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Ausgabe 3 | 2010 sozial Magazin für Politik, Kirche und Gesellschaft in Baden-Württemberg Klamme Kommunen Reutlingens Oberbürgermeiste- rin Barbara Bosch spricht im In- terview von einer dramatischen Finanzsituation ihrer Stadt. Y Seite 4 Die Sozialpädagogische Familien- hilfe unterstützt überforderte Eltern und deren Kinder bei der Alltagsbewältigung. Y Seite 6 Gelebte Gemeinschaft Menschen mit schwersten Behinderungen gehören in Metzingen-Neuhausen selbstverständlich dazu. Y Seite 12 Umfassende Unterstützung Das Gestufte Ambulant Betreute Wohnen ermöglicht die intensive Unterstützung von Menschen mit psychischer Erkrankung. Y Seite 13 Risikofaktor Sparpaket Soziale Träger fürchten Folgen Schwierige Situationen

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Ausgabe 3 | 2010

sozialMagazin für Politik, Kirche und Gesellschaft in Baden-Württemberg

Klamme Kommunen

Reutlingens Oberbürgermeiste-rin Barbara Bosch spricht im In-terview von einer dramatischen Finanzsituation ihrer Stadt.

Y Seite 4

Die Sozialpädagogische Familien-hilfe unterstützt überforderte Eltern und deren Kinder bei der Alltagsbewältigung.

Y Seite 6

Gelebte Gemeinschaft

Menschen mit schwersten Behinderungen gehören in Metzingen-Neuhausen selbstverständlich dazu.

Y Seite 12

Umfassende Unterstützung

Das Gestufte Ambulant Betreute Wohnen ermöglicht die intensive Unterstützung von Menschen mit psychischer Erkrankung.

Y Seite 13

Risikofaktor SparpaketSoziale Träger fürchten Folgen

Schwierige Situationen

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sozial • Ausgabe 3 | 2010

Liebe Leserinnen und Leser,

Risikofaktor Sparpaket – Soziale Träger fürchten FolgenE D ITO R I A L

Inhalt

als die Bundesregierung im Juni ihre Sparpläne für die nächsten Haushaltsjahre vorstellte, war der Aufruhr groß. Unsozial und ungerecht sei das soge-nannte Sparpaket. Und als die Sparmaßnahmen im Bundestag debattiert wurden, sprach nicht nur die Opposition von einer „Liste der Ungerechtigkeiten“. Die Notwendigkeit zu sparen bestreiten freilich die wenigsten. Empörung löst aus, wo der Rotstift ange-setzt werden soll. Die Sozialverbände bemängeln einseitige Sparmaßnahmen auf dem Rücken der Schwachen und Armen, während die Starken und Ver-mögenden im Vergleich dazu ungeschoren blieben. In unserem Schwerpunktthema werfen wir ein Schlag-licht auf die Sparpläne des Bundes (Seite 3). Und im Interview mit Reutlingens Oberbürgermeisterin Bar-bara Bosch sprechen wir über die finanzielle Situa-tion der Kommunen, die wegen leerer Kassen Alarm schlagen (Seite 4). Weil die Situation so angespannt ist, stellen die Städte, Gemeinden und Landkreise derzeit vieles auf den Prüfstand – und diskutieren auch über Leistungskürzungen. Beispielhafte Arbeit

der Jugendhilfe in einem Bereich, wo sich Kürzungen fatal auswirken würden, stellen wir auf Seite 6 vor.Über die Heimerziehung in den Nachkriegsjahren bis hinein in die 1970er Jahre ist in jüngerer Zeit viel debattiert worden. Ehemalige Heimzöglinge mel-deten sich zu Wort und der Bundestag richtete einen Runden Tisch ein. Die BruderhausDiakonie hat begon-nen, die Geschichte ihrer Heime in den 1950er bis 1970er Jahren zu untersuchen. Darüber und über die Erkenntnisse des Historikers Hans-Walter Schmuhl, der schon etliche Heime anderer Träger untersucht hat, berichten wir auf Seite 10. Dass auch Menschen mit schwereren Behinderungen teilhaben können am Leben in der Gemeinde, das beweist ein Projekt, das die Behindertenhilfe Neckar-Alb der BruderhausDiakonie im Metzinger Stadtteil Neuhausen eingerichtet hat (Seite 13).Wir wünschen Ihnen gewinnbringende Lektüre und hoffen, Sie bleiben uns gewogen

Ihre „Sozial“-Redaktion

ImpressumISSN 1861-1281

BruderhausDiakonieStiftung Gustav Werner und Haus am BergRingelbachstraße 211, 72762 ReutlingenTelefon 07121 278-225, Telefax 07121 278-955Mail [email protected]

HerausgeberPfarrer Lothar Bauer Vorstandsvorsitzender

RedaktionMartin Schwilk (msk), Karin Waldner (kaw)

Gestaltung und SatzSusanne Sonneck

Druck und VersandGrafische Werkstätte der BruderhausDiakonie,Werkstatt für behinderte MenschenErscheint vierteljährlich

FotonachweisTitelbild: Anne Katrin Figge - fotolia.com; Seite 3: Arbeitsagentur; Seite 4: Stadt Reutlingen; Seite 7: Gemeindetag; Seite 11/15: privat; Seite 16: EKDAlle anderen: Archiv und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BruderhausDiakonie

SpendenkontoEvangelische Kreditgenossenschaft Kassel,BLZ 520 604 10, Konto 4006

TITELTHEMA

3 Sozial unausgewogen

4 Steigende Kosten, sinkende Einnahmen

6 „Alleine hätte ich das nicht geschafft“

8 Einsparen durch Leistungskürzungen

KOLUMNE

9 Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender BruderhausDiakonie: Paradigmenwechsel in der Jugend-hilfe – Erinnerung an die 1970er Jahre

AKTUELL

10 Klärung der eigenen Vergan-genheit

REGIONEN

11 Metzingen-Neuhausen: Das Normale ist das Besondere

13 Reutlingen: „Ich fühle mich hier pudelwohl“

NACHRICHTEN

14 Aus der BruderhausDiakonie

DIAKONISCHER IMPULS

16 Nikolaus Schneider: Gerechte Teilhabe ist entscheidendes Kriterium

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sozial • Ausgabe 3 | 2010 TITE LTH E M A

Sparpaket der Bundesregierung

Sozial unausgewogen

Risikofaktor Sparpaket – Soziale Träger fürchten Folgen

Einen wilden Mix aus Sozialkürzungen, Subven-tionsabbau und neuen Abgaben für die Industrie nennt die „Zeit“ das Sparpaket, mit dem die Bun-desregierung auf vier Jahre verteilt insgesamt 80 Milliarden Euro einsparen will. Am 1. September hat das Kabinett das sogenannte Haushaltbegleitgesetz beschlossen, das wesentliche Punkte dieses Sparpa-kets umsetzt. Einer der Kernpunkte: Im kommenden Jahr sollen die Sozialausgaben – der dickste Brocken im Bundeshaushalt – um fünf Milliarden Euro sinken. Das trifft zunächst einmal Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger. Ihnen wird das bisherige Elterngeld von 300 Euro pro Monat gestrichen, ebenso die Renten-beiträge, die bisher noch gezahlt werden. Außerdem entfällt künftig der Zuschlag, den Arbeitslose beim Übergang vom Arbeitslosengeld auf Hartz-IV-Bezug noch für maximal zwei Jahre erhalten haben. Ersatz-los gestrichen wird auch der Heizkostenzuschuss für Wohngeldempfänger. Davon betroffen sind vor allem Rentner und Geringverdiener. Drei Milliarden jährlich soll die Arbeitsagentur einsparen, und zwar in erster Linie dadurch, dass bisherige Pflichtleistungen wie Umschulungen und Weiterbildungen zu Kann- beziehungsweise Ermes-sensleistungen umgewandelt werden. Die örtlichen Agenturen könnten so schneller auf den örtlichen Arbeitsmarkt reagieren und ihre Gelder wirksamer einsetzen, wird argumentiert. „Gute Arbeitsmarkt-politik hängt zuerst von der Qualität, nicht von einer absoluten Summe ab“, verteidigt Arbeitsministerin Ursula von der Leyen die Sparvorgaben. „Indem wir nach und nach das unwirksame Fünftel der Maß-nahmen aufgeben, können wir im Ergebnis beides tun: deutlich zur Haushaltssanierung beitragen und gezielt Menschen in Arbeit bringen.“ Vereinzelt kündigten örtliche Arbeitsagenturen schon an, im kommenden Jahr werde die Zahl ihrer Bildungsmaßnahmen sinken. Wenn die Pflichtlei-stungen für Arbeitslose in Ermessensleistungen umgewandelt würden, werde das Fördern von Arbeitslosen weiter in den Hintergrund treten, befürchtet deshalb Diakoniepräsident Klaus-Dieter Kottnik: „Langzeitarbeitslose brauchen aber gezielte Unterstützung, um nicht dauerhaft vom Arbeits-markt ausgeschlossen zu bleiben.“ Die Auswirkungen

