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8 BV 05.1918 M 10 K 04.4087 Großes Staatswappen Verkündet am 22. November Ang. Venus als stellvertretende Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes In der Verwaltungsstreitsache ***** ***** ****** **************** ** ***** *******, - Kläger - bevollmächtigt: Rechtsanwälte **** *********** *** ********* ********** *** ***** **********************, gegen Landeshauptstadt München, vertreten durch den Oberbürgermeister, *********** *** ***** ******** - Beklagte - wegen Sondernutzungsgebühren; hier: Berufung des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 12. Mai 2005, erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 8. Senat, durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Allesch, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dösing, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Graf zu Pappenheim auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 7. November 2006 folgendes

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8 BV 05.1918

M 10 K 04.4087

G r o ß e s

S t a a t s w a p p e n

Verkündet am 22. November

Ang. Venus

als stellvertretende Urkundsbeamtin

der Geschäftsstelle

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

Im Namen des Volkes

In der Verwaltungsstreitsache

***** ***** ******

**************** ** ***** *******,

- Kläger -

bevollmächtigt:

Rechtsanwälte **** *********** *** *********

********** *** ***** **********************,

gegen

Landeshauptstadt München,

vertreten durch den Oberbürgermeister,

*********** *** ***** ********

- Beklagte -

wegen

Sondernutzungsgebühren;

hier: Berufung des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts

München vom 12. Mai 2005,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 8. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Allesch,

den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dösing,

den Richter am Verwaltungsgerichtshof Graf zu Pappenheim

auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 7. November 2006

folgendes

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Urteil:

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 12. Mai 2005 wird

geändert:

Der Bescheid der Beklagten vom 15. Oktober 2003 und der Wider-

spruchsbescheid der Regierung von Oberbayern vom 1. Juli 2004

werden aufgehoben.

II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen

zu tragen.

Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war notwen-

dig.

III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid vom 15. Oktober 2003 über Sonder-

nutzungsgebühren in Höhe von 8.655,67 Euro, die die Beklagte für die Jahre 1999

bis 2003 festgesetzt hat, und über künftige jährliche Sondernutzungsgebühren in

Höhe von 1.727 Euro.

Der Kläger ist als Inhaber einer Wohnung Miteigentümer in der Wohnungseigentü-

mergemeinschaft ********straße * und ** in München. Die Wohnanlage wurde mit

Bescheid der Beklagten vom 23. April 1964 bauaufsichtlich genehmigt; danach

ergingen noch einzelne Tekturgenehmigungen. Die Baugenehmigung selbst enthielt

auch eine Befreiung nach Art. 88 der Bayerischen Bauordnung (BayBO, Fassung

vom 1.8.1962, GVBl S. 179) „wegen Nichteinhaltung der nach Art. 6 BayBO erforder-

lichen Abstandsfläche zur Hofseite, geringfügige Überschreitung der Grundstücks-

grenze und Überschreitung der Straßenmitte". Die Wohnanlage besteht aus einem

Erdgeschoss, fünf Obergeschossen und einem Dachgeschoss. Sie weist zur Straße

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hin ein Vordach und fünf mal sechs Balkone auf, d.h. pro Obergeschoss ist für eine

Wohnungseinheit ein Balkon zur Straße hin vorhanden. Diese 30 Balkone und das

Vordach ragen in den öffentlichen Straßenraum hinein, und zwar die Balkone jeweils

1,2 m und das Vordach 0,4 m. Die Erteilung einer entsprechenden Sondernutzungs-

erlaubnis im zeitlichen Zusammenhang mit der Baugenehmigung wurde offenbar

übersehen. Der Kläger selbst ist nur Inhaber einer Wohnung ohne Balkon.

Die Satzung über die Gebühren für Sondernutzungen auf öffentlichen Straßen in der

**************** ******* (Sondernutzungsgebührensatzung - SGS) vom 5. Juni 1995

(MüABl. S. 104), zuletzt geändert durch Satzung vom 29. Juni 2004 (MüABl. S. 266),

lautet auszugsweise:

„§ 4 Höhe der Gebühren

(1) Die Höhe der Gebühren wird bestimmt durch die Verkehrsbedeutung der Straßen, Wege und Plätze, in denen die Sondernutzung ausgeübt wird, durch den wirtschaftlichen Wert für den Benutzer, durch den Umfang, in dem der Ge-meingebrauch beeinträchtigt werden kann und durch die Dauer der Sondernut-zung. (2) Die Bedeutung der Straßen, Wege und Plätze ergibt sich aus dem der Sat-zung als Anlage II beigefügten Straßengruppenverzeichnis. Im Verzeichnis nicht aufgeführte Straßen, Wege und Plätze gehören zur Straßengruppe I. (3) Der in Anspruch genommene Straßenraum wird nach der Größe der bean-spruchten Straßenfläche sowie nach der Ausladung und Größe der Sondernut-zungsanlagen bestimmt. Unter Ausladung ist dabei die Entfernung der äußersten Teile der Anlagen von der Straßenbegrenzungslinie zu verstehen. Bei ausladen-den Sondernutzungen ist unter Größe die größte Fläche zu verstehen, die sich aus den seitlichen Begrenzungslinien ergibt. (4) Die Gebühren ergeben sich aus dem der Satzung als Anlage I beigefügten Gebührenverzeichnis, wenn sie in diesem Verzeichnis aufgeführt sind. Die jewei-lige Straßengruppe ist zu berücksichtigen. (5) Für Sondernutzungen, die nicht in den Gebührenverzeichnissen aufgeführt sind, werden die Gebühren nach Maßgabe der Abs. 1 und 3 unter Berücksichti-gung der jeweiligen Straßenklasse aus dem nach Abs. 2 maßgebenden Stra-ßenklassenverzeichnis und in entsprechender Anwendung des nach Abs. 4 maßgebenden Gebührenverzeichnisses erhoben."

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㤠6 Schuldner

(1) Schuldner der Gebühr ist der Erlaubnisnehmer oder derjenige, der eine Son-dernutzung ohne Erlaubnis ausübt. Ist die Sondernutzungserlaubnis mehreren Personen erteilt oder üben mehrere Personen eine Sondernutzung ohne Erlaub-nis gemeinsam aus, so haften sie als Gesamtschuldner. (2) Übernimmt jemand eine bereits erlaubte oder unerlaubt ausgeübte Sonder-nutzung, so haftet er neben dem bisherigen Schuldner gesamtschuldnerisch für Gebührenrückstände.“

§ 25 der Verwaltungsanordnung über die Sondernutzungen an den öffentlichen Stra-

ßen der **************** ******* vom 19. Februar 1964 lautet:

㤠25

Bauliche Vorrichtungen an und über Straßen (1) Für das Anbringen von Vordächern über Straßen, ferner für das Erstellen von Erkern, Balkonen, Vorkragdächern, Sockeln, Stufen, Schächten und ähnlichen in den Straßengrund ragenden Gebäudeteilen ist eine Sondernutzungserlaubnis erforderlich. Bei Vorkragdächern soll diese Erlaubnis versagt werden, wenn die äußerste Ausladung des Daches näher als 0,75 m an die Randsteinflucht heran-reichen und wenn das Dach in einer geringeren Höhe als 2,30 m über der Geh-bahn angebracht würde. (2) Soweit Baugenehmigungen für solche bauliche Vorrichtungen notwendig sind, macht die Lokalbaukommission die Vorlage einer wegerechtlichen Sonder-nutzungserlaubnis für die Erteilung der Baugenehmigung zur Bedingung. Die Lo-kalbaukommission setzt das Referat für Tiefbau und Wohnungswesen/Sonder-nutzungsbüro von allen Baugesuchen in Kenntnis, in denen das Bauvorhaben nach den in Abs. 1 genannten Grundsätzen auch einer Sondernutzungserlaubnis bedarf. Das Referat für Tiefbau und Wohnungswesen/Sondernutzungsbüro wirkt sodann beim Bauwerber auf Stellung eines Antrages auf Erteilung der wege-rechtlichen Sondernutzungserlaubnis hin und übermittelt der Lokalbaukommis-sion die ausgefertigte Sondernutzungserlaubnis, welche von der Lokalbaukom-mission als Beilage zur Baugenehmigung zugestellt wird. Wird die Sondernut-zungserlaubnis versagt, so ist die Lokalbaukommission durch das Referat für Tiefbau und Wohnungswesen/Sondernutzungsbüro unverzüglich schriftlich hier-von zu verständigen. Ist die Baugenehmigung durch die Lokalbaukommission aus Rechtsgründen (z.B. zur Fristwahrung) vor Eingang der Sondernutzungserlaubnis bzw. vor Ein-gang der Mitteilung über die Versagung der Sondernutzungserlaubnis zu ertei-len, so wird die Baugenehmigung von der Lokalbaukommission unter der Bedin-

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gung erteilt, dass nachträglich eine unanfechtbare Sondernutzungserlaubnis bei-gebracht wird."

Nr. 16 der Anlage I des Gebührenverzeichnisses zur Sondernutzungsgebührensat-

zung lautet:

„16. Stufen, Lichtschächte und Vordächer:

gebührenfrei bis 15 cm Ausladung über 15 cm bis 30 cm Ausladung pro laufenden (auch angefangenen) Meter Länge jährlich 6,10 Euro über 30 cm Ausladung pro laufenden (auch angefangenen) Meter Länge jährlich 12,20 Euro."

Nach Aufdeckung des Umstands, dass keine Sondernutzungsgebühren erhoben

worden waren, erließ die Beklagte gegenüber der Wohnungseigentümergemein-

schaft einen Gebührenbescheid vom 15. Oktober 2001, der vom Verwaltungsgericht

wegen nicht hinreichender Bestimmtheit der Adressierung aufgehoben wurde.

Mit Gebührenbescheid vom 15. Oktober 2003 setzte die Beklagte erneut Sondernut-

zungsgebühren fest, und zwar für die noch nicht verjährten Jahre 1999 bis 2003 in

Höhe von insgesamt 8.655,57 Euro. Zugleich setzte sie künftige Zahlungspflichten

jeweils zum 15. Januar eines Jahres von 1.727 Euro fest. Der Bescheid ist adressiert

an den Kläger „als Gesamtschuldner für die Wohnungseigentümer Brecherspitz ****".

