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VorSatz 387 Essay JÖRG ROESLER »DDR« und DBR Sprachpolitik im Kalten Krieg 389 Debatte Grundsicherung LUTZ BRANGSCH Grundsicherung: Ein vergessenes PDS-Konzept 417 Gesellschaft – Analysen & Alternativen MORUS MARKARD Wer braucht Erziehung? 438 Monatliche Publikation, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung 187 . Mai 2006 aus dem Inhalt:

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Page 1: aus dem Inhalt - Rosa Luxemburg Foundation · wortung, wenn es denn nicht anders geht. Alternative Konzepte und Wege, diese umzusetzen, müssen her! Mut zur Utopie! Aber ach, das

VorSatz 387

EssayJÖRG ROESLER

»DDR« und DBRSprachpolitik im Kalten Krieg 389

Debatte GrundsicherungLUTZ BRANGSCH

Grundsicherung: Ein vergessenes PDS-Konzept 417

Gesellschaft – Analysen & AlternativenMORUS MARKARD

Wer braucht Erziehung? 438

Monatliche Publikation,herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung187 . Mai 2006

UTOPIE 187-D 13.04.2006 8:57 Uhr Seite 1

aus dem Inhalt:

Page 2: aus dem Inhalt - Rosa Luxemburg Foundation · wortung, wenn es denn nicht anders geht. Alternative Konzepte und Wege, diese umzusetzen, müssen her! Mut zur Utopie! Aber ach, das

Da die vom Souverän bestellten Regierenden zwar von dessen Wohl-wollen abhängen – ich für meinen Teil darf voller Erleichterung ver-künden, mich zu dem leider geringeren Anteil des Souveräns zählenzu dürfen, der den Regierenden mit grundsätzlichem Misstrauengegenübertritt –, ihn dann aber prompt nach dem Wegschenken dereigenen Stimme noch am Wahlabend beginnen zu entmündigen, sollhier keine neue, aber entschieden zu selten gestellte Frage auf-geworfen werden: nämlich die nach der Leistungsfähigkeit undProblemlösungskompetenz parlamentarisch verfasster Demokratie-entwürfe.

Der Leser ist intelligent genug, angesichts der schon fast verges-senen schwarz-gelben Koalition und ihrer Politik im Angesichteoben genannter Probleme, dem nahtlos die gleiche Politik verfol-genden rot-grünen Renegatenteam von der BILD-Zeitung Gnadenund – jetzt wird’s bunt – dem schwarz-roten Heer unter Frau Bun-deskanzlers Fahne, die Frage zu beantworten. Das Scheitern derletzten 15 Jahre ist ein eindrucksvoller Beweis der Anfang der 80erJahre von amerikanischen Politologen formulierten Kartellparteien-these, deren Kernaussage darin besteht, dass die Parteien denStaatsapparat okkupieren, davon leben und, um davon leben zu kön-nen, ein politisches Kartell begründen. Die Inhalte gleichen sich an,es spielt im Endeffekt keine Rolle mehr, wer es sich auf der Regie-rungs- oder der Oppositionsbank bequem macht. In der Regel än-dern sich nur die Namen.

Womit des deutschen Linken hassgeliebtes Kind in den Fokus derGedanken gerät. Wie verhält sich die zur Linkspartei gewandeltePDS? Schließlich beteiligt man sich an zwei Landesregierungen undist in den zurückliegenden Wahlkämpfen im Osten immer so selbst-bewusst gewesen, mit eigenen Ministerpräsidentenkandidaten in diesymbolischrhetorische Schlacht zu ziehen. Auch hier ist der Leser in-telligent genug …

Eine neue Frage – der Fragen kein Ende zu dieser Zeit – drängtsich auf. Will, soll, darf, muss, kann eine linke Partei Bestandteil desusurpatorischen Kartells sein? Dann fiele mir mein Atheismus vordie Füße und ich riefe Gott an, uns vor den Funktionären und Ver-waltern der sozialistischen Idee zu bewahren. Oder will, soll, darf,muss und kann eine linke Partei wirkliche Oppositionspolitik ge-stalten? Dabei geht es nicht um Fundamentalopposition (die inDeutschland 2006 durchaus ihren Charme hätte), sondern um alter-native Formen von Politik. Meinetwegen auch in Regierungsverant-

VorSatz

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wortung, wenn es denn nicht anders geht. Alternative Konzepte undWege, diese umzusetzen, müssen her! Mut zur Utopie!

Aber ach, das Ausgangsproblem bleibt bestehen: die Leistungsun-fähigkeit und Problemlösungsinkompetenz der vom Souverän mitWohlwollen bedachten Regierenden und Parlamentarier, das Kartellund der Platz an der aus Steuergeldern finanzierten Sonne. Ergo:Der Linken in der gesellschaftlichen Opposition bleibt nur die Suchenach alternativen Möglichkeiten der Politikgestaltung.

Eine Partei als Katalysator sozialen, mithin außerparlamentari-schen Protests. Das Aufgreifen und Vertreten von gesellschaftlichenEntwicklungen und sozialen Bewegungen im parlamentarischenRaum. Vox populi. Das Ringen um gesellschaftliche, nicht parla-mentarische Hegemonie. Die Proteste gegen Hartz IV waren nochlängst nicht alles. Die Proteste gegen Hartz IV waren erst der An-fang. So wünschte man sich eine linke Partei.

Und dass die Proteste gegen die Arbeitsmarktreform von Rot-Grün wirklich erst der Anfang gewesen sind, dafür sorgt das Kartell,indem es eine einschneidende Gesundheitsreform verschreibt. Indemes weitere Arbeitsmarktreformschritte zu Ungunsten der Betroffenenerarbeiten lässt. Indem es den Rentnern einen sinnerfüllten Lebens-abend vor dem eigenen Fernsehgerät oder auf dem eigenen Balkon– soweit beides überhaupt vorhanden – ermöglicht. Indem dasmoderne Lumpenproletariat bald auch äußerlich als solches zu er-kennen ist. Indem es zu einer Föderalismusreform – das wichtigsteReformprojekt der laufenden Legislaturperiode, die Neuordnung derKompetenzen von Bund und Ländern. Man höre ... – kommen wird,die die ökonomische und soziale Abkoppelung des Ostens und dieinnerdeutsche Volkswanderung nicht ansatzweise aufzuheben weiß.

Es besteht akuter Handlungsbedarf auf Seiten der Linken. Mandarf gespannt sein, ob sich deren Aktionsradius auf parlamentari-sche Sonntagsreden beschränken wird, oder sie zu einer Oppositiongegen die die Gesellschaft zersetzenden Kräfte des neoliberalenParteienkartells wird. Und somit dessen asoziale Politik auf Seitenderer bekämpft, die davon betroffen sind und sein werden.

MARTIN SCHIRDEWAN

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Während des Kalten Krieges waren beide deutschen Staaten bemüht,den jeweils anderen Staat nicht beim korrekten Namen zu nennen,sondern erfanden andere Bezeichnungen, auf deren Anwendung siein der Regel bestanden. Das galt auch für beide Teile Berlins. DasZiel war es, mit der Namensgebung die eigene Sicht auf den ande-ren Staat bzw. den anderen Teil der Stadt für die eigene Bevölkerungverbindlich zu machen bzw. die mit der Namensgebung vorgegebe-nen Charakteristika des anderen Gebietes durch ständige Wiederho-lung glaubhaft zu machen, sie in einen nicht mehr nachzufragendenStereotyp zu verwandeln.

Im Folgenden wird auf diese staatlich verordneten und über dieMedien verbreiteten deutsch-deutschen Namensgebungen einschließ-lich ihres Wandels eingegangen, wobei zwischen zwei Phasen – bis1973, und 1974-1989 – unterschieden wird und die dahinter stehen-den Manipulationsziele angesprochen werden.

Die Zeit der bewusst verfälschenden Namensgebungenim Kalten Krieg (1949-1961)Für die bewusst unkorrekte Bezeichnung des jeweils anderen Teilsvon Deutschland bzw. Berlin bedurfte es zweier Voraussetzungen:erstens des Kalten Krieges, der ab Frühjahr/Sommer 1948 auch in»Potsdam-Deutschland« zur vollen Wirkung kam, und zweitens ei-gener Benennungen. Diese Voraussetzungen waren mit der Grün-dung beider deutscher Staaten und ihrer zunächst noch diffusen An-sprüche auf (Gesamt-) Berlin erfüllt.

Zunächst zu den Namensgebungen auf staatlicher Ebene. Als die Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde, sprach der

Parteivorstand der SED in einem Kommunique am 4. Oktober 1949von einer »Bonner Separatregierung« bzw. vom »Bonner Separat-staat«.1 Das Motiv, die neue Staatsgründung nicht beim Namen zunennen, deckte »Neues Deutschland« am gleichen Tage auf: Es for-derte »die Auflösung des von Deutschland losgerissenen Weststaatesund seine Wiedereingliederung in Deutschland«.2 Mit Deutschlandwar die – dann am 7. Oktober proklamierte – Deutsche Demokrati-sche Republik gemeint.

Diese beim Namen zu nennen, weigerte man sich seinerseits inBonn. Dort wurde, »in Übereinstimmung mit den Westmächten dieGründung der DDR von Anfang an als rechtswidriger Akt verstan-den, als Etablierung eines Okkupationsregimes von Moskaus Gna-den, das nicht durch den freien, in Wahlen geäußerten Willen der Be-

Jörg Roesler – Jg. 1940,Prof. Dr., Wirtschaftshisto-riker, Mitglied der Leibniz-Sozietät, Vorlesungen ander Universität der KünsteBerlin; zuletzt in UTOPIEkreativ: Der Relativlohn. Jürgen Kuczynskis Instru-ment zur Einschätzung derLage der arbeitendenKlassen, Heft 172(Februar 2005).

1 Dietrich Staritz:Geschichte der DDR,erweiterte Neuausgabe,Stuttgart 1996, S. 38.

2 Ebenda, S. 37.

UTOPIE kreativ, H. 187 (Mai 2006), S. 389-396 389

JÖRG ROESLER

»DDR« und DBRSprachpolitik im Kalten Krieg

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völkerung der Sowjetzone legitimiert war«.3 Der wechselseitige An-spruch, für ganz Deutschland zu sprechen und durch die Eingliede-rung des anderen Teils sozusagen deutsche Normalität (wieder) her-zustellen, verbot den Akteuren in Bonn und Ost-Berlin, den Namendes anderen deutschen Staates auch nur in den Mund zu nehmen.

In Bonn sprach man deswegen weiterhin von Sowjetzone bzw.Zone, in Ostberlin vom Bonner Separatstaat oder den Westzonen. Inder Bundesrepublik wurde parallel zur »Zone« für die DDR auch derName »Mitteldeutschland« verwendet. Damit sollte demonstriertwerden, dass die Bundesrepublik die deutsch-polnische Ostgrenzean Oder und Neiße nicht anerkannte (im Unterschied zur DDR, diedas 1950 getan hatte), und auf Ostdeutschland, d. h. die Ostgebietedes früheren Deutschen Reiches nicht zu verzichten bereit war.4 Zeit-weise wurde dies sehr genau genommen. So wurde in dem Nach-schlagewerk »SBZ von A-Z«, einem vom Bundesministerium fürgesamtdeutsche Fragen herausgegebenen Handbuch, noch 1960 er-klärt: »Die viel gebrauchte Bezeichnung ›Ostzone‹ für die SBZ istirreführend. Die SBZ hat als ›Mittelzone‹ zu gelten, da sie mittenzwischen der Bundesrepublik und den … deutschen Ostgebietenliegt.«5 Wer übrigens in »SBZ von A-Z« etwas über die DDR zu er-fahren suchte, fahndete vergebens. Das Stichwort »Deutsche Demo-kratische Republik« existierte in dem über 500 Seiten starken Lexi-kon nicht.

Ob nun Sowjetzone oder Mitteldeutschland, ob Bonner Separat-staat oder Westzonen: Wer, in Ost oder West, den anderen Staat nichtbeim vorgegebenen, sondern beim offiziellen Namen nannte, ver-sündigte sich an der Einheit Deutschlands, die der jeweilige Teilstaatals der allein berechtigte offiziell anstrebte, und galt als illoyal. DieAnfang der 50er Jahre an der Abteilung »Sowjetzone« des Institutsfür Politische Wissenschaften der Freien Universität in Berlin- Dah-lem arbeitende Journalistin und Schriftstellerin Carola Stern schreibtüber diese Zeit in ihren Memoiren: »Von der DDR zu sprechen, warweithin verpönt; wer es dennoch tat, galt als Kommunist.«6 Wer inder DDR weiterhin das Wort »Zone« benutzte, galt zumindest alsRIAS-Hörer, Anhänger jenes in Westberlin stationierten Rundfunks,der mit seiner Sendung »Aus der Zone, für die Zone« die DDR-Be-völkerung im Sinne von »Freiheit und Demokratie« zu beeinflussenversuchte. Der RIAS wandte sich im Sinne der Ende 1950 vom ame-rikanischen Hochkommissar für die Bundesrepublik empfohlenenNutzung der Medien »to foster the seeds of destruction within theSoviet system« auch in »Sendungen für Mitteldeutschland« an dieBewohner der DDR.7

Die verordneten Namensgebungen in der Politik und den Mediendurchzusetzen, erwies sich als nicht schwer, zumal auch handhab-bare Bezeichnungen des anderen Staates wie »Ostdeutschland« bzw.»Westdeutschland« verwendbar blieben.

Die neuen Benennungen für den anderen »Nichtstaat« solltennicht nur über die Hör- und Printmedien, sie mussten auch denSchülern vermittelt werden. Vor allem geschah dies durch Erdkun-delehrbücher und Atlanten. Erdkunde wurde an DDR-Schulen erst-mals in der fünften Klasse gegeben. Im entsprechenden Lehrbuchvon 1950 wurde auf den Staat im Westen Deutschlands en passant

3 Benz, Wolfgang: Stereo-type des Ost-West-Gegen-satzes, in: Vorurteile – Stereotype – Feindbilder(Informationen zur politi-schen Bildung 271),Bonn 2001, S. 51-52.

4 Friedemann Bedürftig:Lexikon Deutschland nach1945, Hamburg 1996,S. 293 f.

5 SBZ von A-Z,Bonn 1960, S. 358.

6 Carola Stern: Doppel-leben. Eine Autobiographie,Köln 2001, S. 99.

7 Bernd Stöver: Konter-revolution versus Befreiung,in: Georg Herbstritt, HelmutMüller-Enbergs (Hrsg.): DasGesicht dem Westen zu …DDR-Spionage gegen dieBundesrepublik Deutsch-land, Bremen 2003, S. 155.