der Sparpläne werden auch die Kommunen zu spüren bekommen, etwa durch die Einsparungen beim Wohngeld. Wohngeld bekommen Haushalte, die bedürftig sind, aber keine Hartz-IV-Leistungen bezie-hen. Die Kürzungen können dazu führen, dass Geringverdiener und Kleinrentner künftig unter die Bemessungsgrenze fallen und auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind. „Mit der geplanten Wohngeldkürzung wird die Zahl der Hartz-IV-Empfänger weiter steigen“, prophe-zeit Hans Georg Rips, der Präsident des Deutschen Mieterbunds. Das aber belastet dann die Haushalte der Kommunen. Denn die müssen die Kosten für die Unterkunft Bedürftiger übernehmen. „Das ist Haus-haltssanierung auf Kosten der Kommunen“, sagte die stellvertretende Hauptgeschäftsführerin des Deut-schen Städtetags, Monika Kuban, dem Spiegel. Auch das Streichen der Rentenbeiträge für Hartz-IV-Empfänger wird sich zwar nicht sofort, aber län-gerfristig auf die kommunalen Finanzen auswirken, befürchtet der Deutsche Städtetag. Dann nämlich, wenn die Hartz-IV-Bezieher ohne Rentenansprüche wieder auf Grundsicherungsleistungen angewiesen sind, die aus den kommunalen Finanztöpfen aufge-bracht werden müssen. Unsozial und ungerecht seien die Sparpläne, monie-ren Sozialverbände, Gewerkschaften, Kirchen, Oppo-sitionsparteien und selbst einzelne Politiker aus den Parteien der Regierungskoalition. Bei den Armen wer-de gespart. Die Reichen blieben weitgehend unge-schoren. „Die Sparbeschlüsse der Bundesregierung belasten die sozial Schwächsten im Übermaß“, kriti-siert Diakonie-Präsident Kottnik. Und Präses Schnei-der, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche von Deutschland hält es zwar für lobenswert, dass die Regierung den Haushalt konsolidiert und trotz allem bei der Bildung Schwerpunkte setzt. Doch insgesamt, so Schneider, sei das Sparpaket sozial nicht ausgewo-gen und verletze das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen. msk Z

+ www.tagesschau.de/inland/sparbeschluesse100.htmlwww.diakonie.de/stellungnahmen-990-stellungnahme-zu-den-sparbeschluessen-der-bundesregierung-6801.html

Die Arbeitsagen-turen sollen etwa drei Milliarden einsparen – in erster Linie durch Umwandlung von Pflicht- in Kann-Leistungen

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sozial • Ausgabe 3 | 2010TITE LTH E M A

Steigende Kosten, sinkende EinnahmenDie Kommunen sind so klamm wie nie. Das Sparpaket des Bundes belastet die Kommunen zusätzlich. Reutlingens Oberbürgermeisterin Barbara Bosch spricht im Interview von einer dramatischen Finanzsituation.

Finanzielle Lage der Kommunen

Risikofaktor Sparpaket – Soziale Träger fürchten Folgen

Reutlingens Ober-bürgermeisterin Barbara Bosch: Gespart wird auf dem Rücken der Kommunen

Y Unter welchen Stichworten würden Sie die derzei-tige Haushaltslage der Kommunen zusammenfas-sen?

Die derzeitige Haushaltslage der Kommunen ist so schlecht wie noch nie seit dem Zweite Weltkrieg. Wir sind mit einem erheblichen Einbruch der kom-munalen Einnahmen allerdings nicht nur im Zu-sammenhang mit der Finanz- und Wirtschaftskrise konfrontiert. Rund 40 Prozent der Rückgänge der Ge-werbesteuereinnahmen in den Kommunen sind po-litisch gewollt. Da ist zum einen die Unternehmens-steuerreform, deren Auswirkungen bereits durch entsprechende Mindereinnahmen spürbar geworden sind. Noch nicht einkalkulieren konnten wir die Aus-fälle durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz, voraussichtlich circa zwei bis drei Millionen Euro pro Jahr. Es ist schön, wenn eine Regierung Steuern senkt, doch was, wenn die Einnahmen aus Gewerbe- und Einkommenssteuer den Städten und Gemeinden feh-len? Das trifft mit einem dynamischen Wachstum der Ausgaben zusammen. Der Anteil der Sozialleistungen an den kommunalen Ausgaben hat sich seit 1970 verfünffacht, seit der Wiedervereinigung knapp ver-doppelt. Dies liegt an veränderten gesellschaftlichen Bedingungen. Alle großen gesellschaftspolitischen Aufgaben wie Bildung, Armutsbekämpfung, Integra-tion, Eingliederung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und so weiter tragen zu diesem immensen Aus-gabenanstieg bei. Dass diese Aufgaben nicht alleine von den Kommunen geschultert werden können, liegt auf der Hand. Die Eingliederung von Behinder-ten beispielsweise ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, keine rein lokale.

Y Kommen durch das Konjunkturentlastungspaket der Bundesregierung weitere Belastungen auf die Kommunen zu?

Auch bei den Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sind erhebliche Kosten-steigerungen zu verzeichnen. Die Stadt- und Land-kreise tragen auf Dauer die Hauptlast der zu erwar-tenden Mehrausgaben. Ein eindrückliches Beispiel

dafür, wie aktuell auf dem Rücken der Kommunen gespart wird, ist die Streichung der Rentenversiche-rungsbeiträge für Hartz-IV-Empfänger. Für sie springt dann im Alter die Grundsicherung ein, was Ausgaben beim Bund spart, die Kommunen aber stärker belas-tet.

Y Wie wirken sich diese Belastungen aus?

Viele Leistungsgesetze bürden der kommunalen Ebe-ne enorme Lasten auf. Hier sind Ungleichgewichte entstanden, die zur dramatischen Finanzsituation der Kommunen beitragen. Die Entlastung der kom-munalen Haushalte von Sozialausgaben ist deshalb ein zentrales Ziel der von Finanzminister Schäub-le eingesetzten Gemeindefinanzkommission. Als mögliche Maßnahmen kommen die Sicherstellung einer ausreichenden Beteiligung des Bundes an den Kosten der Unterkunft im Sozialgesetzbuch II – der Grundsicherung für Arbeitssuchende – in Frage, eine Reform der Eingliederungshilfe hin zu einem Bun-desleistungsgesetz für behinderte Menschen sowie eine nachhaltige Absicherung des Pflegerisikos in der Pflegeversicherung und der sonstigen der Sozialhilfe vorgelagerten Sicherungssysteme.

Y Der deutsche Städtetag hat gleich nach Bekannt-werden der geplanten Sparmaßnahmen kritisiert, da-durch würden Lasten vom Bund auf die Kommunen verschoben. Teilen Sie diese Einschätzung?

Bei all diesen Themen stellen wir auf der kommu-nalen Ebene eine Lastenverschiebung zu unseren Ungunsten fest. So hat sich die Verteilung der Kosten der Unterkunft für Langzeitarbeitslose zwischen Bund und Kommunen nicht wie 2005 prognostiziert entwickelt, sondern die reale Belastung des Bundes ist kontinuierlich gesunken, während jene der Kom-munen weiter angestiegen ist. Der Deutsche Städte-tag hatte übrigens von Anfang an kritisiert, dass die Berechnungsformel zur Höhe der Bundesbeteiligung kein taugliches Mittel darstellt. Die bei der Einfüh-rung des Sozialgesetzbuchs II gesetzlich zugesicherte Entlastung der Kommunen wird nicht erreicht. Hier muss dringend nachgesteuert werden.

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sozial • Ausgabe 3 | 2010

Die Erosion der Kommunalfinanzen rührt von einem stetig und zum Teil dramatisch wachsenden Anstieg der Ausgaben bei gleichzeitigem Rückgang der Einnahmen her. Die Kommunen fordern deshalb zu Recht gegenüber dem Bund und den Ländern die Ein-haltung des Konnexitätsprinzips, das gerne mit „wer bestellt, bezahlt“ übersetzt wird.

Y Wie schätzen Sie die Entwicklung der kommu-nalen Finanzsituation ein angesichts der momentan prognostizierten konjunkturellen Erholung?

Deutschland wird derzeit international darum be-neidet, dass sich die Wirtschaft offensichtlich sehr schnell wieder von dieser größten Krise seit der Nachkriegszeit erholt. Es lässt sich derzeit noch nicht abschätzen, ob die konjunkturelle Verbesserung nachhaltig sein wird. Aber selbst wenn die optimisti-schen Annahmen zutreffen, wird es noch drei bis vier Jahre dauern, bis sich die kommunalen Haushalte wieder erholt haben, weil die Unternehmen zunächst einmal die zum Teil enormen Verlustvorträge abbau-en werden, bevor Gewerbesteuer aus dem Gewinn gezahlt werden kann. Denn Unternehmen haben zwar bei einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage die Möglichkeit, ihre Gewerbesteuervorauszah-lungen sofort anzupassen. Bei einer Verbesserung allerdings können sie sich zwei Jahre damit Zeit lassen. Entscheidend für die Entwicklung der kom-munalen Finanzsituation wird allerdings auch sein, zu welchen Entscheidungen man sich durchringen wird, wenn die Vorschläge der Gemeindefinanzkom-mission vorliegen. Die Einnahmen früherer Jahre wird man wegen der beschlossenen Steuerentlastungen in diesem Umfang nicht mehr erreichen. Bleibt alles beim Alten, werden die stetig wachsenden Sozialaus-gaben den finanziellen Gestaltungsspielraum noch weiter schrumpfen lassen. msk Z

TITE LTH E M ARisikofaktor Sparpaket – Soziale Träger fürchten Folgen

Y Die großenteils von den Kommunen getragenen Kosten der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung machen einen beträchtlichen Teil des Sozialbudgets der Landkreise, Städte und Gemeinden aus. Erwarten Sie Veränderungen aufgrund der ange-spannten Finanzlage?

Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behin-derung ist ein rasant wachsender Bereich. Die Zahl der leistungsberechtigten Personen nimmt zu, was unter anderem mit der deutlich gestiegenen Lebens-erwartung zusammenhängt. Aber auch der – gesell-schaftlich erwünschte – Ausbau der Regelangebote in Kindergärten und Schulen für behinderte Kinder und Jugendliche wird zu einem massiven Kostenanstieg führen. Die Aufnahme eines behinderten Kindes in eine Kindergartengruppe führt beispielsweise zu einer geringeren Gruppengröße und einer erhöhten Personalausstattung. Mit mehr Gruppen steigen die Raum-, Sach- und Personalkosten und damit wieder-um die Ausgaben bei den Kommunen.

Y Welche Maßnahmen wären für Sie als Oberbür-germeisterin einer Großstadt vorstellbar und wün-schenswert, um die Finanzen der Kommunen auf eine stabilere Grundlage zu stellen?

Ganz generell ist es sinnvoll, die Belastung der Kom-munen durch gesetzte Standards zu prüfen und auf pragmatische Anpassungen hinzuwirken. Zwar löst der Standardabbau allein nicht die kommunalen Haushaltsprobleme. Er kann aber einen Beitrag dazu leisten. Bislang ist den Kommunen generell die Mög-lichkeit verwehrt gewesen, bei Gesetzesvorhaben auf die Folgen für die kommunale Ebene hinzuweisen. Es ist deshalb positiv, dass nunmehr in der Gemeindefi-nanzkommission bessere Regelungen zur Beteiligung der Kommunen an der Kostenfolgenabschätzung von Gesetzen in der Diskussion sind. Bedauerlich ist allerdings, dass Bund und Länder den Vorschlag des Deutschen Städtetags abgelehnt haben, kommunale Anhörungs- und Beteiligungsrechte bei den Gesetzen des Bundes, die sich auf die Kommunen auswirken, im Grundgesetz zu verankern.Neben der Ausgabenseite ist selbstverständlich auch die Einnahmenseite zu betrachten. Nach dem derzei-tigen Stand gibt es zur Gewerbesteuer keine realis-tische Alternative. Die Gemeindefinanzkommission prüft nun auf Wunsch der kommunalen Spitzenver-bände zusätzlich das sogenannte Kommunalmodell, demzufolge die Gewerbesteuer beibehalten und durch eine Einbeziehung der freien Berufe und eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage stabilisiert werden soll. Ich halte dies für den richtigen Weg.

Barbara Bosch, Jahrgang 1958, ist seit 2003 Ober-bürgermeisterin der Stadt Reutlingen. Zuvor war die studierte Politikwissenschaftlerin und Kunstge-schichtlerin in Fellbach bei Stuttgart unter anderem Sozialamtsleiterin und – bis zu ihrem Amtsantritt in Reutlingen – sechs Jahre lang Bürgermeisterin. Der baden-württembergische Städtetag nominierte sie im Mai dieses Jahres zur Nachfolgerin des amtieren-den Städtetags-Präsidenten Ivo Gönner (Ulm).

+ www.reutlingen.de

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sozial • Ausgabe 3 | 2010

„Alleine hätte ich das nicht geschafft“Sozialpädagogische Familienhilfe

TITE LTH E M A

Immer mehr Eltern sind den Anforderungen der heutigen Leistungsgesellschaft nicht gewachsen. Sie fühlen sich mit der Kindererziehung überfordert und haben finanzielle Probleme. Die Sozialpädagogische Familienhilfe der BruderhausDiako-nie unterstützt betroffene Eltern und deren Kinder, ihren Alltag zu bewältigen.

Risikofaktor Sparpaket – Soziale Träger fürchten Folgen

Guiseppe Canella* ist ein kräftiger Mann, den nichts so leicht umwirft. Seit 25 Jahren arbeitet er auf dem Bau – ein Mensch, der zupackt, belastbar ist und absolut zuverlässig. Doch was vor sieben Jahren ge-schah, zog dem gebürtigen Italiener regelrecht den Boden unter den Füßen weg. Hals über Kopf verließ seine Ehefrau die Familie und kehrte in ihre Heimat Sizilien zurück. Sie hatte sich schon seit längerer Zeit mit ihrem Alltag überfordert gefühlt und offensicht-lich keinen anderen Ausweg gesehen. Zu Hause in Reutlingen blieben ihr Mann und die drei kleinen Kinder, das jüngste gerade mal zwei Jahre alt. „Es war eine schlimme Zeit damals“, sagt Guisep-pe Canella zögernd. Es fällt ihm schwer, über die Ereignisse zu sprechen, die sein Leben und das seiner Kinder so nachhaltig geprägt und verän-dert haben. Über die Enttäuschung, die Trauer, den Schmerz und die Angst, wie alles weitergehen soll als alleinerziehender, berufstätiger Vater.„Alleine hätte ich es nicht geschafft.“ Davon ist der 47-Jährige überzeugt. Hilfe in der größten Not seines Lebens fand er da-mals beim Oberlin-Jugendhilfeverbund der Bruder-hausDiakonie in Reutlingen, der vom Jugendamt beauftragt wurde, sich um die Familie zu kümmern. Seit sieben Jahren werden Vater und Kinder von einer Mitarbeiterin der Sozialpädagogischen Fami-lienhilfe bei der Alltagsplanung und –bewältigung unterstützt. Hildegard Batzill gehört fast schon zur Familie. Sechs Stunden pro Woche widmet sie sich den vier Familienmitgliedern. Die Sozialpädagogin

sorgt dafür, dass die Kinder tagsüber betreut werden, sei es im Schülerhort oder von einer Tagesmutter. Für Guiseppe Canella ist sie Ansprechpartnerin in Sachen Kindererziehung und Krisenmanagement. Darüber hinaus hilft sie ihm dabei, amtliche Briefe zu lesen und zu verstehen, Formulare auszufüllen und Anträge zu stellen, zum Beispiel für Wohngeld und Kindergeldzuschlag. „Ohne sie würde ich das nicht hinkriegen“, gibt der 47-Jährige freimütig zu. Als Bauarbeiter hat er ein niedriges Einkommen und daher Anspruch auf staatliche Unterstützung. „Das Geld ist knapp, aber es reicht.“ Die Familie lebt in

einer kostengünsti-gen Wohnung der Gemeinnützigen Woh-nungsbaugesellschaft Reutlingen – in einer hübschen, weißge-tünchten Wohnanlage mit Blumenkästen am Balkongeländer und einem Innenhof mit Rasenflächen und Sandkasten. An ein Auto ist nicht zu den-ken. Guiseppe Canella fährt früh morgens mit dem Bus nach Walddorfhäslach, wo

er seit einem Vierteljahrhundert bei derselben Baufir-ma beschäftigt ist. Seine beiden Söhne Antonio* (14) und Mauro* (12) besuchen die Förderschule, Tochter Cinzia* geht in die Grundschule und wird nach dem Unterricht im Schülerhort betreut. „Sie ist eine gute Schülerin“, lobt Hildegard Batzill die Neunjährige. Anfangs sei sie in der Schule eher schüchtern und zurückhaltend aufgetreten. Durch den Schülerhort habe sie an Selbstbewusstsein gewonnen und all-mählich auch Freundinnen gefunden.Ihr Bruder Mauro habe sich ebenfalls positiv entwik-

Wenn Hildegard Batzill von der Familienhilfe kommt, versammelt sich die ganze Familie um den Wohnzimmertisch herum

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sozial • Ausgabe 3 | 2010 TITE LTH E M ARisikofaktor Sparpaket – Soziale Träger fürchten Folgen

kelt. Weil Konflikte mit Schulkameraden und Lehrern früher an der Tagesordnung waren, setzte sich Hil-degard Batzill dafür ein, dass der Junge einen vom Jugendamt finanzierten Platz in einer Tagesgruppe der BruderhausDiakonie bekam. Dort geht es nicht nur um schulische Förderung, sondern unter ande-rem auch um soziales Verhalten. „Nach zwei Jahren Tagesgruppe hat das Jugendamt ab diesem Schuljahr nur noch einen halben Platz gewährt“, bedauert die Sozialpädagogin. Für Mauro scheint die Gruppe ein ideales Übungsfeld zu sein. „Es gefällt mir gut dort“, sagt er, „nur manchmal gibt’s Streit oder ’ne Schläge-rei zwischen den Jungs, und das gefällt mir nicht.“Weniger konfliktträchtig geht es dafür in der Kinder-Spiel- und Sportgruppe der Turn- und Sportgemein-schaft Reutlingen zu. Um motorische Defizite zu ver-bessern, regte Hildegard Batzill Mauros Teilnahme an der Spiel- und Sportgruppe an. Vater Guiseppe hatte nichts dagegen. „Aktivitäten, die in einem geschütz-ten Rahmen stattfinden, kann er gut akzeptieren“, weiß Hildegard Batzill aus Erfahrung. Umso größer sind seine Sorgen, wenn die Kinder alleine draußen spielen, Rad fahren oder auf den nahe gelegenen Bolzplatz gehen. Ständig würden die drei von ande-ren Kindern geärgert, erzählt der Vater aufgebracht. Was noch stärker wiegt, sind die Verlustängste, die ihn seit der Trennung von seiner Frau quälen. „Ich hab’ Angst, dass den Kindern was passiert. Ich hab’ doch sonst niemanden“, murmelt er und drückt Cin-zia, die auf seinem Schoß sitzt, liebevoll an sich. „Sie sind mein ganzes Glück“, fügt er leiser hinzu.