Gegen den Gebührenbescheid ließ der Kläger durch die von ihm bevollmächtigte

Verwalterfirma der Wohnungseigentumsanlage Widerspruch einlegen. Diesen

Rechtsbehelf wies die Regierung von Oberbayern mit Widerspruchsbescheid vom

1. Juli 2004 als unbegründet zurück. Die Sondernutzungsgebühren seien auf Grund

der gültigen Sondernutzungsgebührensatzung angefallen; der Kläger hafte als Ge-

samtschuldner.

Die danach erhobene Anfechtungsklage des Klägers hat das Verwaltungsgericht mit

Urteil vom 12. Mai 2005 abgewiesen. Der Gebührenbescheid sei hinreichend be-

stimmt. Der Kläger dürfe nach § 6 Abs. 1 Satz 2 SGS der Beklagten als Gesamt-

schuldner der Sondernutzungsgebühren in Anspruch genommen werden. Der Be-

scheid finde auch sonst in der Sondernutzungsgebührensatzung eine hinreichende

Rechtsgrundlage. Die in den öffentlichen Straßenraum hineinragenden Balkone und

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das Vordach stellten eine Sondernutzung dar. Zwar sei der Gebührentatbestand in

der Sondernutzungsgebührensatzung für Vordächer geregelt. Für Balkone finde

diese Regelung jedoch entsprechende Anwendung, nachdem § 4 Abs. 5 SGS vor-

schreibe, dass für Sondernutzungen, die nicht in den Gebührenverzeichnissen auf-

geführt seien, Gebühren in entsprechender Anwendung des Gebührenverzeichnis-

ses und unter Berücksichtigung von Straßenklassen erhoben würden. Die Gebüh-

renhöhe sei nicht zu beanstanden. Eine Gebührendegression bei den übereinander

angeordneten Balkonen sei nicht geboten. Ein Vertrauen des Klägers, von den Ge-

bühren verschont zu bleiben, bestehe nicht. Das jahrzehntelange Untätigbleiben der

Beklagten führe nicht zur Gebührenfreiheit.

Mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung macht der Kläger im We-

sentlichen geltend:

Da die Wohnungseigentümergemeinschaft hinsichtlich der Inanspruchnahme durch

die Beklagte rechtsfähig sei, hätte diese und nicht der Kläger als Gesamtschuldner

herangezogen werden müssen. § 6 Abs. 1 Satz 2 SGS sei keine taugliche Rechts-

grundlage. Der Gebührenbescheid sei zu unbestimmt, weil die im Bescheid lediglich

als „Balkon" und „Vordach" bezeichnete Position in Anspruch genommen werde.

Nicht nachvollziehbar sei auch, dass für einen Gebührenerhebungszeitraum von fünf

Jahren bis 2003 als Begründung „baurechtlich" nicht genehmigte bzw. unerlaubte

Sondernutzung angegeben sei. Das angefochtene Urteil verkenne den dem Kläger

zustehenden Vertrauensschutz. Nach dem Beschluss des Großen Senats des Baye-

rischen Verwaltungsgerichtshofs vom 18. März 1993 (BayVBl 1993, 370 ff.) sei der

Baugenehmigung Konzentrationswirkung zugekommen. Durch den rechtswirksamen

Baugenehmigungsbescheid sei damit festgestellt worden, dass keine Sondernut-

zungserlaubnis für Balkone und Vordach erforderlich gewesen sei. Wegen des Untä-

tigbleibens der Beklagten über mehr als 30 Jahre sei ferner Verwirkung eingetreten.

Deshalb habe der Verwalter auch keine entsprechende Klausel über die Zahlungs-

pflicht der Balkoneigentümer für eine Sondernutzungsgebühr in die Teilungserklä-

rung oder die Gemeinschaftsordnung einbringen können. Nunmehr sei es so, dass

die Sondernutzungsgebühren alle Wohnungseigentümer trügen, also auch solche,

die keinen Balkon besäßen. Bei einer so großen Wohnungseigentümergemeinschaft

wie der vorliegenden scheide eine Änderung des Kostenverteilungsschlüssels aus.

Das Urteil sei hinsichtlich der Konkretisierung der Ermächtigungsnorm widersprüch-

lich. Auch eine Gemeingebrauchsbeeinträchtigung durch die Balkone - z.B. durch

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Abfallen von Schnee und Eis - werde nicht widerspruchsfrei dargelegt. Die Ausfüh-

rungen des Ersturteils zum Hineinragen der Balkone in den Straßenraum und zur

Gebührendegression seien unhaltbar. Sie ließen die Frage unbeantwortet, bis zu

welcher Höhe eines Bauwerks das Hineinragen als Sondernutzung beurteilt werden

könne. Tatsächlich könne der Luftraum über der Straße nur durch die unterste Bal-

konreihe beeinträchtigt werden; darüber sei eine Beeinträchtigung des Gemein-

gebrauchs nicht denkbar. Es liege damit ein Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 und Art. 3

Abs. 1 GG vor. Durch die Gleichsetzung von Balkonen und Vorbauten beim Abga-

betatbestand würde die Gleichbehandlung übereinander liegender Balkone verkannt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 12. Mai 2005, den Bescheid der Be-

klagten vom 15. Oktober 2003 und den Widerspruchsbescheid der Beklagten

vom 1. Juli 2004 aufzuheben sowie

die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklä-

ren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Das Übersehen des Sondernutzungstatbestands anlässlich der Entscheidung über

den Bauantrag gehe wohl darauf zurück, dass die Verwaltungsanordnung vom

19. Februar 1964 bei der Erteilung der Baugenehmigung im April 1964 noch ganz

neu gewesen sei. Ein Vertrauenstatbestand sei nicht entstanden; vielmehr hätten

Architekt und Bauherr die einschlägigen Regeln kennen müssen. Die Befreiung we-

gen geringfügiger Überschreitung der Grundstücksgrenze ersetze die Sondernut-

zungserlaubnis nicht und hindere auch nicht die Gebührenerhebung. Auch umfasse

die Baugenehmigung keine Sondernutzungserlaubnis. Die Entscheidung des Großen

Senats des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs sei für den vorliegenden Fall nicht

einschlägig. Die Möglichkeit, einen Eigentümer als Gesamtschuldner heranzuziehen,

sei durch Gesetz eingeräumt. Änderungen in der zivilrechtlichen Rechtsprechung

seien für die Beurteilung, wer als Gesamtschuldner in Anspruch zu nehmen sei, nicht

relevant, insoweit sei auch auf Art. 5 Abs. 6 Satz 2 des Kommunalabgabengesetzes

(KAG) und § 134 Abs. 1 Satz 4 des Baugesetzbuchs (BauGB) zu verweisen. Der

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Gebührenbescheid sei hinreichend bestimmt. Wie die Balkone der Anlage unter den

Wohnungseigentümern verteilt seien, sei nur privatrechtlich von Bedeutung und

spiele für die Beurteilung der Sondernutzung keine Rolle. Die Beeinträchtigung des

Gemeingebrauchs sei im Hinblick auf Art. 22 des Bayerischen Straßen- und Wege-

gesetzes (BayStrWG) für die Gebührenbemessung unerheblich. Da Balkone und

Vordächer den Gemeingebrauch an der Straße nur geringfügig beeinträchtigen

könnten, sei keine Berücksichtigung einer Straßengruppe notwendig gewesen. Dass

in der Sondernutzungsgebührensatzung nur Vordächer, nicht auch Balkone aufge-

führt seien, stelle keinen Mangel der Gebührenfestsetzung dar. § 4 Abs. 5 SGS lege

fest, dass für nicht im Gebührenverzeichnis enthaltene Sondernutzungen Gebühren

nach Maßgabe von § 4 Abs. 1 und 3 und in entsprechender Anwendung des nach

§ 4 Abs. 4 maßgebenden Gebührenverzeichnisses erhoben würden. Der Kläger

halte auch den Sondernutzungstatbestand und das Sondernutzungsentgelt nicht hin-

reichend auseinander. Ebenso seien seine Ausführungen zur Notwendigkeit einer

Gebührendegression unzutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts-

und Behördenakten sowie auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom

7. November 2006 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet. Der Bescheid der Beklagten über Sondernut-

zungsgebühren vom 15. Oktober 2003 in Höhe von 8.655,57 Euro für die Jahre 1999

bis 2003 und über künftige jährliche Zahlungspflichten von 1.727 Euro ist rechtswid-

rig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Er ist da-

her aufzuheben. Dasselbe gilt für den ihn bestätigenden Widerspruchsbescheid der

Regierung von Oberbayern vom 1. Juli 2004 und das ihn bestätigende Urteil des

Verwaltungsgerichts vom 12. Mai 2005. Zwar können im vorliegenden Fall grund-

sätzlich Sondernutzungsgebühren erhoben werden, aber auf Grund der derzeit be-

stehenden Satzungsregelung nicht in der vorgenommenen Art und Weise. Insbeson-

dere haftet der Kläger nicht als Gesamtschuldner.

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1. Der Tatbestand einer Sondernutzung des Straßenraums ist durch das Hineinragen

der insgesamt 30 Balkone und des Vordaches in den Luftraum über der öffentlichen

Straße erfüllt.

