den Frauen geben wollen, wonach sie ver-langen. Es wird aber ein Billigmodell eingeführt, bei demkeine Beratung durch den niedergelassenen Arzt stattfin-det, und gleichzeitig verschwindet die ganze ethischeDebatte. Die Berechnungen, wie viele Embryos mitDown-Syndrom man dabei finden wird, gehen ja davonaus, dass alle dieses Angebot annehmen – also ist es nichtwirklich freiwillig, sondern es soll zur Norm gemachtwerden«, sagt Dorte Kellerman, stellvertretendeVorsitzende der Vereinigung. Auch im Krankenhaus von Skejby ist die Risiko-abschätzung bereits eingeführt, und Lars Engberg pro-phezeit, dass Frauen aus dem übrigen Seeland von derfreien Krankenhauswahl so Gebrauch machen werden,dass sie im Reichshospital (Rigshospitalet) ein Scanningauf Mongoloismus erhalten.

18 _ Behinderung & Pastoral / Aus Kirche, Kultur, Politik und Wissenschaft

Hauptstadtregion will sich Mongoloide sparen

AUS KIRCHE, KULTUR, POLITIK, UND WISSENSCHAFT

Kristeligt Dagblad, Dänemark (Kopenhagen), 28.3.03

E-Mail der Autorin: [email protected], Übersetzung ins Deutsche: Thomas Lotz, Planegg URL der deutschen Übersetzung: www.kritischebioethik.de/Kristeligt_Dagblad_Mongoloidenscanning-28-03-03.htmlOriginalartikel: http://www.kristeligt-dagblad.dk/artikel:aid= 40155

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Wohin es führen kann, wenn Menschen mit Behinderung alsbloßer Kostenfaktor angesehen werden

Regine Gabriel / Uta George*

„Die Frage, ob der (...) von Ballastexistenzen notwendigeAufwand nach allen Richtungen hin gerechtfertigt sei, warin den verflossenen Zeiten des Wohlstands nicht drin-gend; jetzt ist es anders geworden, und wir müssen unsernstlich mit ihr beschäftigen.“

Fällt Ihnen an diesen Zitaten etwas auf? Zunächst si-cher Formales: Die Quellenangabe fehlt (noch).Außerdem wird der Begriff „Mongoloismus“ heute nichtmehr gebraucht. Sonst noch etwas? Die Parallelen derArgumentation, vielleicht? Richtig! Jetzt werden wir Sie ausder Ungewissheit befreien. Das erste Zitat stammt ausdem „ Kristeligt Dagblad“, Dänemark (Kopenhagen), vom28.3.2003; das zweite aus: Karl Binding/Alfred Hoche: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. IhrMaß und ihre Form, 2. Aufl. Leipzig 1922, S. 54 f.

Mit diesen beiden Zitaten soll nicht behauptet wer-den, dass es zwischen ihnen keine inhaltlichen Unter-schiede gibt. Aber der Vergleich und eine damit verbun-dene sorgfältige Analyse liegen auf der Hand. Daherscheint es notwendig einen Rückblick in die Geschichtevorzunehmen, bevor wir über aktuelle ethische Frage-stellungen nachdenken.

Karl Binding (1841-1920) und Alfred Hoche (1865 -1943) gehörten der Gruppe der Rassenhygieniker an, diedurch die oben genannte Schrift von 1920 den Einflussdieser Theoretiker erheblich vergrößerten. Sie fordertenerstmals die Tötung von Kranken und Behinderten, die sieals minderwertig befanden. Binding und Hoche sprachenvon „leeren Menschenhülsen“, „Ballastexistenzen“ und„lebensunwertem Leben“. Die Kostenersparnis durchTötung war eines ihrer wesentlichsten Argumente.

Zum Ende der Weimarer Republik gewannen aufGrund der Weltwirtschaftskrise und der damit verbunde-nen finanziellen Probleme der Wohlfahrtsorganisationenund der Sozialfürsorge rassenhygienische Überlegungenan Popularität. Und diese waren die Grundlage der natio-nalsozialistischen Rassenpolitik. Es sei noch angemerkt,dass rassenhygienische Ansätze nicht auf das DeutscheReich beschränkt waren, sondern auch in vielen anderenLändern Anhänger fanden. Ebenso waren diese Ansätzenicht einer bestimmten politischen Richtung zuzuschrei-ben, sondern verliefen quer durch alle Parteien. Die imNationalsozialismus praktizierte (ausmerzende) Um-setzung dieser Theorie hingegen fand kein Pendant in an-deren Ländern oder bei anderen politischen Richtungen.

Unter den Nationalsozialisten wurden Eugenik undRassenhygiene erstmals zur Staatsdoktrin. Diese gipfeltein dem ab 1940 einsetzenden „Euthanasie“-Programm, al-so der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, wie es vonBinding und Hoche 1920 angedacht worden war.

In den Jahren 1940 und 1941 wurden in sechs dafüreingerichteten Tötungsanstalten im Deutschen Reichmehr als 70.000 geistig behinderte oder psychisch kran-ke Menschen mit Kohlenmonoxid-Gas ermordet. Eine die-ser Tötungsanstalten war die ehemalige LandesheilanstaltHadamar bei Limburg. In der Zeit von Januar bis August1941 wurden in Hadamar allein mehr als 10.000 Menschenvergast und verbrannt. Darunter befanden sich circa 45 Kinder im Alter von einem bis zehn Jahren, die unteranderem an Down-Syndrom („Mongoloismus“), Epilepsieoder spastischer Lähmung litten.

Sie wurden im nationalsozialistischen Denken zu„Ballastexistenzen“ und bedrohten den „gesundenVolkskörper“. Nach dem offiziellen Ende der Gasmord-phase im August 1941 wurde im Juni 1942 die so ge-nannte zweite Phase der „Euthanasie“ eingeleitet. In derZeit von 1942 bis zum Kriegsende 1945 wurden nochmalscirca 5.000 Menschen ermordet. Diese Morde fandendurch überdosierte Beruhigungsmedikamente und Mangel-ernährung statt.

Beispielhaft für Tausende von Opfern der NS-„Euthanasie“-Verbrechen sei hier nur eine Biografie vor-gestellt:Christa wurde am 9. Mai 1935 in F. geboren. Sie litt amDown-Syndrom (Mongoloismus) und kam schon früh indas Kinderheim Häusergasse. Ihre Mutter war 1938 ge-storben. Christa wird als freundliches Kind beschrieben.Sie musste zweimal ins Krankenhaus wegen einerBronchitis. Der Vater war immer besorgt um seine Tochter.Am 15. Januar 1940 wurde sie nach Scheuern verlegt. Vondort kam sie am 18. Februar 1943 in die TötungsanstaltHadamar, wo sie am 22. Februar 1943 ermordet wurde.

Diese Lebensdaten führen zur eingangs zitiertenÜberschrift des Kristeligte Dagblads und den Fragen, de-nen wir uns heute stellen müssen, wenn wiederMenschen mit Behinderungen zu einem reinen kosten-verursachenden gesellschaftlichen Faktor degradiert wer-den.

In Zeiten wirtschaftlicher Knappheit, wie wir sie der-zeit erleben, wird erfahrungsgemäß immer zuerst im so-

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zialen Bereich gekürzt. Plötzlich erscheinen Dinge, die vie-le Jahre vorher absolut üblich schienen, als eine unnötigeAusgabe. Soziale Randgruppen werden wiederholt alsbloßer Kostenfaktor dargestellt, Arbeitslose gelten man-chen als Faulenzer und Sozialhilfeempfänger als Parasiten.

Ähnlich der Diskussion in den 20er Jahren des letz-ten Jahrhunderts wird der „Wert“ eines Menschen von sei-ner produktiven Kraft abhängig gemacht: Wer arbeitet, istmehr wert als derjenige, der auf Hilfe und Unterstützungangewiesen ist. Unsere Gesellschaft hat sich unsererMeinung nach in den letzten Jahren sehr stark verändert.Gesellschaftliche Werte wie Solidarität gelten als antiquiert

und werden fast belächelt. Fast unmerklich hat sich einKosten-Nutzen-Denken breit gemacht, das scheinbar un-glaublich schlüssig ist. Wenn heute die Frage „Was bringtmir das?“ von vielen als zentrale Wertkategorie herange-zogen wird, dann kommen wir schnell an den Punkt, dasssoziale Arbeit bzw. ein soziales Gewissen im monetärenSinn natürlich nichts bringt.

Ein dominantes Kosten-Nutzen-Denken führt un-weigerlich dazu, Menschen, die ökonomisch nicht richtig„funktionieren“, als Ballast zu empfinden. Nicht von un-gefähr wird die Pränataldiagnostik sehr gefördert, sowohlim Bereich der Forschung als auch konkret im Kontakt mit

schwangeren Frauen. Die Einschätzung, dassein Kind mit Behinderung in erster Linie eineBelastung ist und möglichst gar nicht erst ge-boren werden sollte, ist weit verbreitet, wie derArtikel aus dem Kristeligt Dagblad deutlichmacht. Erstaunlich an dem KopenhagenerVorhaben ist, mit welcher Tabulosigkeit es for-muliert wird. Scheinbar gehen die Politiker derKrankenhausgesellschaft, die diesen Vorschlagbeschlossen, davon aus, dass die dänischeGesellschaft diese Vorstellung größtenteils teilt.

In Deutschland sind die Diskussionen inder Regel vorsichtiger, da die NS-Vergangenheitsensibilisiert hat. Gerade im Bereich derPränataldiagnostik ist allerdings auch hierzulan-de eine große Akzeptanz zu verzeichnen, dienicht kritisch hinterfragt wird.

Auch wenn wir nicht davon ausgehen,dass sich die NS-„Euthanasie“-Verbrechen wie-derholen könnten, so empfinden wir doch dieParallelen in den Argumentationsmustern alserschreckend. Die Tatsache, dass der „medizi-nische Fortschritt“ die Zeugung bzw. Geburtvon Menschen mit Behinderungen verhindernkann, ist mit den NS-„Euthanasie“-Verbrechennicht vergleichbar, befreit uns aber nicht vonder Gewissensfrage, ob die Beweggründe nichtähnlich radikal sind, wie die von Binding undHoche formulierten.

* Die Autorinnen sind Mitarbeiterinnen derGedenkstätte Hadamar.Die Gedenkstätte Hadamar bietet Führungen undStudientage nach vorheriger Terminabsprache an.Öffnungszeiten sind. Dienstag bis Donnerstag 9-16h; Fr. 9 -13 h; jeden ersten Sonntag im Monat 11 -16h. Gedenkstätte Hadamar, Mönchberg 8, 65589Hadamar, Tel. 06433/917172

Volk und Rasse, Illustrierte Monatsschrift für deutsches Volkstum, 10. Jg.(1936)

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Pränataldiagnostik - Schwangerschaftskonfliktberatung -SeelsorgeEin Konzept der katholischen Schwangerschaftsberatung

Christa Pesch*

»Sie müssen sich entscheiden!« sagt der Facharzt fürPränataldiagnostik nach der Diagnose, »KomplexesFehlbildungssyndrom, Verdacht auf Chromosomen-anomalie. Die sofortige Beendigung der Schwangerschaftin einer solchen Situation ist der übliche Weg.«

In einem bewegenden Film dokumentiert KatjaBaumgarten, Hebamme und Filmemacherin, Momente derNot von der Entscheidungsfindung bis zur Geburt unddem friedvollen Abschied von ihrem vierten Kind. Ein Film,der zum Nachdenken über Sinn und Ziel derPränataldiagnostik anregt. Nachdem ich den Film gesehenhabe, rief ich Frau Baumgarten an, um meineBetroffenheit zum Ausdruck zu bringen. Mit Blick auf ihredamalige Situation sagte sie: »Die angebliche Freiheit zurEntscheidung in solch einer existentiellen Konfliktlage stellteine einzige Überforderung und Unzumutbarkeit dar.«

Der technische Fortschritt in der Pränataldiagnostikbedeutet also, unter Umständen Entscheidungen treffen zumüssen, die menschlich und ethisch kaum zu tragen sind.

Angst vor BehinderungPränataldiagnostik wird zwar von vielen Frauen mit derHoffnung auf Sicherheit mit Blick auf die Gesundheit desKindes in Anspruch genommen; sie hat aber auch dazu bei-getragen, dass Ängste vor Behinderung gewachsen sind. DieAngst vor einer Behinderung des Kindes belastet viele Frauen,weil sich damit die Vorstellung von Überforderung, Isolation,Abhängigkeit, Leid und der totalen Durchkreuzung eigenerLebensvorstellungen und -pläne verbindet.

Die Angst vor einer Behinderung hat aber nicht nureine individuelle und psychosoziale Komponente; sie wirdauch durch gesellschaftlichen Druck erzeugt. Die verbrei-tete Meinung lautet: Pränataldiagnostik als Qualitäts-prüfung kann doch dazu beitragen, dass Menschen mitBehinderungen nicht mehr geboren werden.

Diese Einstellung führt zu einer großen Last derVerantwortung von schwangeren Frauen und Paaren, aberauch von Ärzten und Ärztinnen, die nach denMutterschaftsrichtlinien verpflichtet sind, nach auffälligenMerkmalen zu suchen. Verschiedene Urteile desBundesgerichtshofes haben die Sorgen der Ärzteschaftvor Regressansprüchen verschärft.

Diese Situation macht deutlich, dass die Pränatal-diagnostik zwar ein medizinisches Angebot ist, die Motivefür eine Inanspruchnahme eher psychosozialen Charakter

haben; sie sind nämlich der Versuch,• Ängste vor dem Verlust der eigenen Lebensplanung, vor

Abhängigkeit und Überforderung in den Griff zu bekommen;• einer gesellschaftlichen Norm vom gesunden Kind ent-

sprechen zu können;• Krankheit und Behinderung zu verhindern, weil sie aus-

schließlich mit Leid in Verbindung gebracht werden.

Ziele von PränataldiagnostikNicht zuletzt wird die Kostenfrage aufgeworfen. ImAbschlussbericht der Enquêtekommission »Recht undEthik der modernen Medizin« ist zu lesen, dass Anfang der70er Jahre mit der Aufnahme der Leistungen in dieKrankenkassen Kosten-Nutzen-Analysen erstellt wordensind. In einer Arbeit von Passarge und Rüdiger zum Thema»Genetische Pränataldiagnostik als Aufgabe derPräventivmedizin«, für die sie 1977 mit dem »HufelandPreis« ausgezeichnet wurden, heißt es:

der schockdie angstdie bestürzungder zorndie enttäuschungdie fassungslosigkeitdas aufbegehrendie resignationdie trauerdas selbstmitleiddie hoffnungslosigkeitdie verzweiflungder schmerz

und die liebe

Und eine Seite weiter der Grund:»entgleist«

schließlichhast duvon einem momentzum nächstenmein lebenvollkommenaus der bahn geworfen

Dorothee Zachmann, ...mit der Stimme des Herzens,Gütersloh 1999

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»Durch primäre Pränataldiagnostik bei allen Müttern ab38 Jahren würden in der gesamten BundesrepublikDeutschland die Kosten einer Untersuchung nur etwa1/4 der erforderlichen Aufwendung zur Pflege derKinder mit Trisomie 21 betragen. In absoluten Zahlenständen Aufwendungen für die Pflege der Kinder vonjährlich rund 61,6 Mio. DM den Aufwendungen für ih-re Prävention in Höhe von rund 13,5 Mio. gegenüber.«(Passarge/Rüdiger 1979, S. 23)

Die Altersindikation spielt heute bei der Anwendungder Diagnostik nur eine Rolle unter vielen anderenIndikatoren, so dass fast alle Frauen entscheiden müssen,ob und welche Untersuchungen sie in Anspruch nehmenwollen.

Die Pränataldiagnostik soll nach heutigen Vorstellun-gen das Selbstbestimmungsrecht in Bezug auf die Familien-planung erweitern, etwaige pränatale Therapien undPräventionsmaßnahmen für die Zeit nach der Geburt er-möglichen, helfen, die Lebensqualität einer Familie zu er-halten und schweres Leid von Kindern zu verhindern (vgl.Haker, Hille, Ethik der genetischen Frühdiagnose, 2002, S.101). Das schließt die Erweiterung individueller Handlungs-möglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch ein.