Guiseppe Canella weiß natürlich, dass seine Kinder mit zunehmendem Alter selbstständiger werden und mehr Freiheit fordern. Sie hängen an ihm, das ist deutlich zu spüren. Und sie verbringen ohne wenn und aber die Abende und das Wochen-ende mit dem Vater, während die weit entfernt lebende Mutter inzwischen keine Rolle mehr zu spie-len scheint. Der 47-Jährige weiß auch, dass er weiterhin auf Hilfe angewiesen ist. Es sind andere Themen, denen er sich künftig stellen muss, Themen wie Pubertät, Freiheit und Grenzen, finanzielle Sicherung. Hildegard Batzill sieht das genauso. „Ich weiß aber nicht, wie das Jugendamt entscheidet.“ Im November findet das nächste halbjährliche Hilfeplangespräch statt, bei dem der Hilfebedarf jedes einzelnen Fami-lienmitglieds neu überprüft wird. Guiseppe Canella befürchtet, mit weniger oder gar keiner Unterstüt-zung mit der Erziehung seiner Kinder überfordert zu sein. Zum Glück ist er eine Kämpfernatur und wird in diesem Fall alle Kräfte mobilisieren. „Ich bin kein Mann, der untergeht.“ kaw Z* Namen von der Redaktion geändert

Die Sozialpädagogische Familienhilfe der Bruder-hausDiakonie unterstützt Familien in schwierigen Lebens- und Erziehungssituationen. So lernen beispielsweise Eltern, die mit ihren Kindern völlig überfordert sind, ihren Alltag und die Erziehung der Kinder besser zu meistern und ihr Zusammen-leben positiv zu gestalten. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sozialpädagogischen Fami-lienhilfe bauen stützende soziale Netzwerke auf und arbeiten eng mit Kindergärten, Schulen und anderen Institutionen zusammen. Im Durchschnitt benötigen betroffene Familien die Unterstützung

ein bis eineinhalb Jahre. „Es gibt in Reutlingen aber auch etliche Familien, die viel länger Hilfe brau-chen, bis sich ihre Situation stabilisiert hat“, sagt Rainer Piechocki, Bereichsleiter der Familienhilfe.Die umstrittenen Sparmaßnahmen der Bundes-regierung und der zunehmende finanzielle Druck, unter dem die Kommunen stehen, werden mög-licherweise direkte Auswirkungen auf Angebote und Projekte der Jugendhilfe haben. Sollte zum Beispiel in Reutlingen der Haushaltsansatz für die Jugendhilfe gekürzt werden, könnte die Familien-hilfe davon betroffen sein.

Den Kindern Zukunftschancen ermöglichen

Geduldig erklärt Hildegard Batzill dem Familienvater den Inhalt eines Formulars.

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sozial • Ausgabe 3 | 2010TITE LTH E M A Risikofaktor Sparpaket – Soziale Träger fürchten Folgen

Einsparen durch LeistungskürzungenSozialausgaben

Die Städte, Gemeinden und Kreise sehen sich unter Druck. Ihre Spitzenver-bände Städtetag und Gemeindetag fordern Sparmaßnahmen – vor allem im Sozialbereich.

Als Verlierer der Finanzkrise und der Steuerpolitik der zurückliegenden Jahre zeigen sich die Städte und Gemeinden: Sie erwarten in diesem Jahr das höchste Defizit der Nachkriegsgeschichte für die kommuna-len Haushalte. Das gab der Deutsche Städtetag am 8. September bekannt, als er den Gemeindefinanzbe-richt 2010 vorlegte. „Die Städte müssen voraussicht-lich allein für dieses Jahr im Durchschnitt ein Defizit von fast 200 Euro pro Einwohner verkraften“, sagte Städtetags-Hauptgeschäftsführer Stephan Articus. Daran ändert nach seinen Angaben auch der wirt-schaftliche Aufschwung nichts. Denn die anziehende Konjunktur macht sich in den Kassen der Kommunen noch nicht bemerkbar. Im Gegenteil: Der baden-württembergische Gemeindetagspräsident Roger Kehle etwa rechnet im laufenden Jahr sogar noch mit einem weiteren Rückgang der Steuereinnahmen von Städten und Gemeinden. Ein Grund dafür: Die Belastungen aus der Wirt-schafts- und Finanzkrise kommen bei den Kom-munen zeitverzögert an. Denn Unternehmen, die Gewerbesteuer zahlen, die wichtigste Einnahme-quelle der Kommunen, können ihre Verluste aus dem Krisenjahr 2009 mit heutigen Gewinnen verrechnen und entrichten im Jahr 2010 deshalb entsprechend weniger Steuern. Dazu kommt: Schon die im Jahr 2008 in Kraft getretene Unternehmenssteuerreform brachte den Unternehmen Steuerentlastungen, den Städten und Gemeinden in der Folge aber deutlich weniger Einnahmen. Und das in der Wirtschafts- und Finanzkrise verabschiedete sogenannte Wachstums-beschleunigungsgesetz verstärkte diesen Effekt. Gleichzeitig, so der Gemeindetag, seien die Ausga-ben der Kommunen gestiegen – durch die Krise, aber auch durch gesetzliche Vorgaben wie die zur Betreu-ung von Kleinkindern: Die Kommunen sind beispiels-weise verpflichtet, spätestens bis zum Jahr 2013 für mindestens ein Drittel der Kinder unter drei Jahren Krippenplätze einzurichten. In Baden-Württemberg wären das insgesamt 90 000 Plätze. Derzeit gibt es erst 45 000.

Der größte Posten in den Haushalten der Städte, Ge-meinden und Landkreise sind die Sozialausgaben. Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung, die Jugendhilfe und die Hilfe zur Pflege, sowie die Hilfe für Arbeitssuchende und die Grundsicherung im Alter sind aber, so der Gemeindetag, allesamt Auf-gaben mit „gesamtgesellschaftlicher Bedeutung“. Er fordert deshalb vom Bund eine Beteiligung an diesen Aufgaben und den Sozialausgaben der Kommunen – etwa, indem er die Finanzierung der Eingliederungs-hilfe übernimmt. Gegenüber der Stuttgarter Zeitung äußerte Gemeindetagspräsident Roger Kehle, die Kommunen müssten, soweit sie nicht auf Rücklagen zurückgreifen könnten, auf breiter Front Steuern und Abgaben erhöhen und Leistungen zurückfahren. Welche Leistungen auf den Prüfstand kommen könn-ten und wie die Verteilung der Aufgaben zwischen Bund, Ländern und Kommunen geregelt wird, damit befasst sich auch die von Bundesfinanzminister Wolf-gang Schäuble einberufene Gemeindefinanzkommis-sion. Ihr Ziel: die finanzielle Situation der Kommunen zu entschärfen. Derzeit sammelt und erarbeitet die Kommission unterschiedlichste Vorschläge. Einzelne Verbände warnen bereits vor möglichen Kürzungen zu Lasten von Menschen, die auf kommunale Unter-stützung angewiesen sind. Betroffen wären vor allem Langzeitarbeitslose, alte Menschen sowie Kinder und Jugendliche und Menschen mit Behinderung. „Schon seit Jahren setzt die Finanz- und Haushaltspolitik auf eine Strategie der Einnahmensenkung, die dann eine Ausgabenkürzung erzwingt“, beschreibt Franz Segbers, Referatsleiter im Diakonischen Werk Hessen-Nassau, in einem Beitrag für den Evangelischen Pres-sedienst das Dilemma, in dem die Kommunen ste-hen. Die Steuersenkungspläne der Bundesregierung würden den Spardruck noch verschärfen. „Getroffen werden alle, die auf soziale und öffentliche Dienst-leistungen und Einrichtungen besonders angewiesen sind.“

Gemeindetags-präsident Roger Kehle rechnet für 2010 mit einem weiteren Rückgang der Einnahmen

+ www.gemeindetag-bw.de

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sozial • Ausgabe 3 | 2010

Lothar Bauer: Paradigmenwechsel in der Jugendhilfe – Erinnerung an die 1970er Jahre

KO LUM N E

Pfarrer Lothar Bauer, Vorstands- vorsitzender der BruderhausDiakonie

Die 1970er Jahre haben eine tiefe Zäsur für die Ju-gendhilfe gebracht. Die gesellschaftliche Verände-rung, die mit dem Jahr 1968 identifiziert wird, brach-te einen Paradigmenwechsel in der Jugendhilfe. Teil der studentischen Protestbewegung war auch die sogenannte Heimkampagne. Kinder und Jugendliche sollten aus den Heimen befreit werden, denen man „Dunkelkammercharakter“ attestierte. Wesentliche, bis heute gültige Konzepte wie Ambulantisierung und Regionalisierung hatten im damaligen Reform-prozess ihren Ausgangspunkt. Das Erklärungsmodell für den Reformbedarf fand man in der Instituti-onstheorie von Claus Offe über die Disparität von Lebensbereichen: Die Jugendhilfe habe sich abge-koppelt von der gesellschaftlichen Prosperität entwi-ckelt, weil die Heimerziehung als ein Lebensbereich von nachrangiger Bedeutung gesehen würde.Der Erfolg der Reformarbeit spiegelt sich in einem unglaublichen Ressourcenzuwachs der Jugendhilfe. Wurden in der stationären Hilfe 1968 noch circa 3 000 Mark pro Jahr und Jugendlichem ausgegeben, so waren es 1974 bereits über 12 000 Mark, und bis 1980 wurde noch einmal mehr als eine Verdoppelung auf 28 000 Mark erreicht. Damit lag die Entgeltent-wicklung der Jugendhilfe weit über dem Wachstum des Sozialprodukts oder der Lebenshaltungskosten. Werner Opitz, früher Jugendhilfevorstand in der Bru-derhausDiakonie, berichtet: „Die Tagessätze stiegen in wenigen Jahren von unter zehn Mark auf 70 Mark. Dazwischen lagen pädagogische Welten.“ Diese Zahlen beschreiben die Differenz zwischen alter Fürsorgeerziehung und moderner Jugendhilfe. „Die Kinder und Jugendlichen wurden in Zwölfer-Wohngruppen von sogenannten ‚Tanten’ betreut. Diese Frauen wohnten mit auf der Gruppe und wa-ren rund um die Uhr für ihre zwölf Zöglinge allein verantwortlich. Eine erste Verbesserung bestand darin, dass zusätzlich ein Zivildienstleistender den Wohngruppen zugeordnet wurde.“ So berichtet ein