Allerdings erfüllt diese Nutzung des Luftraums über der Straße (Straßenbestandteil

nach Art. 2 Nr. 2 BayStrWG) für straßenfremde Zwecke nicht den Sondernutzungs-

tatbestand nach Art. 18 Abs. 1 Satz 1 BayStrWG, weil das Hineinragen in den Luft-

raum über dem Gehweg einer Straße außerhalb des Verkehrsraums in einer Höhe

von 3 m und mehr, wie hier, die Fußgänger und Kraftfahrzeuge nicht mehr behindert,

den Gemeingebrauch (Art. 14 Abs. 1 BayStrWG) nicht beeinträchtigt. Vielmehr han-

delt es sich aus diesem Grund nur um eine Sondernutzung nach bürgerlichem Recht

nach Art. 22 Abs. 1 BayStrWG. In Rechtsprechung und Literatur wird das Hineinra-

gen von Vordächern und Balkonen in den Luftraum über der Straße außerhalb des

Verkehrsraums als typischer Fall einer Sondernutzung nach bürgerlichem Recht an-

gesehen (vgl. Wiget in Zeitler, BayStrWG, Stand: 1. Februar 2006, RdNr. 30 zu

Art. 22 m.w.N.). Die Beklagte durfte diese materiell bürgerlich-rechtliche Sondernut-

zung auf Grund der Ermächtigung des Art. 22a Satz 1 BayStrWG indes durch Sat-

zung regeln und einem öffentlich-rechtlichen Regime unterwerfen, das u.a. auch die

Ersetzung eines privatrechtlichen (vertraglichen) Entgelts durch einen Gebührenver-

waltungsakt nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 3 lit. b) KAG i.V.m. § 118 Satz 1 der Abgaben-

ordnung (AO) einschließt (vgl. auch BayVGH vom 20.1.2004 BayVBl 2004, 336/337).

Eine Sondernutzungsgebühr ist die Gegenleistung für die Benutzung des öffentlichen

Straßenraums. Diese Gebühr fällt deshalb bereits an, wenn der Benutzungstatbe-

stand erfüllt ist und aus der Benutzung des Straßenraums ein Vorteil gezogen wer-

den kann (vgl. BayVGH vom 9.11.1999 BayVBl 2000, 626). Darauf, ob die Sonder-

nutzung von der Straßenbaubehörde auch erlaubt ist, kommt es mithin nicht an (vgl.

BVerwG vom 21.10.1970 DVBl 1971, 183). Im Übrigen ist anzumerken, dass im vor-

liegenden Fall 31 Sondernutzungstatbestände gegeben sind, und zwar für die

30 Balkone und das Vordach. Insoweit sind auch 31 entsprechende Erlaubnisbe-

scheide auszusprechen.

2. § 6 Abs. 1 Satz 2 SGS, wonach mehrere eine Sondernutzung (mit oder ohne Er-

laubnis) gemeinsam ausübende Personen als Gesamtschuldner haften, darf nicht

auf Wohnungseigentümer in Wohnungseigentumsanlagen angewandt werden. Etwas

anderes gilt nur, soweit eine Gesamtschuldnerschaft mehrerer Personen in Bezug

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auf ein und dieselbe Wohnung in Frage steht. Der Grund für die Unzulässigkeit der

Anwendung des § 6 Abs. 1 Satz 2 SGS in genanntem Umfang liegt darin, dass diese

Regelung nicht von einer Ermächtigungsnorm in den Art. 18 ff. BayStrWG gedeckt

ist. Insoweit ist der Inhalt des § 6 Abs. 1 Satz 2 SGS ermächtigungskonform auszu-

legen. Daneben wäre aber auch der Tatbestand des § 6 Abs. 1 Satz 2 SGS nicht

erfüllt.

a) Ermächtigungsgrundlage für die Sondernutzungs- und Sondernutzungsgebüh-

rensatzungen von Gemeinden sind Art. 18 Abs. 2a und Art. 22a BayStrWG. Soweit

es um Sondernutzungsgebührensatzungen geht, ist - obwohl auch die Sondernut-

zungsgebühren Benutzungsgebühren darstellen - die Ermächtigungsnorm des Art. 8

KAG über Benutzungsgebühren nicht Grundtatbestand. Denn die Benutzungsgebüh-

ren nach Art. 8 KAG werden erhoben für die Benutzung öffentlicher Einrichtungen

der Gemeinden oder ihres Eigentums. Straßen, auch wenn sie gemeindliche Straßen

sind, sind indes keine öffentlichen Einrichtungen der Gemeinden. Das heutige Be-

nutzungsregime der Sondernutzung geht nicht auf Art. 21 der Gemeindeordnung

(GO) zurück, sondern hat ihre eigenständige wegerechtliche Grundlage in den

Art. 18 ff. BayStrWG (vgl. auch Kodal/Krämer, Straßenrecht, 6. Aufl. 1999, Kap. 27

RdNr. 1; anders noch BayVGH vom 24.12.1924 VGH 25, 93 f. zur Rechtslage nach

Art. 40 Abs. 1 des „Gesetzes, die Gemeindeordnung für die Landestheile diesseits

des Rheins betr.“ vom 29.4.1869, Gesetzblatt für das Königreich Bayern S. 865).

Ebenso wenig ist das Eigentum am Straßenkörper Ansatzpunkt der Vorschriften über

die Sondernutzung, wie sich unmittelbar aus Art. 13 Abs. 1 BayStrWG ergibt. Maß-

geblich ist danach allein, ob eine gewidmete öffentliche Verkehrsfläche (vgl. Art. 6

Abs. 1 BayStrWG) für straßenfremde Zwecke genutzt werden soll.

Das hat zur Folge, dass die Vorschriften über Sondernutzungsgebühren (Art. 18

Abs. 2a, Art. 22a BayStrWG) keine Vorschriften über Abgaben nach dem I. Abschnitt

des Kommunalabgabengesetzes im Sinne von Art. 10 Nr. 1 KAG darstellen, sondern

Abgaben betreffen, die auf Grund anderer Gesetze erhoben werden (vgl. Art. 10

Nr. 2 KAG). Damit gelten für Sondernutzungsgebühren nur die Art. 10 ff. KAG, nicht

aber die Art. 1 bis Art. 9 KAG. Insbesondere gilt damit beispielsweise auch nicht

Art. 2 Abs. 1 Satz 1 KAG, der die Trennung zwischen Stamm- und Abgabesatzung

vorschreibt.

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Im Übrigen ergibt sich aus den vorstehenden Ausführungen zugleich, dass die Erhe-

bung von Sondernutzungsgebühren (im Volksmund mitunter als sog. „Luftsteuer“ be-

zeichnet) schon lange Zeit vor Inkrafttreten des Bayerischen Straßen- und Wegege-

setzes vom 11. Juli 1958 (GVBl S. 147, ber. S. 192 und 316) am 1. September 1958

in der Rechtsordnung vorgesehen war (vgl. BayVGH vom 24.12.1924 a.a.O.).

b) Art. 11 Abs. 2 Satz 2 BV gibt den Gemeinden das Recht, ihre Angelegenheiten im

Rahmen der Gesetze selbst zu ordnen. Dieses Recht schließt auch die Befugnis ein,

durch Satzungen örtliches Recht zu setzen, das - anders als bei Verordnungen nach

Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG oder Art. 55 Nr. 2 Satz 3 BV - nicht auf eine nach Inhalt,

Zweck und Ausmaß bestimmte Ermächtigungsnorm zurückzuführen sein muss (vgl.

BayVGH vom 20.1.2004 a.a.O. S. 337). Jedoch ist in der verfassungs- und verwal-

tungsrechtlichen Rechtsprechung auch geklärt, dass die kommunale Satzungsgewalt

begrenzt ist, wenn kommunale Satzungen Eingriffe in Freiheit und Eigentum vorse-

hen. Insoweit bedürfen sie einer besonderen Ermächtigungsgrundlage (vgl. BVerfG

vom 9.5.1972 BVerfGE 33, 125/157; VerfGH vom 16.10.1969 VerfGH 22, 130/143;

vom 15.12.1989 VerfGH 42, 174/181; BayVGH vom 20.1.2004 a.a.O. S. 337).

So ist es auch im vorliegenden Fall hinsichtlich der Heranziehung von Wohnungsei-

gentümern als Gesamtschuldner bei einer Sondernutzung im Rahmen einer Woh-

nungseigentumsanlage. Die Heranziehung eines einzelnen Wohnungseigentümers

als Gesamtschuldner von Sondernutzungsgebühren, die die gesamte Wohnanlage

betreffen, hat - namentlich bei größeren Wohnungseigentumseinheiten wie hier -

massive und gravierende Eingriffe in sein Grundrecht der Handlungsfreiheit (Art. 2

Abs. 1 GG, Art. 101 BV) zur Folge. Dabei ergeben sich nicht nur rechtliche Ver-

werfungen daraus, dass der einzelne Wohnungseigentümer hinsichtlich der im We-

sentlichen zum Gemeinschaftseigentum gehörenden Balkone und Vordächer nicht

Sondernutzungserlaubnisnehmer sein kann (dazu näher unten e)). Dadurch verlagert

die Gemeinde als Satzungsgeberin hinsichtlich des notwendigen internen Ausgleichs

zwischen den Wohnungseigentümern insbesondere auch das Risiko der Beitreibung,

der mangelnden Zahlungsfähigkeit oder der Insolvenz voll auf den als Gesamt-

schuldner in Anspruch genommenen einzelnen Wohnungseigentümer, der in aller

Regel auch wirtschaftlich wesentlich schwächer als die entsprechende Gemeinde ist.

Im Einzelfall kann dies zu einer erheblichen Belastung führen. Im vorliegenden Fall

kommt noch hinzu, dass in der streitbefangenen Wohnungseigentumsanlage eine

Reihe von Wohnungen vorhanden ist, die keinen Balkon oder Vordachanteil zur öf-

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fentlichen Straße aufweist. Ob solche Wohnungseigentümer im Innenverhältnis für

die Sondernutzungsgebühren mit herangezogen werden können, erscheint nicht von

vorneherein eindeutig, so dass jedenfalls ein streitanfälliger Sachverhalt vorliegt.