390 ROESLER »DDR« und DBR

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bei der Beschreibung einer Fahrt auf dem Rhein eingegangen. »Aufdem Petersberg bei Bonn haben die so genannten Hohen Kommis-sare der westlichen Besatzungsmächte ihren Sitz. Sie überwachendie Regierung des westdeutschen Separatstaates, der auf Befehl derWestmächte gegründet und von Deutschland losgerissen wordenist.«8 Im volkseigenen Verlag Volk und Wissen also war die offizielleVersion der DDR-Politik zu 100 % durchgestellt. So einfach machtees sich der renommierte ostdeutsche Justus Perthes Verlag in Gotha,der 1952 die 16. durchgesehene Auflage seines »Taschenatlas vonDeutschland« herausgab, nicht. Der Herausgeber bemühte sich, umdie verordneten Benennungen herumzukommen, was ihm tatsäch-lich gelang. Wahrscheinlich im Hinblick auf westdeutsche Kundenzeigte der Taschenatlas als »politische Übersicht« weiterhin farblichvoneinander unterschieden vier Besatzungszonen, verzichtete aberauf deren (nun schon zwei Jahre nicht mehr aktuelle) Benennung,verzichtete auch auf die Staatsbezeichnungen und beschränkte sichauf die Wiedergabe der Ländernamen (die es bis 1952 auch für dieDDR gab).9

Natürlich wollten auch Westverlage die Bonner Sprachregelungzur DDR nicht unbedingt mitmachen. Schulbuchverlage hattenkeine Chance auf Abweichungen, wollten sie von den Schulbehör-den geordert werden. Das »praktische Nachschlagebuch für Jugend-liche« allerdings, von der Bertelsmann-Lexikon-Redaktion unter demviel versprechenden Titel »Ich sag Dir alles« herausgegeben, fand esin seiner 22. Auflage, die 1956 erschien, zwar unvermeidlich, denanderen Teil Deutschlands als »Sowjetzone« zu bezeichnen, setzteallerdings – in Klammern – die drei Buchstaben »DDR« dahinter.10

Größeres Kopfzerbrechen noch als zögernde Verlage machte denWächtern über die Anwendung des verordneten Namens für das an-dere Deutschland die Ebene der ungeachtet fehlender staatlicher Be-ziehungen weiterhin existierenden nichtstaatlichen Beziehungenzwischen beiden Teilen Deutschlands. Wer aus der Bevölkerung vonOst nach West reiste (und wieder zurückkam) bzw. wer privat überden anderen Staat redete, charakterisierte sein Reiseziel meist ganzeinfach durch Bezug auf die Himmelsrichtungen – Ost- bzw. West-deutschland oder fuhr »nach drüben« und kümmerte sich wenig umdie offiziellen bzw. die vorgegebenen Benennungen für die beidendeutschen Staaten.

Zu einem Problem wurden die verordneten Namen erst, wenn esum nichtstaatliche Beziehungen wie die Handelsbeziehungen unddie Sportbeziehungen zwischen dem Ost- und dem WestteilDeutschlands ging. Zwar war es der Bundesregierung durch einenTrick gelungen, nicht unmittelbar Handelsverträge mit der DDR ab-schließen zu müssen – die nichtstaatliche »Treuhandstelle für Inter-zonenverkehr« wurde zwischen das Bundesministerium für Wirt-schaft und das Außenhandelsministerium der DDR geschaltet. Aberirgendwo im Vertrag mussten doch die beiden Staaten genannt wer-den, zwischen denen der Warenaustausch stattfinden sollte. Man ei-nigte sich in Berlin im September 1951 auf ein »Abkommen überden Handel zwischen den Währungsgebieten der Deutschen Mark(DM-West) und den Währungsgebieten der Deutschen Mark derDeutschen Notenbank (DM-Ost)«.11

8 Detlef Nakath: Deutsch-deutsche Grundlagen. ZurGeschichte der politischenund wirtschaftlichen Bezie-hungen zwischen der DDRund der Bundesrepublik inden Jahren von 1969 bis1982, Schkeuditz 2002,S. 64.

9 Justus Perthes:Taschenatlas von Deutsch-land, Gotha 1952, Karte 1.

10 Bertelsmann LexikonRedaktion (Hrsg.): Ich sagDir alles. Ein praktischesNachschlagebuch, Güters-loh 1956, S. 192.

11 Detlef Nakath: Zur Ge-schichte der deutsch-deut-schen Handelsbeziehungen.Die besondere Bedeutungder Krisenjahre 1960/61 fürdie Entwicklung des inner-deutschen Handels (heftezur ddr-geschichte 4), Berlin1993, S. 9-10.

ROESLER »DDR« und DBR 391

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Die Sportbeziehungen untereinander hätte man sicher in Abmachun-gen zwischen dem »Sportgebiet Ost« und dem »Sportgebiet West«geregelt, wenn da nicht die internationalen Sportbeziehungen gewe-sen wären, deren Höhepunkt alle vier Jahre die Olympiaden waren.Mit dem Olympischen Komitee, das wenig Bereitschaft zeigte, sichden Argumenten der einen oder anderen deutschen Seite zu beugen,einigte man sich für die Olympiade 1956 und folgende bis 1968 so:Beide deutschen Teams mussten jeweils mit Schwarz-Rot-Gold undden Olympischen Ringen statt ihrer Landesfahnen einmarschieren.Für ihre Sieger wurde der Schlusschor aus Beethovens Neunter Sin-fonie anstelle der Nationalhymnen gespielt.12

Anders als das IOC machten jedoch die jeweiligen Verbündetender beiden deutschen Staaten den »deutsch-deutschen Namenskampf«in vieler Hinsicht mit. Das betraf die Nichtanerkennung der DDRdurch die Verbündeten der Bundesrepublik ebenso wie die Nichtan-erkennung der Bundesrepublik durch die Staaten des WarschauerPaktes. Auch die Publizistik dieser Länder passte sich in gewissemMaße der Sprachregelung, wie sie durch die Bundesrepublik bzw.die DDR vorgegeben wurde, an. Das war für die betroffenen Verlagemanchmal heikel. Im Jahre 1962 veröffentlichte Sandor Rado, einbekannter Geograph, im Budapester Corvina-Verlag sein »Welt-handbuch« auch in deutscher Sprache und sicherlich mit der Absicht,das sehr sorgfältig erarbeitete und im gewissen Maße einmaligeNachschlagewerk auch im deutschen Sprachraum zu vertreiben. Dasgeographische Lexikon enthielt das Länderstichwort »Deutschland«(zwischen Dänemark und Dominikanischer Republik). Unter diesemStichwort waren DDR und BRD subsumiert. Doch auch dem Buda-pester Welthandbuch gelang es nicht ganz, dem deutsch-deutschenNamensstreit zu entkommen. Denn das Buch sprach nicht von der»Bundesrepublik Deutschland«, sondern von »Deutscher Bundesre-publik«.13

Normalisierungsbemühungen in der Periodedes nachlassenden Kalten Krieges (1962-1972)Genauso wie die Westberliner SPD/CDU-Regierung die Bezeich-nung »Sowjetsektor« Anfang der 60er Jahre nicht mehr länger fürvertretbar hielt, glaubte die DDR-Regierung zu diesem Zeitpunktnicht mehr länger, mit der Bezeichnung »Westzone« oder dem»Bonner Separatstaat« operieren zu können. Man strebte die Aner-kennung des eigenen Staates an. Das erforderte auch, den anderendeutschen Staat als solchen zu bezeichnen. Allerdings fiel der SEDder Abschied vom Alleinvertretungsanspruch schwer. »Bundesrepu-blik Deutschland«, die offizielle Eigenbezeichnung des westdeut-schen Staates, ließ an sich schon wenig Raum für einen zweitendeutschen Staat. Die Abkürzung BRD klang schon viel weniger Be-sitz ergreifend, hatte allerdings den Nachteil, dass sie sich jederzeitin »Bundesrepublik Deutschland« auflösen ließ. Auf DDR-Seitewurde für das westliche Deutschland daher eine andere Abkürzungins Spiel gebracht: DBR. DBR stand nun neben DDR. Wollte mandie Abkürzungen auflösen, dann wurde die dieser Namensgebungzugrunde liegende Zweistaatentheorie der DDR erkennbar: »Deut-sche Bundesrepublik (DBR)« stand neben »Deutsche Demokrati-

12 Rupert Kaiser: Dasgroße Rennen um Mann-schaft, Fahne und Hymne,in: Neues Deutschland,8./9. Oktober 2005.

13 Sandor Rado: Welt-handbuch. Internationalerpolitischer und wirtschaftli-cher Almanach, Budapest1960, S. 172-228.

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sche Republik (DDR)«. In diesem Sinne wurde das Begriffspaar erst-mals im »Nationalen Dokument« des DDR-Staatsrats vom 17. Juni196214 gebraucht und stand in der Folgezeit in allen grundsätzlichenbzw. amtlichen Stellungnahmen, z. B. auch in der vom Ministerpräsi-denten Stoph am 14. Juli 1967 abgegebenen Regierungserklärung.15

Im Westen galt in den 60er Jahren weiterhin die »Einstaatentheo-rie«, d. h. der Alleinvertretungsanspruch West. Davon herunterzu-kommen, erwies sich, wie überhaupt die Aufgabe des Kalten Krie-ges, in der Bundesrepublik besonders schwierig.16 Ernst Richert, derin den fünfziger und Anfang der 60er Jahre am Institut für PolitischeWissenschaften der FU-Dahlem über die »SBZ« forschte, erhieltnach erheblichem Zögern für sein 1963 erschienenes Buch »Machtohne Mandat« über die SED-Elite die Erlaubnis, wenigstens im Textvon »DDR« zu schreiben.17 Peter Benders Buch »10 Gründe für dieAnerkennung der DDR«, 1968 bei Fischer in Frankfurt/Main er-schienen, wurde noch angefeindet und führte zu Gegendarstellun-gen.18 Ein Jahr später kam Hanns Werner Schwarzes Buch »DieDDR ist keine Zone mehr« heraus.19

Ludwig Erhard, ab 1963 Bundeskanzler, blieb, was die Nichtaner-kennung der »Soffjetzone« betraf, in den Fußstapfen Adenauers.Dessen Nachfolger und Chef der ersten »Großen Koalition« derBundesrepublik, Kurt Georg Kiesinger, war auch nicht bereit, dassich östlich der Bundesrepublik befindliche »Gebilde« bzw. »Phäno-men« bei seinem wirklichen Namen zu nennen. Vielleicht unter demEinfluss seines Außenministers Willy Brandt entschloss er sichschließlich zu einem Zwischenschritt: Der Bundeskanzler sprach inseiner Rede vor dem Deutschen Bundestag anlässlich des »Tages derDeutschen Einheit« am 17. Juni 1967 vom »anderen Teil Deutsch-lands«.20 Diese Bezeichnung wurde insofern offizielle Politik, als dasMinisterium für innerdeutsche Beziehungen auf die Verwendung desBegriffes »Zone« bzw. »SBZ« von nun an verzichtete. Aus der vomMinisterium herausgegebenen wissenschaftlichen Monatszeitschrift»SBZ-Archiv« wurde das »Deutschland Archiv« und aus dem vomgleichen Ministerium herausgegebenen Nachschlagewerk »SBZ vonA bis Z« 1969 das »Lexikon A-Z. Ein Taschen- und Nachschlage-buch für den anderen Teil Deutschlands«. Erstmals fand sich in die-ser Ausgabe das Stichwort »Deutsche Demokratische Republik«.21

Mehr Abbau verordneter Bezeichnungen ließ das Kräfteverhältnis inder Großen Koalition offensichtlich noch nicht zu. Erst in seinen»20 Punkten über Grundsätze und Vertragselemente«, die WillyBrandt als Kanzler der sozialliberalen Koalition am 21. Mai 1970dem DDR-Ministerpräsidenten Stoph bei dessen Besuch in Kasselvorlegte, standen die offiziellen Bezeichnungen »BundesrepublikDeutschland« und »Deutsche Demokratische Republik« nebenein-ander.22 Bei jenem Treffen wurde auch erstmals aus offiziellem An-lass in der Bundesrepublik die DDR-Fahne gehisst – nicht für lange.»Fanatisierte Jugendliche holten vor dem Hotel die DDR-Flaggeherunter.«23

Es dauerte noch bis Anfang 1973, bevor sich beide deutschenStaaten völkerrechtlich als gleichberechtigte Partner anerkannten.Sie befanden sich damit im Nachtrab der internationalen Entwick-lung. Im Bereich des olympischen Sportes wurden zur Olym-

14 Neues Deutschland,18. Juni 1962.

15 Ebenda, 15. Juli 1967.

16 Peter Bender: Fallund Aufstieg. Deutschlandzwischen Kriegsende,Teilung und Vereinigung,Halle 2002, S. 37.

17 Ernst Richert: Machtohne Mandat. Der Staats-apparat in der SowjetischenBesatzungszone Deutsch-lands, Köln 1963.

18 Peter Bender: ZehnGründe für die Anerkennungder DDR, Frankfurt am Main1968, S. 5 f.

19 Carola Stern, a. a. O.,S. 165.

20 Dokumente zurDeutschlandpolitik. V.Reihe/Band 1, Frankfurt amMain 1984, S. 1323.

21 A-Z. Ein Taschen- undNachschlagebuch für denanderen Teil Deutschlands,Bonn 1969, S. 147.

22 Bundesministeriumfür innerdeutsche Beziehun-gen (Hrsg.): Zehn JahreDeutschlandpolitik. DieEntwicklung der Beziehun-gen zwischen der Bundes-republik Deutschland undder Deutschen Demokrati-schen Republik. Bericht undDokumentation, Bonn 1980,S. 138.

23 Detlef Nakath 2002,a. a. O., S. 93.

ROESLER »DDR« und DBR 393

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piade1968 erstmals zwei deutsche Mannschaften zugelassen. Dochauch bei Olympia dauerte es bis 1972, bevor die Sportler beiderdeutscher Staaten – ausgerechnet in München – mit eigener Fahneund Hymne geehrt werden durften.24

Wechselseitige Namensgebungen für beide Teile BerlinsEbenso wie Deutschland in vier Zonen wurde Berlin 1945 in vierSektoren geteilt, wobei sich die Differenzen zwischen den Sektorender Westalliierten schneller verwischten als die Unterschiede zwi-schen den Westzonen und die Differenz zum sowjetischen Sektorumso deutlicher hervortrat. Anders als im Falle von Nachkriegs-deutschland hatte das Nachkriegsberlin zunächst über eine für dasganze Gebiet zuständige Regierung verfügt, den Magistrat vonGroß-Berlin. Dementsprechend lautete die offizielle Bezeichnung»Französischer Sektor von Groß-Berlin« usw. Das Volk sprach baldvon den Westsektoren und dem Ostsektor Berlins. Die Stadtbezeich-nung sparte man auch rasch ein, da die Besatzungseinteilung fürDeutschland unter »Zone« firmierte, mit Sektoren also nur Teile Ber-lins gemeint sein konnten. Die gemeinsame Berliner Regierung gingim Herbst 1948 in die Brüche. Die Zweiteilung der Stadt ging derZweiteilung des Landes um ein Jahr voraus. Die Zuordnung der bei-den Teile Berlins zu den beiden deutschen Staaten war nicht eindeu-tig und erst recht nicht international, d. h. durch die Alliierten aner-kannt. Der Westberliner Bürgermeister Ernst Reuter hatte sichvergeblich um die Eingliederung des westlichen Teiles der Stadt indie Bundesrepublik bemüht, als diese gegründet wurde. Berlinwurde mit der DDR-Verfassung von 1949 als »Hauptstadt der Re-publik« bezeichnet.25 Den Anspruch leitete der damalige FDJ-Vorsit-zende Erich Honecker auf der Tagung des Deutschen Volksrats am3. Oktober 1949 allerdings noch aus einer zu bildenden »gesamt-deutschen Regierung« ab und bezeichnete Berlin als die HauptstadtDeutschlands – für das die DDR ab 7. 10. 1949 zu stehen glaubte.26

Wie im Falle des Landes resultierte auch im Falle der Stadt ausden konkurrierenden Ansprüchen ein Bedarf an zu verordnendenBezeichnungen. Auf DDR-Seite verzichtete man, da eine Vereini-gung Deutschlands im Sinne der SED nicht zustande kam, zunächstauf den Hauptstadtbegriff und auch – wohl wegen der Alliierten –auf die Demonstration der DDR-Zugehörigkeit Ostberlins. »Berlinist«, hieß es 1950 im Lehrbuch der Erdkunde Mitteleuropa für dasfünfte Schuljahr »… die Hauptstadt Deutschlands und Sitz derzentralen Verwaltungsbehörden der Deutschen Demokratischen Re-publik«.27 Der Sowjetische Sektor hieß in den 50er Jahren »Demo-kratischer Sektor« (von Groß-Berlin), während westlicherseits wei-terhin vom Sowjetsektor gesprochen wurde, obwohl die SowjetischeKontrollkommission ihre Verwaltungs- und Hoheitsrechte bereitsam 10. Oktober 1949 auf die drei Tage zuvor geschaffene (Proviso-rische) Regierung der DDR übertragen hatte.28 Der Magistrat in Ost-berlin war für die Westmedien Luft. Dessen Oberhaupt, Oberbürger-meister Friedrich Ebert, war noch 1953 ein namenloser »Vorsteherdes Ostberliner Stadtsowjets«29. In den Westmedien gebräuchlichwar auch die gemäßigtere Bezeichnung »Ostsektor« und manchmalwurde auch von Ostberlin (ohne Bindestrich, ein Wort) gesprochen.