Jugendhilfemitarbeiter aus seiner Zivildienstzeit in den frühen 70er Jahren. Beeindruckend ist, was diese Frauen in der Nachkriegszeit an gesellschaftlicher Erziehungsarbeit geleistet haben. Und gleichzeitig ist die Überforderung mit Händen zu greifen. In dem explosionsartigen Wachstum der Budgetzahlen der 1970er Jahre spiegeln sich die Professionalisierung der Jugendhilfe und der Zuwachs an Mitarbeitenden-zahlen. Aus Zwölfer-Gruppen wurden Zehner-, Ach-ter- und schließlich Sechser-Gruppen. Heute dürfte die stationäre Hilfe, wieder in Richtung Achter-Grup-pen tendieren. Gleichzeitig kann man eine höhere pädagogische Intensität unterstellen aufgrund der ambulanten Hilfen, die wesentlich weiter ausgebaut sind als vor 30 Jahren. Für die Jugendhilfereform in Württemberg war das Wildbader Memorandum des Diakonischen Werkes von 1970 ein wesentlicher Meilenstein und ein Si-gnal auch über die Grenzen Württembergs hinaus. Siegfried Hörrmann, später stellvertretender Haupt-geschäftsführer im Diakonischen Werk, hat am Me-morandum maßgeblich mitgearbeitet. „Das Memo-randum war eine konstruktive Antwort des Diakoni-schen Werkes und des Evangelischen Fachverbandes für Jugend und Behindertenhilfe auf die öffentliche Kritik an der Heimerziehung. Wir wollten für die Ju-gendlichen und die Jugendhilfe wesentliche fachliche und wirtschaftliche Verbesserungen durchsetzen. Dies konnte in einer guten partnerschaftlichen Art mit den Kostenträgern erreicht werden.“Konzeptionell bewegt sich die Jugendhilfe heute noch auf dem damals eingeschlagenen Pfad. Für den Erfolg der Arbeit dürfte es auch heute von Bedeutung sein, dass die Jugendhilfe nicht abrutscht in gesell-schaftliche Nachrangigkeit und dass Leistungserbrin-ger und Kostenträger sich immer wieder finden in der Einschätzung des Bedarfs, der fachlichen Konzepte und der wirtschaftlichen Möglichkeiten.

Heutige Konzepte hatten damals ihren Ausgangspunkt

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Klärung der eigenen VergangenheitHeimgeschichte der 50er bis 70er Jahre

Die Situation der Heime in den ersten Nachkriegsjahrzehnten ist ein öffentliches Thema. Zunehmend mehr diakonische Träger interessieren sich für die Geschich-te ihrer Einrichtungen. Auch die BruderhausDiakonie.

Der Historiker Hans-Walter Schmuhl beriet die Bru-derhausDiakonie bei der Projektplanung. Er plädiert für eine differenzierte Sicht auf die Heimgeschichte.

Y Sie haben bereits mehrere Einrichtungen der Für-sorgeerziehung untersucht. Was erklärt das öffent-liche Interesse an dem Thema?Das Buch von Peter Wensierski über die Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik hat viele Men-

schen ermutigt, ihr Schweigen zu durchbrechen und nach Jahrzehnten über ihre Vergangenheit in einem Heim zu berichten. Entwicklungen im Ausland haben das ihre dazu beigetragen, hier etwas anzustoßen. Es gibt sicherlich auch eine Verbindung zwischen der Diskussion um die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeitskräfte im Dritten Reich und dieser neuen Debatte. Das sind aber nur Auslöser.

Seit ein paar Jahren melden sich Menschen zu Wort, die in den ersten Nachkriegsjahrzehnten in Heimen aufgewachsen sind. Was sie erzählen, klingt aus heu-tiger Sicht manchmal unvorstellbar. Der Bundestag beschloss einen Runden Tisch, der die Heimerziehung in den 1950er bis 1970er Jahren aufarbeiten und

Ende 2010 seinen Abschlussbericht vorlegen soll. Und einige Heim- und Einrichtungsträ-ger haben begonnen, in ihrer Geschichte zu graben. So auch die BruderhausDiakonie, de-ren beide Vorläufer-Organisationen Gustav Werner Stiftung und Haus am Berg gGmbH damals zusammen rund 25 Einrichtungen in Baden-Württemberg betrieben haben. Im Vergleich zu früheren Epochen, über die

man einigermaßen Bescheid wisse, sei der Zeitraum von 1950 bis in die 70er Jahre bisher noch nicht grundlegend untersucht worden, sagt Rainer Kluza. Er leitet eine vom Vorstand der BruderhausDiakonie einberufene Projektgruppe „Heimgeschichte der BruderhausDiakonie“. Unterstützt von der Projekt-gruppe wird eine unabhängige Historikerin oder ein Historiker erforschen, unter welchen Bedingungen in jenen Jahren in den Heimen von Gustav Werner Stif-tung und Haus am Berg gelebt und gearbeitet wurde – und wie die pädagogische Praxis aussah. „Es ist an der Zeit, sich damit systematisch zu beschäftigen“, findet Kluza und vermutet, „dass wir durchaus auch in der BruderhausDiakonie auf Situationen stoßen können, die mit unserem heutigen Verständnis der Arbeit nur schwer oder nicht vereinbar sind.“

Bestärkt sieht er sich in dieser Vermutung auch durch vier ehemalige Bewohner von Kinder- und Jugendhil-fe-Einrichtungen, die sich inzwischen bei der BruderhausDiakonie gemeldet haben. Sie berichten von teils äußerst strengen Erziehungsmethoden bis hin zu häufigen Schlägen – und von harter körperli-cher Arbeit. „Wir sind froh, dass diese Menschen auf uns zugekommen sind“, betont Kluza, „denn es ist uns sehr wichtig, was sie über diese Zeit zu berichten haben.“ Darüber hinaus wolle man auch die Bedingungen klären, unter denen es zu den Übergriffen kam: Der durchschnittliche Tagessatz in der Fürsorgeerziehung habe laut Bericht des Runden Tisches 1950 beispiels-weise 1,70 Mark betragen, in heutiger Kaufkraft ungefähr 4 Euro. Auch die oft mangelnde Qualifika-tion des Personals und der Personalschlüssel müsse berücksichtigt werden – ebenso wie die in der Nach-kriegsgesellschaft vorherrschenden Erziehungsziele Gehorsam, Fleiß, Ordnung und Sittsamkeit. Aktenstudium in den Archiven beispielhafter Kinder- und Erwachsenenheime sowie Interviews mit ehe-maligen Heimbewohnern, Erziehern und Leitungs-personal sollen zu einem möglichst dichten Bild der Heimgeschichte in den 50er bis 70er Jahren führen. „Wir wollen verstehen, welche Rahmenbedingungen und Alltagswirklichkeiten dazu beigetragen haben, dass teilweise auch Menschen mit christlichem Hin-tergrund und oft hohen Idealen repressiv handelten“, sagt Rainer Kluza. Dann könne das Geschichtsprojekt auch fruchtbar werden für die gegenwärtige Arbeit.

Nicht alle über einen Kamm scheren

Rainer Kluza leitet die Projekt-gruppe zur Heim-geschichte in der Bruderhaus-Diakonie

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+ www.schmuhl-winkler.de

Ich denke, es ist eine Frage des zeitlichen Abstandes. Über viele Dinge können die Menschen erst jetzt sprechen, wenn sie auf den Ruhestand zugehen und eine Bilanz ihres Lebens ziehen. Es ist, glaube ich, für sie sehr wichtig, dass sie dann dieses Unerledigte noch mal hervorholen und durcharbeiten.

Y In Medienberichten erscheint die Heimerziehung der 50er und 60er Jahre repressiv, demütigend und disziplinierend. Vor allem konfessionelle Institutio-nen stehen am Pranger. Deckt sich das mit Ihren Forschungsergebnissen?Es ist wohl so, dass die öffentliche Debatte sich in erster Linie konfessionellen Einrichtungen zuwendet. Nach unseren Eindrücken ist es aber keineswegs ein Problem konfessioneller Einrichtungen gewesen. Man kann die Heime, egal ob in öffentlicher oder in konfessioneller Trägerschaft, aber nicht über einen Kamm scheren: Es gibt in den 50er und 60er Jahren Heime, die sehr unterschiedlich sind, was den Erzie-hungsstil angeht, die Ausstattung, das ganze Klima. Wenn sie ein völlig überaltertes Haus haben mit völlig unzureichenden räumlichen Voraussetzungen, in dem viel zu viele Bewohner leben, die von viel zu wenigen, viel zu alten, schlecht oder gar nicht ausge-bildeten Erziehenden betreut werden, dann folgt mit einer gewissen Zwangsläufigkeit, dass diese Mitar-beitenden, die strukturell überfordert sind, ihr Heil in repressiven Erziehungsmethoden suchen.