Auch dieses Ausgleichsrisiko verlagert die Beklagte in unangemessener Weise auf

den Kläger. Den Bundesgesetzgeber haben solche Umstände im Erschließungsbei-

tragsrecht dazu bewogen, schon durch das Gesetz zur Änderung des Bundesbauge-

setzes (BBauG) vom 18. August 1976 (BGBl I S. 2221) in § 134 Abs. 1 Satz 4

BBauGB eine gesamtschuldnerische Haftung von Wohnungs- und Teileigentümern

auszuschließen; dies wurde in § 134 Abs. 1 Satz 4 BauGB unverändert übernommen

(vgl. Ernst in Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, Stand: 1. März 2006, RdNr. 7 zu

§ 134; Driehaus in Berliner Kommentar zum Baugesetzbuch, 3. Aufl. 2002, Stand Juli

2004, RdNr. 7 zu § 134). Der Bundesrat hatte insoweit im Gesetzgebungsverfahren

vorgeschlagen, die gesamtschuldnerische Haftung wegen „in letzter Zeit bei der Be-

gründung von Wohnungs- und Teileigentum aufgetretener Erschwernisse zu beseiti-

gen"; die Bundesregierung und der Bundestag hatten dem Vorschlag zugestimmt

(vgl. BT-Drs. 7/2496 S. 81 und 83; BT-Drs. 7/4793 S. 45). Der Landesgesetzgeber

hat - dem folgend - im Beitragsrecht des Art. 5 KAG einen inhaltsgleichen Aus-

schluss einer gesamtschuldnerischen Haftung von Wohnungseigentümern vorgese-

hen (vgl. Art. 5 Abs. 6 Satz 2 KAG i.d.F. des § 5 Nr. 2 lit. b) des Gesetzes zur Anpas-

sung von Gesetzen an die Abgabenordnung - AOAnpG - vom 23.12.1976, GVBl

S. 566; dazu Nr. 2 der Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums des

Innern vom 15.4.1977, MABl S. 309). Zwar handelt es sich dabei jeweils um Bei-

trags-, nicht um Gebührenrecht. Bei der gesamtschuldnerischen Haftung von Woh-

nungseigentümern für Sondernutzungsgebühren können jedoch - wie gerade der

vorliegende Fall zeigt - in großstädtischen Wohnungseigentumsanlagen, die häufig

und typischerweise eine große Zahl von Wohnungen enthalten, ähnlich wie im Bei-

tragsrecht erhebliche Haftungsbeträge für den einzelnen Wohnungseigentümer von

unter Umständen vielen tausend Euro anfallen. Der wiederkehrende Anfall kommt

dabei noch verschärfend hinzu. Insoweit steht die typische gesamtschuldnerische

Haftung eines Wohnungseigentümers für Sondernutzungsgebühren in den Auswir-

kungen dem Beitragsrecht der §§ 127 ff. BauGB, Art. 5 KAG deutlich näher als dem

typischen Gebührenrecht. Darüber hinaus ergibt sich anders als bei typischen Ge-

bühren, die für den Betrieb einer Anlage anfallen (z.B. Müllgebühren), die Belastung

einer Wohnungseigentumsanlage mit Sondernutzungsgebühren der in Rede stehen-

den Art bereits aus der besonderen, nämlich öffentlichen Verkehrsraum in Anspruch

nehmenden Art der Errichtung. Damit zählen sie zu den Herstellungs-, nicht zu den

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Betriebskosten der Anlage. Wie etwa bei Erschließungs- oder Herstellungsbeiträgen

besteht daher die in § 134 Abs. 1 Satz 4 BauGB, Art. 5 Abs. 6 Satz 2 KAG zum Aus-

druck kommende Zielrichtung auch hier, zu vermeiden, den potentiellen Erwerber

von Wohnungseigentum wegen der die Herstellungskosten erhöhenden öffentlichen

Lasten vom Eigentumserwerb abzuschrecken. Die sonst im Gebührenrecht grund-

sätzlich bestehende Anerkennung der gesamtschuldnerischen Haftung (vgl. etwa

BayVGH vom 4.7.2006 Az. 4 ZB 05.2253; vom 26.7.2006 Az. 4 ZB 06.68) erachtet

der erkennende Senat daher für das Sondernutzungsgebührenrecht mangels Ver-

gleichbarkeit der Sachverhalte als nicht relevant.

Die sonach gravierenden Folgen einer gesamtschuldnerischen Haftung verlangen

es, im Sondernutzungsgebührenrecht die Entscheidung darüber, inwieweit in diesem

Zusammenhang in das Freiheitsgrundrecht der Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 101 BV einge-

griffen werden darf, dem für das Straßen- und Wegerecht zuständigen Landesge-

setzgeber zuzuweisen. Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 101 BV gewährleisten dem Einzel-

nen einen angemessenen Spielraum, sich wirtschaftlich frei zu entfalten; dieser

Spielraum ist gegeben, soweit eine Abgabenbelastung verhältnismäßig bleibt. Inso-

weit schützen Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 101 BV vor der Auferlegung unverhältnismä-

ßiger Abgaben, die insbesondere hinsichtlich des mit ihnen verbundenen Eingriffs

außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache stehen (vgl. BVerfG vom 31.5.1988

BVerfGE 78, 232/245 m.w.N.). Letztlich hat damit hier der förmliche Landesgesetz-

geber eine Entscheidung im Sinne der so genannten Wesentlichkeitstheorie zu tref-

fen, mit der er die Grenzen des betroffenen Freiheitsgrundrechts der Handlungsfrei-

heit abzustecken hat (vgl. BVerfG vom 27.11.1990 BVerfGE 83, 13/142, 152). Des-

halb muss er die Frage der Zulässigkeit einer gesamtschuldnerischen Haftung von

Wohnungseigentümern in den Art. 18 ff. BayStrWG (entweder nach dem Vorbild der

§ 134 Abs. 1 Satz 4 BauGB, Art. 5 Abs. 6 Satz 2 KAG, oder abweichend - ohne

Schutz für Wohnungseigentümer - nach dem Vorbild des Art. 9 Abs. 2 KAG bei

Grundstücksanschlüssen) selbst regeln und darf sie nicht den Gemeinden als Sat-

zungsgebern überlassen. Deren Satzungsautonomie verleiht keine Kompetenz zu

einer Regelung ohne entsprechende Ermächtigungsgrundlage.

Die Art. 18 ff. BayStrWG enthalten indes keine entsprechende Regelung zur Zuläs-

sigkeit einer gesamtschuldnerischen Haftung. Infolgedessen war die Beklagte durch

die Art. 18 ff. BayStrWG nicht zur Anwendung des § 6 Abs. 1 Satz 2 SGS auf Woh-

nungseigentümer - mit den eingangs beschriebenen Ausnahmen - befugt.

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c) Eine Ermächtigung zum Erlass des § 6 Abs. 1 Satz 2 SGS ergibt sich ferner nicht

aus Art. 13 Abs. 1 Nr. 2 lit. b) KAG i.V.m. § 44 AO.

§ 44 Abs. 1 Satz 1 AO bestimmt, dass Personen, die nebeneinander dieselbe Leis-

tung aus dem Steuer-(Abgabe-)Verhältnis schulden oder für sie haften oder zusam-

men zu einer Steuer (Abgabe) zu veranlagen sind, Gesamtschuldner sind. Die Re-

gelung des Art. 13 Abs. 1 Nr. 2 lit. b) KAG i.V.m. § 44 Abs. 1 Satz 1 AO ist indes für

das Entstehen einer Gesamtschuld nicht konstitutiv. In welchen Fällen eine Gesamt-

schuld entsteht, richtet sich vielmehr nach den Einzelsteuergesetzen (z.B. gemein-

same Veranlagung von Ehegatten nach Maßgabe des § 26 des Einkommensteuer-

gesetzes - EStG -); diese bestimmen nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 2 lit. b) KAG i.V.m. § 43

Satz 1 AO, wer Steuer-(Abgabe-)Schuldner ist (vgl. Brockmeyer in Klein, AO, 9. Aufl.

2006, RdNr. 4 zu § 44; Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO und FGO, Stand:

Lfg. 185 Juni 2005, RdNr. 9 zu § 44). Maßgebliches Einzelsteuergesetz wäre hier § 6

Abs. 1 Satz 2 SGS. Dieser ist jedoch wie dargelegt bei ermächtigungskonformer

Auslegung auf Wohnungseigentümer im beschriebenen Umfang nicht anwendbar.

Deshalb scheidet eine Herleitung einer gesamtschuldnerischen Haftung des Klägers

aus Art. 13 Abs. 1 Nr. 2 lit. b) KAG i.V.m. § 44 Abs. 1 Satz 1 AO aus.

Im Übrigen würde vorliegend für jeden Balkon (etc.) eine andere, also nicht dieselbe

Leistung im Sinne des § 44 Abs. 1 Satz 1 AO geschuldet, weil es sich insoweit je-

weils um einen eigenen Sondernutzungstatbestand handelt. Ebenso wenig würden

hier die Wohnungseigentümer gemeinsam veranlagt, weil nach der neueren Recht-

sprechung des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 2.6.2005 NJW 2005, 2061) die

Sondernutzung der insoweit rechtsfähigen Gemeinschaft der Wohnungseigentümer

zuzuordnen ist (dazu näher unten e)).

d) Ein abweichendes Ergebnis kann auch nicht aus dem Nichtzulassungsbeschluss

des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. November 2005 (NJW 2006, 791) herge-

leitet werden. Danach hindert die Teilrechtsfähigkeit der Wohnungseigentümerge-

meinschaft (BGH vom 2.6.2005 a.a.O. S. 2061 ff.) die Geltung einer im kommunalen

Abgabenrecht statuierten gesamtschuldnerischen Haftung der Wohnungseigentümer

für Grundbesitzabgaben (konkret Abfall-, Entwässerungs- und Straßenreinigungsge-

bühren) nicht. Dem Fall lag nordrheinwestfälisches Kommunalabgabenrecht zu

Grunde, das als Landesrecht nicht revisibel ist (vgl. BVerwG vom 11.11.2005 a.a.O.