Recht auf NichtwissenViele Frauen fühlen sich sowohl vom Gynäkologen alsauch von ihrem persönlichen Umfeld gedrängt, möglichstviele Untersuchungen machen zu lassen, ohne zu ahnen,welche ethischen und psychosozialen Konflikte auf sie zu-kommen können. Über das Recht auf Nichtwissen werdensie selten von ihrem Arzt/ihrer Ärztin aufgeklärt. Sie gera-ten unter Entscheidungsdruck. In einer Untersuchung vonProf. Nippert, Münster, geben 63,9 % von 1.200 befrag-ten Frauen an, dass ihr Arzt ihre Entscheidung für eineUntersuchung beeinflusst hat, und 71,8 % der Frauen ga-ben an, dass der Partner Einfluss hatte (Nippert, Irmgard:Die Anwendungsproblematik der vorgeburtlichen Diagnos-tik, in BzgA Forum, Reproduktionsmedizin und Gentechnik,1/2-2000, S. 19).

Diese Loyalitätssituation verdeutlicht die Bedeutungeiner vom medizinischen System unabhängigen psycho-sozialen Beratung.

Für die katholischen Schwangerschaftsberatungsstellenwurde ein sehr differenziertes Beratungskonzept entwickelt,das Frauen und Paaren ein Beratungsangebot vor, währendund nach Pränataldiagnostik macht.

Im Erzbistum Köln wurde ein Modellprojekt in dreiesperanza-Beratungsstellen gestartet; Ziel ist es, dieZugangswege für Frauen und Paare zur Beratung zu ver-

(Foto: Rolf-Georg Bitsch, Köln)

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bessern und Rahmenbedingungen zu entwickeln, die eswerdenden Eltern erleichtern können, ihr Kind auch mit ei-ner Behinderung anzunehmen.

Die Beratung vor Pränataldiagnostik will den Elternvor allem Orientierungshilfe geben für eine Entschei-dungsfindung für oder gegen die Inanspruchnahme be-stimmter Untersuchungen. Eltern sollen in ihrer eigenenEntscheidungskompetenz gestärkt werden unter Einbezie-hung möglicher ethischer Konflikte, die bei einer Diagnoseauf sie zukommen können. Das Recht auf Nichtwissen so-wie das Recht auf Wissen erfordern von den werdendenEltern sehr viel Eigenkompetenz, um die jeweiligenKonsequenzen tragen zu können. Diese Freiheit zur Wahlwird nicht selten als Not erlebt, Wissen oder Nicht-Wissenverantworten zu müssen.

Auch das Wissen darüber, dass vorgeburtlich nichtalle Behinderungen feststellbar sind und dass es nur füreinige Erkrankungen pränatale Therapiemöglichkeitengibt, gehört mit in den Entscheidungshorizont.

Aus dem Beratungsalltag: Der Arzt verwies Frau B.an die Beratungsstelle, weil sie solche Ängste vor ei-ner Behinderung ihres Kindes hatte und unbedingt al-le pränataldiagnostischen Möglichkeiten nutzen woll-te. In einigen Beratungsgesprächen konnten dieHintergründe für die Ängste geklärt und bearbeitetwerden, so dass Frau B. langsam Vertrauen gewann,innerlich zur Ruhe kam und nicht mehr unter demDruck stand, alles wissen zu müssen.

Die Zeit des WartensManchmal werden Frauen mit einem Verdachtsmomentkonfrontiert, der einfach ohne großes Nachdenken weite-re Untersuchungen nach sich zieht und Frauen in eine ge-wisse Lähmung führt. Die Beziehung zum Kind wird zu-tiefst irritiert und manchmal abgebrochen. Die Furcht voreinem auffälligen Befund und alle damit verbundenenÄngste und Sorgen haben in der psychosozialen Beratungeinen Ort, an dem in Ruhe mit der Frau/dem Paar in ei-nem einfühlsamen Gespräch alles zur Sprache kommt,was Entlastung schafft und gleichzeitig den Blick aufRessourcen für den Umgang mit einer Diagnose öffnet.Hier kann eine Auseinandersetzung mit vorhandenenGedanken an einen Schwangerschaftsabbruch wichtigsein und die Wiederherstellung der Beziehung zum Kindeine Kraftquelle werden, den Mut für dieses Kind wieder-zufinden.

Aus dem Beratungsalltag: Frau und Herr A. warenwie gelähmt und kamen auf Empfehlung einerFreundin in die Beratung. Der Arzt hatte nurVerdachtsmomente geäußert. Das gedanklicheKreisen um das Leben oder den Tod des Kindes hieltbeide so besetzt, dass sie die Zeit des Wartens bis zurnächsten Untersuchung, die Gewissheit bringen soll-te, glaubten nicht aushalten zu können. Das Gesprächbot Entlastung, löste aus der Erstarrung. Sie began-nen, sich mit ethischen Fragen auseinander zu setzen,und fanden wieder Hoffnung.

Die Diagnose als kritisches LebensereignisDie Mitteilung einer Diagnose führt schwangere Frauen oftin einen Schockzustand und wird als kritisches Lebens-ereignis bezeichnet, weil sie identitätsgefährdend erlebtwird.

In dieser Krise ist psychosoziale Beratung dringendangezeigt. Die Beratung will helfen, Abschied vomWunschbild eines gesunden Kindes zu nehmen und trau-ern zu können. Die unterschiedlichen Loyalitäten gegen-über dem Partner, gegenüber bereits vorhandenen Kindernund gegenüber dem ungeborenen Kind zur Sprache zubringen hilft, die Liebesfähigkeit wahrzunehmen und dieSchutzfähigkeit gegenüber dem ungeborenen Kind mitden persönlichen, moralischen und familiären Ressourcenzu verbinden. Die gemeinsame Entwicklung vonPerspektiven für ein Leben mit dem Kind soll dieEntscheidungsverantwortung der werdenden Eltern stär-ken. Ein Netz von Hilfen bereitzustellen und das Angebotder Begleitung bis zum dritten Lebensjahr des Kindesgehören wesentlich zur Aufgabe der Beratungsstelle. Aberauch eine Begleitung der Eltern, die die Kraft für das Lebenmit dem Kind nicht gefunden haben und Trauer undSchuld nach einem Schwangerschaftsabbruch bewältigenmöchten, gehört zum Angebot der katholischen Bera-tungsstellen. Die Zusage der Barmherzigkeit Gottes ange-sichts der Erfahrung eigener Begrenztheit kann die Lebens-zuversicht wiederherstellen.

Aus dem Beratungsalltag: Eine ehrenamtlich en-gagierte Frau rief an und suchte bei esperanza Hilfefür Frau C., die vor sechs Wochen ein Kind mit Down-Syndrom zur Welt gebracht hat, völlig verzweifelt istund das Kind nicht annehmen kann. Zunächst erkun-digte sie sich nach verschiedenen Möglichkeiten wieAdoption, Pflegefamilie, sozialpädagogische Familien-hilfe. Das alles will sie im Gepäck haben, wenn sieden nächsten Besuch bei Frau C. macht. Darüber hin-aus will sie ihr ein Beratungsgespräch bei esperanzaanbieten.

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esperanza – Hoffnung eröffnet Zukunft esperanza ist der Dachname für die katholischenSchwangerschaftsberatungsstellen im Erzbistum Köln.Angesichts der vielfältigen Aufgaben im Kontext vonPränataldiagnostik und bei zu erwartender Behinderungdes Kindes hat esperanza neben dem Beratungsangebotverschiedene Materialien mit dem Ziel entwickelt, unter-schiedliche Zielgruppen anzusprechen, die helfen kön-nen, dass werdende Eltern auf breiter Ebene Unter-stützung erfahren und die gesellschaftliche Einstellungzur Behinderung kritisch reflektiert wird. Mut zum Lebenin solchen Situationen zu finden setzt voraus, aufSolidarität in der Gesellschaft hoffen zu können, dassWertmaßstäbe sich nicht primär an Leistungsstärke,Schönheit und Gesundheit orientieren, dass wir denAnderen in seinem Anderssein achten und wertschätzenund begreifen, dass wir voneinander lernen können.

Ein Netzwerk an Hilfenesperanza bemüht sich, ein breites Netz von Hilfen zuentwickeln und viele Menschen einzubeziehen.

Die Beteiligung an einem Netzwerk setzt voraus, dassalle die unverletzliche Würde eines jeden Menschen vonAnfang an achten und ihn in seinem So-Sein annehmen.Das kann manchmal eine persönliche Herausforderungsein. Sich dieser Herausforderung zu stellen ermöglichtnicht nur Solidarität, sondern kann auch Dimensionen öff-nen, von denen wir eigentlich leben: vom Glauben, der Sinnstiftet, von der Hoffnung, die Zukunft stiftet, und von derLiebe, die Beziehungen stiftet. Beratung und konkrete Hilfendes Netzwerkes können in dieser Haltung werdende Elternunterstützen, sich in die Verantwortung rufen zu lassen.

Wünsche an die Seelsorger (zur Sprachvereinfachungwird nur die männliche Bezeichnung gewählt, dieSeelsorgerin ist ebenso gemeint) für Menschen mitBehinderungZum Netzwerk gehört der Seelsorger für Menschen mitBehinderung. Ein Netzwerk lebt von Gegenseitigkeit undwechselseitiger Zusage der Unterstützung. Beraterinnen,die mit dem Leid und mit vielen Sinnfragen werdenderEltern konfrontiert werden, brauchen ebenso das seel-sorgliche Gespräch wie auch die Eltern selbst. EinSeelsorger, der im Kontakt mit Menschen mit Behinderungsteht, kann am ehesten Leid verstehen und helfen, beiSinnfragen Spuren einer Antwort zu finden, die im per-sönlichen Leben zur Kraftquelle werden.

Der Seelsorger wird ein Begleiter in Leid und Trauersein können, weil er in aller Behutsamkeit Horizonte desGlaubens und der Hoffnung öffnen kann. Er wird derBeraterin helfen können, Verbindung zu Pfarrgemeindenherzustellen, damit Eltern, die ein Kind mit Behinderung er-warten oder schon zur Welt gebracht haben, nicht in dieIsolation geraten, sondern Heimat in der Gemeinde finden.

Er wird helfen können, Gemeindemitglieder zu sensibilisieren für die besondere Situation von Eltern miteinem Kind, das eine Behinderung hat. Dazu gehören z. B. Berührungsängste abbauen, auf die Stärken derMenschen mit Behinderung aufmerksam machen,Erlebnismöglichkeiten für Eltern und Kinder mit und ohneBehinderung schaffen, um Integration zu fördern.

Er wird vielleicht die Beraterin im Einzugsbereich derBeratungsstelle beim Aufbau eines ehrenamtlichen Ent-lastungsdienstes für Eltern unterstützen können, indem erin den Seelsorgebereichen AnsprechpartnerInnen gewinnt.

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Er wird Eltern unterstützen können, im Gemeinde-kindergarten einen Platz für das Kind mit Behinderung zufinden, wenn in der Nähe noch kein integrativer Kinder-garten existiert.

Vielleicht kann er in Zusammenarbeit mit derFamilienbildungsstätte Gruppenangebote für Eltern entwickeln, die vor allem Raum geben für spirituelle undreligiöse Fragen und Anliegen der Eltern. Der Seelsorger

kann Eltern mit anderen Eltern in Kontakt bringen, soweit diesnoch nicht durch Selbsthilfegruppen geschehen konnte.

Leben in seiner Vielfalt schätzenKirche in ihrer Option für diejenigen, die in unsererGesellschaft keine Lobby haben, wird nur ungeborenesLeben, unabhängig von Gesundheit, Krankheit oderBehinderung, mit der Mutter schützen können, wenn siein ihrem konkreten Engagement überzeugt und inOffenheit Menschen mit Behinderung am Leben in derGemeinde teilnehmen lässt. Leben in seiner Vielgestal-tigkeit zu schätzen bedeutet, für die Gleichstellung allereinzutreten. Christliche Gemeinden können so helfen,werdende Eltern zu ermutigen, dem Leben mehr zu ver-trauen als dem technischen Fortschritt, der die Gefahr derSelektion von Leben impliziert und uns alle ethisch undmoralisch überfordern kann. Vielleicht gelingt es uns aufdiese Weise gemeinsam, das christliche Bild vomMenschen, in dem wir Gottes Antlitz erkennen können, zuretten. Eltern, die durch das Leben mit ihrem Kind, das ei-ne Behinderung hat, eigene Reifungsschritte gehen konn-ten, sind ein Beweis dafür, wie sehr wir einander brauchenund der Eine am Anderssein des Anderen wachsen kann.

* Die Autorin ist Referentin im Diözesan-Caritasverband desErzbistums Köln

„reifungsprozess“

ungeahnte Kräfte in mir entdeckenwesentliches von unwichtigem unterscheidenschmerz in aller tiefe zulassenmich stark machen und das meine vertretenmenschen unvoreingenommen begegnenträume lebendig werden lassenmeine grenzen anerkennendie pure freude am sein lustvoll genießenohne bedingungen lieben

all dieshabeichdurch dichgelernt

Dorothee Zachmann

Aus Aktion Mensch: 1000 Fragen

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Menschen mit geistiger Behinderung haben ein Recht aufkirchliche Eheschließung

Franz M. Herzog*

Für Menschen mit geistiger Behinderung spielt in ihrerLebensplanung der Wunsch nach Partnerschaft eine zuneh-mend große Rolle. Nach der Reform des deutschenVormundschafts- und Pflegschaftsrechts von 1992 sind zivileEheschließungen von Menschen mit geistiger Behinderungleichter möglich. Was aber, wenn zudem das Anliegen nachgeltendem Recht der römisch-katholischen Kirche heiraten zuwollen, geäußert wird?

Die Antwort hierzu ist auch ethisch und theologisch-menschlich bedeutsam. Die kirchliche Gesetzgebung will einwirksames Instrument, mit dessen Hilfe sich die Kirche ent-sprechend dem Geiste des II. Vatikanischen Konzils vervoll-kommnen kann und sich mehr und mehr als für die Erfüllungihres Heilsdienstes in dieser Welt geeignet erweist.

Eine bemerkenswerte Studie zur „Eheschließung vonMenschen mit geistiger Behinderung nach dem CIC/1983“ ist von dem Kirchenrechtler Bernhard Sven Anuth vorgelegtworden. Auf dem Hintergrund der psychologischen undpädagogischen Sicht von „geistiger Behinderung“ werden diejüngsten Erleichterungen im bundesdeutschen Zivilrecht fürdie Eheschließung von Menschen mit geistiger Behinderungerklärt. Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt aber auf derkanonistischen Analyse des Eherechts des Codex IurisCanonici (CIC) von 1983. Ihr folgen Überlegungen zur lehr-amtlich vertretenen theologischen Anthropologie. DenAbschluss bilden einige Konsequenzen für den kirchlichenUmgang mit Partnerschaft geistig behinderter Menschen. DieStudie wurde als Sonderdruck in „De ProcessibusMatrimonialibus – Fachzeitschrift zu Fragen des KanonischenEhe- und Prozessrechtes“, Frankfurt/M. 2002, Band 9, 155 -209, veröffentlicht.In seinem Fazit stellt Anuth fest: • „Menschen mit geistiger Behinderung unterliegen hinsicht-

lich der Ausübung ihres Rechts auf Ehe keinen spezifischenrechtlichen Beschränkungen: Weder die Ehehindernissenoch Trau- und Eheverbote stehen ihrer Eheschließung ent-gegen. Geistige Behinderungen können im jeweils zu be-urteilenden Einzelfall die Tatbestände des c. 1095 nn. 2 oder 3 erfüllen. Eine rechtliche Grundlage zur Verhin-derung einer Eheschließung ergibt sich daraus nicht“ (DPM9/2002, 201).

• „Seelsorger sind außer Stande, Eheschließungs- oderEheführungsunfähigkeit nach c. 1095 nn. 2 oder 3 mit derfür eine Trauungsverweigerung notwendigen Sicherheit zuerkennen. Hierzu bedarf es einer speziellen psychologi-schen oder psychiatrischen Ausbildung. Die Eheunfähigkeitvon Menschen mit geistiger Behinderung nach c. 1095kann in keinem Fall als gesichert gelten. Im Zweifelsfall darfdie Trauung nicht verweigert werden. Es wäre unbillig,wenn das in c. 1058 verbürgte Grundrecht jedes Menschenauf Ehe nur aufgrund einer unsicheren und möglicherwei-se unzutreffenden Vermutung beschnitten würde“ (DPM 9/2002, 202 f.).