Y Muss man demütigende Strafen und Gewalt als Normalität in den Einrichtungen und als Teil des damaligen Erziehungssystems begreifen? Es wird ein zu düsteres Bild gezeichnet, wenn man sagt, dass alle Heime in gleicher Art und Weise ge-walttätige und demütigende Praxen angewandt hät-ten. Es gibt Unterschiede. Man kann auch erklären, wie diese Unterschiede zustande kommen. Norma-lerweise hat ja ein Träger verschiedene Häuser. Dar-unter gibt es manchmal eines oder zwei, die nennen wir die vergessenen Häuser. Da sind im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe etwa diejenigen unterge-bracht, die als absolut erziehungsschwierig gelten. Im Bereich der Behindertenhilfe sind das die Siechen, die Schwerstbehinderten. Die werden in solche Heime geschoben. Und die knappen finanziellen Mittel und vor allem das Personal werden so verteilt, dass diese vergessenen Häuser hinten runterfallen. Dort entwi-ckeln sich dann solche Gewaltverhältnisse, während parallel in anderen Häusern, beim selben Einrich-tungsträger, eigentlich schon sehr viel fortschrittli-

chere Konzepte verfolgt werden und eine sehr viel fortschrittlichere Praxis herrscht.

Y Inwieweit waren körperliche Züchtigung und als grausam empfundene Strafen gesetzlich erlaubte – wenn auch moralisch fragwürdige – Erziehungs-mittel? Tendenziell war es schon in den 50er Jahren so, dass für Heime eigentlich ein Züchtigungsverbot bestand. Wir wissen aus Dokumenten, dass man damals die Gesetzes- und Erlasslage den Erziehenden mitgeteilt hat. Man hat ihnen aber nicht gesagt, wie sie das umsetzen sollen. Das ist eine Verlagerung der Ver-antwortung nach unten. Wir bemühen uns immer, wenn wir auf Erzieherinnen und Erzieher stoßen, die gewalttätig geworden sind, zu erklären, wie sie dazu gekommen sind. Und wir sehen die Einrichtungs-leitungen und die Aufsichtsbehörden zunehmend kritischer. Weil die nämlich eine Situation entstehen lassen, die zu einer strukturellen Überforderung der Mitarbeiterschaft führt.

Y Gab es Unterschiede zwischen staatlichen und konfessionell geführten Heimen?Es gibt einen Unterschied in der Struktur der Mitar-beitenden, weil die konfessionellen Einrichtungen von religiösen Personengenossenschaften beschickt werden. Und die kommen mit einer besonderen Mentalität, auch mit einem besonderen Anspruch an die Arbeit. Das ist ja das Erklärungsbedürftige: Wie Menschen, die aus dem diakonischen Geist heraus in die Arbeit gehen, dazu kommen, einen quasi militärischen Betrieb aufzuziehen. Da gibt es eine Falle, und zwar insofern, als die konfessionellen Einrichtungen häufig sagen: Schickt zu uns alle die Kinder und Jugendlichen, mit denen ihr sonst nicht zu Rande kommt. Wir werden sie mit ganz viel Liebe und ganz viel Zuwendung in den Griff bekommen. Und das führt natürlich zu einer negativen Selekti-on: Sie haben dann eine Ansammlung von wirklich schwerst erziehbaren Kindern und Jugendlichen in einer Einrichtung, die auch noch versucht, möglichst kostengünstig zu arbeiten, um sich gegenüber ande-ren Trägern behaupten zu können. Da ergibt sich eine ganz ungute Mischung. msk Z

Hans-Walter Schmuhl (Jahrgang 1957) lehrt als außerplan-mäßiger Professor an der Universität Bielefeld. Einer seiner Schwerpunkte ist die Kirchen- und Diakoniegeschichte.

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Hans-Walter Schmuhl unter-suchte bereits mehrere Heime verschiedener Träger

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Das Normale ist das BesondereUnter dem Motto „Mitten im Ort, mitten im Leben“ ermöglicht die Behinderten-hilfe Neckar-Alb Menschen mit schwerwiegenden Handicaps Teilhabe am Gemeinwesen. Das Inklusionsprojekt in Metzingen ist eine Erfolgsgeschichte.

Metzingen-Neuhausen

Er lebt. Auch wenn er im Moment reglos, den Kopf nach vorn gebeugt, im Rollstuhl sitzt. Sein ganzer junger Körper ist von der schweren geistigen und körperlichen Behinderung gezeichnet. Vieles, was andere spielend gelernt haben, kann Stefan Frei* nicht: gehen, sprechen, ohne Hilfe essen. Aber er lebt und fühlt. Vor kurzem im Freibad, da konnten es alle sehen, wie er lebt und erlebt. Im flachen, warmen Wasser des Babybeckens strahlte er wie ein kleines Kind, dem man ein Bonbon geschenkt hat. „Wir ha-ben ihn noch nie so lebendig, so glücklich gesehen“, wird sich Sandra Hamel, seine Betreuerin, später an diesen Moment erinnern. Mitten im Ort des Gesche-hens, mitten im Leben. Umgeben von wohlwollenden

Menschen. In Metzingen-Neuhausen ist eine Vision Wirklichkeit geworden. Auf dem ehemaligen Reusch-Areal, wo einst Geb-hard Reusch sein Weltunternehmen aufgebaut hatte, werden mitten im Wohngebiet unweit des Zen-trums Menschen mit schwersten

Behinderungen, mit auffallenden Verhaltensweisen oder aggressivem Auftreten tagsüber betreut. Bei der Behindertenhilfe Neckar-Alb der BruderhausDiakonie gibt es findige Mitarbeiter wie Markus Rank, die nicht nur gute Ideen und Visionen im Kopf haben, sondern auch hartnäckig genug sind, diese umzusetzen. Da-von profitieren dann Menschen wie Stefan Frei.Er gehört jetzt dazu. Zu den Bürgern Neuhausens, zur Gemeinschaft. Der Fachbegriff hierfür heißt Inklusi-on. Wenn seine Augen fasziniert an Fensterdekora-tionen und Gartenzwergen hängen bleiben, während sein Rollstuhl langsam durchs Wohngebiet gescho-ben wird; wenn er beim Einkaufen im nahen Super-

markt über die vielen neuen Eindrücke und Düfte staunt; wenn die Nachbarn freundlich grüßen – dann ist das gelungene Inklusion. Seit fast einem Jahr kommen zehn Frauen und Män-ner, die das gesetzlich vorgesehene „Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeit nicht leisten kön-nen“, zur Tagesstrukturierung in das ehemalige Büro- und Produktionsgebäude Ermsstraße 8.Willkommen sind alle, unabhängig vom Grad ihrer Behinderung. „Wir stellen uns auf jeden Menschen ein. Das ist un-ser diakonischer Auftrag“, betont Markus Rank, Leiter des Bereichs Tagesstrukturierung. Rita Braun*, eine junge Frau aus Neuhausen mit sehr schweren kör-perlichen und geistigen Behinderungen, wurde in der neuen Förder- und Betreuungsgruppe mit offenen Ar-men aufgenommen. Jahrelang war sie nach Münsin-gen gependelt, jetzt hat sie in ihrer Heimatgemeinde ihren Platz gefunden.Dass es in der Ermsstraße 8 auch Angebote zum Wer-ken, Basteln und Entspannen gibt, einen Therapie-raum mit farbigem Licht, Musik, Düften und einem „musikalischen“ Wasserbett – schön und gut, aber Standard. Das Besondere sind die normalen Begeg-nungen draußen auf der Straße, ein kurzes Schwätzle hier, eine hilfreiche Geste dort. Mitten im Ort, mitten im Leben. Markus Rank hat für das ehrgeizige Projekt noch jede Menge erstrebenswerter Ziele: gemeinsa-me Aktionen mit Vereinen und Kirchengemeinden, Theaterprojekte mit Schulklassen, Nachbarschafts-hilfe. „Für die Bevölkerung soll es zur Normalität wer-den, die Vielfältigkeit der Menschen zu erleben“, sagt Markus Rank und erzählt von einem beeindrucken-den Erlebnis. Ein Mitbürger hatte die Fördergruppe zu einer Ausfahrt mit seinen Porscheoldtimern einge-laden. „Immer wieder blieben die Menschen stehen und winkten uns zu.“Stefan Frei, der auf den Rollstuhl angewiesen ist, braucht keinen Porsche, um das Leben in ihm zu spü-ren. Wohl aber Mitmenschen, die stehen bleiben, ihm zuwinken und signalisieren: Schön, dass du lebst. kaw Z* Namen von der Redaktion geändert

Selbst beim Trin-ken braucht Ste-fan Frei* die Hilfe seiner Betreuerin Sandra Hamel.

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„Ich fühle mich hier pudelwohl“In der Sozialpsychiatrie hat sich das Gestufte Ambulant Betreute Wohnen bewährt. Es bietet mannigfaltige Möglichkeiten der Unterstützung.