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S. 792). Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung demgemäß nur

ausgesprochen, dass die von den nordrheinwestfälischen Verwaltungsgerichten

nach dortigem Landeskommunalabgabenrecht angenommene gesamtschuldneri-

sche Haftung mangels Revisibilität nicht zu beanstanden sei. Das für Sondernut-

zungsgebühren maßgebliche bayerische Landesrecht der Art. 18 ff. BayStrWG sieht

aber eine gesamtschuldnerische Haftung gerade nicht vor, wie vorstehend dargelegt

wurde. Die Entscheidung ist deshalb für Fälle der vorliegenden Art nicht relevant.

e) Ein sinnvolles und auch die Interessen der einzelnen Wohnungseigentümer an-

gemessen berücksichtigendes Ergebnis kann vorliegend durch die Inanspruchnahme

der Wohnungseigentümergemeinschaft als solcher hergeleitet werden. Dies wird

durch die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Teilrechtsfähigkeit der

Wohnungseigentümergemeinschaft (BGH vom 2.6.2005 a.a.O. S. 2061 ff.) problem-

los ermöglicht. Die Beklagte wird dies bei einer Neuveranlagung der Wohnungsei-

gentumsanlage zu beachten haben. Aber auch in Bezug auf den anhängigen Streit-

fall ist an sich der Tatbestand des § 6 Abs. 1 Satz 2 SGS nicht erfüllt; letzteres

könnte allerdings der Beklagten wegen der Grundsätze über den maßgeblichen Zeit-

punkt bei der Entscheidung über die Anfechtungsklage wohl nur teilweise entgegen-

gehalten werden.

Die Teilrechtsfähigkeit der Wohnungseigentümergemeinschaft hat Konsequenzen für

das Haftungssystem. Schuldner der Forderung, hier der Abgabeschuld, kann die teil-

rechtsfähige Gemeinschaft selbst sein (vgl. BGH vom 2.6.2005 a.a.O. S. 2066). Eine

akzessorische gesamtschuldnerische Haftung der Wohnungseigentümer kommt

daneben nicht von Gesetzes wegen, sondern nur dann in Betracht, wenn sie sich

neben dem Verband klar und eindeutig auch persönlich verpflichtet haben (vg. BGH

vom 2.6.2005 a.a.O. S. 2066). Der Bundesgerichtshof hat dabei die Rechtsfähigkeit

der Wohnungseigentümergemeinschaft nicht umfassend anerkannt, sondern auf sol-

che Teilbereiche des Rechtslebens beschränkt, bei denen die Wohnungseigentümer

im Rahmen der Verwaltung des gemeinschaftlichen Eigentums als Gemeinschaft am

Rechtsverkehr teilnehmen (vgl. BGH vom 2.6.2005 a.a.O. S. 2068). Es steht außer

Zweifel, dass auch die Abwehr von Abgabeforderungen einer Gemeinde, die an die

Lage des Gebäudes der Wohnungseigentumsanlage anknüpfen wie die hier streiti-

gen Sondernutzungsgebühren, dem Bereich zuzuordnen ist, in dem sich die Teil-

rechtsfähigkeit der Wohnungseigentümergemeinschaft konkretisiert. Denn die Son-

dernutzungsgebührenforderung betrifft - genauso wie die Ausübung der Sondernut-

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zung durch die Wohnungseigentümergemeinschaft selbst - das Außenverhältnis der

Wohnungseigentümergemeinschaft zur Beklagten als Straßenbaubehörde. Die kon-

struktiven Teile der Balkone und des Vordachs wie hier gehören zwingend zum ge-

meinschaftlichen Eigentum der Wohnungseigentümergemeinschaft, nicht zum Son-

dereigentum der einzelnen Wohnungseigentümer (vgl. § 5 Abs. 1 und 2 des Woh-

nungseigentumsgesetzes -WEG-; BayObLG vom 30.3.1990 NJW-RR 1990, 784).

Der einzelne Wohnungseigentümer könnte deshalb solche Balkone oder Vordächer

nicht beseitigen, um sich der Sondernutzungsgebührenpflicht zu entziehen. Die Son-

dernutzung knüpft mithin an die Eigentümerstellung des Verbands der Wohnungsei-

gentümer, nicht an die Stellung eines einzelnen Wohnungseigentümers als Nutzer

eines Balkons (etc.) an. Diese sachenrechtliche Stellung des Verbands - auch das

Sondernutzungsrecht ist Teil des Rechts der öffentlichen Sachen - erfordert es, die

Sondernutzung und damit auch die Haftung für die Gebühren der Wohnungseigen-

tümergemeinschaft zuzurechnen. Die Teilnahme der Wohnungseigentümergemein-

schaft am Rechtsverkehr ergibt sich im Übrigen aus den Modalitäten der Errichtung

des in ihrem Eigentum stehenden Gebäudes, das - entsprechend dem Bauantrag

des Rechtsvorgängers - mit einzelnen Bauteilen über die Grundstücksgrenze in den

Luftraum der öffentlichen Straße hineinragt (vgl. auch BGH vom 2.6.2005 a.a.O.

S. 2068).

Damit liegt zugleich kein Sachverhalt im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 2 SGS vor, dass

mehrere Personen eine Sondernutzung ohne Erlaubnis gemeinsam ausüben wür-

den; vielmehr wird die Sondernutzung allein von der Wohnungseigentümergemein-

schaft ausgeübt. Der Kläger wird deshalb auch insoweit zu Unrecht als Gesamt-

schuldner in Anspruch genommen. Allerdings existierte die genannte Rechtspre-

chung des Bundesgerichtshofs beim Erlass des Gebührenbescheids vom

15. Oktober 2003 und auch beim Erlass des Widerspruchsbescheids vom 1. Juli

2004 noch nicht. Im Hinblick auf die Grundsätze über den maßgeblichen Zeitpunkt

bei der Entscheidung über die Anfechtungsklage braucht sich die Beklagte diese

Rechtsprechung für die innerhalb der Verjährungsfrist zurückwirkende Abgabener-

hebung wohl nicht entgegenhalten zu lassen. Anderes wird man aber für die Ver-

pflichtung zu künftigen (jährlichen) Leistungen anzunehmen haben. Denn insoweit

liegt ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung vor (vgl. zum Ganzen BVerwG vom

27.10.1992 DVBl 1993, 781; Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, RdNr. 43 ff. zu

§ 113 m.w.N.). Da indes die Heranziehung als Gesamtschuldner schon an der man-

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gelnden Ermächtigungskonformität des § 6 Abs. 1 Satz 2 SGS scheitert, brauchen

diese Fragen hier nicht weiter vertieft zu werden.

Die Haftung der Wohnungseigentümergemeinschaft als insoweit rechtsfähiger Ver-

band vereinfacht im Übrigen im Bereich des Verfahrensrechts erheblich die Parteibe-

zeichnung sowie die Zustellung behördlicher und gerichtlicher Entscheidungen (vgl.

BGH vom 2.6.2005 a.a.O. S. 2064). Die Wohnungseigentümergemeinschaft, vertre-

ten durch den Verwalter (§§ 26, 27 WEG), kann danach Adressat von Verwaltungs-

akten sein und vor Gericht klagen oder verklagt werden (vgl. BGH vom 2.6.2005

a.a.O. S. 265).

Aus diesen Gründen scheidet es im Recht der Sondernutzungen zukünftig auch aus,

den praktischen Schwierigkeiten bei der Heranziehung von Wohnungseigentümern

zu Gebühren durch Verwaltungsakt oder bei ihrer sonstigen Inanspruchnahme da-

durch zu begegnen, dass versucht wird, stattdessen einen einzelnen Wohnungsei-

gentümer als Gesamtschuldner zu verpflichten (vgl. auch BGH vom 2.6.2005 a.a.O.

S. 2064) - wie dies auch vorliegend durch die Heranziehung des Klägers geschehen

ist. Soweit dabei die Beklagte durch ein Urteil des Verwaltungsgerichts im Vorpro-

zess zu dieser Vorgehensweise gegen einen einzelnen Wohnungseigentümer ge-

drängt worden ist, das die Adressierung des Gebührenbescheids „Wohnungseigen-

tümergemeinschaft ********straße ****, Zustellungsbevollmächtigte die Verwalterfirma

…" mangels ausreichender Schuldnerbezeichnung beanstandet hatte, lässt der

erkennende Senat offen, ob diese Auffassung des Verwaltungsgerichts zutreffend ist.

Im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bestehen daran

jedenfalls erhebliche Zweifel (vgl. BVerwG vom 25.2.1994 NJW-RR 1995, 73/74, wo

die Adressierung „Wohnungseigentümergemeinschaft X-Straße, z.Hd. des

Verwalters" bei einem Müllabfuhrgebührenbescheid als ausreichend erachtet wurde).

Dem ist aber schon deshalb nicht weiter nachzugehen, weil die Problematik infolge

der geänderten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Teilrechtsfähigkeit der

Wohnungseigentümergemeinschaft im Falle einer Neuheranziehung der

Wohnungseigentümer erledigt ist.

Soweit die Beklagte gegen die Heranziehung der Wohnungseigentümergemeinschaft

eingewandt hat, dies führe zu Schwierigkeiten, wenn kein Verwalter bestellt oder der

Behörde bekannt gegeben sei, liegt dies erkennbar neben der Sache. Der - ohnedies

nicht gerade wahrscheinliche - Fall des Fehlens eines Verwalters ist in § 26 Abs. 3

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WEG gesetzlich geregelt (gegebenenfalls Verwalterbestellung durch das Gericht). Im

zweiten Fall hat die Behörde entsprechend dem Amtsermittlungsgrundsatz des

Art. 13 Abs. 1 Nr. 3 lit. a) KAG i.V.m. § 88 AO entsprechende Ermittlungen anzustel-

len.