24 Rupert Kaiser, a. a. O.

25 Jürgen Wetzel: Berlin,in: Wolfgang Benz (Hrsg.):Deutschland unter alliierterBesatzung 1945-1949/55.Ein Handbuch, Berlin 1999,S. 390.

26 Dietrich Staritz, a. a. O.,S. 37.

27 Lehrbuch der Erd-kunde: Mitteleuropa, für dasfünfte Schuljahr, Berlin/Leip-zig 1950, S. 25.

28 Jürgen Wetzel, a. a. O.,S. 390.

29 Brigitte Grunert: DerBindestrich-Berliner, in: DerTagesspiegel, 12. Juni 1993.

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Auf den Stadtplänen, die in den 50er Jahren im Osten gedruckt wur-den, stand Westberlin (ohne Bindestrich, ein Wort). Ende der 50erJahre verschwand der »Demokratische Sektor« aus DDR-Verlautba-rungen und Druckerzeugnissen. An seine Stelle setzte man im Ostendie offizielle Bezeichnung »Berlin, Hauptstadt der DDR«30, was denWesten allerdings nicht hinderte, weiterhin vom »Sowjetsektor«oder »Ostsektor« oder Ostberlin (ein Wort, ohne Bindestrich) zusprechen. Vielleicht von dem Gedanken beseelt, Ordnung in die Be-zeichnungen für beide Teile Berlins zu bringen, erfand der ersteSPD/CDU-Senat unter Willy Brandt den Bindestrich-Berliner. Zur»Klarheit« empfahl eine Senatskommission 1960 die Schreibweise»West-Berlin« und »Ost-Berlin« (jeweils mit Bindestrich). Siewurde in den Amtsstuben für nichtamtliche Bezeichnungen einge-führt. Der »West-Duden« zog nach.31 Der Osten verstand die Aktionnicht als Angebot zur Deeskalation des Namenskrieges. Er schriebweiterhin von »Westberlin« (ohne Bindestrich), meist unter Hinzu-fügung des Zusatzes »selbständige politische Einheit«. DDR-Minis-terpräsident Willi Stoph fühlte sich noch im März 1970 veranlasst,Willy Brandt auf dem ersten gemeinsamen Treffen in Erfurt mitzu-teilen: »Westberlin hat niemals zur Bundesrepublik gehört und wirdniemals zur Bundesrepublik gehören … Wenn unser Zusammentref-fen in der Hauptstadt der DDR, Berlin zustande gekommen wäre, …dann wäre ich gern mit Ihnen auf den Fernsehturm gefahren. Dorthätten sie sich vom Restaurant aus in 200 Meter Höhe überzeugenkönnen, dass Westberlin auf dem Territorium der DDR liegt.«32

Die Zeit der nicht ganz geglückten Normalisierung (1973-1989)Im Grundlagenvertrag vom 21. Dezember 1972 standen die vollenNamen beider deutscher Staaten zu Beginn jedes einzelnen seinerParagraphen.33 Damit schien alles geregelt und keine Zweideutigkei-ten bei der Benennung des anderen deutschen Staates mehr möglich.Oder doch? Auf der 9. Tagung des ZK der SED Ende Mai 1973 gabErich Honecker, als er über den Grundlagenvertrag und den Charak-ter der deutsch-deutschen Beziehungen sprach, die neue Sprach-regelung vor, indem er nicht von »Bundesrepublik Deutschland«,sondern stets von BRD (und DDR) sprach.34 Auch in der Bundesre-publik wurde die Sprachregelung des Grundlagenvertrages nichthundertprozentig übernommen. Zwar machte der RIAS keine Sen-dungen »Aus der Zone, für die Zone« mehr, zwar fand der Leser inder 1985 erschienenen 3. überarbeiteten Auflage des vom Bun-desministerium für innerdeutsche Beziehungen herausgegebenen»DDR-Handbuches« unter dem Stichwort Mitteldeutschland denHinweis, dass der Begriff »als politische Bezeichnung für den StaatDDR gegenwärtig amtlich nicht mehr benutzt wird«35. Auch blieb imNachschlagewerk der Begriff »Sowjetische Besatzungszone« aufdas Gebiet der DDR in den Jahren 1945 bis 1949 beschränkt, dochbehielten sich die Zeitungen des einflussreichsten Medienkonzernsder Bundesrepublik, Springer, vor, von so genannter DDR zu spre-chen bzw. DDR stets nur in Anführungsstrichen zu schreiben. Inkonservativen Kreisen war es weiterhin üblich, von »Mitteldeutsch-land« zu reden, wenn es um die DDR ging – jedenfalls bis zur offi-ziellen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Bundes-

30 Ebenda.

31 Ebenda.

32 Detlef Nakath 2002,a. a. O., S. 65.

33 Bundesgesetzblatt II1972, S. 423.

34 Vgl. Werner Maibaum:Geschichte der Deutsch-landpolitik (Deutsche Zeit-Bilder), Bonn 1998, S. 78.

35 Bundesministerium fürinnerdeutsche Beziehungen(Hrsg.), DDR Handbuch,Köln 1985,. S. 916.

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republik mit der Unterzeichnung des 2+4-Abschlussdokumentes imSeptember 1990.36

Die deutsch-deutschen Namensgebungen – abweichend von deroffiziellen Bezeichnung und manchmal auch abweichend von derRealität – könnte man als Manöver der Diplomatie abtun, wenn sieauf den Bereich der staatlichen Beziehungen bzw. Nichtbeziehungenbeschränkt geblieben wären. Der Nachdruck, mit der sich beide Sei-ten – bis zu einem gewissen Grade durchaus erfolgreich – bemühten,die manipulierten Namen auch in der Öffentlichkeit durchzusetzen,sie »unters Volk zu bringen«, signalisiert, dass es sich nicht nur umdiplomatische Manöver, sondern um psychologische Beeinflus-sungsversuche handelte. Es ging den beiden deutschen Regierungendarum, für ihre Politik gegenüber dem anderen Deutschland die Zu-stimmung »der Massen« zu erhalten und sie zu veranlassen, den an-deren deutschen Staat so zu sehen, wie die Regierungen ihn zusehen wünschten, als fremd dominiert (sowjetisiert bzw. amerikani-siert), nicht legitimiert, bestenfalls gleichfalls existierend neben dem»eigentlichen« deutschen Staat. Damit wurde die Namensmanipula-tion zum Bestandteil der Herrschaftsausübung. Es übersteigt dieMöglichkeiten des Autors, exakt festzustellen, bis zu welchem Maßedie Bevölkerung in der DDR und in der BRD der durch die Regie-rung und die Medien vorgegebenen Sprachregelung folgte.

Wenn auch angenommen werden kann, dass außerhalb der Elitengroße Teile der Bevölkerung der Sprachregelung nicht folgten undschlicht von »Ost-« bzw. »Westdeutschland« sprachen, so prägtensich die manipulierten Begriffe durch ständigen Gebrauch durch dieBehörden, im Schulunterricht und in den Medien bei einem Teil derBevölkerung ein. Die Bezeichnung »Mitteldeutschland« für DDR,hieß es 1985 in einer Veröffentlichung des innerdeutschen Ministe-riums, das seit mehr als einem Jahrzehnt auf »DDR« umgeschaltethatte, »ist … umgangssprachlich nach wie vor gelegentlich in Ge-brauch«. Das galt sicher auch für den Begriff »Zone«, dessen letzterAbleger die nach der Wende auftauchende spöttische Bezeichnung»Zoni« für den Noch- bzw. Nicht-mehr-DDR-Bürger war. Und dieVerwendung der Abkürzung BRD für »Bundesrepublik Deutsch-land« ist auch heute noch nirgends so häufig anzutreffen wie auf demGebiet der ehemaligen DDR, seine Verwendung macht im Westenden Ostdeutschen kenntlich.37

Als fast selbstverständlich scheint im Rückblick, was doch – zu-mindest nach heute herrschender Auffassung – gar nicht selbstver-ständlich ist: Der westliche und der östliche deutsche Staat bedien-ten sich derselben Mittel und Methoden, um ihre Auffassung vondem anderen Staat gegenüber der eigenen Bevölkerung (und Dritt-ländern) Ausdruck zu verleihen, ob sie nun als Demokratie oder Dik-tatur strukturiert, ob sie plan- oder marktwirtschaftlich organisiertwaren. Ein Zufall ist das – bei näherer Betrachtung – eigentlichnicht. Denn auf beiden Seiten bestand der gleiche Herrschaftsan-spruch und wurde mit gleicher Intensität Herrschaftssicherung be-trieben – mit langfristig gesehen unterschiedlichem Ergebnis, wieman weiß.

36 Friedemann Bedürftig,S. 293 f.

37 Vgl u. a.: Der Tages-spiegel, 8. November 2005.

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In den letzten Monaten hat die Diskussion zur Zukunftsfähigkeit so-zialer Sicherung vor allem durch die Hartz-IV-Gesetze einen starkenAufschwung genommen. Die neue Bundesregierung setzt den Weg,der mit der Agenda 2010 markiert wurde, mit Konsequenz fort. Esgeht um einen völligen Umbau der sozialen Beziehungen, um Ver-änderungen der politischen Kultur, der Modalitäten der Herstellunggesellschaftlicher Kompromisse und der Machtausübung – keines-falls nur um eine Änderung von Modalitäten der Leistungsgewäh-rung. Stellt man die Wirkungen der Privatisierungsprozesse der letz-ten Jahre in Rechnung, werden Tiefe und Breite des Umbruchs umsodeutlicher.

Spätestens seit den achtziger Jahren spielen als Gegengewicht zuder seit Ende der siebziger Jahre einsetzenden Erosion des klassischensozialstaatlichen Kompromisses Modelle eines Grundeinkommens,eines Existenzgeldes bzw. einer sozialen Grundsicherung eine großeRolle.

Vor allem seit Mitte der neunziger Jahre haben sich allerdings dieRahmenbedingungen dieser Debatten verändert. Auf der begrifflichenEbene ist die Grundsicherung durch die entsprechenden Gesetze derBundesregierung diskreditiert; mit den Konzepten eines Bürgergeldesoder der negativen Einkommensteuer existieren konkurrierende, neo-liberal intendierte Modelle, die auf den ersten Blick den Forderungennach Grundeinkommen oder Grundsicherung zu entsprechen schei-nen. Vor diesem Hintergrund hängt die Entscheidung über eine Alter-native zum neoliberal bestimmten Kurs im Bereich des Sozialenuntrennbarer denn je mit grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Po-sitionsbestimmungen zusammen.

Sozialpolitische Debatten sind immer ausgesprochen eng mit ge-sellschaftskonzeptionellen Debatten verzahnt. Sozialpolitik unterstelltimmer ein bestimmtes Menschen- und Gesellschaftsbild. So müssenauch Gegenkonzepte zu den gegenwärtig bestimmenden Tendenzenim Umbau sozialer Sicherheit an Anforderungen und Kriterien ge-messen werden, die ihre Wurzel in einem eigenen Gesellschaftsbildhaben bzw. haben sollten.

Auf der einen Seite stehen Auffassungen, die einen armutsverhin-dernden Leistungsumfang und die Auflösung jeder Beziehung vonLeistungsanspruch und Lohnarbeit in den Mittelpunkt stellen; auf deranderen Seite wird die Neujustierung des Verhältnisses von Arbeit,Lohnarbeit und sozialer Sicherung unter Einschluss eines armutver-hindernden Leistungssockels als Ausgangspunkt gewählt.

Lutz Brangsch – Jg. 1957,Dr. oec., Wirtschaftswis-senschaftler, Leiter desBereiches PolitischeBildung in der Rosa-Luxem-burg-Stiftung; Autor zahl-reicher Publikationen u. a.zum Thema Nachhaltigkeit,Demokratie und Haushalts-politik.

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LUTZ BRANGSCH

Grundsicherung: Ein vergessenesPDS-Konzept

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Auf der einen Seite wird der repressive und zerstörerische Charaktervon Lohnarbeit und Sozialsystemen hervorgehoben und jeglicheemanzipatorische Wirkung eher verneint; auf der anderen Seite wirdinsbesondere die Einheit von Veränderungen in den sozialen Siche-rungssystemen und in der Arbeitswelt als zentrale Frage betrachtet.

Dahinter stehen vor allem zwei unterschiedliche Sichtweisen hin-sichtlich

1. Rolle und Bewertung der Lohnarbeit und 2. Charakter der bestehenden sozialen Sicherungssysteme. Diese unterschiedlichen Blickwinkel haben weitgehende Folgen auf

theoretischer wie auch praktisch-politischer Ebene, weshalb an dieserStelle die Frage »Grundeinkommen vs. Grundsicherung« nicht ausge-hend von den vertretenen Modellen, sondern ausgehend von der Funk-tion sozialer Sicherung in der Gesellschaft entwickelt werden soll.

Bei diesen Diskussionen werden oft drei Ebenen nicht deutlich von-einander abgegrenzt:• die Denkmöglichkeit anderer Wege sozialer Sicherung;• die materielle(wirtschaftliche) Möglichkeit anderer Wege

sozialer Sicherung;• die politische und kulturelle Möglichkeit der Durchsetzung

und sowie Akzeptanz anderer Wege sozialer Sicherung.Vernachlässigt man die in Diskussionen immer präsente subjektive

Seite (also die Beurteilung von Konzepten nicht nach Inhalt, sondernnach den sie vertretenden Personen), ist dabei die Unterschiedlichkeitin der Bewertung der Bedingungen, unter denen Veränderungen sozia-ler Sicherung ablaufen bzw. ablaufen könnten, oft eng mit der Vermi-schung dieser Ebenen verbunden. Die praktische Durchsetzbarkeitneuer Wege sozialer Sicherung hängt aber eben vom gemeinsamenzielgerichteten Handeln verschiedener gesellschaftlicher Gruppen ab,die diese ihre Gemeinsamkeit auf allen drei genannten Ebenen aus-machen müssen. Daher soll an dieser Stelle die Frage nach den Be-dingungen in den Mittelpunkt gestellt werden.