Reutlingen

Die Stimmen sind immer die gleichen. Sie flüstern ihr zu, was sie tun soll. Sie drohen ihr mit Gewalt. Tanja H. hört sie täglich – seit ihrem 22. Lebensjahr, als sie psychisch erkrankte und zum ersten Mal die bedroh-lichen Stimmen vernahm. Mittlerweile ist sie 39 und dank intensiver ambulanter Hilfe in der Lage, weitge-hend selbstständig zu leben, in einer Wohnung, die sie sich mit einer psychisch kranken Mitbewohnerin teilt. „Ich fühle mich hier pudelwohl“, sagt die kleine, kindlich wirkende Frau und blickt liebevoll auf die beiden Wellensittiche in ihrem Wohnzimmer. Und wenn die Stimmen zu ihr sprechen? „Dann denke ich daran, was meine Bezugsmitarbeiterin gesagt hat: dass ich mich dem Alltag und der anderen Realität zuwenden soll.“ Manchmal gelingt es ihr, sich selbst zu beruhigen. Häufiger greift sie zum Telefon und ruft die für sie zuständige Mitarbeiterin der Sozial-psychiatrischen Hilfen in Reutlingen an. Nachts wählt sie die Notfall-Nummer, unter der rund um die Uhr ein Ansprechpartner zur Verfügung steht.Dass Tanja H. trotz ihrer schweren psychischen Erkrankung inzwischen außerhalb von Heimstruk-turen leben kann, liegt daran, dass es im Landkreis Reutlingen das Gestufte Ambulant Betreute Wohnen gibt. Statt diese ambulante Hilfe, wie vielerorts noch üblich, pauschal zu entgelten, gibt es fünf Hilfebe-darfsgruppen mit unterschiedlichen Vergütungen. „Dadurch ist eine wesentlich passgenauere Unter-stützung möglich“, sagt Jörg Vollmar, Mitarbeiter der Sozialpsychiatrischen Hilfen in Reutlingen. Oder anders ausgedrückt: „Die Menschen, die zu uns kom-men, bekommen genau die Hilfen, die sie brauchen.“Tanja H. ist in Hilfebedarfsgruppe drei. Dreimal pro Woche kommt eine Mitarbeiterin der Sozialpsychia-trischen Hilfen in die Wohnung, um mit ihr zu reden, Anträge zu stellen oder sie zum Arzt zu begleiten. „Am Anfang sind wir noch zusammen mit dem Auto zum Supermarkt gefahren, jetzt gehe ich allein einkaufen“, erzählt die 39-Jährige stolz. Ambulante Betreuung bedeutet für die Betroffenen mehr Eigen-verantwortung. „Alles, was sie selber tun können, sollen sie selber tun“, erläutert Jörg Vollmar. Tanja H., die Grundsicherung erhält, kann inzwischen selber

vom nahe gelegenen Bankautomaten Geld abheben. Sie kann ihre beiden Zimmer sauber halten und sie wäscht das Geschirr ab. Bei der übrigen Hausarbeit werden sie und ihre Mitbewohnerin von einer Reini-gungshilfe unterstützt, die mit Tanja H. auch mehr-fach wöchentlich das Kochen einer warmen Mahlzeit einübt.Unter der Woche „arbeitet“ die psychisch kranke Frau in der so-genannten Tagesstrukturierung, wo sie Produkte aus Ton bemalt und gelegentlich mit anderen zusammen das Essen zubereitet. Eine wichtige Anlaufstelle ist das Unterstützungszentrum Unterer Gaisbühl, eines von sechs Zentren der Sozialpsychiatrischen Hilfen in Reutlingen. Tanja H. holt hier täglich ihre Medikamente ab und nutzt, wenn die Stimmen übermächtig sind, die Gelegenheit zum Gespräch. Als sie noch stationär betreut wurde, habe sie häu-fig die Nähe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gesucht, erinnert sich Jörg Vollmar. „Deshalb hatten wir anfangs große Bedenken, ob ihr die ambulante Begleitung ausreichen würde.“ Nach einem Jahr eigenständigen Wohnens haben sich die Bedenken zerstreut. „Aus unserer Sicht hat sie sich sehr positiv entwickelt“, meint der Sozialpädagoge.Das findet auch Tanja H. „Ich bin viel selbstständiger geworden.“ Die Worte sprudeln über ihre Lippen. Frü-her sei sie schüchtern und zurückhaltend gewesen, habe Angst vor fremden Menschen gehabt. „Jetzt gehe ich mehr aus mir heraus.“ Seit sie ambulant be-treut werde, seien auch die Angstzustände seltener geworden und sie sei kein einziges Mal mehr in der Klinik gewesen. Wenn die Angstzustände doch mal wieder fast uner-träglich und die Stimmen besonders bedrohlich sind, weiß sich Tanja H. inzwischen zu helfen. „Dann zieh’ ich meine Schuhe an und geh’ spazieren … oder ich rede mit den Vögeln … oder suche Schutz im Unter-stützungszentrum.“ kaw Z

Wenn es ihr schlecht geht, spricht Tanja H. mit ihren Vögeln.Manchmal hilft das gegen die Angstzustände.

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Was kommt nach dem Schulabschluss?Rottweil – Wie geht es nach der Schule weiter? Das ist eine Frage, die alle Eltern bewegt, deren Kinder kurz vor dem Schulabschluss stehen. In Rottweil ha-ben sich die Offenen Hilfen der BruderhausDiakonie gemeinsam mit Lehrern und Eltern von Jugend-lichen mit Behinderung intensiv mit dieser Frage beschäftigt. Im „Solifer“ – Treffpunkt und gleich-zeitig Beratungsstelle für junge Menschen mit Behinderung sowie deren Angehörige und Freun-de – tagten bereits im März rund 15 Eltern und Lehrer unter dem Titel „Wie geht’s … und wie geht’s weiter?“. Behinder-tenhilfe-Referent Hubert Ochs vom Diakonischen Werk Baden und „Solifer“-Leiterin Katrin Stöhr von der BruderhausDiakonie informierten über die neueren Entwicklungen in der Eingliederungshilfe, aus der die Leistungen und Angebote für Menschen mit Behinderung finan-

ziert werden. Insbesondere ging es dabei auch um die Beratungs- und Unterstützungsangebote für Menschen mit Behinderung im Landkreis Rottweil. Sozialdezernent Bernd Hamann nahm als Gast an der Tagung teil und lud die Teilnehmer zum Besuch des Landrats-amts ein. Ziel: Die Eltern und Angehörigen

sollen die für die Einglie-derungshilfe zuständigen Abteilungen des Land-ratsamts kennenlernen und mit den Mitarbeitern ins Gespräch kommen, die sich um ihre Anliegen kümmern. „Wichtig ist, dass die Angehörigen ihre Schwellenangst verlieren und wissen, an wen sie sich wenden können, wenn es um die Zukunft ihrer Kinder geht“, sagt

Katrin Stöhr. Im Oktober werden die Tagungsteilneh-mer sowie weitere Angehörige von Menschen mit Behinderungen im Rottweiler Landratsamt von Bernd Hamann empfangen.

Standort Seewald wird gestärktSeewald-Göttelfingen – Das neue Fachpflegeheim der Sozialpsychiatrischen Hilfen der BruderhausDia-konie in Seewald-Göttelfingen bietet künftig 25 Men-schen mit psychischer Erkrankung einen Raum zum Leben. Nach rund 15-monatiger Bauzeit wurde der Ersatz-Neubau im Sommer feierlich eingeweiht. Nach den Worten von Günter Braun, Fachvorstand der BruderhausDiakonie, ist das über drei Millionen Euro teure Bauprojekt ein klares Bekenntnis zum ländli-chen Standort Seewald. Das Land Baden-Württem-berg hat den Neubau mit Fördermitteln in Höhe von 930 000 Euro bezuschusst. Es habe sich gezeigt, so Braun weiter, dass die ländliche Umgebung auf Menschen mit seelischer Behinderung wohltuender wirke als der urbane Raum. Außerdem sei die Bruder-hausDiakonie ein wichtiger Faktor für Wirtschaft und Arbeitsplatzangebot in den Teilgemeinden Seewald-Göttelfingen und Seewald-Schernbach. 60 Prozent der Gewerke an dem neuen Fachpflegeheim wurden

von Handwerksbetrieben aus der Region erbracht.In dem Ersatz-Neubau mit 25 Einzelzimmern und Pflegebereich gebe es weder einen Friseursalon noch eine Massagepraxis, und statt einer Cafeteria seien Küchen und Backöfen vorhanden, so Alexander Meinlschmidt, der stellvertretende Leiter der Sozi-alpsychiatrischen Hilfen im Landkreis Freudenstadt. Man wolle den Klienten möglichst viel Selbstverant-wortung lassen. Um sie ins Gemeindeleben zu inte-grieren, würden die Angebote im Ort genutzt. Die soziale Arbeit der BruderhausDiakonie hat in Göttelfingen und Schernbach eine lange Tradition. Bereits 1856 hatte Gustav Werner, der Begründer der Gustav Werner Stiftung und heutigen Bruderhaus-Diakonie, die ersten Gebäude und Äcker erworben. Nach Ansicht von Seewalds Bürgermeister Gerhard Müller ist die diakonische Einrichtung ein unentbehr-licher Bestandteil der Gesamtstruktur der Gemeinde Seewald.