• „Abgesehen davon, dass eine solche Maßnahme (= Gut-

achten von Sachverständigen über die Ehefähigkeit einesMenschen) im Eherecht des CIC nicht vorgesehen ist, giltauch für einen Sachverständigen, dass er lediglichPrognosen über das Erfüllungsvermögen der Ehe(be)wer-ber abgeben kann, letztlich aber nicht in der Lage sein wird,eine etwaige Eheunfähigkeit mit Sicherheit vorherzusagen“(DPM 9/2002, 203).

Die Studie von Anuth legt im Detail sehr überzeugenddar, dass die Kirche Menschen mit geistiger Behinderung inihrem Streben nach mehr Eigenverantwortung undEntscheidungsfreiheit zu unterstützen hat und durch das gel-tende Kirchenrecht dem Wunsch nach Eheschließung auchin angemessener Weise Rechnung trägt.

Sehr empfehlenswert zur Lektüre ist auch dieZusammenschau der lehramtlichen Aussagen überMenschen mit Behinderung. So hat Papst Johannes Paul II.in seinem 25-jährigen Pontifikat durch Ansprachen, Predigtenund Schreiben immer wieder und nachdrücklich hervorge-hoben, dass der Wert einer Gesellschaft und Zivilisation sichnach dem Respekt bemisst, den diese den schwächsten ih-rer Mitglieder entgegenbringt, und dass die Kirche daran zumessen ist, wie sie im Rahmen ihrer Rechtsprechung mitMenschen umgeht, die körperlich oder geistig gehandicaptsind. Wiederholt betont er, dass es die Pflicht aller Christen ist,Menschen mit (geistiger) Behinderung bei der Verwirklichungihrer Rechte beizustehen und im Rahmen ihrer Möglichkeitennach Kräften zu unterstützen, aber auch ihnen die Teilnahmeam Leben der Gesellschaft in allen seinen Dimensionen undauf allen ihnen möglicherweise zugänglichen Ebenen zu er-leichtern: Familie, Schule, Arbeit, soziale Gemeinschaft, Politik,religiöses Leben etc. Hierbei gilt es ausdrücklich festzustellen,dass die Bedürfnisse (geistig) behinderter Menschen „nor-male“ Bedürfnisse von Menschen sind, die zwar unter ge-wissen Gesichtspunkten schwächer, aber doch immerPersonen sind, die voll anerkannt werden möchten und an-zuerkennen sind.

Die deutschen Bischöfe haben dies in Ihrem Wort„unBehindert Leben und Glauben teilen“ (Nr. 70, Bonn 2003)bekräftigt und erneut zu einer „Kultur der Achtsamkeit undSolidarität“ aufgerufen. Menschen mit (geistiger)Behinderung haben das Recht auf eine ihnen gemäßeKatechese. Sie dürfen nicht zu bloßen Objekten pastoralenHandelns und pastoraler Fürsorge degradiert, sondern müs-sen in ihrer vollen Personen würde ernst genommen werden,auch in ihrem Wunsch nach einer Eheschließung. Wenn jun-ge Frauen und Männer mit geistiger Behinderung durch ent-sprechende Erziehung Selbstsicherheit gewonnen und ge-lernt haben, dass Freundschaft und Partnerschaft auf gegen-seitigem Vertrauen aufgebaut sind, wird es in diesenBeziehungen kaum mehr Probleme geben, als in unsererGesellschaft sonst auch.

* Der Autor ist Fachreferent des Bereichs Pastoral imSekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn

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Tun, was man kannInterview der Zeitschrift Salzkörner mit Ester Weber-Kranz, Goldmedaillengewinnerin bei den Paralympics

„Nicht darüber nachdenken, was man nicht kann, sonderntun, was man kann“, ist das Lebensmotto der erfolg-reichsten Rollstuhlfechterin Deutschlands, die seit Jahrenzur Weltspitze im Degen- und Florettfechten gehört:Esther Weber-Kranz (36). Im Interview erzählt die mehr-fache deutsche Meisterin, Europameisterin undGoldmedaillengewinnerin bei den Paralympics, was be-hinderten Menschen in Deutschland das Leben schwermachen kann.

Salzkörner: Frau Weber-Kranz, 2003 wurde zum „Europäischen Jahr der Menschen mitBehinderungen“ gekürt. Macht sich das in Ihrem Alltagbemerkbar?

Weber-Kranz: Vielleicht insofern, als ich eine MengeTermine mehr im Kalender stehen habe ... Was meinenAlltag betrifft, kann ich allerdings nicht behaupten, dassmir irgendwelche „Erleichterungen“ aufgefallen wären.

Salzkörner: Wie stehen Sie persönlich zu derarti-gen „Widmungen“? Halten Sie sie für sinnvoll?

Weber-Kranz: An sich ist das meiner Meinung nachkeine schlechte Sache. Trotzdem finde ich es traurig, dassman immer extra auf ein Thema aufmerksam machenmuss und entsprechend ein Jahr „für Behinderte“, eines„für Kinder“ oder auch für „alte Menschen“ vorsieht.Warum schaffen wir es nicht, im alltäglichen Umgang mit-einander einfach Rücksicht zu nehmen und schlichtwegdas Jahr über auf den Nächsten zu achten?

Salzkörner: Könnte das im Hinblick auf dasZusammenleben von behinderten und nichtbehinder-ten Menschen nicht auch mit gewissen Berührungs-ängsten zusammenhängen? Trotz Integrations-bemühungen scheinen Behinderte bei uns doch nachwie vor eine gesellschaftliche „Randgruppe“ zu sein,haben im normalen Alltag wenig Kontakt mit so ge-nannten Nichtbehinderten und umgekehrt.

Weber-Kranz: Ich habe den Eindruck, dass dasZusammenleben vor allem in Deutschland kompliziert ist.In anderen europäischen Ländern bestand in vielerHinsicht gar nicht die Möglichkeit, Behinderte zu separie-ren, ein Getto hier, eine Einrichtung dort. In Deutschlandscheinen wir jetzt wieder mühsam integrieren zu müssen,was wir vormals säuberlich getrennt haben. Ohne dieseEntwicklung wäre das Miteinander heute vielleicht auchbei uns viel selbstverständlicher. In einer Großfamilie fälltes leichter, Oma oder Opa mitzuversorgen, denNachwuchs zu betreuen oder eben Menschen mit ir-

gendwelchen Handicaps. In unserem Land haben wir aberdie einen hierhin, die anderen dorthin abgesondert undsie damit – ob willentlich oder nicht – auch ausgegrenzt.

Salzkörner: Obwohl das Anliegen dahinter sicherehrenhaft war und man damals vermutlich „das Beste“im Sinn hatte …

Weber-Kranz: Mir ist sehr wohl bewusst, dass einegewisse Sonderbehandlung auch ihr Gutes hat. So hat bei-spielsweise eine Sonderschule für Körperbehinderte oftganz andere Möglichkeiten der Förderung. Da sind maxi-mal acht oder neun Kinder in einer Klasse, es gibtKrankengymnastik rund um die Uhr, verschiedeneTherapiemöglichkeiten und so weiter. Das ist gut undwichtig. Aber vielleicht war das auch zu viel Luxus, dassman für alles immer genug Möglichkeiten hatte.

Salzkörner: Könnte also gerade Deutschland beieinem „Europäischen Jahr der Menschen mitBehinderungen“ von seinen Nachbarn lernen?

Weber-Kranz: Ich denke, wir können hinsichtlichdes Umgangs mit Körperbehinderungen von den eu-ropäischen Nachbarn nur profitieren. Die Benelux-Staatenetwa sind in diesem Bereich vorbildlich. Auch in Frankreichherrscht noch ein ganz anderes Verständnis vomMiteinander. Und die skandinavischen Länder sind da so-wieso in vieler Hinsicht weiter als wir in unserem sehrbürokratischen Deutschland. Bei uns muss man sich mo-natelang mit Bauaufsichtsbehörden streiten, nur um etwaeine Auffahrtrampe bauen zu können. Da würde in Italienkein Mensch überhaupt vorher fragen. Ich habe denEindruck, bei uns mangelt es beiweilen an Mut zurEigeninitiative oder am Willen, für etwas Verantwortung zuübernehmen.

Salzkörner: Haben es Behinderte hierzulande im Vergleich unverhältnismäßig schwer, einfachsteBedürfnisse zu erfüllen?

Weber-Kranz: Manches erscheint mir unnötig um-ständlich. Und ich ertrage es nicht, wenn ich mit demVerweis auf Verordnungen abgespeist werde. Wenn ichdas höre: Das geht nicht, wir haben da unsereVorschriften, könnte ich wahnsinnig werden! Es geht ganzvieles. Ich lebe mit Mann und zwei Kindern in einer Drei-Zimmer-Wohnung. Das ist auch zu eng, aber es geht. Weiles gehen muss. Da habe ich schon mit ganz anderenProblemen kämpfen müssen.

Salzkörner: Da meldet sich Ihre Kämpfernatur –Sie sind vermutlich nicht zufällig beim Fechten gelan-

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28 _ Behinderung & Pastoral / Aus Kirche, Kultur, Politik und Wissenschaft

det. Hat Ihnen nach Ihrem Unfall der Sport geholfen,mit Ihrer Behinderung umzugehen?

Weber-Kranz: Sport war schon immer sehr wichtigin meinem Leben, schon vor meinem Autounfall 1983. Ichwar in der Leichtathletik auf Bezirksebene erfolgreich. Ichbin ein Bewegungsmensch, war immer mit dem Fahrradunterwegs: zum Training, zum Turnen, zum Tennis – ichbrauchte das einfach. Und als Mensch habe ich mich janicht verändert. Nach dem Unfall habe ich einfach ge-schaut, wie ich aus diesem Handicap das Beste heraus-holen kann. Zum Fechten bin ich eher per Zufall gekom-men. Aber Sport war immer schon etwas Wichtiges fürmich. Ich hab’ gemacht, was geht.

Salzkörner: Ihr Lebensmotto lautet: „Nicht darü-ber nachdenken, was man nicht kann, sondern tun,was man kann.“ Wie lange hat es gedauert, bis Sie soweit waren?

Weber-Kranz: Natürlich habe ich meine Phasen derTrauer gebraucht. Aber ich habe mich nie mit der Frage ge-quält, warum das gerade mir passiert ist. In derAnfangsphase hat mir auch der Aufenthalt im Reha-

Zentrum sehr geholfen: Das war eine Art geschützterRaum, in dem alle irgendwie im gleichen Boot saßen. Mirkam zugute, dass Behinderung für mich schon vor demUnfall nichts Fremdes war. Ich hatte bereits Kontakt zuMenschen mit Behinderungen, wollte sogar beruflich et-was mit behinderten Kindern machen. Ein Rollstuhl warnichts Fremdes für mich. Dass ich auf einmal selbst in dieSituation kommen würde, war natürlich nicht geplant,aber durch diese Erfahrungen vorher war das nichtsFremdes für mich. So konnte ich wohl auch besser damitumgehen.

Salzkörner: Sie haben die Gemeinschaft währendder Rehabilitation erwähnt ... Immer wieder ist inInterviews auch von Ihrem Glauben die Rede. WelcheErfahrungen haben Sie in Ihrer Kirche, Ihrer Gemeindegemacht. Sind Menschen mit Behinderungen dortgenügend integriert? Haben Sie den Eindruck, dasssich Ihre Kirche genügend für Sie oder für Behinderteallgemein engagiert?

Weber-Kranz: Bei den Familiengottesdiensten, dieich in meiner Gemeinde in Waldkirch-Kollnau häufig be-suche, geht es in erster Linie um die Kinder, weniger ummich als behinderte Frau. Ich bin da ganz selbstverständ-lich integriert, das geht schon bei den baulichen Faktorenlos: Kirche und Gemeindehaus sind ebenerdig zu errei-chen, die Toilette ist behindertengerecht und so weiter.Das sind für meine Begriffe die wichtigsten Voraus-setzungen, damit eine Gemeinde offen und einladend ist:Dass man als behinderter Mensch einfach zurechtkom-men kann. Auf einem Kongress mit dem Thema „Der im-perfekte Mensch“, der kürzlich in Silz (Schweiz) stattfand,haben wir darüber hinaus festgestellt, dass auch einAbholservice sinnvoll wäre, weil Behinderte oft nicht mo-bil genug sind.

Salzkörner: Das Bundesgesundheitsministeriumhat jetzt eine neue Broschüre mit dem Titel„Einmischen – Mitmischen“ veröffentlicht, Zielgruppe:Mädchen und Frauen mit Behinderungen. Sie sindselbst oft in Schulklassen unterwegs. Was rät EstherWeber-Kranz jungen Mädchen mit Behinderungen?

Weber-Kranz: Ich halte mich dabei an mein Motto– wobei ich sicherlich kein Maßstab bin. Aber ich habemeine Erfahrungen. Mit diesen wende ich mich an dieMädchen und ermutige sie, sich Gedanken über ihreZukunft zu machen, herauszufinden, was sie wollen –und ihre Wünsche auch zu äußern. Man darf nicht einfachakzeptieren, wenn es heißt, das war noch nie so, das gab’snoch nie. Am Selbstbewusstsein arbeiten, das ist in jederSituation wichtig. Und das muss auch wachsen können.

Aus: Salzkörner, 25. August 2003Die Fragen stellte Brigitte Böttner

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In der ersten Heftausgabe von „Behinderung & Pastoral“(Dezember 2003) wurde dargelegt, welche Überlegun-gen und welche Wege in der gemeindlichen Arbeit dazubeigetragen haben, eine Integrative Gemeinde mitHörgeschädigten in Köln aufzubauen. Im Heft 2 (Juni2003) wurde der Fortgang dieser Entwicklung an denBeispielen der Sakramenten-Vorbereitung, Erstkom-munion und Firmung sowie an der Gestaltung derGottesdienste an Kar- und Osterfeiertagen deutlich ge-macht. An dieser Stelle soll nun abschließend dieBedeutung des integrativen Sonntagsgottesdienstes auf-gezeigt werden mit einem Fazit und Ausblick einer zeit-gemäßen und heilsamen Seelsorge mit Hörgeschädigtenin einer Integrativen Gemeinde.

Die Erfahrungen mit integrativen Gottesdiensten zuden „geprägten Zeiten“ (Advent und Fastenzeit) sowie zur„Heiligen Woche“ in St. Georg, Köln, zeigten, dass auchvermehrte und in unmittelbarer Folge stattfindende inte-grative Messfeiern möglich sind. Wir sahen, dass dasMiteinander von Hörenden und Hörgeschädigten, das inder Primärfamilie meistens der Normalfall ist, nicht unbe-dingt verloren gehen muss: Das gemeinsame Feiern er-lebnisorientiert gestalteter Gottesdienste schafft, wie sichan St. Georg herausstellte, erneut die Möglichkeit, dassMenschen mit und ohne Hörschädigung zusammenWichtiges tun, froh sein und feiern können. Der Erlebnis-charakter dieser Gottesdienste sprach sich beiHörgeschädigten wie auch bei Hörenden, bei Erwach-senen wie auch bei Kindern schnell herum.

Der integrative Sonntagsgottesdienst Als Folge der vorangegangenen Erfahrungen konnten wirbald den integrativen Sonntagsgottesdienst der hörendenund der hörgeschädigten Gemeinde folgen lassen. Äußer-liches Merkmal ist als erstes, dass der reguläreGemeindegottesdienst ganz in die religiöse Gebärden-sprache übersetzt wird. Generell gilt dazu, dass (kirchen)-musikalische Gestaltungselemente für den Gottesdienststärker in den Hintergrund treten. Während des gesamtenWortgottesdienstes spricht der Zelebrant mit Stimme, unddie Mitarbeiterin übersetzt seine Rede in die Gebärden-sprache. Um wichtige Gottesdiensttexte, z. B. die

Schriftlesungen, besonders hervorzuheben, tritt inzwi-schen ein hörgeschädigter Übersetzer neben den laut-sprachlichen Lektor. Für die hörgeschädigten Gottes-dienstteilnehmer ist also ebenso ein Lektor oder eineLektorin vorhanden wie für die hörenden auch.