Hier sollen nicht die Grundsicherungs- und -einkommenskonzeptein ihrer Breite zum Ausgangspunkt gewählt werden, sondern dieÜberlegungen, die Anfang der neunziger Jahre zur Entstehung desPDS-Grundsicherungskonzeptes geführt haben.

Zur Geschichte einer FragestellungDie Diskussion um die Zukunft sozialer Sicherung und um den politi-schen Stellenwert eines Grundsicherungskonzeptes stand am Anfangder sozialpolitischen Diskussionen in der PDS. Sie fand ihren kon-zentrierten Ausdruck in dem Antrag der Gruppe der PDS im Deut-schen Bundestag zu einer sozialen Grundsicherung im Jahr 1993.1 Siewar das Ergebnis der Auseinandersetzungen um den Charakter derDeutschen Einheit, um die Frage der Bewahrung von Elementen desSozialsystems der DDR und um deren Verbindung mit Forderungender sozialen Bewegungen in der Alt-BRD. Insoweit unterschied sichder Ausgangspunkt der PDS-nahen Diskussion von der der alt-bun-desdeutschen. Das PDS-Konzept verstand sich weitgehend gesell-schaftskonzeptionell und war am Anfang der neunziger Jahre miteiner konsequenten Orientierung auf die Bewahrung und Weiterent-wicklung einer ausgebauten sozialen Infrastruktur verbunden, inspi-

1 Vgl. Antrag der Gruppeder PDS/Linke Liste: Vor-lage eines Gesetzes übereine soziale Grundsicherungin der BundesrepublikDeutschland. DeutscherBundestag Drucksache12/5044 vom 27. 5. 1993,Bonn 1993.

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riert auch durch die Sozialstaatscharta der Volkskammer vom März1990. Das Konzept versuchte, das Prinzip des Rechts auf Arbeit mitdem Recht auf Muße und auf Selbstentfaltung zu verbinden, wobeidiese Verbindung vor allem auf der Demokratisierung von Sozial-, Be-schäftigungs- und Wirtschaftspolitik beruhen sollte. Die Bemühungenum eine weitgehend »ruhige« Bewältigung des Vereinigungsprozessesließ einen breiten Sektor aktiver Arbeitsmarkt- und Beschäftigungs-politik entstehen, der durchaus Ansätze aktiver arbeitsplatzschaffenderund wirtschaftsgestaltender Politik hätte bieten können. Die sozialenSicherungssysteme standen zwar bereits unter Beschuss, schienenaber nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Sie sollten Ausgangspunktefür die Durchsetzung einer sozialen Grundsicherung wie auch ein Be-zugspunkt für die Schaffung der dafür erforderlichen Bündnisse sein.Vor allem ging es darum, Ansatzpunkte für die Überwindung derTrennung von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen einzu-schließen. Es wurde eine Balance zwischen den Erfordernissen dermateriellen, geistigen und strukturellen Reproduktion der Gesell-schaft und den individuellen Lebensansprüchen angestrebt. Einge-schlossen waren daher Forderungen nach einem Mindestlohn undnach Arbeitszeitverkürzung. Insofern trug es einen sehr weitgehen-den strategischen Charakter und bot durch die Bezugnahme auf dieEntwicklung von Elementen sozialer Grundsicherung in den beste-henden Sicherungssystemen Ansatzpunkte für die unmittelbare ge-sellschaftliche Aktion.

Dieses Konzept entstand in einer spezifischen politischen Situationdes Umbruchs und der Neuorientierung der verschiedenen politischenKräfte in der Bundesrepublik, die durchaus angesichts der allseitigenVerunsicherung Optionen der Umsteuerung hätte bieten können.

Das wichtigste Merkmal des damaligen Antrages bestand in seinerKomplexität. Es ging nicht nur darum, einen Leistungskatalog not-wendiger finanzieller Absicherungen aufzustellen. Es ging auch darumzu zeigen, wie durch Veränderungen in der Wirtschafts-, Finanz- undBeschäftigungspolitik wesentliche Voraussetzungen für die Realisie-rung eines solchen Konzeptes geschaffen werden können. Gleichzei-tig sollte gezeigt werden, dass eine neue Qualität sozialer Sicherungauf der Grundlage der vorhandenen sozialen Sicherungssysteme durchihre Weiterentwicklung möglich sein könnte.

Im Kern ging es in dem erwähnten Konzept um folgende Punkte:- die Sockelung der existierenden sozialen Leistungen auf einem Ni-veau, das Armut verhindert; dieses Element wäre einfach einzuführenund wäre im bestehenden System der Einstieg in Veränderungen; eswäre die Möglichkeit gegeben, die Sozialhilfe auf ihre ursprünglicheFunktion, zeitweilige extreme Notlagen zu lindern, zurückzuführen;- die Verallgemeinerung des Rechtsanspruches auf soziale Leistungen;- die Durchsetzung eines Mindestlohns und von Arbeitszeitverkürzun-gen;- die Durchsetzung einer aktiven Beschäftigungspolitik, die einallgemeines Recht auf Arbeitsförderung einschließt und Beschäfti-gungspolitik mit Struktur- und Wirtschaftspolitik verbindet und eineprinzipielle Reform der Bundesanstalt für Arbeit einschließt; ein Aus-läufer dieser Diskussion ist das Konzept eines öffentlich gefördertenBeschäftigungssektors;

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- die gesellschaftliche Kontrolle der Strukturpolitik und ihre Orientie-rung an beschäftigungspolitischen Zielen; diese Sichtweise war vorallem auch durch die Erfahrungen mit den strukturpolitisch bedeutsa-men Potenzialen von Beschäftigungsgesellschaften in den ostdeut-schen Bundesländern und den wirtschaftsdemokratischen Debattenverknüpft;- die durchgreifende Demokratisierung der sozialen Sicherungssys-teme sowie aller Entscheidungsprozesse, die unmittelbare Wirkungenfür die sozialen Sicherungssysteme haben – insoweit ergaben sich hierauch Ansätze zu Diskussionen zur betriebs- und unternehmensverfas-sungsrechtlichen Debatte. Entscheidende Argumente, mit denen dieDemontage der bestehenden Sozialversicherungssysteme begründetwird, sind die Vorwürfe der Verbürokratisierung, Ineffizienz und man-gelnder Qualität. Die Lösung wird in der Einführung »marktkonfor-mer« Instrumente und Prinzipien gesehen – »Kundenorientierung«,Teilprivatisierung von Leistungen, kostenorientierte Maßstäbe in derLeistungsbewertung und Regionalisierung von Beiträgen und Leis-tungsprofilen. Die Probleme, die diesen Wertungen zugrunde liegen,sind real und offensichtlich – allerdings lassen sich die Ursachen nichtdarauf reduzieren, dass es sich bei den Sozialversicherungen umselbstverwaltete Organisationen handelt. Im Gegenteil – die Stärkungdes Charakters dieser Strukturen als selbstverwaltete sollte ein enor-mes inneres Veränderungspotenzial freisetzen können. Gleiches giltauch für eine sinnvolle Gestaltung von Qualitätsstandards.

Die Hauptlinie in der Diskussion über Grundsicherungs- bzw.Grundeinkommensmodelle, die naturgemäß in einer westdeutschenTradition stand und steht, speiste sich allerdings aus einer anderenQuelle. Hier stand sehr stark der Aspekt der Armutsverhinderung (sodas Modell des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes) bzw. die Lösungaus dem Zwang zur Lohnarbeit im Mittelpunkt. Die Überlegungenstützten sich auf die Erfahrungen der Wohlfahrtsverbände, dass So-zialhilfe eben nicht armutverhindernd wirkt, und in anderen Bereichendarüber hinaus auf die Vereins- und Selbsthilfe-Infrastruktur, die sichnicht nur oder nicht vordergründig in politischer, sondern auch odervorrangig in kultureller Opposition zum herrschenden System befand.Die Gewerkschaften standen dem letztgenannten Spektrum neutraloder ablehnend gegenüber, da dort Forderungen nach aktiver Be-schäftigungspolitik etc. auf wenig Gegenliebe stießen.

Während die vorrangig westdeutschen Traditionslinien sich erhaltenund reproduziert haben, ist der eher synthetische Ansatz, den das PDS-Konzept von 1993 vertrat, weitgehend zurückgedrängt worden. Warumdies so gekommen ist, soll an dieser Stelle nicht untersucht werden.Klar ist, dass dabei auf der einen Seite politische Gründe, auf der an-deren Seite Wirkungen der unverarbeiteten kulturellen Brüche inner-halb der Linken (nicht zuletzt zwischen der west- und der ostdeut-schen Linken) maßgeblich sein dürften.2

Einige AusgangspunkteSozialstaat und das System sozialer Sicherung können nicht als Insti-tutionen verstanden werden, die aus irgendwelchen Gründen ein be-stimmtes Lebensniveau aufrecht erhalten wollen, sondern als die Fi-xierung eines bestimmten gesellschaftlichen Kompromisses, der eine

2 So findet das Konzeptder PDS/Linke Liste von1993 in einer später alsBuch publizierten Studievon Richard Hauser für dasLand Nordrhein-Westfalen»Ziele und Möglichkeiteneiner Sozialen Grundsi-cherung« praktisch keineErwähnung (vgl. Hauser,Richard: Ziele und Mög-lichkeiten einer SozialenGrundsicherung, Baden-Baden 1996) Werner Rätzu. a. sparen in ihremPlädoyer »Grundeinkom-men: bedingungslos« eineAuseinandersetzung mitden in diesem Modell ein-geschlossenen Argumenta-tionen ebenfalls aus (Rätz,Werner u. a.: Grundeinkom-men: bedingungslos,AttacBasisTexte 17,Hamburg 2005).

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relative Stabilität gesellschaftlicher Beziehungen anstrebt und sich aufeinen gewissen sozialen Ausgleich gründet.

Es geht also um Macht und um die Organisation von Machtaus-übung. Soziale Sicherheit und soziale Leistungen sollen befriedendwirken, aber auch repressiv gegenüber all denen, die nicht den Erfor-dernissen, wie sie durch die Arbeit in kapitalistischen Unternehmengesetzt werden, entsprechen können oder wollen. Dieser Kompromissumfasst wirtschaftliche, soziale und kulturell-ideologische Kompo-nenten und schließt nicht nur einen bestimmten Typ der Beziehungzwischen Kapital und Arbeit, sondern zwischen und in allen sozialenSchichten der Gesellschaft ein. Die Verschiebung der damit verbun-denen Relationen zwischen konsensualen und repressiven Momentenmacht einen Gutteil der Auseinandersetzungen um die Zukunft desSozialstaates aus und charakterisiert vor allem die Hartz-Gesetze alsSystembruch »von oben« (mehr noch als etwa das Aufbrechen der for-malen Parität von Beschäftigten und Unternehmen bei der Finanzie-rung der sozialen Sicherungssysteme).

Zumindest für Deutschland ist dabei der Ausgangspunkt der Verän-derungen des Bedingungsgefüges ein sehr stark mit der »deutschenEinheit« verbundener ideologischer Umbruch.

Eine Achse dieses Prozesses bildet die grundlegende Veränderungdes herrschenden Menschenbildes und – hinter dieser Fassade – dergesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Erstmalig für die Bundesrepub-lik (neu) wurde durch die Freistaatenkommission Bayern/SachsenMitte der neunziger Jahre mit Blick auf die Arbeitsmarktpolitik dieserBruch umfassend skizziert und wird seitdem mit vielfältigen ideologi-schen und gesetzgeberischen Instrumenten vorangetrieben. Den Bür-gern soll die Illusion vermittelt werden, aus dem gesellschaftlichenZusammenhang aussteigen und nur für sich selbst durch optimaleKombination aller Marktangebote das private Lebensglück schneidernzu können. Dabei soll alles erlaubt sein, was die gegebene Gesell-schaft, d. h. das Primat der Kapitalverwertung (gekleidet in einen be-stimmten Wertehaushalt), nicht in Frage stellt. Um einem solchen Ge-sellschaftsbild Durchschlagskraft zu verschaffen, soll der Status desLohnabhängigen verunsichert werden, er soll aus den solidarischenBindungen endgültig gelöst werden, die der Ware Arbeitskraft histo-risch das Gewicht verliehen haben, das sie in der Bundesrepublik (alt)hatte. Diese Verunsicherung diskreditiert natürlich gleichzeitig die öf-fentlichen Sozialversicherungssysteme (die übrigens entgegen dervorherrschenden Propaganda keine staatlichen sind), und das ist wohlauch gewollt oder wird mindestens billigend in Kauf genommen. Derdamit verbundene Verlust der einzigen Ressource, die den Lohnab-hängigen bedingungslos zur Verfügung steht, ihrer Solidarität, ist es,worum es geht. In einer Gesellschaft privat ausgehandelter Versiche-rungen und deregulierter Tarifsysteme ist diese Ressource nur schwerzu rekonstruieren. Der Unternehmer scheint immer das Marktargu-ment für sich zu haben, der Anbieter von Arbeitskraft wird kaum inder Lage sein, seine ökonomische Potenz als Besitzer einer Versiche-rungspolice, eines Bausparvertrages oder etwas ähnlichem in den Ver-handlungen um einen Arbeitsplatz eindrucksvoll zur Geltung zubringen. Diese Verschiebung eines die Gesellschaft prägenden Kräfte-verhältnisses wird durch die Privatisierung weiterer Elemente öffent-

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licher Daseinvorsorge noch verstärkt. Die Einschränkung öffentlicher,d. h. für alle Menschen gleichermaßen zugänglicher Räume (mate-rieller wie geistiger), entfremdet von der Gesellschaft, entzieht derSolidarität die Grundlage des gemeinsamen Erlebens sozialer Unter-schiede, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten und verschiebt damitzwangsläufig das Verhältnis zur Ausgestaltung sozialer Sicherung.

Erst diese primär ideologisch und kulturell vermittelte Verunsiche-rung und Angst der Beschäftigten und die damit verbundene organisa-torische Schwächung der Gewerkschaften macht den umfassendenAngriff auf die Arbeitslosen, wie er sich in den Hartz-Gesetzen (nichtnur in Hartz IV) manifestiert, möglich. Andererseits ist die nachhaltigeVerunsicherung der Beschäftigten das letztendliche Ziel der Vorstöße.

Verunsicherung, Angst und fortschreitende Privatisierung öffentli-cher Daseinsvorsorge haben ihre Grundlagen in entsprechenden poli-tischen und wirtschaftlichen Prozessen, in veränderten politischenStrukturen und Verhältnissen in den Unternehmen sowie in Wechsel-wirkungen zwischen technologischen und arbeitsteiligen Beziehungenin nationalem und globalem Maßstab.

Die angesichts des gesellschaftlichen Reichtums durchaus gegebeneDenkmöglichkeit grundsätzlicher Brüche in der Qualität sozialer Si-cherung steht vor diesem Hintergrund in deutlichem Gegensatz zurAkzeptanz eines solchen Bruches im praktischen Verhalten (auch imWählerverhalten). Letzteres mag im Widerspruch zu der verbreitetenEinsicht, grundsätzliche Alternativen seien nötig, stehen, ist aber eineentscheidende Bedingung, wenn es um die Durchsetzung von Alter-nativvorstellungen geht. Die erwähnte Diskreditierung und Degra-dierung bestehender sozialer Sicherungssysteme lässt entscheidendeVermittlungsglieder zwischen der konkreten, handgreiflichen, gesell-schaftlichen Organisation sozialer Sicherung und dem individuellenErleben sozialen Ausgleichs verschwinden. Auf die Frage, ob bzw.wie die Rekonstruktion einer derartigen Vermittlung möglich, wün-schenswert, nötig ist, werden mit den verschiedenen Modellen sozia-ler Grundsicherung bzw. eines Grundeinkommens unterschiedlicheAntworten gegeben. Dahinter steht wiederum die Frage nach demVerhältnis von Gesellschaftlichkeit und Individualität bzw. individuel-lem Anspruch auf Existenzsicherung.