3. § 4 Abs. 5 SGS, der für nicht in den Gebührenverzeichnissen aufgeführte Sonder-

nutzungen eine Gebührenerhebung in entsprechender Anwendung von § 4 Abs. 1 - 4

SGS vorsieht, ist nichtig. Er verstößt gegen den Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit

der Abgabeschuld nach § 13 Abs. 1 Nr. 2 lit. b) KAG i.V.m. § 38 AO, der eine solche

Analogie nicht zulässt.

a) Der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Abgabeschuld ergibt sich vorliegend

nicht aus Art. 2 Abs. 1 KAG, weil diese Vorschrift im ersten Abschnitt des Kommu-

nalabgabengesetzes auf Sondernutzungsgebühren nicht anwendbar ist, nachdem

Art. 8 KAG nicht Grundtatbestand für Sondernutzungsgebühren ist (siehe oben 2.a);

vgl. auch BayVGH vom 3.4.1998 BayVBl 1999, 308). Diese „Lücke" wird aber durch

die Verweisung des Art. 13 Abs. 1 Nr. 2 lit. b) KAG auf § 38 AO geschlossen.

b) Der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Abgabeschuld des Art. 13 Abs. 1

Nr. 2 lit. b) KAG i.V.m. § 38 AO ist ein elementarer Grundsatz des Steuer- und Abga-

benrechts. Er leitet sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 3

Abs. 1 Satz 1 BV) und dem darin enthaltenen Gebot hinreichender Bestimmtheit von

Gesetzen her. Gesetzliche Tatbestände sind so zu fassen, dass die Betroffenen die

Rechtslage erkennen und ihr Verhalten daran ausrichten können. Für Abgaben gilt

dabei als allgemeiner Grundsatz, abgabebegründende Tatbestände müssen so be-

stimmt sein, dass der Abgabepflichtige die auf ihn entfallende Abgabe - in gewissem

Umfang - vorausberechnen kann (st.Rspr. des Bundesverfassungsgerichts; vgl.

BVerfG vom 17.7.2003, BVerfGE 108, 186/234 f. m.w.N.). Dies erfordert eine hinrei-

chend bestimmte Festlegung eines gesetzlichen Tatbestands als Voraussetzung für

die Abgabeerhebung. Zwar sind bei der Auslegung von Abgabetatbeständen auch

die gängigen Auslegungsregeln anzuwenden. Die Auslegung findet ihre Grenze aber

am möglichen Wortsinn der jeweiligen Vorschrift. Die Schaffung neuer Abgabetatbe-

stände durch Analogie ist im Steuer- und Abgabenrecht nicht zulässig (st.Rspr. des

Bundesfinanzhofs; vgl. BFH vom 9.2.1972 BStBl II 1972, 455/457; vom 26.4.1978

BStBl II 1978, 628/630; Schuster in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenverordnung

und Finanzgerichtsordnung, RdNr. 4 zu § 38 AO m.w.N.).

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Es liegt auf der Hand, dass damit eine Regelung wie in § 4 Abs. 5 SGS nicht verein-

bar ist. Sondernutzungen werden danach auch dann gebührenpflichtig, wenn sie im

Gebührenverzeichnis der Sondernutzungsgebührensatzung nicht aufgeführt sind.

Aus den Regelungen in § 4 Abs. 1 - 3 SGS, d.h. aus der Verkehrsbedeutung einer

Straße, aus dem wirtschaftlichen Wert für den Benutzer sowie aus dem Umfang und

der Dauer der Benutzung allein kann ein Abgabepflichtiger eine ihn treffende Abga-

bepflicht nicht ermitteln, wenn er die gebührenpflichtige Nutzungsart nicht kennt. In-

soweit verweist § 4 Abs. 5 SGB jedoch lediglich auf die entsprechende Anwendung

des maßgebenden Gebührenverzeichnisses in § 4 Abs. 4 SGS; in der Anlage I zu

dieser Vorschrift regelt die Satzung die Gebühr nur für bestimmte Nutzungsarten.

Der Abgabepflichtige kann daher nicht mehr sicher voraussehen, ob eine im Gebüh-

renverzeichnis aufgeführte Nutzung des Straßenraums mit einer anderen, von ihm

beabsichtigten, aber nicht geregelten Nutzung noch so ähnlich ist, dass die für die

geregelte Nutzung geltenden Gebührensätze auch auf seinen Fall Anwendung fin-

den. Dieser Zustand ist mit den letztlich verfassungsrechtlich gebotenen Bestimmt-

heitsanforderungen bei der Festlegung eines gesetzlichen Abgabetatbestands nicht

vereinbar. Er führt zur Nichtigkeit des § 4 Abs. 5 SGS, der den Grundsatz der Tatbe-

standsmäßigkeit zu umgehen versucht, aber den erforderlichen Bestimmtheitsanfor-

derungen nicht Rechnung trägt.

Bei der Neuregelung ihrer Satzung in diesem Punkt wird sich die Beklagte daher

darauf zu konzentrieren haben, durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe

mehr Rechtssicherheit für den einzelnen Abgabepflichtigen zu schaffen. Die Ver-

wendung unbestimmter Rechtsbegriffe deckt dabei auch den Einsatz von Oberbe-

griffen oder Gattungsbezeichnungen, gegebenenfalls mit der Konkretisierung durch

Regelbeispiele („insbesondere"), solange die Grenze des möglichen Wortsinns ein-

gehalten ist (vgl. BFH vom 26.4.1978 a.a.O. S. 630). So kann möglicherweise ein

Begriff wie "vor die Außenwand vortretende Bauteile" im Einzelfall Vordächer und

Balkone erfassen, zumal wenn der Satzungstatbestand auch Regelbeispiele anführt,

wie es etwa in Art. 6 Abs. 3 Satz 7 BayBO der Fall ist. Für einen Abgabepflichtigen

nicht vorhersehbar ist indes, dass analog zu einem Vordach nach Anlage I Nr. 16

des Gebührenverzeichnisses zu § 4 Abs. 4 SGS auch ein Balkon gebührenpflichtig

sein soll, wenn er als solcher in dem Gebührenverzeichnis nicht aufgeführt ist.

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4. Die Sondernutzungsgebührensatzung der Beklagten begegnet ferner grundsätzli-

chen Bedenken, weil sie bei der Inanspruchnahme des Luftraums über der Straße

keine Abstufung der Gebühren vornimmt. Allerdings kommt der Beklagten insoweit

ein normativer Spielraum zu, so dass in diesem Punkt keine Spruchreife besteht.

a) Nach Art. 18 Abs. 2a Satz 5 BayStrWG, der auch im Rahmen des Art. 22a

BayStrWG Anwendung findet (vgl. Art. 22a Satz 2 BayStrWG), sind für die Bemes-

sung der Sondernutzungsgebühren Art und Ausmaß der Einwirkung auf die Straße

und den Gemeingebrauch sowie das wirtschaftliche Interesse des Gebührenschuld-

ners zu berücksichtigen. Wenn durch eine Sondernutzung nur der Luftraum über der

Straße in Anspruch genommen wird, hängen Art und Ausmaß der Einwirkung auf die

Straße und den Gemeingebrauch ersichtlich von der Höhe ab, in der die Einwirkung

vorgenommen wird (beispielsweise bei so genannten Nasenschildern oder in den

Verkehrsraum hineinragenden Kästen verschiedener Art). Deshalb entspricht es

grundsätzlich dem Äquivalenzprinzip, die Höhe der Sondernutzungsgebühr bei ab-

nehmender Einwirkung auf die Straße und den Gemeingebrauch abzustufen und ge-

gebenenfalls zu staffeln (vgl. auch BayVGH vom 9.11.1999 a.a.O. S. 627). Dies

braucht im vorliegenden Fall allerdings nicht vertieft zu werden, weil es sich bei den

Balkonen und dem Vordach, die den Verkehrsraum nicht beeinträchtigen, um eine

materiell bürgerlich-rechtliche Sondernutzung handelt, für die die genannten Gebüh-

renmaßstäbe nur eingeschränkt gelten.

b) aa) Bei einer Sondernutzung nach bürgerlichem Recht setzt schon das Gesetz

selbst in Art. 22 Abs. 1 BayStrWG voraus, dass durch die Benutzung der Gemein-

gebrauch nicht beeinträchtigt wird. An diesem Umstand ändert sich nichts dadurch,

dass eine Gemeinde entsprechend der Ermächtigung des Art. 22a Satz 1 BayStrWG

die Sondernutzung öffentlich-rechtlich regelt und anstatt einer vertraglichen Vergü-

tung eine satzungsmäßige Gebühr erhebt. Denn materiell handelt es sich weiterhin

um eine Sondernutzung nach bürgerlichem Recht im Sinne des Art. 22 Abs. 1

BayStrWG, die nur in ein öffentlich-rechtliches Gewand gekleidet ist. Daraus folgt,

dass insoweit Art und Ausmaß der Einwirkung auf den Gemeingebrauch mit Null an-

zusetzen sind.

bb) Im Ergebnis nicht anders ist es in Fällen wie hier, in denen nur in den Luftraum,

nicht in den Verkehrsraum über der Straße eingegriffen wird, mit dem Tatbestands-

merkmal von Art und Ausmaß der Einwirkung auf die Straße. Wegen der Höhe der

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Einwirkung im Luftraum - deutlich über Fußgängerhöhe - und dem relativ geringen

Vorspringen in den Luftraum über der Straße - beim Vordach 0,4 m, bei den Balko-

nen 1,2 m - ist eine nennenswerte Einwirkung auf die Straße nicht messbar. Allen-

falls das Aufstellen von Beleuchtungs- oder Straßenbahnoberleitungsmasten könnte

theoretisch behindert werden; solche Masten werden aber üblicherweise nicht in so

geringen Abständen zu Außenwänden aufgestellt. Das Anpflanzen von Bäumen in

einem geringeren Abstand als 2 m verbietet Art. 47 Abs. 1 des Ausführungsgesetzes

zum Bürgerlichen Gesetzbuch und anderer Gesetze (AGBGB) ohnedies, zumal in-

soweit der Ausnahmetatbestand des Art. 50 Abs. 1 Satz 2 AGBGB unter dem Ein-

fluss des Gleichheitssatzes rücksichtsvoll ausgelegt werden muss (vgl. BayVGH vom

15.12.2004 NJW 2005, 2569/2571). Damit ist das Tatbestandsmerkmal von Art und

Ausmaß der Einwirkung auf die Straße in Fällen wie dem vorliegenden ebenfalls mit

Null anzusetzen.

cc) Mithin verbleibt bei Sondernutzungen der vorliegenden Art als Gebührenmaßstab

des Art. 18 Abs. 2a Satz 5 BayStrWG nur das wirtschaftliche Interesse des Gebüh-

renschuldners. Dieses ist grundsätzlich über die gesamte Höhe der Wohnungsei-

gentumsanlage mindestens als gleich anzusetzen, denn die Nutzung des Luftraums

über der Straße vermittelt auch in oberen Geschossen eines Gebäudekomplexes

einer Wohnanlage wie hier (mindestens) den unveränderten wirtschaftlichen Vorteil

der optimalen Ausnutzung von Grund und Boden. Dadurch kann beispielsweise auch

auf dem eigenen Grundstück in allen Geschossen mehr Wohnraum untergebracht

werden. Nicht unvertretbar erschiene es insoweit sogar, bei weiter oben liegenden

Wohnungen von einem höheren wirtschaftlichen Interesse auszugehen; denn im ge-

wöhnlichen Geschäftsverkehr wird Wohnungen in oberen Stockwerken mitunter ein

höherer Verkehrswert (§ 194 BauGB) zugemessen. Dies braucht aber hier nicht ver-

tieft zu werden. Welche allgemeinen Maßstäbe für die Bewertung des wirtschaftli-

chen Interesses des Gebührenschuldners vom Satzungsgeber im Rahmen des Äqui-

valenzprinzips in Ansatz gebracht werden dürfen, bedarf nach den Umständen des

vorliegenden Falles keiner Entscheidung.