Die besondere Bedeutung der Amtsgebete ist visu-ell wahrnehmbar, da der Zelebrant mit weit ausgebreite-ten Armen (Orante-Haltung) diese Gebete lautsprachlichformuliert. Ihr Inhalt wird gleichzeitig in Gebärdenspracheübersetzt. Mit Beginn der Gabenbereitung übernimmt derZelebrant selbst die Übersetzung seiner lautsprachlichenRede; bis über die Kommunionspendung hinaus wird derGottesdienst von ihm jetzt zweisprachig geleitet. Hierzubedient er sich lautsprachebegleitend einer Gebärden-sprach-Mischform aus stark reduzierter LBG und DGS. ZuSchlussgebet und Segen steht wieder die visuelleWahrnehmung des amtlichen Charakters dieser Gebeteim Vordergrund. Daher redet der Zelebrant in Lautsprache,mit Orante-Haltung, und was er spricht, wird gleichzeitigin die Gebärdensprache übersetzt.

In der hörenden und hörgeschädigten Gemeinde St.Georg übernehmen sowohl hörende als auch hörgeschä-digte Erwachsene und Kinder gottesdienstlicheFunktionen: Bereits genannt wurde die Gebärdenlektorin.Hinzu kommen hörgeschädigte Messdiener undMessdienerinnen. Wenn ein Gebärdenchor eingesetztwird oder wenn eine Pantomime die Verkündigung unter-streicht, so ist das für Hörgeschädigte nicht nur eineVerstärkung der Wahrnehmungsmöglichkeiten, sondernzusammen damit auch ein ästhetischer Gewinn. Fürhörende Gottesdienstteilnehmer sind diese Elemente inerster Linie ästhetischer, gottesdienstgestalterischer Art.Entscheidend ist, dass in den Gottesdiensten Hörendeund Hörgeschädigte miteinander gleichermaßen inFunktion wie auch in der Gottesdienstteilnahme neben-einander präsent sind. Hiermit wächst die Erfahrung:Gehörlose haben Hörenden viel zu geben. Gehörlose sindnicht „arme, bedauernswerte Menschen“! DieErfahrungen, die wir in der integrativen Gemeindearbeit inSt. Georg machen konnten, haben uns gezeigt, dass dieGewöhnung an den gemeinsamen Gottesdienst ent-scheidend zur Normalisierung im Umgang von Hörendenund Hörgeschädigten beiträgt.

Behinderung & Pastoral / Aus den Fachbereichen der Arbeitsstelle, Diözesen und Verbände _ 29

AUS DEN FACHBEREICHENDER ARBEITSSTELLE, DIÖZESEN UND VERBÄNDE

Hörgeschädigte in einer integrativen Gemeinde (3. Teil)

Pfarrer Dr. Hermann-Josef Reuther*

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30 _ Behinderung & Pastoral / Aus den Fachbereichen der Arbeitsstelle, Diözesen und Verbände

Fazit: Gottesdienst schafft Integration Wir haben die Entwicklung des Aufbaus einer integrativenGemeindearbeit beobachtet, und wir haben erstaunt fest-gestellt:

Die tatsächliche Annäherung von hörenden und hör-geschädigten Menschen geschieht über die Gottesdiensteund über die Gottesdienstgemeinde.

Diese Erkenntnis hat uns selbst verblüfft. Hörendeund gehörlose Gemeinde nähern sich tatsächlich einan-der an: Nach und nach entstehen mehr gemeinsameFelder, gemeinsame Erlebnis- und Handlungsbereiche.Wir hatten gesehen, dass diese Annäherung ihrenAusgang beim Mütter-Kind-Kreis bzw. bei den Eltern undihren Kindern nahm. Wir haben diesen ersten Vorgangdann nur wahrgenommen und aufgegriffen. Er war hand-lungsleitend für die Konzeptualisierung unserer integrati-ven Gemeindearbeit. Selbstverständlich ist es wahr: Nurein begrenzter Teil von Erwachsenen und Kindern wirdden Weg in die hörende bzw. Hörgeschädigtengemeindefinden. Aber von hier aus, von den Gottesdienstbesuchernaus, wirkt der Ruf der integrativen Gemeinde auch in diegroßen Kreise der nicht-gottesdienstbesuchenden Hör-geschädigten wie Hörenden hinein. Immerhin ist dasDiözesanzentrum für Hörgeschädigte an St. Georg in Kölnzugleich Treffpunkt der unterschiedlichsten, zahlreichenGehörlosengruppen und -vereine. Nun ist es eine be-kannte Eigenschaft der Hörgeschädigten, insbesondereder Gehörlosen, Informationen sehr schnell weiterzuge-ben (was seit Fax und e-mail noch erleichtert wird). DieserUmstand wirkt maßgeblich mit an einer Netzwerk-Bildungzwischen Hörenden und Hörgeschädigten sowie unterden Hörgeschädigten selbst. Ein Multiplikations-geschehen braucht also nicht eigens initiiert zu werden,es ist vielmehr im Persönlichkeitsbild und in denGewohnheiten zumindest der Gehörlosen mit angelegt.

Die Darstellung der Entwicklung der integrativenGemeinde St. Georg in Köln hat gezeigt, dass es möglichist, als eine Gemeinde von hörgeschädigten und hören-den Christen zusammen Gottesdienst zu feiern und Gottzu loben. Es wurde zugleich deutlich, dass gerade dieGestaltung exponierter Gottesdienste auf die hörgeschä-digte Zielgruppe hin auch für hörende Gottesdienst-teilnehmer keine Einbuße, sondern vielmehr einenZuwachs an Sinnlichkeit und Lebendigkeit bringt, was fürbeide Seiten einen Gewinn darstellt. Ferner wurde deut-lich, wie Katechese für den Gottesdienst in Dienst ge-nommen werden kann, auch dann, wenn sie nicht in ihneingebaut wird (und die Gefahr mit sich bringt, diesen un-ter der Hand zu verschulen). Vielmehr kann Katechesez. B. in Gestalt eines Besinnungstages eingesetzt werden,so dass auch schwierige Texte, wie das Exsultet aus derOsternacht, für Hörgeschädigte erschlossen werden kön-nen. Und es zeigte sich ganz grundsätzlich, dass sich die

intensive Vorbereitung und Gestaltung der Liturgie unse-rer Kirche lohnt und in reichem Maße auszahlt: Sie ist zu-tiefst gemeinschaftsstiftend und trägt dazu bei, dassMenschen miteinander Kontakt finden und ins Gesprächkommen, die ansonsten nie etwas miteinander zu tun hät-ten. So werden Fremde zu Freunden, zu Schwestern undBrüdern Christi, in dessen Namen sie sich gleichberech-tigt und solidarisch versammeln. Schließlich erweist jedeLiturgie, die zur größeren Ehre Gottes gefeiert wird, ihregemeindebildende Qualität daran, wie es ihr gelingt, die-se Gemeinschaft herzustellen.

Ausblick: Integration als fortdauernder ProzessVieles ist damit zur integrativen Gemeinde hörender undhörgeschädigter Christen an St. Georg in Köln noch nichtgesagt. Zum Beispiel ist noch nicht gesagt, wannKirchenvorstand und Pfarrgemeinderat sich aus beidenGruppen zusammensetzen werden. Das Erstaunlichstefür uns war die Erfahrung, dass integrative Gemeinde überdie gemeinsame Gottesdienstfeier wächst und sich fest-igt. Grundlage war freilich die Erkenntnis, dass bereits diePrimärfamilie fast eines jeden Gehörlosen das Muster in-tegrativer Gemeinsamkeit erfahrbar macht und dass esmöglich ist, diese Erfahrung lebendig zu halten und nichtverloren gehen zu lassen. Sie wurde zum Vorbild undInbegriff integrativen Gemeindelebens an St. Georg. Nocheinmal: dass sie im Gottesdienst wieder auftauchte undgerade dort so starke, gemeindebildende Kraft entfaltete,war für uns selbst erstaunlich. Im gemeinsamen Feiernvon Pfarrfesten, Jubiläen, Neujahrsempfang, Pfarrcafé undzukünftig hoffentlich auch: Wallfahrt, Sommerfreizeit undBesinnungstagen ist das Bewusstsein lebendig: Wir sindals integrative Gemeinde eine (1) Familie. Und das ist kein„sentimentaler Kick“, sondern lebendig erfahreneWirklichkeit, die, wie in der Primärfamilie, auch in späte-ren sozialen Konfigurationen Gestalt wird und trägt.

* Der Autor ist Leiter der Arbeitsstelle der Deutschen Bischofs-konferenz, Köln

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Behinderung & Pastoral / Aus den Fachbereichen der Arbeitsstelle, Diözesen und Verbände _ 31

Schwerhörigenvereine – Kundschafter für hörbehinderteMenschenZum 75-jährigen Jubiläum des Schwerhörigenvereins Köln

Hinführung Andreas Heek*

Die Landnahmegeschichte, genauer die Erzählung von derAussendung der Kundschafter ins verheißene Land, schienuns, meinem evangelischen Kollegen und mir, eine geeig-nete Parabel für die Situation zu sein, in der sich Menschenmit Schwerhörigkeit, aber auch die Verantwortlichen in derSchwerhörigenselbsthilfe befinden.

Zwischen Resignation und Selbstvertrauen..., so lässt sich die Situation von hörbehinderten Menschenbeschreiben. Die Angst, nicht alles mitzubekommen, waswichtig ist, nagt am Selbstvertrauen. Andererseits, dieAuseinandersetzung mit der Hörbehinderung, das Treffenmit gleichgesinnten Menschen, ermöglicht neues Vertrauennach dem Motto: „Ich bin nicht allein und ich mache wasdaraus.“ Die Schwerhörigenvereine tragen wesentlich dazubei, dass das Selbstvertrauen gestärkt wird und man Muthat, neue Wege zu gehen.

Gesellschaftliche Tendenzen..., die Menschen mit Behinderung schon durch dieVerhinderung der Geburt ausmerzen wollen, sind sehr starkvorhanden und sind Symbol für die grundlegende gesell-schaftliche Haltung zur Behinderung. Die Tendenz, den ge-sunden, unbeeinträchtigten Menschen als Maßstab desLebenswerten zu machen, ist weit verbreitet. Krankheit undBehinderung immer mehr zur Privatangelegenheit zu ma-chen, die Solidarität als gesellschaftlichen Konsens aufzu-geben sind Alarmzeichen einer Kultur des Individualismus,der leicht in Egoismus abzugleiten droht.

Menschen mit Schwerhörigkeit als KundschafterDie Kundschafter aus der Erzählung des Alten Testamentes(Num 13) geben Hoffnung, ja eine Vision eines besserenLebens. Allerdings sind die Widerstände groß in dem neu-en Land, und man muss kämpfen, um Land zu gewinnen.Menschen mit Behinderung müssen kämpfen, nach außen,um deutlich zu machen, dass Behinderung „normal“ ist undschließlich jeden Menschen treffen kann. Nach innen, umanderen Betroffenen deutlich zu machen, dass man Muthaben darf, das eigene Schicksal anzunehmen und zu ge-stalten.

Die nachfolgende Predigt soll Mut machen, aufrütteln,den Rücken stärken und Gottes Zusage vermitteln, der alleWege mit geht und den Menschen selbst in den Wüsten desLebens nicht allein lässt.

AnsprachePfarrer Josef Groß**

Liebe Gemeinde,wir haben eine so genannte Landnahmegeschichtegehört. Also eine Geschichte, die von dem Volk Israel er-zählt wird aus der Zeit zwischen der Flucht aus Ägyptenund der Einnahme des gelobten Landes.

Israel ist aus Ägypten geflohen, es ist durch dieWüste gewandert und steht jetzt an der Grenze desLandes. Da hinein soll es gehen. Dort soll es sehr schönsein, dort soll man gut leben können, dort soll es schönersein als in der Wüste, durch die man sich kämpft.

Und jetzt stehen sie da. Was wird auf sie zukom-men? Wie wird das Unbekannte sein? Wird man siefreundlich empfangen? Wird man sie ablehnen? Über-haupt, was kann man erwarten? Macht es überhaupt Sinn,da reinzugehen und die Wüste zu verlassen? Überhaupt,hier am Rand der Wüste kann man doch auch leben –warum also da reingehen? Ist das anstrengend? Hat manüberhaupt genug Energie, um das alles zu schaffen?

Was macht Moses angesichts des Unbekannten? Ermacht etwas ganz Unspektakuläres: Er sendet Kund-schafter aus. Er wählt zwölf Männer und schickt sie in dasfremde Land.

Daran sind mir zwei Dinge wichtig: das erste: Mosessieht genau nach. Vor dem Unbekannten, das Angst ma-chen will, weicht er nicht aus, Nein, er bekämpft es – abernicht mit Pathos, mit Mutmachparolen. Nein, ruhig undgelassen sollen die Späher das Land genau erkennen.

Wie sind die Menschen da? Sind das Menschen, diehelfen und einem freundlich entgegenkommen? Sind dasMenschen, die feindlich gesinnt sind, die da engstirnig ihrEigenes verteidigen, Menschen, die sich gegen Fremdesund Unbekanntes abschotten. Sind da Menschen, diemich verstehen wollen? Sind da Menschen, die mich ab-lehnen? Sind da Menschen, die mich mit meinenProblemen akzeptieren? Wie bekommt man das heraus?Man bekommt es heraus, indem man die Menschen ken-nen lernt. Nur über das Kennenlernen weicht die Angst vorden möglicherweise gefährlichen Menschen.

Abgesehen von den Menschen – Was brauchen wirzum Leben? Moses fragt danach, wie die Städte befestigtsind, ob das Land fruchtbar ist oder ob da nichts wächst,

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Im nachfolgenden Artikel berichtet Herr Matthias Mader,Theologe und Mitarbeiter der Caritas im Bistum Dresden-Meißen, von einem Studientag, der am 21. Mai 2003 inCottbus vom Caritasverband unter dem Titel: „Kinder undJugendliche, die anders sind“ veranstaltet wurde.

Zum einen ist die Wahl des Themas bemerkens-wert: Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffällig-keiten, besonders mit Hyperkinesen (die Zappelphilippe,die sich schlecht konzentrieren können und deshalb viel-fältige Schwierigkeiten gerade in Gruppen haben), neh-men in unserer Gesellschaft immer mehr zu. Jeder, der inder Pastoral mit Kindern und Jugendlichen tätig ist, hatdamit tagtäglich zu tun. Es stellt sich die Frage, wie kannman angemessen darauf reagieren, welche Verhaltens-weisen helfen hier weiter, wo kann man selbst oder diebetroffenen Familien professionelle Hilfe erhalten?

Besonders interessant an diesem Studientag istaber noch etwas anderes. Ausgeschrieben wurde diese

Veranstaltung sowohl für MitarbeiterInnen in der Pastoralals auch für MitarbeiterInnen der Caritas. Dadurch bietetsich die Chance, dass die in den beiden unterschiedlichenBereichen Tätigen, die es letztlich mit den gleichenKindern und Jugendlichen zu tun haben, sich gegensei-tig kennen lernen, zu einem Austausch kommen und dassdadurch eine Vernetzung erreicht werden kann. So ist esz. B. wichtig, als in der Pastoral Tätiger zu wissen, wo ei-ne Erziehungsberatungsstelle ist, an die man sich selbstwenden kann oder an die man eine Familie bei Bedarfverweisen kann. Umgekehrt suchen häufig Mitarbeiter-Innen von Beratungsstellen nach Orten, wo betroffeneKinder und Jugendliche ein Stück Beheimatung erfahrenkönnen. Dies kann z. B. in einem Chor, einer Messdiener-gruppe oder in einem offenen Treff einer Pfarrgemeindeder Fall sein.