Vom Problem her Modelle entwickelnSoziale Sicherungssysteme konstituieren sich also nicht aus einem in-dividuell entwickelten Anspruch heraus, sondern im Kontext eines ge-sellschaftlichen Ganzen und eines Menschenbildes. In diesem Sinnesind sie nicht pure Ableitung aus der Ökonomie, sie existieren aberauch nicht losgelöst von ihr. Soziale Sicherungssysteme setzen Not-wendigkeiten von wirtschaftlicher und gesamtgesellschaftlicher Ent-wicklung um. Sie sind »Mittel« – sie reproduzieren einen bestimmtenTyp von Persönlichkeit und ein bestimmtes Kräfteverhältnis in derGesellschaft, »Ziel« – sie geben den Persönlichkeiten die Möglichkeit,sich zu verändern. Sie schaffen Freiräume und Entwicklungsmöglich-keiten gegenüber Ansprüchen der jeweils anderen gesellschaftlichenInteressengruppen (repräsentieren insoweit durchaus das »Reich derFreiheit«), bringen aber auch Notwendigkeiten und Forderungen derGesellschaft gegenüber den Leistungsberechtigten zur Geltung – und

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dies sowohl in Umfang wie auch Organisationsform der Sicherung.Damit verwandelt sich jede als bedingungslos deklarierte Leistung,wie eben das bedingungslose Grundeinkommen, unter der Hand not-wendig in eine bedingte – die bewusste Thematisierung und Diskus-sion der Bedingtheiten gehört also immer mit in einen sozialpoliti-schen Ansatz.

Unter diesem Gesichtspunkt liegt eines der Kernprobleme der De-batten um ein bedingungsloses Grundeinkommen darin, dass versuchtwird, einen archimedischen Punkt zu finden, von dem aus das Systemaus den Angeln zu heben wäre. Die einseitige Fixierung auf die indivi-duelle Leistung zieht das Konzept des bedingungslosen Grundein-kommens aus dem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang, der erstwieder über die These, diese Form der Absicherung würde dann zueiner spontanen Erweiterung von solidarischer Selbstorganisationführen, hergestellt werden muss. Die Forderung bleibt so, trotz dernun hergestellten Verbindung von Grundeinkommen, Mindestlohnund Arbeitszeitverkürzung, eine Ein-Punkt-Forderung, die zwar wei-tere Konsequenzen für die soziale Sicherung und die Politik überhaupthat, diese aber nicht explizit zum Gegenstand der Diskussion macht.Damit lässt das Konzept zu viel Raum für zu viele gegensätzliche In-terpretationen und Wege – genannt seien negative Einkommensteueroder Bürgergeld. Die Breite der Ausdeutung einer Forderung, die vor-teilhaft sein kann, erweist sich hier als ungünstig, weil die konzeptio-nelle Entkopplung von sozialer Sicherung und Arbeit (nicht nur Lohn-arbeit!) sofort in eine Trennung, wenn nicht gar Entgegensetzung vonLohnarbeitenden und Nicht-Lohnarbeitenden umschlägt. Die sich imzunehmenden Druck auf die Lohnarbeitenden und in der Hypertro-phierung der Finanzmarkt-Einkommen (auch durch Privatisierungvon sozialer Sicherung, vor allem der Altersvorsorge!) manifestie-rende Diskreditierung der gesellschaftlich organisierten Arbeit wirdso, sei es gewollt oder nicht, fortgeführt. Die inzwischen allseits prä-sente Philosophie, »Wer arbeitet, ist zu blöd, sein Geld ordentlich an-zulegen«, ist so nicht positiv zu brechen.

Vor diesem Hintergrund scheint mir der entscheidende Mangel derGrundeinkommenskonzeption darin zu bestehen, dass sie keinenRaum für die zentrale Frage der Demokratisierung (verstanden alssolidarische Gestaltung) sozialer Sicherung lässt.

Dies hängt mit einer Reihe von Faktoren zusammen, die z. T. ausEntwicklungen der jüngeren Zeit, z. T. aus gesellschaftskonzeptionel-len Grundpositionen resultieren.

Erstens wäre anzumerken, dass das Konzepte des bedingungslosenGrundeinkommens ausgehend von der konkreten Interessenlage einerprekarisierten gesellschaftlichen Schicht entstanden ist. So wie diesauch z. B. gewerkschaftliche Konzepte tun, reflektiert es wirkliche Le-bensbedingungen und Lebensperspektiven, Erfahrungen mit den bis-herigen Systemen sozialer Sicherung und den Möglichkeiten, gesell-schaftliche Bündnisse gegen deren repressive Tendenzen zu schaffenoder eben nicht schaffen zu können. Es versucht, eine Norm zuformulieren, die zum Kriterium für »gut« oder »schlecht« andererInteressenlagen und Konzepte erklärt wird, kurz gesagt, das eigene In-teresse als allgemeines Interesse zu setzen. Wie gewerkschaftlicheKonzepte etwa das kollektive Subjekt setzen, in diesem Sinne kollek-

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tive und solidarische Formen sozialer Sicherung großen Stils als nor-mal betrachten können, müssen die Grundeinkommenskonzepte dasIndividuum, den individuellen Rechtsanspruch, dessen Befestigungund Verteidigung zum Bezugspunkt nehmen. Tatsächlich liegt hier einBerührungspunkt zu Konzepten, wie etwa dem Bürgergeld oder dernegativen Einkommensteuer. Konsequent spricht die KAB bei»ihrem« Grundeinkommensmodell entsprechend von einem Instru-ment zur Schaffung einer »solidarischen Marktwirtschaft«.3 Diesscheint eine durchaus realistische Charakteristik der Reichweite vonGrundeinkommenskonzepten zu sein, sofern Marktwirtschaften soli-darisch sein können.

Das zweite Problem ist eng damit verbunden. Teilhabe am gesell-schaftlichen Leben wird konzeptionell an (individuelles) Einkom-men gebunden. Bei Werner Rätz u. a. heißt es im ersten Abschnittzur Definition des Grundeinkommens: »Menschen brauchen einEinkommen, damit sie ihre Bedürfnisse erfüllen und am gesell-schaftlichen Leben teilhaben können.«4 Dieser Satz scheint richtig,ist aber in der Tat falsch. Menschen brauchen in dieser Gesellschaftauch ein Einkommen, um Bedürfnisse erfüllen und am gesellschaft-lichen Leben teilhaben zu können – sie brauchen aber in dieser Ge-sellschaft schon auf sozialem Gebiet noch viel mehr.5 Die Autorengreifen diesen Gesichtspunkt an anderer Stelle auf, finden aber keineVermittlung zwischen der konstatierten Wertschätzung solidarischerAbsicherung, den Konzepten einer sozialen Infrastruktur und demeigenen Grundeinkommenskonzept.6 Diese Vermittlung könne dieDiskussion um das Grundeinkommen selbst sein7 – wobei dann al-lerdings die (zutreffenden) Fragen grundsätzlicher Umverteilungund repressionsfreier sozialer Sicherung angesprochen werden.Nicht einsichtig bleibt, warum dazu das Grundeinkommen zwingendnötig ist. Es ließe sich mit gleichem Anspruch der Umbau der beste-hende Sicherungssysteme als Aufgabe formulieren.

Das dritte und letztlich entscheidende Problem liegt in der Bewer-tung von Arbeit und Lohnarbeit, in der Beurteilung ihrer Rolle fürdie Herstellung von Gesellschaftlichkeit. In diesem Kontext wird be-dingungsloses Grundeinkommen als Reflex eines realen Verlustesder Sozialisierungskraft der Arbeit bzw. der Lohnarbeit betrachtet,wobei nicht immer scharf zwischen beiden unterschieden wird. Ge-sellschaftlichkeit wurde und wird nie nur über Lohnarbeit herge-stellt. Gesellschaftlichkeit wird auch über Hausarbeit, ehrenamtlicheArbeit, Nachbarschaftshilfe, freiberufliche Arbeit und in unendlichvielen anderen Formen hergestellt. Allerdings werden diese Formen,und insoweit ist der Ansatz nicht falsch, von Lohnarbeitsverhältnis-sen geprägt. Langzeit-Massenarbeitslosigkeit auf der einen, die Auf-lösung der klassischen Lohnarbeitermilieus, die Ausweitung vonSchein- und prekären Selbstständigkeiten und die sinkende Bedeu-tung gewerkschaftlicher Organisationsformen auf der anderen Seitedeuten darauf hin, dass die Sozialisierungskraft des Lohnarbeitsver-hältnisses sinken könnte. Wir sehen hier davon ab, dass die be-schriebenen Entwicklungen für weite Teile der Welt (noch?) nichtrelevant sind, diese Tendenzen somit möglicherweise auch durcheine ungerechte internationale Arbeitsteilung induziert sein können.Betrachtet man die Wirklichkeit, zeigt sich jedoch, wie sehr Arbeit,

3 Vgl. Welter, Ralf (Hrsg.):Solidarische Marktwirtschaftdurch Grundeinkommen.Konzeption für eine nach-haltige Sozialpolitik,Aachen 2003.

4 Rätz, Werner u. a.:Grundeinkommen: bedin-gungslos. AttacBasisTexte17, Hamburg 2005, S. 8.

5 Es sei nur angemerkt,dass individuelle Einkom-men auch Grundlage fürVereinzelung und Konkur-renz sind, ein Sachverhalt,der in der konzeptionellenGrundlegung völligunberücksichtigt bleibt.

6 Vgl. Rätz u. a., a. a. O.,S. 71 ff.

7 Vgl. ebenda, S. 76.

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auch Lohnarbeit, Gesellschaftlichkeit vermittelt – und sei es auchnur von ihren Resultaten her.

Die Lohnarbeit war bisher die dominierende Form, in der sich dergesellschaftliche Charakter der Arbeit unter kapitalistischen Verhält-nissen manifestierte. Arbeit ist mehr denn je vergesellschaftete Arbeit– ihre Wirkungen hängen in nie gekanntem Maße von Kooperations-fähigkeit, Bildung und Verantwortungsfähigkeit ab. Damit erweitertsich der Kreis der notwendigen Arbeiten, gerade auch im sozialen Be-reich, in der Kultur, in der Bildung. Es stellen sich neue Fragen nachArbeitsbedingungen (vor allem nach Arbeitsintensität) oder nach derVerantwortung für die Resultate der Arbeit (z. B. die ProblemfelderAtom- und Gentechnologie, Energietechnologien). Die Frage ist nuntatsächlich, ob angesichts der bekannten Probleme die Form derLohnarbeit die ist, die diesem Grad von Vergesellschaftung ent-sprechen kann, oder ob andere Formen gesellschaftlicher Arbeit nötigsind. So oder so bedeutet die Dominanz bei der Gestaltung der Verge-sellschaftung, das Kommando über vergesellschaftete Arbeit Machtüber die Gesellschaft – unabhängig von der Zahl der tatsächlichenLohnarbeiterInnen.

Die Alternative zur Realität der Lohnarbeit kann nicht der Ausstiegaus der »Arbeit« sein, wie auch nicht der Rückzug in subsistenzorien-tierte Eigenarbeit. Modelle alternativen Wirtschaftens werden gesell-schaftliche Arbeit, d. h. in diesem Zusammenhang kooperative Arbeitleisten müssen, wenn die Gesellschaft schon von ihren materiellenGrundlagen her nicht ausein-anderfallen soll. Insoweit wird das ent-sprechende System sozialer Sicherung die Fähigkeit zur Kooperationund zu vergesellschafteter Arbeit stützen und insoweit also auch ar-beitsorientiert sein müssen. Insofern wird das System auch Grenzender Freiheit fixieren müssen – auf absehbare Zeit in allen denkbarenpolitischen Konstellationen, auch in einer egalitären Gesellschaft.Dies bedeutet natürlich einen impliziten Widerspruch Freiheit undNotwendigkeit – aber dieser Widerspruch wird letztlich die Gesell-schaft immer voranbringen; er ist nicht wegzudefinieren, man musseinen Weg finden, auf dem die beiden Seiten – die wachsenden An-sprüche und die mit ihrer Befriedigung einhergehenden Notwendig-keiten – immer wieder in ein harmonisches Verhältnis gebracht wer-den können.

Wenn vor allem von gewerkschaftlicher Seite Grundeinkommens-konzepte kritisiert werden, so entspringt das oft dem Empfinden, dassdie Vertreter von Grundeinkommenskonzepten diesem Widerspruch,wie er sich denen, die noch in relativ festen Lohnarbeitsverhältnis-sen stehen, tagtäglich zeigt, ausweichen. Bei allen katastrophalenUnzulänglichkeiten erschienen die bisherigen sozialen Sicherungs-systeme immer noch als Ansatzpunkt, um die Vermittlung des ge-nannten Widerspruchs wenigstens ansatzweise in Gang setzen zukönnen. Zutreffend stellen Rätz u. a. fest: »Wenn eine Gesellschaftweiter kommen will, wenn Menschen ihre Verhältnisse ändern wol-len, dann müssen sie sich vielmehr in diese Veränderungsprozesseselbst hineinbegeben und kämpfen...Erst der Kampf um Veränderun-gen verändert die Kämpfenden selbst...Wer eine Gesellschaft ausfreier Übereinkunft will, wird darum kämpfen müssen.«8 Warum, sokönnte man jetzt aber polemisch fragen, sind dann die Orte, an denen

8 Rätz u. a., a. a. O.,S. 78 f.

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»freie Übereinkunft« möglich wird, nicht Gegenstand des Konzepts?Wo ist der Ort der »freien Übereinkunft«, wenn in der Erklärungzur Gründung der Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen inund bei der Linkspartei.PDS (BAG) die Rede davon ist, dass die be-stehenden Sozialversicherungssysteme schrittweise ersetzt werdensollen?9

Stellt man all dies in Rechnung, besteht ein Widerspruch zwischendem Radikalitätsanspruch und der tatsächlichen Radikalität. Nüchternbetrachtet hat das Konzept so viele Schwächen und Lücken, wie diemeisten anderen sozialpolitischen Konzepte auch. Nötig ist nicht ge-genseitiges Missionieren, sondern ein ergebnisoffener Diskurs, dereine ehrliche Bestandsaufnahme der Stärken und Schwächen alterna-tiver Sozialpolitik einschließt.