Allerdings gibt es auch für das Tatbestandsmerkmal des wirtschaftlichen Interesses

des Gebührenschuldners eine Grenze, jenseits der eine Gemeinde bei der Bemes-

sung der Sondernutzungsgebühren nicht mehr darauf zurückgreifen darf. Diese

Grenze wird durch § 905 BGB genauso interessenbezogen markiert wie im Zivilrecht.

§ 905 Satz 2 BGB bestimmt, dass der Eigentümer Einwirkungen nicht verbieten

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kann, die in solcher Höhe oder Tiefe vorgenommen werden, dass er an der Aus-

schließung kein Interesse haben kann. Dieser Regelungsinhalt ist auf Sondernutzun-

gen im Luftraum der Straße (Art. 2 Nr. 2 BayStrWG) entsprechend anzuwenden (vgl.

BayVGH vom 19.2.1997 FStBay 1997 RdNr. 203 = S. 463/464; Wiget in Zeitler,

a.a.O., RdNr. 10 zu Art. 22; vgl. auch BayVGH vom 27.5.1958 BayVBl 1958, 281/283

ff.). Das bedeutet, dass die Gemeinde als Straßenbaubehörde Einwirkungen auf den

Luftraum der Straße, die in so großer Höhe vorgenommen werden, dass sie an der

Ausschließung kein Interesse haben kann, weder von einer Sondernutzungserlaub-

nis abhängig machen darf noch dafür Sondernutzungsgebühren erheben kann. Wo

diese Grenze genau verläuft, hat die Gemeinde als Normgeber im Rahmen ihres

normativen Ermessens zu entscheiden. Anhaltspunkte dafür können die Höhe sein,

die Anlagen auf öffentlichen Straßen wie Masten von Straßenlampen, Oberleitungs-

masten von Straßenbahnen oder Alleebäume maximal aufweisen. Dabei kann sie

auch noch deutliche Sicherheitszuschläge machen, um sich auf der sicheren Seite

zu befinden. Wesentlich über dem so ermittelten Höhenmaß wird sich aber ein Inte-

resse einer Gemeinde an der Regelung des Luftraums einer Straße nicht mehr

rechtfertigen lassen.

Ob die oberen Geschosse der streitbefangenen Wohnungseigentumsanlage danach

noch veranlagt werden dürfen, kann derzeit nicht abschließend beurteilt werden.

Diese Frage ist nicht spruchreif, solange die Beklagte ihr normatives Ermessen nicht

ausgeübt hat.

5. Der Bescheid der Beklagten vom 15. Oktober 2003 kann auch nicht insoweit

- teilweise - aufrechterhalten bleiben, als er die Sondernutzungsgebühr für einen der

Wohnung des Klägers fiktiv zuzuordnenden Balkon- und Vordachanteil und dement-

sprechenden Gebührenanteil beträfe.

Dies scheidet bereits deshalb aus, weil sich aus dem Bescheid eine solche Zuord-

nung nicht mit der erforderlichen Bestimmtheit der Art. 13 Abs. 1 Nr. 3 lit. b) KAG

i.V.m. § 119 Abs. 1 AO und Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 lit. b) aa) KAG i.V.m. § 157 Abs. 1

Satz 2 AO entnehmen ließe.

Darüber hinaus stünde wie dargelegt die Heranziehung eines einzelnen Wohnungs-

eigentümers mit einem fiktiven Anteil an der gesamten Gebührenforderung auch mit

dem Umstand nicht in Einklang, dass die Balkone und das Vordach jeweils hinsicht-

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lich ihrer konstruktiven Teile nicht zum Sonder-, sondern zum gemeinschaftlichen

Eigentum der Wohnungseigentümergemeinschaft gehören (vgl. BayObLG vom

30.3.1990 a.a.O S. 784). Sie sind insoweit Teile der Gesamtkonzeption des Gebäu-

dekomplexes, so wie dieser insgesamt geplant und ausgeführt wurde. Der einzelne

Wohnungseigentümer kann sie in dieser Funktion auch nicht einseitig verändern. Die

Ausübung der jeweiligen Sondernutzung erfolgt daher durch den Verband der Woh-

nungseigentümer, nicht aber durch den einzelnen Wohnungseigentümer, die auf die-

sen auch nicht separierbar ist. Als Gebührenschuldner kommt damit nur der insoweit

rechtsfähige Verband in Betracht.

6. Die übrigen Einwendungen des Klägers zeigen keine Rechtsverletzung auf.

a) Der grundsätzliche Anspruch der Beklagten auf Sondernutzungsgebühren ist nicht

verwirkt.

Es mag zutreffen, dass - über die vierjährige Festsetzungsverjährungsfrist nach

Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 lit. b) bb) KAG i.V.m. § 169 Abs. 2 Satz 1 AO hinaus - auch Son-

dernutzungsgebührenansprüche der Verwirkung unterliegen können. Voraussetzung

einer Verwirkung ist indes, dass neben dem Verstreichen eines längeren Zeitraums

(Zeitelement) der Gebührenschuldner auf Grund des vom Rechtsinhaber gezeigten

Verhaltens unter Berücksichtigung der Gesamtumstände nach Treu und Glauben die

berechtigte Erwartung hegen darf, dieser werde von seinem Anspruch keinen

Gebrauch mehr machen (sog. Umstandselement; - st.Rspr.; vgl. BVerfG vom

26.1.1972, BVerfGE 32, 305/308 f.; BayVGH vom 30.3.1982, 726/727 m.w.N.).

Daran fehlt es hier.

Zwar hat die Beklagte seit Erteilung der Baugenehmigung am 23. April 1964 und der

anschließenden Errichtung der Wohnungseigentumsanlage bis hin zum Jahr 2001, in

dem der erste Versuch der Erhebung der Sondernutzungsgebühren, soweit sie noch

nicht verjährt waren, unternommen wurde, keine solchen Gebühren festgesetzt. Dies

liegt aber lediglich daran, dass die Beklagte den Umstand der Sondernutzung offen-

sichtlich übersehen hatte. Dies ist insbesondere dadurch erklärlich, dass sich inner-

halb der Organisationen der Beklagten die Handhabung des damals etwa zwei Mo-

nate alten § 25 Abs. 2 der Verwaltungsanordnung vom 19. Februar 1964, der ent-

sprechende Mitteilungspflichten der „Lokalbaukommission" an das für Sondernut-

zungen einschließlich der Gebührenerhebung zuständige „Referat für Tiefbau und

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Wohnungswesen/Sondernutzungsbüro" vorsah, noch nicht genügend eingespielt

hatte. Dieses Übersehen der Mitteilungspflicht stellt zweifelsfrei ein fehlerhaftes Ver-

waltungshandeln der Beklagten dar. Eine Willensäußerung von Dienststellen der Be-

klagten, selbst auch nur konkludenter Art, auf die Sondernutzungsgebühren in ir-

gendeiner Form verzichten oder diese nicht erheben zu wollen, ist in den Verwal-

tungsvorgängen der Beklagten indes nirgends ersichtlich. Da es sich vorliegend um

eine auf unbestimmte (künftige) Zeit ausgeübte Sondernutzung durch die in den Luft-

raum der Straße vortretenden Gebäudeteile handelt, fallen die Sondernutzungsge-

bühren jährlich neu an. Die Anforderungen an Umstände, die die berechtigte Erwar-

tung nähren könnten, auf solche insbesondere auch künftige Abgabeforderungen

werde ein für allemal in irgendeiner Form verzichtet, müssen bei dieser Sachlage als

streng angesehen werden. Der bloße Zeitablauf, auch über einen Zeitraum von etwa

36 Jahren, reicht dafür nicht aus. Vielmehr ist die Wohnungseigentümergemeinschaft

durch das Verjährungsrecht des Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 lit. b) bb) KAG i.V.m. § 169

Abs. 2 Satz 1 AO, das eine vierjährige Festsetzungsverjährungsfrist vorsieht, inso-

weit ausreichend und angemessen geschützt. Das Übersehen der genannten Mittei-

lungspflicht mit der Folge der langjährigen Nichterhebung der Sondernutzungsgebüh-

ren kann daher nur dem Zeitmoment, nicht dem Umstandsmoment der Verwirkungs-

voraussetzungen zugeordnet werden.

Ebenso wenig liegt in der Erteilung einer Befreiung nach dem damaligen Art. 88

BayBO 1962 wegen „geringfügiger Überschreitung der Grundstücksgrenze“ ein Um-

standselement in diesem Sinne. Das ergibt sich schon daraus, dass dieser Teil der

behördlichen Entscheidung im Rahmen der Baugenehmigung vom 23. April 1964 nur

in dem rein bauordnungsrechtlichen Zusammenhang zu sehen ist. Eine Willensäuße-

rung von Dienststellen der Beklagten in Richtung Sondernutzungserlaubnis und

Sondernutzungsgebühren ist damit selbst dann nicht verbunden, wenn man davon

ausgeht, dass ein ordentlich handelnder Bediensteter in der „Lokalbaukommission“

der Beklagten den auch unter dem Gesichtspunkt der Sondernutzung relevanten

Sachverhalt hätte erkennen können. Für die Beteiligung von Dienststellen der Be-

klagten im Verfahren der Teilungserklärung (vgl. § 7 Abs. 4 WEG) gilt nichts anderes.