Das Wissen umeinander kommt letztendlich denbetroffenen Kindern und Jugendlichen zugute. (kw)

32 _ Behinderung & Pastoral / Aus den Fachbereichen der Arbeitsstelle, Diözesen und Verbände

ob es Wasser gibt. Was brauchen wir zum Leben? EinenBeruf trotz Hörbehinderung – wir brauchen Gesetze, diedie Diskriminierung verhindern, wir brauchen dieBehindertenabgabe, wir brauchen finanzierbare Hörgeräteund Batterien, wir brauchen Hilfsmittel und vieles mehr.Und wir müssen sehen, was uns dieses verhindern undvorenthalten will. Nur so können wir die Situation verbes-sern, nur so kann etwas für die Hörgeschädigten erreichtwerden. Wir brauchen politische und gesellschaftlicheAnalyse und politisches Engagement.

Das zweite: Da geht keiner alleine rein. Keiner, dersich dem Fremden stellt, sollte allein sein. In derGemeinschaft weiß sich jeder der Zwölf stark genug, sichdem Unbekannten zu stellen. In der Gemeinschaft trautman sich, das Neue zu probieren. In der Gemeinschaftkann man Belastungen standhalten, bei denen man alleinein die Knie geht.

Ihr merkt liebe Freunde, der Text redet auch voneuch, Ihr, die Ihr Euch in den Vereinen organisiert, seid vondiesem Text gemeint. Ihr seid so ein Stoßtrupp in das un-bekannte Land. Ihr seid eine Gemeinschaft, in der Hör-geschädigte sich dem unbekannten Land des Anders-Hörens stellen können. Hier kann man sich aussprechenund offen von seinen Problemen reden. Hier weiß mansich von Menschen umgeben, die ähnliche Erfahrungengemacht haben und die einen verstehen können.

Euer Mut, eure Aufmerksamkeit, euer Fleiß bahnen ge-wissermaßen dem Volk der Hörgeschädigten den Weg.Eure Informationen bringen andere weiter, ihr bietet eureErfahrungen für andere an.

Was die anderen aus Euren Erfahrungen machen?Das ist ihre Sache, ob sie mit ihrer Hörschädigung weiterallein zuhause bleiben und jammern oder ob sie sich mitEuch politisch engagieren und bei Euch eine Heimat fin-den, das liegt nicht in eurer Hand.

Hauptsache, Ihr gebt Euer Zeugnis, wie man trotzHörbehinderung das Leben meistern kann, wie man trotzHörbehinderung gesellig leben kann, dass man sich auchwehren und sein Leben selbstbewusst bestimmen kann.So wie Kaleb am Ende mutig bezeugt: Wir werden es ge-wiss bezwingen. Hörschaden? – ihr könnt gewiss damit le-ben. Ihr braucht euch nicht unterkriegen zu lassen.

*Der Autor ist Fachreferent der Arbeitsstelle der DeutschenBischofskonferenz und Diözesanreferent für die Menschen mitSehschädigung und Schwerhörigkeit im Erzbistum Köln

** Der Redner ist Pfarrer in der Evangelischen Gehörlosen- undSchwerhörigenseelsorge in Düsseldorf

Gemeinsame Veranstaltung von Caritas und Seelsorge»Kinder und Jugendliche, die anders sind« – Einführung

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Behinderung & Pastoral / Aus den Fachbereichen der Arbeitsstelle, Diözesen und Verbände _ 33

Die Pastoral mit psychisch kranken Menschen war in denvergangenen Jahren das Thema zweier Studientage, die derCaritasverband für die Diözese Görlitz gemeinsam mit demBischöflichen Seelsorgeamt durchführte. Und es gelang,Pfarrer und Gemeindereferentinnen mit Sozialarbeitern undanderen MitarbeiterInnen gemeindepsychiatrischer Dienstean einen Tisch zu bekommen, um gemeinsam etwa überden hilfreichen Umgang mit depressiven Menschen zu spre-chen und so die unterschiedlichen fachlichen Perspektivenauszutauschen. Für dieses Jahr wurde von den Teilnehmern ein Überblicküber den Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie ge-wünscht. Mit der schließlich gewählten Themenstellungwollten die Veranstalter dann aber eine zu schnellePsychiatrisierung von verhaltensauffälligen Kindern undJugendlichen vermeiden. So ging es in der Diskussion dennauch immer wieder um die Fragen: Wann ist eine fachlicheHilfe überhaupt nötig und welche wird dem Kind am bestengerecht? Welche alltagsnahen Bewältigungsmöglichkeitengibt es sonst noch? Was tun, wenn wir merken, dass ei-gentlich die Eltern „anders“ sind und Hilfe bräuchten?.

Gut 30 MitarbeiterInnen der Jugend- und Gemeinde-seelsorge waren der Einladung zu diesem Studientag imCaritashaus in Cottbus gefolgt und brachten ihre spezifi-schen Erfahrungen und Anliegen mit ein.

Einen guten Einblick in die Vielfalt der Störungsbildervermittelte zunächst der Vortrag einer am Ort tätigen Kinder-

und Jugendpsychiaterin und -psychotherapeutin. Am Bei-spiel der Hyperkinesien wurde deutlich, dass die Eltern-erwartungen („Machen Sie mein Kind wieder gesund ...!“)ein nicht unwesentlicher Therapieaspekt sind und deshalbnicht nur das Kind, sondern das ganze Familienumfeld in denBlick zu nehmen ist.

Noch einmal ganz konkret wurden diese recht subti-len Zusammenhänge durch ein Gespräch mit einer jugend-lichen Klientin der Psychosozialen Kontakt- und Beratungs-stelle Forst und ihrer Mutter. Eine Mitarbeiterin dieser Stellemoderierte hier auf sehr einfühlsame Weise und gab so densehr persönlichen und deshalb auch mutigen Schilderungeneinen guten Raum.

Zum Abschluss kam noch einmal ein eigenerPraxiszugang zur Sprache: Wie können wir in Schule undJugendarbeit über seelische Probleme reden, wie könnenwir sie zum Unterrichtsthema machen? Materialien undErfahrungsberichte wie etwa das Schulprojekt von IrrsinnigMenschlich e.V. mit Sitz in Leipzig wurden von einemPsychiatrieseelsorger aus Dresden vorgestellt und für die ei-gene Umsetzung an die Hand gegeben.

Kinder und Jugendliche, die anders sind – im nächstenJahr soll dieses Thema mit einem anderen Akzent fortgeführtwerden.

* Der Autor ist Seelsorger im St.-Marien-Krankenhaus, Dresden,und Mitarbeiter der Caritas im Bistum Dresden-Meißen

Aus dem Ausstellungsprojekt: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, Köln

„Kinder und Jugendliche, die anders sind“Matthias Mader*

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Jericho

Susanne Krahe*

Ich bin der Blinde von Jericho, ein blinder Bettler wie eh undje. Ich hocke am Straßenrand der Oase und horche denSchritten der Leute nach, die mich hinter sich lassen wollen.Auf ihrem Weg nach Jerusalem kaufen sie Obst und Gemüseund leisten sich manchmal eine milde Gabe für meinenBettelkorb. Bevor sie hinaufpilgern, dorthin, wo manchmalnoch Schnee liegt, tummeln sie sich noch ein bisschen inJerichos Sonne.

Bartimäus heiße ich. Nach meinem Vater. Hier in derOase kennen mich alle: den Bettler, dem eine Granate das hal-be Gesicht weggerissen hat. Besonders die Touristen haben

Mitleid mit dem Opfer des Attentats, mit meinen ausgelösch-ten Augen. Zwar schauen sie regelmäßig an den Narben vor-bei auf die Brille, aber ihr Mitleid zahlt sich in klingender, schep-pernder, metallisch klirrender, manchmal über die Straße rol-lender Münze aus. Hemdsärmel streifen mich an der Schulter,wenn sie mir Almosen in den Korb werfen, immer von obenherab. Die Temperatur dieser Hände verrät mir den Grad ihresBedauerns. Klick macht es, klick. Japanische Kameras konser-vieren meinen elenden Anblick. Wer schon nichts sehen kann,soll wenigstens betrachtet werden. Ich mache mich gut imPanoptikum, ich spiele eine wichtige Statistenrolle.

Vor dieser Kulisse hat Jesus nichts zu suchen, ich weiß.Jesus gehört nicht in die Geschichte der Bombenattentate unddes geteilten Jerusalems. Die Wege zwischen Jericho und derHauptstadt sind asphaltiert und schnell, viel zu gefährlich fürFußgänger. Und an den Mauern der Hauptstadt wird niemandmit Palmwedeln empfangen. Diese Szenen gehören zu den al-ten Filmen, die heute keiner mehr anschaut.

Trotzdem sitze und horche und warte ich auf seineStimme. Ja, ich warte auf Jesu Stimme. Es ist eine ganz unsin-nige Hoffnung; bloß weil ich blind bin und Bartimäus heiße,Bartimäus wie mein Vater und wie der Vater meines Vaters. DieZeiten der Wunder sind vorbei, sagen die Leute, und wie wür-den sie sich aufregen, wenn ich plötzlich unter meinem Mantelhervorkriechen und nach dem Sohn Davids schreien würde,dem Sohn Davids, der sich meiner erbarmen möge, erbarmen!

Halt den Mund, Bartimäus. Oh, meine Fantasie erfindetschon ihre Proteste. Halt die Klappe, Schreihals, die Wunderheilerhaben jede Menge zu tun, die berühmten Augenchirurgen,Starstecher und Hornhaut-Transplanteure haben auf Jahre hin

keine Operationstermine mehr frei. Zu viele Splitter in zu vie-len zerbombten Augäpfeln. Zu viele Balken vor den großen,teuren Kliniken. Zu viele Bretter vor ihrem und vor deinem Kopf,Bartimäus. Ach, halt den viel zu großen, viel zu anspruchsvol-len Mund.

Klick, sagt es wieder. Und eine Münze rollt in den Korb.Ich greife in den klappernden Haufen und schätze meine heu-tige Ausbeute ab. Wie immer kommt zuviel zusammen, um zuverhungern. Wie immer muss ich zufrieden sein. Lieber wäreich Masseur, Telefonist oder EDV-Fachmann, als zu betteln.Heutzutage gibt es ja Möglichkeiten für uns Blinde. Aber das

Betteln, das Warten hat mich geduldig gemacht, hat michBeharrlichkeit gelehrt. Ich bleibe dabei, allem Augenscheinzum Trotz: Davids Sohn wird kommen. Davon bringt kein Realomich mehr ab.

Sobald ich den Druck seiner Sandalen unter meinenHüften vibrieren spüre, stimme ich mein Geschrei an. Erbarmedich, erbarme dich meiner! Das kann er unmöglich überhören.Und das hört er auch, über das Abwinken der Leute hinweg.Und er ruft Bartimäus zu sich. Und Bartimäus wirft den viel zuengen, viel zu warmen Mantel von der Schulter. Und Bartimäuswankt auf seine Stimme zu, tapsig und schwankend und mitweit vorgestreckten Armen. Bartimäus ohne den Blindenstab.Bartimäus ohne Krücke.

Jetzt steht er mir gegenüber, ein balsamisch duftender,mittelgroßer Herr mit minzenem Atem. Er fragt mich: Was sollich dir tun?

Und Bartimäus streckt die Hand nach der Rechten desMeisters aus, um ihre Temperatur zu schätzen. Und er packt dieglühende Faust und schmuggelt die eigenen Finger in dieMulde. Und Bartimäus fühlt sich für Sekunden geborgen. Undspricht: Dass du mich führen lehrst und neben mir gehst, ummir die Stolpersteine anzusagen. Das will ich, dass du mir tust.Dass du mich neben dir atmen und tasten lässt und auf michwartest, wenn ich langsam bin. Und das wäre alles. Denn dieZeit der Wunder ist vorbei, und in Jerusalem warten die Henker.Klick, macht es wieder. Ein Foto, ein Almosen für meinen klin-genden Korb. Ich zähle mit schweißigen Fingern die Münzenund finde ihn auf Anhieb, den maserungslosen Hosenknopf.

* Die Autorin ist evangelische Theologin und freie Schriftstellerin

(Foto: SENSUM, Wiesbaden, Bernd Schermuly)

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Behinderung & Pastoral / Aus den Fachbereichen der Arbeitsstelle, Diözesen und Verbände _ 35

Fest für Körper und SinneVom Miteinader zum Füreinander – Ein Projekt zur Festkultur im BistumLimburg

Jochen Straub*

Eine klassische AnfangssituationDie Anfänge des Festes für Körper und Sinne haben ei-gentlich sehr wenig mit dem Fest an sich zu tun. AmAnfang stand vielmehr die Kenntnis, dass im BistumLimburg die Seelsorge für Menschen mit Behinderung anganz verschiedenen Orten von ganz verschiedenenPersonen für ganz verschiedene Zielgruppen gelebt undgefüllt wird. Eine sehr klassische Situation, die sicher beivielen Lesern genau so empfunden wird. Auch die Fragen,die wir uns gestellt haben, sind Ihnen vielleicht bekannt:„Was machen eigentlich ‚die Anderen‘?“ Und: „Was müs-sten und könnten wir eigentlich zusammen machen?“

Am Anfang war die Sitzung! – Vom Anfang zum WegEin erstes Treffen der Seelsorgerinnen und Seelsorger inder Pastoral für Menschen mit Behinderung im BistumLimburg machte den Anfang. Gegenseitiges Kennen-lernen der Personen und Arbeitsfelder mit Austausch warein erster Schritt, dem der Wunsch folgte, diesenAustausch zu kultivieren. Schnell war im Bewusstsein,dass es hier nicht nur um einen formalen Prozess gehensollte sondern auch um einen inhaltlichen. Doch wie soll-te dieser gestaltet werden? – Nur am Konferenz- oderSitzungstisch – so war es allen bewusst – war zu wenig.Schnell kam die Idee, ein großes gemeinsames Fest zu fei-ern. Dazu sollten alle Einrichtungen, Gruppen undVerantwortlichen im Bistum eingeladen werden: zumMitfeiern und zum Mittun. Vier Bereiche waren uns dabeiwichtig: die Liturgie, Information, Begegnung und Unter-haltung. In jedem Bereich konnten Gruppen sich einbin-den und mittun und somit in einen gemeinsamenBegegnungs- und Erfahrungsprozess kommen.

Die erste Idee: Ein Fest in der Mitte des LebensMitten ins Leben wollten wir gehen. Dazu gibt es imBistum keinen stärker frequentierten Ort als Frankfurt. DiePaulskirche mit Paulsplatz schien uns als prominenter,zentral gelegener Ort eine gute Adresse zu sein. Das Festwurde für einen Samstag geplant, einen Tag an dem sichgroße Besucherströme auf der benachbarten Haupt-einkaufsstraße und im Bereich des Festplatzes bewegen.Der Tag begann mit einem Festgottesdienst mit Weih-bischof Gerhard Pieschl. Die Liturgie war die erste großeBeteiligungsmöglichkeit für Gruppen des Bistums: über100 Musikanten, Sängerinnen und Sänger spielten und

sangen Vorsängerverse oder Wechselgesänge mit derGemeinde. Tanzgruppen Gebärdenchor und Theater-gruppen gestalteten die Lesung, die Fürbitten, den Evan-gelientext und das Vater unser.

Von der Kirche ging es in einem bunten Zug zum Festplatz.Dort warteten über 30 Foren vom Mini-Gebärdenkursüber Sinneserfahrungen bis zum Rolliparcours. EinBühnenprogramm von fast 4 Stunden bot im Viertel-stundentakt Eindrücke aus Gruppierungen und Ein-richtungen des Bistums mit Tanz, Musik, Schauspiel undvielem mehr. Eine Ausstellung in der Wandelhalle derPaulskirche mit über 100 Exponaten lud ein, Kunst behin-derter Menschen wahrzunehmen. Den Abschluss desFestes bildete eine Vorstellung des Frankfurter Evangelien-spiels in den Ausgrabungen vor dem Frankfurter Dom.Hier spielte die Gehörlosengemeinschaft PAX FrankfurtSzenen aus dem Leben Jesu. Insgesamt nahmen über2000 Menschen die Einladung zum „Fest für Körper undSinne“ in Frankfurt an. Für viele waren besonders derzwanglose Umgang miteinander und die gelungenenAngebote Grund zur Zufriedenheit mit dem Tag.