SchlussbemerkungWie man sicher bemerkt hat, steht der Autor den Existenzgeld- undGrundeinkommensmodellen aus verschiedenen Gründen skeptischgegenüber. Dabei geht es nicht um eine durch andere Autoren vermu-tete Nichtfinanzierbarkeit, auch nicht vorrangig um die von weiterenvermutete Gefahr, dass bei Einführung dieser Sicherung niemandmehr arbeiten würde. Das Grundproblem besteht meines Erachtens,wie weiter oben bereits ausgeführt, darin, dass die Forderung nacheinem Grundeinkommen zu eng ist. Als Ein-Punkt-Forderung mitKonzentration auf die Geldleistung als solche verdrängt sie andereentscheidende Probleme der sozialen Sicherung aus der Auseinander-setzung. Vor allem die Demokratisierung sozialer Sicherung, derKampf um die Art und Weise, wie über Leistungen und Strukturen so-zialer Sicherung insgesamt entschieden wird, erscheint mir als der vielwichtigere Zugang zu einer repressionsfreien Sozialpolitik. Erst einsolches Herangehen erlaubt es, Übergänge vom jetzigen Zustand zueiner neuen Qualität der Sozialpolitik zu sichern, die für breite Teileder Bevölkerung nachvollziehbar ist und eine nachhaltige Verschie-bung der Machtverhältnisse in Bezug auf das Soziale absichert. Dieeine Gleichgewichtigkeit von Veränderungen im Wirtschaftlichen undSozialen konzeptionell einbindet und schließlich Antwort auf die miteinem derartigen Systemwechsel unvermeidlich verbundenen recht-lichen Fragen, insbesondere die Überleitung von mit Anwartschaftenverbundenen Leistungsansprüchen, geben kann. Die Betonung desAnsatzpunktes Demokratisierung bedeutet aus meiner Sicht auch, denemanzipatorischen Anspruch ernst zu nehmen: Ein Systemwechsel inder sozialen Sicherung wird nur dann langfristig emanzipativ wirken,wenn der Wandel von denen, die von ihm betroffen sind, selbst einge-leitet und vollzogen wird und so in diesem Handeln neue Sichtweisenund Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet werden. Insoweit bekenntsich der Autor als Konservativer und betrachtet die Philosophie desPDS-Antrages von 1993 immer noch als den am meisten tragfähigenAnsatz, der in seinen Konsequenzen und hinsichtlich der durch ihn in-tendierten Entwicklungspfade über die derzeit auch in der Linkspar-tei.PDS vertretenen Grundsicherungsmodelle hinausgeht.

9 vgl. PRESSE-MITTEILUNG »ERFURTERWEG« Gründung derBundesarbeitsgemeinschaft(BAG) Grundeinkommen inund bei der Linkspartei.PDSam vergangenen Wochen-ende in Erfurt. Die neu-gewählten SprecherInnender BAG, Ann-ChristinSchomburg und StefanWolf, erklären...

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Erziehung ist wieder in aller Munde, Gegenstand vielfältiger Erörte-rungen. Die massenmediale Präsenz des Themas – die RTL-Serie»Super-Nanny«, ein »Zeit-Dossier«2, ein Ende 2004 erschienenesSonderheft von »Psychologie heute«3 – zeugt davon ebenso wie diesystematisch betriebene Verbreitung von Erziehungstechniken wie»STEP« (Training for effective Parenting) oder »Triple P« (PositiveParenting Program). Wie das Engagement für »anti-autoritäre Erzie-hung« (Ende der sechziger Jahre) und die Gegenbewegung »Mut zurErziehung« in den 80er Jahren4 verweist auch die gegenwärtige –das Erziehungsproblem fokussierende – Debatte auf eine gesell-schaftliche Problemlage. Sie scheint mir darin zu bestehen, dass diepropagierten »Chancen« der so genannten Individualisierung ein an-gesichts der »Risiken«, die die neoliberale Entfesselung des »Mark-tes« mit sich bringen, grosso modo leeres Versprechen sind, dass die(mehr oder weniger) freie Entwicklung einiger mit der strukturellenBehinderung vieler einhergeht, dass traditionelle Wertvorstellungenwie etwa die, dass Fleiß sich lohne, materiell nicht unterfüttert sind,dass aber trotzdem Kinder zu nützlichen Gesellschaftsmitgliederngemacht werden sollen, dass sie trotzdem nicht resignieren, fleißigsein, nicht gewalttätig werden, nicht aus dem Ruder laufen sollen –also in einer Gesellschaft, deren Krise jedem und jeder ins Gesichtschlägt, eine Orientierung kriegen sollen, die den gewünschten Ver-haltensweisen förderlich ist.

Der in dieser gesellschaftlichen Situation präventive und reglemen-tierende, die neue Debatte bestimmende pädagogische Grundbegriffentspricht einer staatlichen Maßnahme der DDR von 1961: »Gren-zen setzen«. Die – sagen wir – nicht-metaphorische, staatlich-archi-tektonische Operationalisierung dieses Konzepts hat sich (mit hohenpolitischen und menschlichen »Kosten«) nur transitorisch bewährtund musste 1989 aufgegeben werden, und seine systemübergrei-fende pädagogische Variante kann nur in Ausnahmefällen architek-tonisch funktionieren (geschlossene Heime etc.). Für alltäglichespädagogisches Denken und Handeln, sei es professionell oder imweiteren Sinne »familiär«, ist »Grenzen setzen« natürlich nur eine»Metapher«, die weniger auf die strukturelle Vergeblichkeit des ma-terialen Grenzen Setzens verweist als auf eine strukturelle Unend-lichkeit.

Warum? Weil Erziehung dazu tendiert, gesellschaftliche Struktur-probleme pädagogisch, wenn nicht zu lösen, so doch in den Griffkriegen zu wollen, so letzten Endes die gesellschaftliche Ebene aus-

Morus Markard – Jg. 1948,Dr. phil. habil, Dipl.-Psych.,apl. Professor für Psycho-logie an der FU Berlin.Vertrauensdozent derRosa-Luxemburg-Stiftung.Mitglied der Redaktionendes »historisch-kritischenWörterbuchs des Marxis-mus« und des »ForumKritische Psychologie«.Mitglied im Bundesvorstanddes Bundes demokratischerWissenschaftlerinnen undWissenschaftler (BdWi).Zuletzt in UTOPIE kreativ:»Elite«: Ein anti-egalita-ristischer Kampfbegriff,Heft 171 (Januar 2005).

1 Eine Auseinandersetzungmit Armin Bernhard: Anto-nio Gramscis Verständnisvon Bildung und Erziehung,UTOPIE kreativ, Heft 183(Januar 2006), S. 10-22.

2 Erziehen üben!, in:Die Zeit, Hamburg, 21. 10. 2004.

MORUS MARKARD

Wer braucht Erziehung?1

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zublenden bzw. in der Erzieher-Zögling-Interaktion zu personalisie-ren. Wenn die anfänglich skizzierte gesellschaftliche Problemlagehistorisch-konkreter Ausdruck eines Grundproblems der bürgerli-chen Gesellschaft ist, das Versprechen der Chancengleichheit nichteinlösen zu können (und wenn heute Chancengleichheit nicht einmalmehr die Verbesserung gesellschaftlicher Bedingungen meint, sondernin die für viele ruinöse individuelle Wettbewerbsfähigkeit umgedeu-tet wird), wenn die Schule die Gleichzeitigkeit von Emanzipationund Selektion repräsentiert, dann bedeutet »Grenzen setzen« (auch)den – unter emanzipatorischen Gesichtspunkten (hoffentlich) ebenstrukturell vergeblichen – Versuch einer Durchsetzung der Akzep-tanz eben dieser Verhältnisse durch die »Subjekte«, die als Erzie-hungsobjekte fungieren – sich dagegen aber erfahrungsgemäß im-mer wieder wehren.

Wessen (Erziehungs-) Ziel Anpassung und Unterwerfung sind,wird auf die bekannten Mittel von Zwang und Bestechung setzen.Doch was ist denen an die Hand gegeben, die den Verhältnissen, indenen sie erziehen, fundamental kritisch gegenüber stehen? Das istdie Frage, die den hier zur Debatte stehenden Aufsatz ArminBernhards durchzieht. Diese Frage ergibt sich aus der Einsicht in denUmstand, dass die individuelle und die gesellschaftliche Reproduk-tion miteinander vermittelt sind, und dass Pädagogik als mit indivi-dueller Vergesellschaftung befasst dem in Theorie und Praxis Rech-nung zu tragen hat. Grundlegend dafür ist die Art und Weise, die dasVerhältnis von Individuum und Gesellschaft, von individuellemLebensprozess und gesellschaftlicher Struktur gefasst wird – undwelche Rolle der »menschlichen Natur« im Prozess individuellerVergesellschaftung beigemessen wird.

Subjekte als Objekte erzieherischen Handelns?Um in meiner Analyse von Erziehung(sproblemen) weiter zu kom-men, will ich deswegen mit Holzkamp das Verhältnis von Gesellschaftund Individuum als »Verhältnis zwischen objektiver Bestimmtheitund subjektiver Bestimmung des historischen Prozesses« charakteri-sieren, wobei der Marxismus in der Analyse und Veränderung ge-sellschaftlicher Prozesse als »historische Subjektwissenschaft parexcellence« gefasst wird, während eine marxistische bzw. die »Kri-tische Psychologie« als »besondere Subjektwissenschaft« auf die»Entwicklung der subjekthaft-aktiven Komponente, also der Selbst-bestimmung, in der individuellen Lebenstätigkeit« ziele.5 DieseSicht schließt die Vorstellung einer milieu-deterministischen For-mierung von Subjekten ebenso aus wie die Vorstellung ihres Lebensin frei flottierenden Sinnstiftungen bezüglich einer bloß Interpreta-tionen anheim gegebenen Welt. Die gesellschaftstheoretische Bezugs-ebene, mit der Machtverhältnisse in der kapitalistischen Gesellschaftauf den Begriff gebracht werden, erzwingt es vielmehr, psychologischzu berücksichtigen, dass Handlungsmöglichkeiten dem Individuumnie ungebrochen, sondern immer in einem je zu klärenden Verhält-nis zu gesellschaftlichen Handlungsbehinderungen gegeben sind.Dabei steht das Individuum vor der Alternative, sich mit bloß zuge-standenen Möglichkeiten zu arrangieren oder diese Möglichkeitenselber – gegebenenfalls im Zusammenschluss mit anderen – zu er-

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3 Abenteuer Erziehung,in: Psychologie heutecompakt, Nr. 11«, Berlin o.J.(2004).

4 Vgl.: Die Wertfrage inder Erziehung, in: DasArgument, Sonderband 58,Hamburg 1981.

5 Klaus Holzkamp: Kannes im Rahmen der marxisti-schen Theorie eine KritischePsychologie geben?, in:Karl-Heinz Braun, Holz-kamp, Klaus (Hg.): KritischePsychologie. Bericht überden 1. Internationalen Kon-gress Kritische Psychologie,Bd. 1, Köln 1977, S. 64.

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weitern. Birgt die zweite Möglichkeit das Risiko zu scheitern undsich weitere, vielleicht größere Probleme einzuhandeln, ist die erstemit den psychischen Kosten verpasster Möglichkeiten verbunden.Wie die Einzelnen mit diesem (Dauer-) Konflikt umgehen, wie ihnengesellschaftliche Bedingungen als subjektive Prämissen bedeutsamwerden, ist psychologisch auf die darin enthaltene subjektive Funk-tionalität hin zu analysieren.6

Vor diesem Hintergrund kommt »Erziehung« als gesellschaftlicher(in verschiedenen Kontexten wie Schule und Familie wirksamer) In-stanz eine spezifische Vermittlung im Verhältnis zwischen »objekti-ver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung« zu, deren Qualitätdavon abhängt, ob bzw. wie sie die Besonderheit dieses Verhältnis-ses berücksichtigt.

Und eben hier setzt meine Kritik an Bernhards Argumentation an.Darin sind die von mir angesprochenen Dimensionen der Gesell-schaftlichkeit von Erziehung und der Intention eines emanzipatori-schen Eingriffes in die Gesellschaft zwar thematisiert, die Subjekteaber, an (und gegebenenfalls gegen) die Erziehung sich richtet, tre-ten zuvörderst als Objekte einer – irgendwie anonymen – Erziehungs-instanz in Erscheinung, als – im etymologischen Sinne des Wortes –»Unterworfene« (bzw. vorher zu Unterwerfende)7, so dass die Wi-dersprüche einer »Erziehung« in der bürgerlichen Gesellschaft – alshistorisch-spezifischer Ausdruck des Verhältnisses von objektiverBestimmtheit und subjektiver Bestimmung – in ihrer Problematikverschwinden, womit der emanzipatorische Impetus des Aufsatzesvon Bernhard desavouiert wird.

Im Folgenden will ich zunächst einige aus meiner Sicht in Bern-hards Aufsatz kritische Punkte resümieren und kommentieren unddamit die Skizze einer Konzeption vorbereiten, die den Kritikpunk-ten Rechnung tragen und meine Argumentation abschließen soll.

Bernhard stellt uns die Aufgabe – emanzipatorisch intendierter –Erziehung folgendermaßen vor: »Eine tief greifende Umgestaltungder sozialen Verhältnisse kommt an der Neuformierung der Men-schen nicht vorbei. Wer mit strukturellen Eingriffen in die Gesell-schaft nicht zugleich die jeweils konkrete Lebensweise und den je-weils vorherrschenden Menschentypus verändernd bearbeitet, kannkeine gesellschaftliche Alternativzivilisation entwickeln« (S. 10).8

»Bildung und Erziehung zielen auf die Formung, Gestaltung undEntwicklung von Menschen, die der jeweiligen Konzeption, denLeitideen, der Ideologie einer Gesellschaft entsprechen sollen.«Und: »Sie bearbeiten die Humanpotenziale im Sinne eines Aufbausvon Subjektvermögen« (S. 11). Für Gramsci, so Bernhard, sei seineMündigkeitsvorstellung an sein Konzept der Hegemonie gebunden,welche wiederum »an die edukative Fähigkeit der herrschenden Ge-sellschaftsgruppen geknüpft (ist), also an ihre Fähigkeit zu führen«,eine Fähigkeit, die auch die »Subalternen entwickeln« müssten, umeine »kritische Gegenhegemonie bilden zu können«, in der »(d)erWille des Menschen, sich selbst zu bestimmen, … zum Ausdruck«komme (S. 12).

Halten wir in unserer Darstellung inne, sehen wir uns mit einemwidersprüchlichen Bündel von Aussagen konfrontiert: Einmal wer-den Menschen wie Werkstücke geformt und gestaltet, sie werden als

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6 Vgl. Klaus Holzkamp:Grundlegung der Psycho-logie, Frankfurt/M. 1983a,S. 350 ff, lexikalisch gefasstbei Morus Markard: Hand-lungsfähigkeit II., in: Haug,Wolfgang Fritz (Hg.),Historisch-kritischesWörterbuch des Marxismus,Bd. 5, Hamburg 2001,Sp. 1174-1181.

7 Es wird sich im weiterenVerlaufe meiner Argumen-tation herausstellen, dassmeine Kritik nicht daranvorbeigeht, dass der Sub-jektbegriff in der Tat (auch)die Unterworfenheit desIndividuums unter gesell-schaftliche Regeln etc.zum Ausdruck bringt.