Auch dieses Verfahren hat weder rechtliche Bezugspunkte zum Recht der Sonder-

nutzungen noch stehen in diese Richtung deutende Willensäußerungen der Beklag-

ten im Raum.

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Darüber hinaus treten weitere Umstände hinzu, die es ausschließen, die späte Gel-

tendmachung der Sondernutzungsgebühren als Verstoß gegen Treu und Glauben

anzusehen. Diese liegen darin, dass der Rechtsvorgänger der Wohnungseigentü-

mergemeinschaft, das ist der Bauherr, und der von ihm beauftragte Architekt die

Überschreitung der Grundstücksgrenze zum öffentlichen Straßengrund bewusst ge-

plant und im Baugenehmigungsverfahren durch die Einreichung entsprechender

Bauvorlagen beantragt haben. Dementsprechend wurde in der Baugenehmigung

gemäß dem damaligen Art. 88 BayBO 1962 die genannte Befreiung wegen „gering-

fügiger Überschreitung der Grundstücksgrenze" gewährt. Zumindest dem Architekten

musste bewusst sein, dass eine - wenn auch geringfügige - Überschreitung der

Grundstücksgrenze finanzielle Folgen haben kann. Dies folgt unmittelbar aus dem

Überbaurecht des § 912 BGB, der in § 912 Abs. 2 BGB die Zahlung einer Überbau-

rente vorsieht. Denn Sondernutzungsgebühren stellen nur das öffentlich-rechtliche

Pendant zur Überbaurente dar. Wenn der Architekt den Bauherrn nicht auf die dar-

aus herzuleitende, auch finanzielle Tragweite einer Grenzüberschreitung zum Stra-

ßengrund hingewiesen haben sollte, stellt dies ein schwerwiegendes Verschulden

des Architekten dar, das sich der Bauherr nach § 278 BGB zurechnen lassen

musste, und für das heute die Wohnungseigentümergemeinschaft als Rechtsnach-

folgerin einzustehen hat. Wenn der Architekt dagegen seinen Hinweispflichten nach-

gekommen sein und der Bauherr demgemäß den Überbau in Kenntnis der Folgen

betrieben haben sollte, würden diese Erwägungen erst recht gelten. Auch wenn

heute entsprechende Ersatzansprüche längst verjährt sind (vgl. §§ 195, 852 Abs. 1

BGB a.F.), bleibt das Verhalten des Rechtsvorgängers der Wohnungseigentümer-

gemeinschaft im Rahmen der Prüfung des Umstandsmoments der Verwirkungsvor-

aussetzungen zu werten. Denn die Verwirkung ist nur ein Sonderfall der unzulässi-

gen Rechtsausübung des § 242 BGB (vgl. BGH vom 21.10.2005 UPR 2006, 109).

Diese Prüfung führt daher erst recht zu dem Ergebnis, das Vorliegen des erforderli-

chen Umstandselements zu verneinen.

b) Anhaltspunkte für eine andere Herleitung des vom Kläger geltend gemachten

Vertrauensschutzes sind nicht ersichtlich. Eine derartige Vertrauensschutzprüfung

könnte immer nur in eine Untersuchung münden, ob der Beklagten mit ihrer Gebüh-

renforderung ein gegenüber ihrem früheren Verwaltungshandeln unredliches, also

treuewidriges Verhalten vorzuhalten wäre (vgl. BGH vom 21.10.2005 a.a.O.). Aus

den Ausführungen oben a) ist jedoch ersichtlich, dass die Beklagte durch ihr Ver-

waltungshandeln ein solches Vertrauen des Klägers nicht aktiv gestärkt hat und

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daneben bei dem - hinsichtlich der finanziellen Tragweite - ersichtlich nicht durch-

dachten Grenzüberbau ein grobes Architektenverschulden vorliegt, das sich letztlich

auch der Kläger zurechnen lassen muss.

c) Inwiefern die Entscheidung des Großen Senats des Bayerischen Verwaltungsge-

richtshofs zur Schlusspunkttheorie vom 18. März 1993 (BayVBl 1993, 370 ff.) für den

vorliegenden Fall Bedeutung haben könnte, ist nicht ersichtlich.

Der Verwaltungsgerichtshof hat dort entschieden, dass eine Baugenehmigung auch

erteilt werden darf, selbst wenn noch offen ist, ob eine andere öffentlich-rechtliche

Gestattung erteilt werden kann, die für das Bauvorhaben neben der Baugenehmi-

gung erforderlich ist. Das schließt die vom Kläger befürwortete Konzentrationswir-

kung gerade aus. Soweit er die Konzentrationswirkung aus § 25 der Verwaltungsan-

ordnung der Beklagten vom 19. Februar 1964 herleiten möchte, ist dies offensichtlich

fehlerhaft; eine Verwaltungsvorschrift ist nicht geeignet, die gesetzlich gegebene

Rechtslage zu ändern. Die Kollisionsvorschrift des Art. 104 BayBO 1962 sah indes

das Ersetzen einer Sondernutzungserlaubnis nach Art. 18 ff. BayStrWG durch die

Baugenehmigung gerade nicht vor.

Abgesehen davon würde es dem Kläger nicht zugute kommen, wenn der Bauherr

oder die Wohnungseigentümergemeinschaft als Rechtsnachfolgerin von Anfang an

über eine Sondernutzungserlaubnis oder auch über eine in einer Baugenehmigung

enthaltene Sondernutzungserlaubnis verfügt hätte. Abgabetatbestand der Sonder-

nutzungsgebühr ist nicht das Innehaben oder Nichtinnehaben einer Sondernut-

zungserlaubnis, sondern das tatsächliche Inanspruchnehmen des Straßenraums

einschließlich des Luftraums über der Straße für widmungsfremde Zwecke (vgl.

Art. 18 Abs. 2a Satz 1 BayStrWG; BVerwG vom 21.10.1970 a.a.O.; Wiget in Zeitler,

a.a.O., RdNr. 32 zu Art. 18). Diese Nutzung des Straßenraums dauert indes seit der

Errichtung der Wohnungseigentumsanlage an und wird - soweit ersichtlich - auf un-

bestimmte Zeit fortgesetzt.

d) Ebenfalls unerheblich ist der Einwand des Klägers, ein Vertrauensschutz folge

daraus, dass die Wohnungseigentümer mangels entsprechender Kenntnis in ihre

Teilungserklärung im Jahre 1976 keine Regelung über die Verteilung von Sondernut-

zungsgebühren aufgenommen hätten. Nach welchen Maßstäben die Wohnungsei-

gentümer diese Kosten unter sich verteilen, betrifft lediglich ihr Innenverhältnis zu-

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einander. Ein Vertrauensschutz gegenüber der Beklagten könnte sich aber nur aus

dem Außenverhältnis der Wohnungseigentümer zur Beklagten ergeben, denn nur auf

dieses vermag die Beklagte gestaltend einzuwirken. Im Übrigen wurde bereits oben

a) darauf hingewiesen, dass sich die Wohnungseigentümer das grobe Architekten-

verschulden bei dem Überbau in den Luftraum der Straße zurechnen lassen müssen.

Kostenentscheidung: § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO.

Vorläufige Vollstreckbarkeit: § 167 VwGO, § 708 Nr. 10 ZPO.

Nichtzulassung der Revision: § 132 Abs. 2 VwGO

R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g

Nach § 133 VwGO kann die Nichtzulassung der Revision durch Beschwerde zum

Bundesverwaltungsgericht in Leipzig angefochten werden. Die Beschwerde ist beim

Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (in München Hausanschrift: Ludwigstraße 23,

80539 München; Postfachanschrift: Postfach 34 01 48, 80098 München; in Ansbach:

Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach) innerhalb eines Monats nach Zustellung dieser

Entscheidung schriftlich einzulegen und innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung

dieser Entscheidung zu begründen. Die Beschwerde muss die angefochtene Ent-

scheidung bezeichnen. In der Beschwerdebegründung muss die grundsätzliche Be-

deutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung des Bundesverwaltungs-

gerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des

Bundesverfassungsgerichts, von der die Entscheidung des Bayerischen Verwal-

tungsgerichtshofs abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden.

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Vor dem Bundesverwaltungsgericht muss sich jeder Beteiligte durch einen Rechts-

anwalt oder einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule im Sinne des Hoch-

schulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt als Bevollmächtigten vertreten

lassen. Das gilt auch für die Einlegung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung

der Revision. Abweichend davon können sich juristische Personen des öffentlichen

Rechts und Behörden auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum

Richteramt sowie Diplomjuristen im höheren Dienst, Gebietskörperschaften auch

durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt der zuständigen Auf-

sichtsbehörde oder des jeweiligen kommunalen Spitzenverbandes des Landes, dem

sie als Mitglied zugehören, vertreten lassen.

Dr. Allesch Dösing Graf zu Pappenheim

Beschluss:

Der Streitwert wird für das Verfahren in beiden Rechtszügen auf

14.700,17 Euro festgesetzt. Der Streitwertbeschluss des Verwal-

tungsgerichts München vom 12. Mai 2005 wird insoweit geändert.

Gründe:

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 3, 47 Abs. 1, 63 Abs. 3 GKG. Das

Verwaltungsgericht hat übersehen, dass der Abgabebescheid vom 15. Oktober 2003

auch künftige, jährliche jeweils zum 15. Januar fällig werdende Zahlungspflichten von

jeweils 1.727 Euro festsetzt. Diese sind nach dem Vorschlag des Streitwertkatalogs,

Fassung Juli 2004 (NVwZ 2004, 1327), mit dem dreieinhalbfachen Jahresbetrag an-

zusetzen (vgl. Tz. II. 3.1 Streitwertkatalog).

Dr. Allesch Dösing Graf zu Pappenheim