Die zweite Idee: Ein Fest mit „Wurzeln des Lebens“Mit dem Fest für Körper und Sinne in Frankfurt sollte derbegonnene Prozess nicht zu Ende sein. Die Annäherungder verschiedenen Gruppen und Einrichtungen ging wei-

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ter. Viele Gruppen hatten sich in Frankfurt kennen gelerntund besuchten sich nach dem Fest. Viele wünschten sichauch: Es soll ein weiteres Fest geben. Dies war uns Auftrag,ein zweites Fest zu planen. Ohne mit der Idee der erstenVeranstaltung unzufrieden zu sein, planten wir einige Än-derungen bezüglich Verortung und Inhalt des Festes ge-rade auch im Blick auf schwerer beeinträchtigteMenschen. So wurde das zweite Fest im Jahr 2002 mitdem inhaltlichen Schwerpunkt „Wurzeln“ in einerKleinstadt im Westerwald gefeiert. Nach der Begrüßungim großen Saal der Bürgerhalle gingen die 800Teilnehmerinnen und Teilnehmer in 38 Workshops. DerAbschluss der Workshops war sinnenhaft: Es gabMittagessen. An mehreren Ständen gab es die Möglichkeitzu schnuppern und aus fünf verschiedenen Gerichten et-was für den Gaumen auszusuchen: von Schlupfnudelnüber Pfannengyros mit Krautsalat bis hin zur klassischenBratwurst. Das alles gab es dank Sponsoren zu einem sehrgünstigen Preis, den sich jede und jeder leisten konnte.Die Essensstände umrahmten den Vorplatz, wo es auchMöglichkeiten zum Sitzen gab. Die Mitte des Platzes bil-dete das Projekt einer sozialen Installation zum Thema„Wurzeln“. Es gab die Möglichkeit, sich mit Stöcken an ei-nen Stamm anzulegen und damit eine große Wurzel aus-zulegen. Somit war das Thema augenscheinlich präsentund in Bewegung. Vom Vorplatz aus konnte dasBühnenprogramm in der Halle verfolgt werden, das vonDiözesancaritasdirektor Hanno Heil moderiert wurde undInhalte aus den Workshops zum Besten gab: Lieder,Tänze, Bilder, gemalte Fahnen, Jonglage und anderes.

Ein großer Festzug durch die Stadt mit verschiedenenMusikkapellen führte die Teilnehmerinnen und Teilnehmerzum Abschlussgottesdienst mit Bischof Franz Kamphausin den „Westerwälder Dom“, die Pfarrkirche von Wirges.Auch hier war es eine bunte Liturgie unter großer inhalt-licher Beteiligung von Menschen mit Behinderung durch

Einbindung von Workshops des Vormittages. Auch wenndieses Fest ganz anders konzipiert war als das erste, wa-ren die Rückmeldungen der Beteiligten sehr gut.

Die dritte Idee: FestkulturZwei gute Modelle und zweimal gute Erfahrungen. Für dieZukunft planen wir einen Wechsel der beidenAusstellungsmodelle in zwei- bis dreijährigem Rhythmus.Folgende Chancen sehen wir:

Das Fest für Körper und Sinne ist integrativ:Menschen nehmen einander wahr und begegnen sich un-abhängig vom Vorliegen oder der Art einer Behinderung.

Das Fest für Körper und Sinne ist inspirativ:Neue Kooperationsmöglichkeiten im Bistum werden ent-deckt und unterschiedliche Kompetenzen wahrgenom-men.

Das Fest für Körper und Sinne hat seinen Sitz imLeben:Menschen mit Behinderung feiern ihr Fest, und wir „Profis“geben nur den Rahmen dazu. Das ist ein Qualitäts-merkmal für eine kostbare „Innere Qualität!“

Das Fest für Körper und Sinne ist religiös:Hier hat Kirche mit dem Alltag von Menschen zu tun undlädt mit offenen Armen ein – alle sind willkommen!

Das Fest für Körper und Sinne ist noch vieles mehr: Wer es erlebt hat, könnte Stunden erzählen oder schrei-ben – ich mache hier einen Punkt.

* Der Autor ist Leiter des Referates Seelsorge für Menschen mitBehinderung im Bistum Limburg

Gottesdienst mit Bischof Dr. Franz Kamphaus, dem Ortspfarrer und Behindertenseelsorgern des Bistums.

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Unser SchatzEin behindertes Kind im Gemeindegottesdienst

Roswitha Hoeffgen, Selb

Wir haben in unserer Gemeinde einen Schatz, der uns immer wieder deutlich macht,was eigentlich geschieht, wenn wir Gottesdienst feiern. Er lässt uns teilhaben an allem,was er gerade erfasst hat – sei es ein Gebet, eine Geste oder etwas anderes –, undführt uns dessen Bedeutung ganz neu vor Augen. Unser Schatz heißt Benjamin und istmongoloid.

VorbeterWir haben miterlebt, wie er lernte, vor Gott still zu werden. Er schaffte das besser alsmanche von uns, die dabei oft ihre Mitmenschen aus dem Blickfeld verlieren. Er bliebdankbar und fürsorglich zugleich seinen Banknachbarn zugewandt. Als er dasVaterunser gelernt hatte und zum ersten Mal laut mitbetete, wurde er zum Vorbeter,weil alle anderen leise wurden vor diesem Beten. Als er mit anderen Kindern imAltarraum zum ersten Mal den Friedensgruß austauschte, ging er zu jedem einzelnenund beeindruckte durch seine Herzlichkeit.

Messdiener Als Benjamin zum ersten Mal ministrierte, haben die Mitfeiernden so aufmerksam dasGeschehen am Altar verfolgt wie schon lange nicht mehr – nicht weil sie auf Fehlerwarteten, die hätte man ihm verziehen! Nein er zeigte allen, was eigentlichMessdienersein meint: Nur der Demütige wird beschenkt und kann wiederum anderebeschenken – durch deren solidarische Hilfe oder auch nur durch das staunendeVerfolgen dessen, was am Altar geschieht. Viele von uns haben es verlernt, zu staunenund Gott seiner Größe wegen zu preisen. So eine tief ausgedrückte Gläubigkeit wie inder Haltung von Benjamin fehlt uns oft.

Groß vor GottWir, die in der Woche oft unter Leistungsdruck stehen, konnten mit Benjamin amSonntag im Gottesdienst erfahren: Vor Gott muss ich nicht großartig sein. Wenn ermich groß haben will, macht er mich groß. Wichtig ist, auf Gottes Wort zu hören, es be-reitwillig aufzunehmen und es im gläubigen Vertrauen zu leben.Wir in unserer Gemeinde können Gott nicht genug danken für dieses gelebte Beispielseiner Güte. Ich wünsche jeder Gemeinde so einen „Schatz“, durch den sie im Herzenergriffen wird von Gottes Botschaft.

Aus: Praxis Gottesdienst (Juli 2003) – Materialbrief der Liturgischen Institute Deutschlands,Österreich und der Schweiz

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2003 – ein besonderes JahrDas Jahr 2003 ist schon jetzt ein besonderes Jahr. Es istdas Europäische Jahr der Menschen mit Behinderung. Inunseren Kirchen steht dieses Jahr aber auch unter derÜberschrift „Suchen und Finden. – 2003 – Das Jahr derBibel.“ Um beide Anliegen zu verbinden haben wir einenBibelmal- und -zeichenwettbewerb ins Leben gerufen:Bibelbilder – Menschenbilder

Bibelbilder – MenschenbilderDie Idee und Durchführung des Wettbewerbs lag in denHänden einer ökumenischen Arbeitsgruppe. Sie bestandaus Pfarrer Helmut Bellinger, BehindertenseelsorgeBistum Mainz, Pfarrer Peter Diekmann, EvangelischeBehindertenseelsorge Mainz, Cornelia Marschner,Evangelische Behindertenseelsorge, Gießen, und mir,Jochen Straub, Referat Behindertenseelsorge BistumLimburg. Hier lag zugleich die Koordination desWettbewerbs.

Einladung und AuftaktIm Januar 2003 eröffnete Dr. Peter Steinacker, derKirchenpräsident der EKHN, mit Vertretern der beiden ka-tholischen Diözesen den Wettbewerb in Mainz. Zeitgleichwurden Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen,Familien, Gemeinden, Selbsthilfegruppen mit Flyern ein-geladen, ihren Glauben zu malen. Die Schirmherren luden

ein mitzumachen, unabhängig von Art und Grad derBehinderung:

DurchführungVom 7. Januar bis 15. April 2003 malten die Künstlerinnenund Künstler Bibelstellen aus Altem und Neuem Testa-ment nach freier Wahl. Eine Liste mit Vorschlägen beson-ders bildreicher Bibelstellen konnte als Hilfe angefordertwerden. Die Bilder durften nicht größer als DIN A3 sein.Je näher der Einsendeschluss kam, um so überraschterwaren wir: fast 500 Kunstwerke trafen ein, verteilt auf dreiAltersgruppen: Kinder (bis neun Jahre), Jugendliche (bis27 Jahre) und Erwachsene (ab 27 Jahren). Ansporn fürdiese große Beteiligung waren sicherlich auch die Preise,denn es lockten mehrtägige Reisen nach Südtirol, Italienund Wochenenden im Schwarzwald und an verschiede-nen Orten in Hessen, jeweils mit einem Freiplatz fürAssistenz! Als Jury standen uns kompetente Fachleute zurSeite: Frau Anne Esser, Künstlerin aus Wiesbaden, HerrProf. Rolf Speemann, Kunstprofessor und Bildhauer ausWiesbaden, und Herr Dr. Kotzur, Leiter des Diözesanmu-seums in Mainz.

Die Jury hatte es besonders schwer, denn die Vielfaltder Bilder bezog sich auf ganz unterschiedliche Bibel-stellen im Alten und Neuen Testament, und war jedes fürsich einzigartig, aber auch von sehr unterschiedlicherQualität. Die unterschiedlichen Fähigkeiten der Künst-

Aug’ in Aug’ mit dem Walfisch – der etwas andereMalwettbewerbJochen Straub*

Das Titelbild zur Ausstellung malte: Herr Ralf Krämer, Mühltal (2. Sieger Erwachsene)

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lerinnen und Künstler waren zu erspüren, sollten abernicht durch Einsortieren in die klassischen Formen vonBehinderung bewertet werden. Es lagen also Bilder psychischbehinderter, sinnesbehinderter, körperbehinderter, lern-und geistigbehinderter sowie schwerstmehrfachbehinderterMenschen „auf Augenhöhe“ zur Bewertung. An einem Tagwurden alle Bilder begutachtet und schließlich die Siegerausgewählt. Zusätzlich zu den Siegerbildern hatten noch eini-ge weitere Bilder die Chance, Teil einer Wanderausstellung zuwerden, und am Ende waren die 45 besten Bilder prämiert.

„Religiöse Kunst von Menschen mit Behinderung“......unter diesem Titel fand der Abschluss von Bibelbilder –Menschenbilder am 13. Juli in Wiesbaden statt.

Im Rahmen einer Vernissage wurden die Preisträgergewürdigt, und die Bilder konnten bewundert werden. EinGottesdienst in der Stadtkirche von Wiesbaden bildeteden Auftakt. Vertreter der Schirmherren beteten und san-gen mit den über 300 angereisten Künstlerinnen,Künstlern und Gästen. Die Siegerbilder, die auf eineGroßleinwand gebeamt wurden, waren Bezugspunkte derLiturgie, und die Band „Conny P.“ einer FrankfurterEinrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung be-gleitete den Gesang. Danach wurden die Preise an diestolzen Teilnehmerinnen und Teilnehmer verliehen undauf die Kunstwerke angestoßen. Ein Eintrag im Gästebuchzur Ausstellung spricht für sich: „Jedes Bild ist ein Unikatund als solches zu würdigen, als Ganzes gesehen ist eseine wunderbare Komposition. Auch die Art derPräsentation an einem ‚heißen Nachmittag‘ gab denKünstlerInnen den ihnen gemäßen Rahmen – Danke!“

Was bleibt? – Ein Blick in die ZukunftIm Team bleibt sicherlich die Erinnerung an einen span-nenden ökumenischen Prozess und an die vielenRückmeldungen von Menschen mit Behinderungen. ZurZeit werden die Portraits der Künstlerinnen und Künstlergesammelt in der Hoffnung, die besten Bilder als Buchherauszubringen. Es bleibt – und ist – die Freude über ei-ne großartige Wanderausstellung von 45 Exponaten, diein den nächsten Monaten die Reise über Wiesbaden,Limburg, Offenbach, Gießen, Herborn, Dillenburg,Frankfurt, Mainz, Darmstadt und Montabaur antreten wird.Bis Oktober 2004 ist die Ausstellung ausgebucht, kann da-nach allerdings gerne ausgeliehen werden. Nicht zuletztdurch die große Reihe der Ausstellungsorte im monat-lichem Wechsel bekommt die Kombination der beidenJahresthemen eine besondere Bedeutung. Durch dieBilder von Bibelbilder – Menschenbilder wird unserAnliegen weitergetragen, dass bei einem ganzheitlichenMenschenbild das Urbedürfnis des Menschen nachReligiösität nicht aus dem Blick geraten darf und dassMenschen mit Behinderung eine besondere Kompetenzin der Erfahrung, Deutung und Verkündigung unsereschristlichen Glaubens haben.

* Der Autor ist Leiter des Referates Seelsorge für Menschen mitBehinderung im Bistum LimburgJochen Straub ist Sprecher des Arbeitskreises Seelsorge undTheologie der Bundesvereinigung Lebenshilfe und Mitglied imKuratorium der Arbeitsstelle Pastoral für Menschen mitBehinderung der Deutschen Bischofskonferenz.

1. Preis Jugendliche: Julia Gurenko, Selzen

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Ökumenisch, international, französischsprachig, imMittelpunkt: Menschen mit geistiger Behinderung, dassind die Merkmales des „Colloque œcuménique interna-tional de pastorale specalisée“. In diesem Jahr war es das10. Mal, dass sich Seelsorgerinnen und Seelsorger ausFrankreich, der Schweiz, der Niederlanden, Belgien,Luxemburg und Deutschland eine Woche lang trafen.Vorträge örtlicher Referenten, Besuche von Einrichtungendienen dazu, Gemeinsamkeiten und Unterschiede inEuropa wahrzunehmen. Kollegen und Kolleginnen aus an-deren Ländern und anderen Kirchen begegnen einanderim Austausch, ökumenischen Gottesdiensten und einemtouristischen Nachmittag.

Thema des diesjährigen Kolloquium in Fribourg/Schweiz war: „Citoyenneté, droits et devoirs des person-nes mentalement handicapées“ – „Bürger sein – Rechteund Pflichten von Menschen mit geistiger Behinderung“

J.-L. Lambert, Professor der heilpädagogischenFakultät der Universität Fribourg, verwies darauf, dass dieWahrnehmung von Rechten und Pflichten eineSelbstbestimmung voraussetzt. Selbstbestimmung meineaber nicht die vollständige Kontrolle über alle eigenenEntscheidungen und Wahlmöglichkeiten. Es gebe auf die-ses Ziel hin durchaus Abstufungen. Auch schließeSelbstbestimmung keineswegs aus, dass Menschen Hilfenvon anderen Personen in Anspruch nehmen dürften. ImGegenteil: Menschen mit geistiger Behinderung könnenund sollen Unterstützung erhalten, die ihnen hilf auf demWeg zur größeren Autonomie.

Gerade die Tatsache, dass Menschen mit geistigerBehinderung auf Hilfe zur Selbstbestimmung angewiesensind, verführt im Alltag dazu – verschärft in Einrichtungenmit knappen personellen Ressourcen –, die Rechte faktischaußer Kraft zu setzen. Ein Beispiel, das die Sozialarbeiterineiner besuchten Einrichtung gibt: Alle Hinweisschilder inder Einrichtung sind mit Piktogrammen ausgestattet, da-mit auch schwer behinderte Menschen sie „lesen“ kön-nen. Nur die persönlichen Briefkästen haben noch denNamen der BewohnerInnen, obwohl kein(e) BewohnerInlesen oder schreiben kann. Das ist nur ein vergleichswei-se harmloses Beispiel. Die grundlegenden Persönlichkeits-rechte verlangen immer wieder eine gründliche Überprü-fung der alltäglichen Praxis.