8 Ohne weitere Kennzeich-nung beziehen sich alleSeitenangaben auf den Auf-satz von Armin Bernhard.

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Typen klassifiziert und somit und reduzierend vereindeutigt (stattdass nach widersprüchlichen »typischen« Handlungs- und Denkwei-sen gesucht würde); auf der anderen Seite ist vom Willen des Men-schen, sich selbst zu bestimmen, die Rede; irgendwie dazwischen istangesiedelt, dass mit dem »Bearbeitet Werden« »Subjektvermögen«aufgebaut werde. Man fühlt sich an König Pygmalion erinnert, dereine Statue aus Stein werkte, der eine gnädige Göttin Leben ein-hauchte. Doch wo ist diese dea ex machina in der vorgestellten Kon-zeption? Wie können wir der widersprüchlichen Anordnung, dieFormung und Entwicklung umstandslos in eine gleichwertige Rei-hung bringt, auf den Grund gehen? Indem wir Bernhards Bemerkung,dass, während das »Politische in der Geschichte auf äußere Rah-menbedingungen der Gestaltung menschlicher Lebensbedingungenbezogen« sei, sich »das Pädagogische auf die innerpsychischenKorrelate gesellschaftlicher Reproduktionserfordernisse« beziehe,weiter verfolgen, eine gewisse Parallelität zu Holzkamps zitierterBestimmung des Verhältnisses von »Marxismus« und »KritischerPsychologie« im Kopfe bewahrend. Es geht darum, was innerpsy-chische Korrelate wohl sein sollen.

Erziehung als (Nah-) Kampf gegen die Natur?Bernhard verhandelt das – wieder im Bezug auf Gramsci – im Ver-hältnis von Freiheit und Notwendigkeit. »Die emanzipatorischenMöglichkeiten der Geschichte können nicht losgelöst vom konkre-ten Zwang der jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Verhältnissefreigesetzt werden, und Erziehung ist Teil dieses Zwanges«. (S. 12 f.)Dazu ist zu fragen: Wieso ist Erziehung nicht (auch bzw. erst spät)Moment der emanzipatorischen Möglichkeiten? Bernhard stellt fest,das Selbstbestimmung nicht »jenseits der geschichtlichen Notwen-digkeit zu haben« (S. 13) sei, wechselt dann terminologisch von »Er-ziehung« zu »Subjektwerdung« und schreibt: »Für die Subjektwer-dung gilt diese Verschränkung von Freiheit und Notwendigkeitanalog, doch charakterisiert sie hier eine gattungsspezifische, an-thropologische Notwendigkeit.« (ebd.) Das muss zwar auch für dieVorsätze gelten, es geht aber wohl um etwas Anderes: nämlich wieandere, insbesondere Kinder, Gramscis und Bernhards Einsicht ge-winnen. Durch Zwang, der Mittel dafür ist, dass gesellschaftlicher»Konformismus« Erziehungsresultat ist – wobei Konformismus beiGramsci hier als »Gesellschaftlichkeit« gelesen werden muss.9 Ge-sellschaftlich muss dem Kind (und vielleicht auch störrischen oder»kindischen« Erwachsenen) durch Zwang aufgeprägt werden: »Imgesellschaftlichen Auftrag bearbeitet Erziehung die menschlicheNatur gemäß gesellschaftlichen Anforderungen, ein Umstand, derihr notwendigerweise den Charakter der Zwangsförmigkeit verleiht.Denn weil gesellschaftliche Erfordernisse und menschliche Naturnicht zusammenstimmen, muss Erziehung im ›Kampf gegen die Na-tur‹ diese domestizieren und in eine historisch konkrete Form umar-beiten.« Das von Bernhard eingeflochtene Zitat entstammt Gramscisprogrammatischem Satz: »Eigentlich erzieht jede Generation dieneue Generation, das heißt, sie formt diese, und die Erziehung ist einKampf gegen die an die elementaren biologischen Funktionen ge-knüpften Instinkte, eine Kampf gegen die Natur, um diese zu be-

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9 Der Frage, inwieweitdiese terminologischeUnschärfe problematischeKonsequenzen zeitigt, willich hier nicht nachgehen.Ebenso wenig der Frage,inwieweit es problematischist, in welchem AusmaßGramsci begrifflich »Erzie-hung« zu »sozialem Ein-fluss« inflationiert unddeswegen die Spezifika, dieErziehung gegenüber demallgemeineren Konzept dessozialen/politischen Ein-flusses hat, aus dem Augeverliert.

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herrschen und den für seine Zeit ›gegenwärtigen‹ Menschen zuschaffen.«10

Danach muss man dem Zögling Gesellschaftlichkeit von außenaufprägen, weil Kinder geborene Schädlinge sind – eine Auffassung,wonach jede Gesellschaft, auch eine sozialistische, der menschli-chen Natur zuwiderläuft11, und der der von der kulturhistorischenSchule angeregte und in einer Spezifizierung des marxschen logisch-historischen Verfahrens historisch-funktional12 gewonnene Befundgegenübersteht, dass Menschen von Natur aus nicht un- oder anti-gesellschaftlich sind13. Wir haben insofern eine gesellschaftliche Na-tur, als wir grundsätzlich in der Lage sind, uns zu vergesellschaften,verbunden mit der subjektiven Notwendigkeit, Verfügung über un-sere Lebensumstände zu gewinnen, in diesem Sinne handlungsfähigzu werden. »Die in der gesellschaftlichen Natur des Menschen lie-genden Bedürfnisse realisieren sich also hier in der Erweiterung derHandlungsfähigkeit, d. h. sie treten in Erscheinung als subjektive Er-fahrung der Einschränkung der Handlungsfähigkeit, was gleichbe-deutend ist mit der subjektiven Notwendigkeit der Überwindung die-ser Einschränkung.«14

Dann ist aber die Frage zu stellen, ob nicht eine Erziehung, die ge-nau das fordert, die überflüssige und damit verdächtige Verdoppe-lung einer subjektiven Notwendigkeit darstellt. Dagegen liegt nunwieder der Einwand nahe, ob hier nicht ein Idealbild gezeichnet wird.Ich leugne natürlich nicht, dass es so genannte »schwierige« und»faule« Kinder gibt, dass neben kleinen Wonneproppen auch großeKotzbrocken existieren, wohl aber, dass sie quasi »von Natur aus«so sind. Es scheint mir theoretisch näher zu liegen und praktisch pro-duktiver zu sein, die Annahme zu vertreten, diesen schwierigen undfaulen Kindern sei der Spaß am Lernen ausgetrieben worden, bzw.sie fänden sich in einer Situation des Widerstands – gegebenenfallsgerade durch und gegen die kritisierte Art der Erziehung. Wenn alsodie Formen, in denen sich die subjektive Notwendigkeit der Verge-sellschaftung/Verfügung realisiert, uns nicht gefallen, müssen wiruns fragen, was sich Kinder gefallen lassen mussten, dass sie sichin ungefälliger Weise vergesellschaften. Die Formen, unter denenMenschen (Kinder, Jugendliche) Verfügung über ihre Lebensum-stände zu erreichen versuchen, sind natürlich je nach gesellschaftli-cher Lage, Situation und Geschlecht und deren subjektiver Interpre-tation sehr verschieden.

Das zentrale Problem besteht darin, dass in der menschlichenExistenz als der Realisierung einer widersprüchlichen Einheit vonNatur-, Gesellschafts- und Individualgeschichte natürliche und ge-sellschaftliche Momente immer schon vermischt auftreten – ein Um-stand, der Biologisierungen durchaus begünstigt15 und Debatten her-vorruft wie die, ob Auschwitz ein Zivilisationsbruch zugunstenungehemmter Natur sei (zahllose psychoanalytische Autorinnen undAutoren) oder eher ein Zivilisationseffekt16. Die Projektion allermöglicher Vorstellung in die »Natur«17 hat so gegensätzliche Konse-quenzen wie die Vorstellung, erzieherischer Umgang sei Nahkampfgegen die menschliche Natur, oder die Vorstellung, man müsse Kin-der nur wachsen lassen, ihre Natur werde ihnen schon den Weg wei-sen – eine Vorstellung, mit der sich Bernhard in seinem Aufsatz

442 MARKARD Erziehung

10 Wo Bernhard mitGramsci eine »Sozial-anthropologie des Kindes(spricht), die die Gesell-schaftlichkeit und Sozia-bilität der kindlichen Naturhervorhebt« (S. 14), ist das-selbe gemeint – nur unterdem Aspekt, dass der erzie-herische Nahkampf gegendie Natur Erfolg verspricht,das Wilde zähmbar ist.

11 Ute Osterkamp: Hatder Marxismus die Naturdes Menschen verkanntoder: Sind die Menschen fürden Sozialismus nicht ge-schaffen? In: Forum Kriti-sche Psychologie 31, 1993.

12 Wolfgang Maiers: Funk-tional-historische Analyse,in: Haug, Wolfgang Fritz(Hg.), Historisch-kritischesWörterbuch des Marxismus,Bd. 4, Hamburg 1999,Sp. 1134-1140.

13 Zusammengefasst beiKlaus Holzkamp: Grund-legung …, S. 178 ff.

14 Ebenda, S. 241.

15 Vgl. Wolfgang Maiers:Der Etikettenschwindel derEvolutionären Psychologie,in: Forum Kritische Psycho-logie 45, 2001.

16 Zygmund Baumann:Dialektik der Ordnung. DieModerne und der Holo-caust, Hamburg 1992.

17 Es ist dann allerdingskaum zu klären, was denn[nicht] mehr (Ausdruck von)Natur sei – von der »Frem-denangst« bis zur »Weib-lichkeit«.

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m. E. zu Recht kritisch auseinander setzt. Nur: beide Vorstellungenbasieren auf derselben Gedankenfigur: einer projektiven inhaltlichenBestimmung der menschlichen Natur, die je nach Inhalt bekämpftoder in Ruhe gelassen werden muss.18

Eine naturwissenschaftliche Bestimmung von Natur hat vor allemdie Funktion, derartige Naturalisierungen zurückzuweisen – auchgegen die erziehungsideologische Funktion der Hypostase einer un-gesellschaftlichen Natur des Menschen und der damit begründetenungehemmten Möglichkeit, Zwang zu legitimieren (bzw. zu ideali-sieren: »eine Art humaner Zwang« – S. 15) und Widerstand dagegenals verschärften Ausdruck eben ungesellschaftlicher Natur zu dele-gitimieren und zu bekämpfen, womit – zirkulär – Erziehung zur Bre-chung jenes Widerstands wird, den sie selber mit erzeugt hat.

Die Selbstgewissheit seiner Erziehungskonzeption korrespondiertmit Bernhards deterministisch-milieutheoretischer Interpretation der6. Feuerbachthese Marxens und seiner Interpretation des Verhältnis-ses von Determination/Notwendigkeit und Freiheit.

Der erzogene Mensch als Ensemble der Verhältnisse?Mehrfach äußert Bernhard in seinem Aufsatz die Auffassung, derMensch sei das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse(S. 16 f.), obwohl es in der Feuerbachthese, die das begründen soll,heißt: »…Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Indi-viduum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es dasensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.«19 Wie u. a. von Sève20

herausgearbeitet wurde, ist Marx’ These, dass das Wesen des Men-schen das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse ist, geradenicht eine milieutheoretisch-deterministische Zurückweisung deridealistischen Vorstellung eines im Individuum hockenden Wesens,sondern eine Betonung des Umstandes, dass dieses Wesen gesell-schaftlich produziert ist und die einzelnen Menschen sich zu ihmverhalten (können und müssen), also das Verhältnis von objektiverBestimmung und subjektiver Bestimmtheit erst in seiner Spezifikfassbar wird. Bernhard sagt zwar an anderer Stelle (mit Gramsci),der Mensch solle »›Führer seiner selbst‹ werden und sich nicht denStempel von äußeren Bedingungen aufdrücken lassen« (S. 16), wassich aber schwer mit dem Menschen als Ensemble von Bedingungenvereinbaren lässt. Bernhards Rettungsversuch: »Der Mensch ist zwardas Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, er ist immer ge-sellschaftlicher Kollektivmensch, doch geht er in dieser Bestimmungnicht auf«, weil er gestalten könne, kann nicht klappen. Begriffsakro-batische Luftnummern sind hier auch überflüssig, weil der Menscheben nicht das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse ist.

Wieder haben wir das Verhältnis von objektiver Bestimmtheit undsubjektiver Bestimmung als Inkompatibilität von Determinismusund subjekthaftem Eingriff vor uns, die Bernhard in Erziehungsfra-gen zu der Entscheidung zwingt, die Zöglinge dann doch als Objektevon Einwirkungen und Gegenstand von Anpassung zu fassen.

Was bedeutet »Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit«?Dies zeigt sich, wie angekündigt, auch in seiner Behandlung desProblems von Freiheit und Notwendigkeit. Vor dem Hintergrund der

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18 Deswegen bleibt, wasich hier nicht im Einzelnendarlegen kann, BernhardsKritik an »humanistischer«Erziehung unvollständig.Seine von mir kritisiertedeterministische Konzeptionnegiert die humanistischenur abstrakt.

19 Karl Marx: Thesen überFeuerbach, in: MEW 3,S. 6. Zur Interpretationsge-schichte vgl.: Wolfgang FritzHaug: Feuerbach-Thesen,in: Ders. (Hg.), Historisch-kritisches Wörterbuch desMarxismus, Bd. 4, Hamburg1999, Sp. 410 ff.; dort lässtsich u.a. nachlesen, dassnach H. Fleischer die Les-art, Marx habe das Indivi-duum (und nicht dasmenschliche Wesen) alsEnsemble bezeichnet,»kompletter syntaktischerUnsinn« sei (Sp. 411).

20 Lucien Sève: Marxis-mus und Theorie derPersönlichkeit, Frankfurt/M.1972.

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berühmten engelsschen (dezidiert auf Hegel rekurrierenden) Formu-lierung, Freiheit beruhe auf »Einsicht in die Notwendigkeit«21, ist diein unserem Zusammenhang zentrale Frage die, was genau es heißt,dass – von den Subjekten – »›objektive‹ Notwendigkeiten … aner-kannt und spezifisch gestaltet werden müssen« (S. 13). Die Argu-mentation von Engels ist sach-logisch, bezogen auf Naturgesetzeund gesellschaftliche Wirkzusammenhänge, die begriffen werdenmüssen, damit sie – von (assoziierten) Subjekten – genutzt bzw. be-einflusst werden können (wobei zu berücksichtigen ist, dass, was alsgesellschaftliche Notwendigkeit gilt, zumindest in concreto höchstumstritten und Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungenist). Diese Sachlogik hat eine konditionale Gestalt: Wenn ich alsSubjekt dies oder jenes erreichen will, dann muss ich bestimmte Zu-sammenhänge begreifen und berücksichtigen. Wenn ich »Freiheit«,verstanden als die historisch mögliche (kollektive) Verfügung übermeine gesellschaftlichen Lebensumstände, realisieren will, muss ichdie dem entgegen stehenden Herrschaftsstrukturen berücksichtigen.(Eine Nummer kleiner: Wenn ich die Freiheit genießen will, auf denSee hinaus zu schwimmen, muss ich schwimmen lernen/können.)Diese sach-logische, konditionale Argumentation ist aber von derpsycho-logischen zu unterscheiden, bei der es um die Frage geht, obein Subjekt dies oder jenes überhaupt erreichen will, ob es andereZiele verfolgt, ob es sich bestimmten Anforderungen entziehen will,ob es meint, ihnen zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht genügen zukönnen oder zu wollen. Anders formuliert: Hier geht es um dieFrage, wie aus welchen subjektiven Gründen sich die Einzelnen zu(als Anforderungen an sie in Erscheinung tretenden) objektiven bzw.als objektiv definierten Notwendigkeiten verhalten. Diese – von dersach-logischen eben zu unterscheidenden – psycho-logische Fra-gestellung ist zentrales Implikat einer »subjektwissenschaftlichenQualifizierung des Verhältnisses objektiver Bestimmtheit und sub-jektiver Bestimmung menschlicher Lebensgewinnung«.22 Die Ver-nachlässigung dieser subjektwissenschaftlichen Qualifizierung setztdie – von wem auch immer bestimmte oder »allgemein« anerkannte– objektive Notwendigkeit mit deren je subjektiv-phänomenalerRealisierung, mit subjektiver Notwendigkeit, in eins, wo doch dasVerhältnis zwischen beiden erst aufzuklären wäre. »Freiheit« ist da-nach für die Einzelnen eine Möglichkeit, die sie realisieren können,und deren tatsächliche Realisierung sie mit dann »einzusehender«Notwendigkeit konfrontiert, die sie eben – sach-logisch – realisierenmüssen, wenn sie die damit gegebenen Verfügungen realisieren wol-len oder wollen können.23 Die pädagogisch-praktische Relevanz derBerücksichtigung der spezifischen Differenz zwischen der skizzier-ten Sach- und Psycho-Logik besteht darin, dass der gegenüber An-deren ausgeübte Zwang zur Erfüllung (von wem auch immer defi-nierter) objektiver Notwendigkeiten nicht einfach als der AnderenFreiheit deklariert werden kann: Die Einsicht in die Alternativlosig-keit zu einem Handeln im Sinne verordneter oder deklarierter Not-wendigkeit hat mit Freiheit nichts zu tun – weder pädagogisch nochpolitisch. In dem Maße, in dem Zwang als Medium individuellerVergesellschaftung gilt, ist die kategoriale Differenz objektiver undsubjektiver Notwendigkeit zu vernachlässigen – die Freiheit dann al-

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21 Friedrich Engels:Anti-Dühring, in: MEW,Bd. 20, S. 106.