Einen Ball, auf dem Angehörige ihre Wünsche an den Kreis notiert hatten, übergab Katrin Stöhr an Bernd Hamann

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Integration durch bessere ZusammenarbeitReutlingen – Indirekt, quasi durch die Hintertür, den Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshinter-grund unterstützen will das Projekt „Integration gemeinsam schaffen – für eine erfolgreiche Bildungs-partnerschaft mit Eltern mit Migrationshintergrund“. Angestoßen von der Landesregierung, der Robert-Bosch-Stiftung und der Breuninger-Stiftung ist unter diesem Titel ein Programm entstanden, das die Zu-sammenarbeit zwischen Eltern mit Migrationshinter-grund und den Schulen und Bildungseinrichtungen nachhaltig verbessern soll – unter anderem dadurch, dass Eltern in Schulen und Bildungsreinrichtungen mehr Möglichkeiten zur Mitwirkung erhalten und zur Mitwirkung ermuntert und befähigt werden. In den Landkreisen Reutlingen, Tübingen, im Zollernalbkreis, in Ulm und im Alb-Donau-Kreis übernimmt der Ju-gendmigrationsdienst der BruderhausDiakonie die Trägerschaft dieses Projektes. Im Oktober beginnen zwei eigens dafür eingestellte Mitarbeiterinnen des

Reutlinger Jugendmigrationsdienstes mit der Arbeit. „Sie sind Ansprechpartnerinnen für alle örtlichen Ak-teure, begleiten bestehende Netzwerke vor Ort und unterstützen neue Netzwerke, indem sie beispiels-weise lokale oder regionale Runde Tische und Foren initiieren und begleiten“, erläutert Andreas Foitzik, Leiter des Jugendmigrationsdienstes Reutlingen, deren Aufgaben. In der ersten Phase des Projekts, das zunächst auf zwei Jahre angelegt ist, werden die Mitarbeiterinnen in möglichst allen Gemeinden der entsprechenden Landkreise das Programm be-kanntmachen und mit Kindertagesstätten, Schulen, Jugendhilfeeinrichtungen und Migrantenvereinen Zusammenarbeit vereinbaren. Ab dem Frühjahr kommenden Jahres werden die Beraterinnen dann die bereits bestehenden oder neu entstandenen Bil-dungspartnerschaften in den einzelnen Gemeinden beraten und begleiten und sich intensiv um einige Modellvorhaben kümmern.

Schulbegleitung für Kinder mit BehinderungenReutlingen – Dass Kinder mit Behinderungen ei-nen sogenannten Regelkindergarten besuchen, ist im Landkreis Reutlingen normal. Mit ermöglicht wird das durch den Fachdienst Assistenz, Bildung, Inklusion (FABI) der BruderhausDiakonie. Die Mitar-beiterinnen des Fachdiensts arbeiten stundenweise in den Kindergartengruppen mit und sorgen dafür, dass Kinder mit Behinderungen gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern am Kindergartenalltag teilnehmen können. Bisher endete das Miteinander von Kindern mit und ohne Behinderung allerdings nach der Kindergartenzeit: Kindern mit Behinderung stand nur die Sonderschule offen. Das beginnt sich zu ändern. Immer öfter wollen Eltern ihre Kinder nicht auf die Sonderschule, sondern auf die Regelschule schicken, damit sie gemeinsam mit den Kindern aus ihrer Nachbarschaft zur Schule gehen können. FABI begleitet seit einiger Zeit auch Kinder mit Behinde-rungen in der Schule. Derzeit sind das im Landkreis Reutlingen sieben Kinder. In deren Klassen arbeitet eine ausgebildete Erzieherin für jeweils fünf bis zehn Stunden pro Woche mit. „Die Fachkraft sitzt mit in der Klasse und soll die Unterrichtssituation insge-samt entlasten“, beschreibt FABI-Mitarbeiterin Katrin Lauhoff die Aufgabe der Schulbegleiter. Es handle

Professor Martin Beck, stellvertretender Stiftungs-ratsvorsitzender der BruderhausDiakonie, arbeitet seit 42 Jahren ehrenamtlich in der Evangelischen Kirche. Für sein vielfältiges Engagement – aktuell ist er unter anderem Vorsitzender der Tübinger Bezirks-synode – ehrte ihn im Auftrag des Landesbischofs der Reutlinger Prälat Christian Rose mit der Johannes-Brenz-Medaille. Der 1950 geborene Beck, der heute als Wirtschaftswissenschaftler, Hochschuldozent, Autor und Unternehmensberater tätig ist, gehört neben dem Stiftungsrat der BruderhausDiakonie einer ganzen Anzahl weiterer Gremien an, in denen er ehrenamtlich mitarbeitet.

Brenz-Medaille für Martin Beck

sich um Kinder, „wo qualifiziertes Handeln, aber kei-ne ständige Präsenz erforderlich ist“. Für die Zukunft erwartet FABI einen steigenden Bedarf an Schulbe-gleitungen. Wenn die UN-Behindertenrechtskonven-tion umgesetzt wird, werde eine Welle von Nachfra-gen entstehen, prophezeit Rainer Piechocki, der beim Oberlin-Jugendhilfeverbund der BruderhausDiakonie für den Fachdienst FABI zuständig ist.

Martin Beck

D I A KO N I S C H E R I M P U LS

Nikolaus Schneider ist Amtierender Vorsitzender des Rates der EKD und Präses der Evange-lischen Kirche im Rheinland

Gerechte Teilhabe ist entscheidendNikolaus Schneider

„Alles Handeln und Entscheiden in Gesellschaft, Poli-tik und Wirtschaft muss an der Frage gemessen wer-den, inwiefern es die Armen betrifft, ihnen nutzt und sie zum eigenverantwortlichen Handeln befähigt. Dabei zielt die biblische Option für die Armen darauf, Ausgrenzungen zu überwinden und alle am gesellschaftlichen Prozess zu beteiligten. Sie verpflichtet die Wohlha-benden zum Teilen und zu wirkungsvollen Allianzen der Solidarität.“ Diese Sätze aus dem Wort der Kir-chen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage von 1997 sind nach wie vor grundlegend für das sozialethische Nachdenken in der evangelischen Kirche. Denn in der konsequenten Option für die Armen konkretisiert sich die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe.Politische Rahmenbedingungen der Bildungs-, Wirtschafts- und Sozialpolitik sind ein wesentlicher Schlüssel für gerechte Teilhabe. Dazu gehören an-gemessene Sätze bei der Berechnung des Existenz-minimums ebenso wie Angebote frühkindlicher Bildung, Ganztagsangebote in Tageseinrichtungen und Schulen, eine Quartiersarbeit, die Ghettoisierung vermeidet. Das sogenannte Sparpaket der Bundesre-gierung schlägt hier an einigen Stellen die Türen zu.

Das gilt zum Beispiel für die Streichung des Grund-betrages des Elterngeldes für ALG-II-Empfänger zu einem Zeitpunkt, zu dem noch nicht geklärt ist, ob und wie das zukünftige Existenzminimum für Kinder die tatsächlichen Bedürfnisse abdeckt, und ebenso für die Tendenz, das Wohngeld zu pauschalieren. Hin-zu kommt, dass diesen Streichungen bei den sozial Benachteiligten keine angemessenen Beiträge der Wohlhabenderen gegenüberstehen. Ganz im Gegen-teil: In den letzten Jahren wurde am oberen Ende der Einkommensskala auf finanzielle Beiträge verzich-tet, für deren Kompensation nun am unteren Ende Leistungen gestrichen werden müssen. Der Rat der

EKD hat dagegen immer wieder deutlich gemacht, dass die Kosten der Krise zuerst von den Starken ge-schultert werden müssen. Deutliche Schritte in dieser

Richtung, die ja durchaus auch von Unternehmern und Wirtschaftsverbänden unterstützt werden, sind notwendig, um Glaubwürdigkeit und Solidarität in unserer Gesellschaft zu erhalten. Schuldenabbau ist und bleibt notwendig – als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Nettoneuverschuldung 2011 müsste eigentlich nur bei den „Zockern“ eingesammelt wer-den, wenn es nach dem Verursacherprinzip ginge – was unserem Empfinden von Recht und Gerechtigkeit entspräche.Die gesellschaftliche Verantwortung der Kirche zielt auf ordnungspolitisches Handeln des Staates, sie schließt vor allem die Kirche selbst ein. Nach der EKD-Synode 2006, in deren Mittelpunkt das Thema „Reich-tum und Armut“ in der Gesellschaft stand, haben deshalb viele Landeskirchen Fonds und Programme zur Armutsbekämpfung aufgelegt.

Entscheidend ist dabei die unmittel-bare Begegnung zwischen Menschen verschiedener Herkunft; wichtig ist, dass Kinder möglichst lange gemein-

sam zur Schule gehen, zusammen Musik machen, im Sportverein sind, und dass Wohnquartiere nicht zu Ghettos werden. Ärmere Kinder haben ja nicht nur schlechtere Bildungsabschlüsse, sie sind auch gesundheitlich schlechter versorgt, sie nehmen auch seltener an Freizeitaktivitäten teil und haben weniger Freunde. Mitarbeitende in der Diakonie kennen diese Zusammenhänge durch unmittelbares Erleben, und sie bringen ein Fachwissen mit, das in den Kirchenge-meinden oft fehlt. Gerechte Teilhabe braucht deshalb die Zusammenarbeit im Gemeinwesen – zwischen dem diakonischen Engagement der Gemeinden und diakonischen Trägern.

Das sogenannte Sparpaket der Bundesregierung schlägt an einigen Stellen die Türen zu

Die Kosten der Krise müssen zuerst von den Starken geschultert werden