Ruth Lüthi, Staatsrätin für Gesundheit und Sozialesdes Kantons Fribourg, machte deutlich, dass Staat undGesetze die Grundlage für die Wahrnehmung von Rechtenund Pflichten schaffen könnten und müssten. DieAusübung geschehe aber eigentlich durch dieZusammenarbeit im sozialen Kontext.

Diesen Gedanken führte Marc Donze, katholischerPastoraltheologe der Universität Fribourg, fort. Die Rechtebehinderter Menschen ergeben sich aus der Würde derPerson. Über die Pflichten zu sprechen fällt schon schwe-rer. Er trat dafür ein, den juridischen Sprachraum der Redevon Rechten und Pflichten zu verlassen. Sie beziehe sichnämlich auf ein fragwürdiges Bild eines vollständig auto-nomen, aber auf sich selbst bezogenen bürgerlichenSubjekts. Dagegen versteht Donze „Bürger sein“ als dieEinbeziehung in das ganze soziale System, sofern dieIdentität der Person, der anderen und der Gemeinschaftgewahrt ist. Statt von Rechten und Pflichten zu sprechen,böten sich die Begriffe „Geben“ und „Erhalten“ an. DieGesellschaft gebe den Menschen mit Behinderung einegewisse wirtschaftliche und soziale Sicherung. Was gebendie Menschen mit Behinderung der Gesellschaft? Es seioffensichtlich, dass diese Kompensation nicht symme-trisch verlaufen könne. Was die Menschen mit geistigerBehinderung der menschlichen Gemeinschaft geben, sei,dass sie „da“ sind. Marc Donze meint damit, dass sie z. B.die Verschiedenheit in Gleichheit aller Menschen, dasSchwache als Kriterium sozialen und politischen Handelnseinbringen oder die ökonomische Einwertigkeit mensch-licher Existenz in neoliberalen Gesellschaften in Frage stel-len.

Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Colloquesind mit vielen Anregungen und der Herausforderungnach Hause gefahren, Menschen mit geistigerBehinderung zu unterstützen, ihren angemessenen Platzin den gesellschaftlichen Realitäten Europas einzuneh-men. Die Kirchen können dazu einen Beitrag leisten. Derweite, ökumenische Horizont pastoralen Handelns, dersich im kollegialen Austausch verschiedener Kirchen undLänder auftut, macht diese Woche wertvoll.

Das nächste „Colloque“ wird im März 2005 inLuxemburg stattfinden.

* Der Autor ist Diözesanbeauftragter für Behindertenseelsorgeim Bistum Aachen

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Bürgerrechte und Bürgerpflichten für Menschen mit geistigerBehinderungColloque œcuménique international de pastorale specalisée v. 24. bis 28. März 2003 in Fribourg/Schweiz

Hannes Peters*

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KURSE – VERANSTALTUNGEN – TERMINE

Zusatzqualifikation pastoraler Dienste in der Seelsorgefür Menschen mit Hörschädigung 10 Teilnehmer aus neun (Erz-)Diözesen nehmen an dieser Ausbildung teil. Die Zusatzqualifikation endet im Februar 2005.

Zusatzqualifikation pastoraler Dienste in der Seelsorge für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung 15 Teilnehmer aus neun (Erz-)Diözesen (davon ein Teilnehmer aus Luxemburg und Österreich) haben dieAusbildung begonnen und werden diese im Februar 2006 abschließen.

Zusatzqualifikation mit psychischer Erkrankung und BehinderungIm November 2004 wird o. g. Lehrgang starten. Geplant sind hierfür folgende Kurswochen:Einführungstage: 9. bis 10. September 2004

1. Kurswoche: 15. bis 19. November 20042. Kurswoche: 14. bis 18. Februar 20053. Kurswoche: 9. bis 13. Mai 2005

Für die 4. Woche ist der Zeitraum vom 7. bis 11. November 2005, für die 5. Woche 16. bis 20. Januar 2006, fürdie 6. Woche 8. bis 12. Mai 2006 angefragt.Die Ausbildung findet im Kardinal-Schulte-Haus, Bensberg, statt.Die Kosten für den Gesamtkurs belaufen sich auf: ca. 4.000,00 € inklusive Übernachtung und Verpflegung.Nähere Informationen gibt es Ende Januar 2004. Sie können diese aktuell im Internet unterwww.behindertenpastoral-dbk.de abrufen oder wenden sich an die Arbeitsstelle.

Aus dem Bibelmal- und Zeichenwettbewerb, Bistum Limburg

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Jahrestagung 2004 der Diözesan-Seelsorger, Diözesan-Referenten/innen und Diözesan-Beauftragten in der„Pastoral für Menschen mit Sehschädigung“:Fachtagung vom 28. bis 29. Januar 2004 im Roncallihaus, MagdeburgThemen: „Spiritualität als Proprium in gewandelten gesellschaftlichen Strukturen“ und Jugendpastoral – Trends, Veränderungen als Seismograph für gesellschaftliche VeränderungenJahreskonferenz vom 29. bis 30. Januar 2004 im Roncallihaus, Magdeburg

Jahrestagung 2004 der Diözesan-Seelsorger, Diözesan-Referenten/innen und Diözesan-Beauftragten in der„Pastoral für Menschen mit Hörschädigung“:Jahreskonferenz 3. bis 4. Februar 2004 im Erbacher Hof, MainzFachtagung vom 4. bis 5. Februar 2004 im Erbacher Hof, MainzThema: „Eigenverantwortung Gehörloser in der Hörgeschädigtenpastoral und das Selbstverständnis derGehörlosenseelsorger!“

Jahrestagung 2004 der Diözesan-Seelsorger, Diözesan-Referenten/innen und Diözesan-Beauftragten in der„Pastoral für Menschen mit psychischer Erkrankung“:Jahreskonferenz vom 17. bis 18. Februar 2004 im Maternushaus, Köln

Jahrestagung 2004 der Diözesan-Seelsorger, Diözesan-Referenten/innen und Diözesan-Beauftragten in der„Pastoral für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung“:Fachtagung vom 22. bis 25. März 2004 im Bennohaus, SchmochitzThema: „Unbehindert miteinander Leben und Glauben teilen“ „Gemeinde als behindertenfreundlicher, integrativer Ort“. Referent Prof. Dr. Herbert Haslinger, Theol. Fakultät PaderbornJahreskonferenz vom 25. bis 26. März 2004 im Bennohaus, Schmochitz

Termine

ImpressumHerausgeber: Arbeitsstelle Pastoral für Menschen mit Behinderung der Deutschen BischofskonferenzVerantwortlich: Dr. Hermann-Josef Reuther, Leiter der ArbeitsstelleRedaktion: Andreas Heek (ah), Johannes Schmitz (js),Klaus Walter (kw), Katharina Gall (kg)Mitarbeit: Karl-Hermann Büsch (khb), Franz M. Herzog (fhz), Dr. Juliane Mergenbaum (jm), Dr. Hermann-Josef Reuther (hjr), Hans Peter Bleck (hpb)Geschäftsstelle: Arbeitsstelle Pastoral für Menschen mit Behinderung der Deutschen BischofskonferenzGeorgstraße 20, 50676 Köln Telefon: 0221/27 22 09 00Fax: 0221/16 42 71 00 e-mail: [email protected]

Ausgabe: 03/2003; 2. Jahrgang Bezug: Über die ArbeitsstelleLayout: Maya Hässig, KölnDruck: Zimmermann GmbH, Medien, Köln

„Behinderung & Pastoral“ erscheint zweimal im Jahr. Alle Artikel im Internet unter: www.behindertenpastoral-dbk.de

Themenschwerpunkt Heft 04 „Caritas und Pastoral"Alle Artikel im Internet unter: www.behindertenpastoral-dbk.de

Redaktionsschluss für die nächste Ausgabe 15. März 2004(Erscheinungstermin: Frühjahr/Sommer 2004)

42 _ Behinderung & Pastoral / Kurse – Veranstaltungen – Termine

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Buchtipps und Materialien

Schulprojekt zur Rezeption des bischöflichen Wortes:„unBehindert Leben und Glauben teilen“

Joachim Schick*

Sich einmischen – für die Würde und Rechte von Menschen mit Behinderung in der Biomedizin

Textgrundlage: unBehindert Leben und Glauben teilen (S. 19 - 21)

Arbeitsauftrag I.:Beantworte aus dem Text folgende Frage/n:• Welche Position beziehen die Bischöfe zur Pränataldiagnostik und zur Präimplantationsdiagnostik und wie

begründen sie ihre Position (im Blick auf die ethischen Grundlagen wie die möglichen Folgen)?• Wie stehen die Autoren zur Frage der ärztlichen Vorsorgepflicht und der Frage der Haftbarkeit der Ärzte für ihre

Diagnosen?

Arbeitsauftrag II.: Stelle die Antworten auf folgende Weise dar:1. Erstelle ein Thesenpapier für die anderen Schüler/innen.2. Erstelle ein Faltblatt, auf dem werdende Eltern über die (ethische) Bewertung von Pränataldiagnostik und

Präimplantationsdiagnostik aus Sicht der Bischöfe informiert werden.Erstelle ein Schreiben an Ärzte, vor allem an Frauenärzte, das die Meinungen der Bischöfe darstellt und konkreteErmutigungen für die Ärzte bietet.

Schüler/innen der Klassenstufe 10 am „Otto-Kühne-Gymnasium“ in Bonn erarbeiteten sich im Kontext desReligionsunterrichtes die Intention und Grundanliegendes Schreibens „unBehindert Leben und Glauben teilen“,das anlässlich des Europäischen Jahres der Menschen mitBehinderungen 2003 von den deutschen Bischöfen ver-öffentlicht wurde. Die Rezeption wichtiger Passagen orientiert sich dabeistets an folgender Aufgabenstellung:• Zuerst sollen die Schüler/innen das Wort der deutschen

Bischöfe mit Hilfe von Fragen zum Text und desThesenpapiers verstehen und sichern lernen sowie un-ter Zuhilfenahme des Thesenpapiers den anderenSchüler/innen vorstellen.

• Danach sollen sich die Schüler/innen kreativ mit demText und seinen Gedanken auseinander setzen und dasgeschriebene Wort umgestalten bzw. in eine andereForm bringen.

Durch den Vortrag und die Vorstellung in der Lerngruppekann Folgendes überprüft werden:• Haben die Schüler/innen die Problematik des Textes wie

auch die Antwort/en der Bischöfe verstanden und kön-nen sie diese inhaltlich verständlich und methodisch an-sprechend für die Mitschüler/innen sowie für ein größe-res Publikum darstellen?

• Ist die „Reduktion“ des Textes auf seine wesentlichenAussagen und die Umgestaltung vom informativ-beleh-renden Text in eine andere literarische und künstlerischeGattung gelungen?

Die Ergebnisse können – je nach Qualität – einer breiterenÖffentlichkeit (z. B. einigen in den Arbeitsaufträgengenannten Zielgruppen) vorgestellt werden. Im Rahmendieser Veröffentlichung kann auch das Gespräch und derAustausch mit anderen Menschen gesucht werden.

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44 _ Behinderung & Pastoral / Buchtipps und Materialien

Ungewohnt verschieden – für ein gewandeltes Verhältnis menschlicher Behinderung

Textgrundlage: unBehindert Leben und Glauben teilen (S. 9 - 12)

Arbeitsauftrag I.:Beantworte aus dem Text folgende Frage.• Gegen welche falschen Vorstellungen und Einstellungen gegenüber „Behinderten“ spricht sich der Text aus?

Arbeitsauftrag II.: Stelle die Antworten auf folgende Weise dar:1. Erstelle ein Thesenpapier für die anderen Schüler/innen.2. Erstelle einen Flyer mit zwei gegenüberliegenden Seiten.

* Seite 1: „Es ist ein Irrtum zu glauben, dass Behinderte ...“* Seite 2: „In Wirklichkeit sind Behinderte ...“Belege aus dem alltäglichen Leben die These des Textes: „Nur selten steht ihnen (= den Behinderten) einegleichberechtigte Teilhabe und barrierefreie Teilnahme am öffentlichen Leben offen.“

Gelebtes christliches Zeugnis – unBehindert Leben und Glauben teilen (Geleitwort)

Textgrundlage: unBehindert Leben und Glauben teilen (S. 3 f., 7 f., 22 - 24)

Arbeitsauftrag I.:Beantworte aus dem Geleitwort und Vorwort folgende Frage/n:

Arbeitsauftrag II.: Fasse die verschiedenen Wege, wie Christen und christliche Gemeinschaften unBehindert ihr Leben und ihrenGlauben mit den Behinderten teilen, zusammen (Text S. 22 - 24)

Arbeitsauftrag III.: Diskutiere diese Wege des Zusammenlebens unter Fragen wie:1. Überzeugen dich die im Text genannten Maßnahmen?2. Reichen diese Maßnahmen aus, um die Ansprüche, wie sie im Vorwort über das Zusammenleben von Behindert

und Unbehindert formuliert wurden, zu erfüllen?

Arbeitsauftrag IV.: Überprüfe in einer konkreten Pfarrgemeinde, welche dieser Formen von „gelebtem christlichem Zeugnis“ vor Ort (in-stitutionell) verwirklicht sind, und stelle die einzelnen Wege auf einem Plakat oder einem Faltblatt (für Behinderte) dar.

Wider den Traum vom perfekten Menschen - die Hoffnungsbotschaft des christlichen Glaubens

Textgrundlage: unBehindert Leben und Glauben teilen (S. 12 - 14)

Arbeitsauftrag I.: Beantworte aus dem Text folgende Frage/n:• Wie beurteilt der Text den „Traum von einer leidfreien Gesellschaft und vom perfekten Menschen“? Welche Folgen

hat dieser Traum?• Welche Antwort auf „die Bewältigung von Leid“ gibt der christliche Glaube, und wie wird diese Antwort begründet?

Arbeitsauftrag II.: Stelle die Antworten auf folgende Weise dar:1. Erstelle ein Thesenpapier für die anderen Schüler/innen.2. Erstelle ein Plakat, das folgendermaßen aufgebaut ist:

Um die Darstellung eines perfekten Menschen (Modells, Bodybuilder, vgl. Werbung) werden die Warnungen derBischöfe geschrieben.

3. Schreibe eine kurze Besinnung oder eine Predigt zum Thema: „Vom Sinn menschlichen Leidens aus christlicher Sicht“

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Behinderung & Pastoral / Buchtipps und Materialien _ 45

Für eine Kultur der Achtsamkeit – aus der Fülle der christlichen Tradition lernen.

Textgrundlage: unBehindert Leben und Glauben teilen (S. 14 - 16)

Arbeitsauftrag I.: Beantworte aus dem Text folgende Frage/n.• Was können Christen aus dem Umgang Jesu mit Leidenden und mit dem Leid lernen? Wie ging Jesus mit Leiden

und Leid um?• Was bedeutiet die „Kultur der Achtsamkeit“ für den Umgang mit Leid und mit Leidenden in unserer Gesellschaft?

Arbeitsauftrag II.: Stelle die Antworten auf folgende Weise dar:1. Erstelle ein Thesenpapier für die anderen Schüler/innen.2. Erstelle ein Faltblatt (das in Kirchengemeinden, in Sozialstationen, in Krankenhäusern, in Altersheimen, ... ausgelegt

werden soll), in dem „die Kultur der Achtsamkeit“ mit konkreten Beispielen erklärt, veranschaulicht werden soll (wer-bender Ton). Wähle eine im Text genannte Heilungsgeschichte Jesu aufs und beschreibe mit eigenen Worten, wasJesus mit dieser Heilung (beim Behinderten, seinen Angehörigen, der Umgebung, den Jüngern, ...) bewirkt.

Bereicherung für alle – Menschen mit Behinderungen als Lebens- und Glaubenszeugen

Textgrundlage: unBehindert Leben und Glauben teilen (S. 16 - 19)

Arbeitsauftrag I.: Beantworte aus dem Text folgende Frage/n.• Was erschwert es oft, Menschen mit Behinderungen als Bereicherung für die Gesellschaft und Kirche zu sehen und

zu behandeln (Einstellungen, Gefühle, ...)?• Wie wird im Text begründet, dass jeder Mensch – auch der Behinderte – eine Bereicherung ist – gerade auch für

Unbehinderte?• Welche praktischen Konsequenzen und Forderungen hat diese Aussage für die Gestaltung des Miteinanders?

Arbeitsauftrag II.: Stelle die Antworten auf folgende Weise dar:1. Erstelle ein Thesenpapier für die anderen Schüler/innen.2. Erstelle einen Flyer mit zwei gegenüberliegenden Seiten.

Seite 1: „Zugegeben! Es ist nicht immer leicht, mit Behinderten umzugehen, denn...“Seite 2: „Kaum zu glauben: Behinderte sind eine Bereicherung für unsere Gesellschaft und die Kirche! Denn sie ...“

Das Wort der deutschen Bischöfe Nr. 70: „unBehindert Leben und Glauben teilen“ ist erhältlich bei der Deutschen Bischofskonferenz– Zentrale Dienste/Organisation, Bonner Talweg 177, 53129 Bonn, Fax: 0228/103-205.

* Der Autor ist Religionslehrer an der Otto-Kühne-Schule in Bonn

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Internetdatenbank für Familien mit behindertenKindernwww.familienratgeber.de

Dieser Ratgeber bietet umfangreiche Informationen fürFamilien mit behinderten Kindern der unterschiedlichenAltersstufen, verfügt über eine Adressendatenbank undeine Suchoption, in der nach Stichworten innerhalb derInternetseite recherchiert werden kann, sowie über einDiskussionsforum. In diese bereits im Jahre 2000 von derLebenshilfe initiierte und vom BMFSFJ geförderteInternetdatenbank sollen möglichst viele regionaleAnsprechpartner die für die Behindertenarbeit vor Ort re-levanten Daten einpflegen und regelmäßig aktualisieren.Deshalb sollen nunmehr verstärkt regionale Netzwerkemit jeweils einem festen Datenverantwortlichen aufge-baut werden, von denen nicht nur die betroffenenFamilien selbst profitieren, sondern die allen Anbieternund Institutionen der Behindertenarbeit von Nutzen sind.Die „Aktion Mensch“ wird diese regionalen Netzwerke be-gleiten und mit bis zu € 500,— im Jahr fördern.

Diesem Projekt, den Ratgeber zu einer der wich-tigsten Web-Adressen für Familien mit behindertenKindern auszubauen, gilt es viel Erfolg und vielseitigeUnterstützung zu wünschen, vor allem die Beteiligungmöglichst vieler Gemeinden und Regionen. Menschenmit Behinderungen und ihre Familien stoßen im Alltag oft-mals und vielerorts auf große Hürden, sei es in ihrem so-zialen Umfeld oder im Umgang mit den staatlichenBehörden wie auch kirchlichen Dienststellen. Nicht seltenwissen sie nicht, welche Leistungs- und Unterstüt-zungshilfen ihnen zur Verfügung stehen.

Dieser www.familienratgeber.de als umfangreiches,zentrales Informationssystem ist nicht nur sinnvoll undnotwendig, sondern unerlässlich. (fhz)

Kostenloser Service von und für Menschen mitBehinderungenwww.handicap-network.de

Der Projektleiter Jürgen Winter ist schwerhörig, seinTextbearbeiter Daniel Hütter ist blind, eineVerwaltungskraft ist Spastikerin. Zusammen mit anderenbehinderten und nicht behinderten Mitarbeiter/innen bil-den sie das sechsköpfige Team von „Online & Service“,das das Internet-Portal www.handicap-network.de gestaltet.Die Neugründung dieses Unternehmens ist ein bemer-kenswertes Beispiel eines behindertenfreundlichen Arbeit-gebers und konsequente Weiterentwicklung der Integra-tionsarbeit bei EDV Konkret, einer Schulungs- undWeiterbildungsfirma in Augsburg.

Seit kurzem erst im Netz, schauen über 800

Besucher/innen bereits täglich bei ihnen rein, um sichumfassend über Krankheit und Behinderungen zu infor-mieren. Von Autismus bis Tourette sind die Stichworte al-phabetisch geordnet, mit viel Wissenswertem angerei-chert und werden ständig aktualisiert. „handicap-network“arbeitet dafür mit Universitäten, Selbsthilfeorganisationenund Ärzten zusammen. In einer Jobbörse werden Stellenausgeschrieben, in der Abteilung Recht finden InteressierteGesetzestexte und aktuelle Urteile. Derzeit erweitert sichauch der Shop mit Angeboten, die den Bedürfnissen vonbehinderten Menschen entsprechen. Vielleicht entwickeltsich dieser Shop einmal zu einem „Otto-Katalog fürMenschen mit Behinderungen“. Wichtig ist auch derHinweis, dass die Interessierten nicht zu den Herstellernweitergeleitet werden. Das Angebot ist für die Nutzer er-freulicherweise kostenlos. (fhz)

Maria von Magdala/Die Töchter Zelofhads – Schriften zum Weltgebetstag 2004 der Frauen

Im Katholischen Bibelwerk e.V. in Stuttgart sind aktuellzwei Schriften erschienen, „Maria von Magdala“ und „DieTöchter Zelofhads“, die in die biblischen Themen desWeltgebetstages 2004 einführen.

Susanne Ruschmann wirft in dem Band „Maria vonMagdala“ ein neues Licht auf die Jüngerin Jesu, um diesich viele Legenden spinnen, die aber kaum einmal vordem Hintergrund biblischer Aussagen wahrgenommenwird. Der Untertitel „Jüngerin – Apostolin –Glaubensvorbild“ macht das Anliegen der Autorin deut-lich: In fundierter Textarbeit verschiedene Facetten Mariasherauszuarbeiten, die im Laufe kirchlicher Tradition häufigunterschlagen wurden. Mit exegetischer Genauigkeit undFeingefühl spürt Ruschmann den synoptischen und jo-hanneischen Textbelegen nach. Im letzten Kapitel gibt dieAutorin praktische Vorschläge und Anregungen fürBibelarbeiten.

Ulrike Bechmann stellt in dem Band „Die TöchterZelofhads“ fünf alttestamentliche Frauen vor, die durchden Untertitel „Fordernde – Erbinnen – Vertrauende“ alsungewöhnlich emanzipiert charakterisiert werden. Diefünf Schwestern waren in der Zeit der Landnahme erfolg-reich für ihr Recht auf Land und Besitz eingestanden. IhreAktualität haben sie darin bis heute nicht verloren. Anhandder Erzählungen von Zelofhads Töchtern erklärt dieAutorin zudem die Entstehungsgeschichte der Bibel. Auchdieses Heft schließt mit Methoden für die Bibelarbeit.

Beide Bände („Maria von Madala“: € 4,00 und „Die TöchterZelofhads“: € 4,50) sind erhältlich bei: Katholisches Bibelwerke.V., Postfach 15 03 65, 70076 Stuttgart, E-Mail: [email protected] (Barbaba Leicht/Presse- und Öffentlichkeitsarbeit).

46 _ Behinderung & Pastoral / Buchtipps und Materialien

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Buchtipps

Ilka Scheidgen Meine Freundin Johanna, Ein Leben mit Manie und DepressionRomanEdition Balance im Psychiatrie-Verlag, Bonn, 1. Aufl. 2003, 272 Seiten, 13,90 €(ISBN 3-88414-341-7)

„Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt“: Treffend bil-det diese Redewendung im Extrem das Symptombild derbipolaren psychischen Störung ab. Ein Wechselbad zwi-schen Manie und Depression für die Betroffenen selberwie auch für die Angehörigen und sonstige Nahestehende.Der Übergang zwischen normalen Stimmungsschwan-kungen und bipolaren Störungen ist fließend, das Leid-potential in der Erkrankung enorm groß.

Einen gelungenen Beitrag zum Verständnis bietet in romanhafter Form das vorliegende Buch von IlkaScheidgen. Johanna hat sie gebeten, ihre bisherigeLebensgeschichte aufzuschreiben. Das tut Frau Scheidgenaus der Perspektive der Anteil nehmenden Freundin ent-lang der biographischen Daten: Jugend- und Studienjahre,Elternhaus, Ehe, Scheitern der Ehe und Entscheidung, denSohn beim Vater aufwachsen zu lassen, bis hin zu einerLebensgestaltung, mit der Johanna nach langem Ringenund vielen Verlusterfahrungen durchaus zufrieden ist.

Eher ungewöhnlich für dieses Krankheitsbild ist nachmeiner Erfahrung die im Buch herausgestellte Therapie ei-ner langjährigen Psychoanalyse. Einen näheren Einblick indas Klinik-Erleben während der Phasen akuter Erkrankungbietet das Buch nicht. Sein Schwerpunkt liegt in der außer-klinischen Perspektive des Alltags, was sicher mit dazubeiträgt, dass das „Normale“ neben all den erlebtenIrritationen (zu Recht) breiten Raum einnimmt. Auch vondaher ist die Lektüre besonders Angehörigen von ma-nisch-depressiv erkrankten Menschen zu empfehlen. Esspricht für das Buch, dass Personen ganz ohneVorinformation bzw. -erfahrung wie auch die „Profis“ einenGewinn aus der Lektüre ziehen können. Johanna:„Vielleicht sollten wir uns von dem Aberglauben lossagen,alles verstehen zu müssen, und uns zu der Einsicht be-kehren, im Höchstfall imstande zu sein, mit unseremUnverständnis verständnisvoll umgehen zu können“(Seite 232).

Ilka Scheidgen, Dr. med., Jg. 1945, freie Schriftstellerin, erhielt2002 für ihr literarisches Schaffen den Kulturpreis des KreisesEuskirchen. Weitere Informationen auf ihrer Homepage:http://www.ilka-scheidgen.de (hpb)

Sebastian Murken, Ulrich Laux & Heinz Rüddel (Hg.)Spiritualität in der Psychosomatik – Konzepte undKonflikte zwischen Psychotherapie und SeelsorgeDiagonal Verlag, Marburg 2003(ISBN 3-927165-80-8)

Das ist mir zum ersten Mal passiert: Ich erwarte ein Buchund erhalte eine multimediale CD-ROM. Inhaltlich undformal eine freudige Überraschung!

Am 21. und 22. September 2001 fand in BadKreuznach die Tagung zum oben genannten Thema statt.Sie wurde konzipiert und durchgeführt von derPsychosomatischen Fachklinik St.-Franziska-Stift in BadKreuznach, insbesondere dem Ärztlichen Direktor derKlinik, Prof. Dr. med. H. Rüddel, sowie dem Seelsorger derKlinik, Pfr. Ulrich Laux, in Zusammenarbeit mit derArbeitsgruppe Religionspsychologie des Forschungs-zentrums für Psychobiologie und Psychosomatik derUniversität Trier, vertreten durch Dr. Sebastian Murken.Das Ziel der Tagung bestand darin, exponierte Vertreterverschiedener Kliniken zu versammeln, die ein jeweilsspezifisches Konzept im Umgang mit Glaubensfragen undSpiritualität entwickelt haben, und verschiedene Ansätzeinterdisziplinär zu diskutieren. Sechs Vertreter verschiede-ner Konzepte folgten der Einladung. Auf der CD-ROM fin-det man nun Filmausschnitte von den Vorträgen undDiskussionen, die Texte der Referenten, soweit diese sieausformuliert haben (Dr. W. Müller, Dr. S. Murken, Prof. Dr.W. Fiegenbaum), sowie Informationen über die vorge-stellten und beteiligten Kliniken: Klinik Hohe Mark (Dr. M.Grabe), Fachklinik Heiligenfeld (Dr. E. Schmid), Klinik fürpsych. Medizin Bad Grönenbach (P. Markert), RecollectioHaus (Dr. W. Müller), De’Ignis Klinik (Dr. R. Senst),Christoph-Dornier-Stiftung (Prof. Dr. Fiegenbaum), St.-Franziska-Stift-Homepage.

Die Herausgeber möchten einen Beitrag dazu leis-ten, dass die Bedeutung der Spiritualität in derPsychosomatik weiterhin ein Thema in der Diskussionund Behandlung bleibt. Ich möchte ergänzen: ...und an-derswo zum Thema wird! (hpb)

Behinderung & Pastoral / Buchtipps und Materialien _ 47

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48 _ Behinderung & Pastoral / Buchtipps

„Behinderung & Pastoral“ für Menschen mit Sehschädigung

Im Internet: www.behindertenpastoral-dbk.deHier finden Sie unter der Rubrik „Publikationen“ die Zeitschrift sowohl als PDF-Datei, als auch als einfaches Word-Dokument, in dem keine Bilder vorhanden sind.

Als Hörkassette: Die neue Ausgabe der Zeitschrift ist auch als Hörkassette erhältlich. Die Ausleihadresse: Deutsche Katholische Blindenbücherei Graurheindorfer Str. 151a, 53117 BonnTel.: 0228/559490, Fax: 0228/5594919 (ah)

Harald Simon Der Dialog mit dem leeren Stuhl, Gedanken zum Umgang mit blinden und sehbehinderten Menschen44 S., Bernardus-Verlag Langwaden, 2,60 €.In diesem Büchlein werden einige hilfreiche Tipps zum an-gemessenen Umgang mit sehbehinderten und blindenMenschen gegeben. Der Autor ist selbst betroffen vonBlindheit und kennt aus eigener Erfahrung dieSchwierigkeiten. Er findet Antworten auf einige gängigeVorurteile wie »Blinde sind misstrauisch« oder alleReaktionen und Befindlichkeiten des blinden oder sehbe-hinderten Menschen allein auf seine Blindheit zurückzu-führen.

Vor allem aber werden Tipps gegeben, wie man rich-tig führt, was man dabei zu beachten hat und vermeidensollte. Aber auch Verhaltenshinweise, wie dass man bei derBegrüßung besser seinen Namen dazu sagt, auch wennman sich schon recht gut kennt, oder Tipps beim Essensind sehr hilfreich für eine unkomplizierte Begegnung zwi-schen Menschen mit und ohne Blindheit und für die Über-windung von Berührungsängsten. (ah)

Harald SimonRote Prärierosen und andere Erzählungen.288 S., Bernardus-Verlag Langwaden, 12,00 €Die spannungsreichen und rasch fließenden Erzählungenbeziehen ihre Kulisse aus den verschiedensten Epochenund Weltgegenden. Ihr zeitlicher Bogen reicht von derRömerzeit bis hinüber in das 20. Jahrhundert. Sie spiegelndas von geistigen Verirrungen und menschlichenSchwächen hervorgerufene Böse in seiner Begegnung mitdem Guten, welches sich als ermutigend mächtig erweist.Dazu bedient es sich nicht selten kurioser Umwege sowie

listiger Strategien und ist manches Mal überraschend dortanzutreffen, wo man es durch Vorurteile blockiert nichtvermutet oder gar für gänzlich ausgeschlossen hält. Erzähltwird ferner auf metaphorische Weise vom segensreichenUmgang mit dem eigenen Schicksal sowie derNotwendigkeit, menschliches Handeln mit derBereitschaft zu koppeln, Irrtum für möglich zu halten undumzukehren, wenn es sich zeigt. Dort, wo es passt,kommt auch der Humor zur Geltung. (ah)

Harald SimonDie Frau und der Fuchs, Weihnachtsgeschichten90 S., Bernardus-Verlag Langwaden, 6,80 €Es sind die warmen, empathischen Beschreibungen derMenschen, die dieses kleine Büchlein lesenswert machen.Es sind eben kleine Geschichten, die man gern in kalterJahreszeit liest oder vorgelesen bekommt, und die denBratapfel oder den Glühwein noch besser schmecken las-sen. Es sind Geschichten, die gut enden, auch wenn imVerlauf immer auch Schicksalhaftes und Dunkles daraufschließen lassen, dass der Erzähler auch diese Seiten bes-tens kennt, aber nie aufgehört hat, an das Licht zu glau-ben.

Der Autor, selbst im 2. Weltkrieg erblindet, weiß, wo-von er spricht, und es ist gut, dass er den Lesern Anteil gibtan der Hoffnung, die in ihm wohnt. (ah)

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Kapelle Seelsorge und Begegnung für psychiatrieerfahrene Menschen, KölnFoto: SENSUM, Wiesbaden, Bernd Schermuly

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03/November 03

Arbeitsstelle Pastoral für Menschen mit Behinderung der Deutschen BischofskonferenzGeorgstraße 20, 50676 Köln, Tel. 0221/27 22 09 00, Fax 0221/16 42 71 01, e-mail: [email protected]