22 Morus Markard:Ensemble der gesellschaft-lichen Verhältnisse III, in:Wolfgang Fritz Haug (Hg.):Historisch-kritisches Wör-terbuch des MarxismusBd. 3, Hamburg 1997,Sp. 427.

23 Vgl. auch Klaus Holz-kamp: Kritische Psychologieund phänomenologischePsychologie. Der Weg derKritischen Psychologie zurSubjektwissenschaft, in:Forum Kritische Psycho-logie 14, 1984, S. 23 ff.

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lerdings auch.24 Übrig bleiben Zynismus auf der einen und (hoffent-lich) Wut oder (leider) Resignation auf der anderen Seite.

Wenn also Bernhard meint, »jeder Verzicht auf die Formung desKindes« liefere dieses »umso mehr der Fremdbestimmung« mit demResultat »formlose(r) Individualität« (was immer das sein mag) aus(S. 15), ist zu hinterfragen, inwieweit diese Formung selber Teil ei-ner Fremdbestimmung ist, inwieweit sich das Kind zu diesen For-mungsintentionen verhalten kann, wie eigentlich genau zu bestim-men ist, wer ein Kind fremdzubestimmen versucht und wer nicht –und welche Rolle ein nicht als Bearbeitungsobjekt gedachtes Kinddabei selber spielt. Dazu will ich zum Abschluss einige Überlegun-gen der Kritischen Psychologie beisteuern, die ihren Ausgang voneinem empirischen Projekt nehmen, in dem das Zusammenleben vonErwachsenen und Kindern untersucht wurde.25

Widersprüche emanzipatorischer ErziehungZunächst will ich die bislang erörterten Dimensionen von Erziehungfolgendermaßen resümieren: 1. Erziehende vertreten gesellschaftlicheAnforderungen und Ziele, die die Zöglinge nicht erfüllen (wollen)können. 2. Erziehung besteht aus einschlägigen Maßnahmen. 3. Er-ziehung bedeutet Machtausübung (auch »Zwang«, s. o.), die sich mitErziehungserfolg reduzieren kann (vgl. bei Bernhard z. B. S. 15). Zuden unter 1. erwähnten Erziehungszielen ist zu sagen: a. Die Erzie-henden kennen und wählen sie. b. Sie versuchen sie so zu vermitteln,dass sie den Zöglingen einsichtig werden. c. Soweit die Zöglingedies bzw. diese Ziele noch nicht einzusehen vermögen, setzen dieErziehenden die Ziele verantwortlich und stellvertretend durch. –Wir treffen hier im Übrigen auf das allgemeinere Problem der Diffe-renz zwischen (selbst-definiertem) Wunsch und (fremd-definiertem)Wohl (oder dem Bedarf und dem Bedürfnis) eines Menschen (ob einKind mit Förderbedarf auch ein Bedürfnis nach Förderung hat, darfgetrost als offen angesehen werden).

Voraussetzung der so skizzierten Vorstellung ist, dass man denZöglingen Gesellschaftlichkeit gegen ihre Natur von außen aufprä-gen muss (s. o.). Aus der oben dargelegten Kritik dieser Vorstellungergibt sich nun das Problem, dass die – nicht nur den jeweils ande-ren zu attribuierende – Fremdgesetztheit von Erziehungszielen mitder subjektiven Notwendigkeit der Verfügung des Kindes über daseigene Leben bzw. die eigenen Lebensumstände grundsätzlich un-vereinbar ist, da man kaum Selbstbestimmung realisieren kann,wenn man die Ziele anderer verfolgt. Das ist ein Paradoxon – ähn-lich wie das kommunikationstheoretische Paradoxon »Sei spontan«und ähnlich der allgegenwärtigen Aufforderung, bitte »unaufgefordertden Ausweis vor(zu)zeigen«. Besonders prekär wird die subjektiveSituation des Kindes dann, wenn ihm die Erziehungsanforderungeinsichtig ist: Dann kann es nämlich schwer entscheiden, ob es in ei-genem Interesse oder nur sich fügend und sich unterwerfend handelt.

Ein nahe liegender Einwand ist die Frage, was daraus bei offen-sichtlicher Selbstschädigung des Kindes folge. Ich bestreite natür-lich nicht, dass man manchmal eingreifen muss: Die situative Nut-zung der lebensrettenden Macht, ein Kind daran hindern zu können,seine Kräfte mit einem 7-Tonner zu messen, hat mit der hier erörter-

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24 Im Übrigen ist daseine Fragestellung, vor deroben problematisierteMehrdeutigkeit des »Kon-formismus«-Konzeptstheoretische und praktischeRelevanz gewinnt.

25 Diese Überlegungenwurden in gemeinsamenDiskussionen entwickeltund in der angegebenenLiteratur dargelegt; ihreAkzentuierung hier verant-worte ich natürlich allein.Vgl. Klaus Holzkamp: »Wedon’t need no education...«,in: Forum Kritische Psycho-logie 11, 1983 b, 113-125;Ders.: Was kann man vonKarl Marx über die Erzie-hung lernen? Oder: Überdie Widersprüchlichkeit fort-schrittlicher Erziehung inder bürgerlichen Gesell-schaft, in: DemokratischeErziehung 1/1983 c, 52-59;Gisela Ulmann: Über denUmgang mit Kindern. Orien-tierungshilfen für den Erzie-hungsalltag, Hamburg 2003.

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ten Erziehungs- und Erziehungsziel-Problematik nichts zu tun: Manwürde das wohl auch bei einem schlecht sehenden Erwachsenen ma-chen. Gleichwohl bleibt die Frage, ob Erziehende nicht doch mehrals die Kinder wissen? Die Gegenfrage ist: Ist es nicht gerade dieproblematisierte Erziehungsform, die uns daran hindert, dass wir un-ser Wissen, so wir es denn haben, auch nutzbringend anbringen kön-nen. (Wahrscheinlich kennt jeder Beispiele aus dem eigenen Er-wachsenen-Dasein, in denen ein erziehungsförmig erteilter Rat, vorallem in ironischer Verpackung, es schwer macht, ihn anzunehmen.).

Das heißt: Mit der Alternative »Erziehung vom besseren Wissen aus«versus »gar nichts tun« stehen wir vor einer falschen Alternative. Zufragen ist vielmehr, wie man Kinder unterstützen, sie kritisieren und mitihnen zusammenleben kann, ohne in die Erziehungsform zu geraten.

Dazu ist es aus kritisch-psychologischer Sicht erforderlich, sichvon der Auffassung zu verabschieden, dass die Erziehenden tatsäch-lich besser wissen, was für die Kinder gut ist (unabhängig davon,welches umfassendere Weltwissen die Erwachsenen sonst habenmögen.) Denn in der Erziehungshaltung, wonach die Erwachsenenbesser wissen, was für das Kind gut sei (vgl. die Unterscheidung vonWohl/Wille und Bedarf/Bedürfnis oben), ist die kindliche Subjekti-vität in ihrer Eigenheit ausgeklammert26, da Entwicklung die Ände-rung eines als problematisch empfundenen Zustandes in Richtungauf Verfügungserweiterung ist (weswegen ich oben die umstands-lose Reihung von »Formung« und »Entwicklung« problematisierte).Es müsste demgemäß seitens der Erwachsenen, soweit sie mit Prob-lemen von Kindern befasst sind, darum gehen, dazu beizutragen,gegebene Widersprüche zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit beiKindern zu klären, mit dem Ziel, den subjektiv notwendig nächstenSchritt des Kindes herauszuarbeiten.

Diese Argumentation versteht sich allerdings als das Gegenteil ei-ner Normsetzung und will den zentralen psychologischen Umstandberücksichtigen, dass man aus der Außensicht grundsätzlich nichtwissen kann, was der subjektiv notwendige, das heißt auch emotio-nal subjektiv nächste Schritt eines Kindes, allgemeiner eines ande-ren Menschen, ist. Ebenso zentral ist, dass Kinder (oder eben auchErwachsene) sich womöglich selber darüber im Unklaren sind bzw.sich erst darüber klar werden müssen. Die Psychologie hat ja rechteigentlich damit zu schaffen, dass in kritischen Situationen Gründeund Konsequenzen unseres Handelns nicht auf der Hand liegen, son-dern dass wir sie gegen Vordergründigkeiten, Selbsttäuschungen etc.erst herausarbeiten müssen (weswegen von wem auch immer als ob-jektiv deklarierte Notwendigkeiten nicht einfach subjektiv herunter-konkretisiert werden können). Das ist beileibe kein erziehungs- bzw.kindspezifisches Problem. Die kognitiven und emotionalen Spezifikakindlicher Entwicklung und Probleme können aber erst in diesemkategorialen Rahmen zur Geltung gebracht werden, nicht außerhalbeines subjektwissenschaftlichen Rahmens. Denn wie immer das Aus-maß bestimmt werden kann, in dem Menschen an gesellschaftlichenVeränderungen beteiligt sind: »Die relativierende Rede von Artenund Graden der ›Subjekthaftigkeit, Subjektivität‹ etc. ist also selbstwieder zu relativieren aufgrund der Einsicht, dass die Spezifik desMenschen als ›Subjekt‹ unreduzierbar und uneliminierbar ist.«27

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26 Dass Erwachsene –etwa als Sozialarbeiterinnenund Sozialarbeiter oderLehrerinnen und Lehrer – indie Situation gebracht sind,für Kinder entscheiden zumüssen, ist eine davon zutrennende und dann erst inihrer institutionellen Eigenartzu behandelnde Frage.

27 Klaus Holzkamp:Grundlegung … a. a.O.,S. 338.

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Dass man aus der Außensicht nicht weiß, was der subjektiv notwen-dig nächste Schritt eines Kindes ist, bedeutet demgemäß keines-wegs, dass dies überhaupt nicht klärbar ist, sondern nur, dass mansich durch die Erziehungsform die – intersubjektive – Klärbarkeit(und Unterstützungsmöglichkeit) erschwert bis verstellt. WennGründe und Konsequenzen von Handlungen gegen Vordergründig-keiten, Selbsttäuschungen erst herausgearbeitet werden müssen,dann gilt das auch für Kinder. Wer redet mit anderen über Probleme,wenn er Sanktionen, Besserwisserei, Ironie oder »Zwang« erwartenmuss? Warum sollten sich Kinder Erwachsene, die so reagieren, zuGesprächs- und Bündnispartnern machen?

Erziehung und insbesondere Erziehungsziele gehören offenkundigzur Lebensperspektive der Erziehenden. Dahinter stehen letztlich(von diesen vertretene bzw. zu vertretende) Normen, wie ein Kind zusein habe. Erziehende haben bei ihrer Erziehung selber ein Interessedaran, mit den Normen, die sie vertreten und denen sie in gewisserWeise auch selber unterliegen, nicht in Konflikt zu geraten; sie ha-ben ein eigenes Interesse, mit der »Produktion« oder »Formung« ei-nes aus der Außensicht tadellosen Kindes auch ihre eigene Tadello-sigkeit, Bedeutung und Leistung als Erziehende zu beweisen. DiesesInteresse legt die administrative Fiktion der Gradlinigkeit von Ent-wicklung nahe – die wir aber nach unserer Entwicklungskonzeptionnicht allgemein erwarten können. Entwicklungen können durchausin Form ihres Gegenteils stattfinden. (So kann eine Lernverweigerungin der Schule die subjektive notwendige Realisierungsvorausset-zung von Lernmöglichkeiten innerhalb und außerhalb der Schulesein.)28

Kindern in ihren Lebens-Widersprüchen Unterstützung geben zukönnen, eigene Erfahrungen für Kinder tatsächlich nutzbar machenzu können, bedeutet, mit ihnen so zusammen zu leben, dass sie ei-nen Rat annehmen können. Was allerdings ist ein Rat? Ein Rat istwesentlich dadurch definiert, dass man ihn ablehnen kann.

Umgang von Erwachsenen mit Kindern hat also günstigenfalls mitUnterstützung zu tun, nicht mit »Formung«. Ein Problem in der bür-gerlichen Gesellschaft besteht diesbezüglich aber darin, dass es einesozusagen reine Unterstützung zur Selbstbestimmung nicht gebenkann, weil ein selbstbestimmtes Leben in einer Welt von Zwängenund Fremdbestimmung gar nicht möglich ist. Jede Hilfe bei der Vor-bereitung auf eine selbständige (nicht selbstbestimmte) Existenz istimmer auch Vorbereitung auf Verwertbarkeit, auf Anpassung, aufUnterwerfung, die möglicherweise als kindliches Interesse mystifi-ziert werden. Wer beispielsweise in der Schule gute Noten erhält, er-hält sie auch deswegen, weil er oder sie nicht täuscht, indem er odersie anderen unzulässige Hilfen gibt; in der Schule zurechtzukom-men, bedeutet immer auch in Verhältnissen zurechtzukommen, dieauch durch Selektion und Konkurrenz bestimmt sind.

In dem Maße, in dem Erziehungsförmigkeit aufzuheben ist in ei-ner humanen intersubjektiven Beziehung, tritt die im Titel erhobeneFrage, wer eigentlich Erziehung brauche, zurück. Wenn die Prob-leme, die in der Erziehung durchschlagen, letztlich gesellschaftlichesind, wären sie Probleme von Erwachsenen und Kindern, die ja, jeverschieden, dennoch grundsätzlich in derselben Gesellschaft leben,

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28 Eine gewisse Beden-kenlosigkeit, die eigenePerspektive zum Maßstabzu machen, und eine ge-wisse Rücksichtslosigkeitvon Erzieherinnen undErziehern gegenüber kind-lichem Eigen-Sinn, lassensich leichter vertreten, wennKindheit nur als Vorphasedes eigentlichen Lebensgilt, so dass eine gewisseGeringschätzung kindlicherGlücks- und Lebensan-sprüche gegenüber demspäteren Leben legitimerscheint.

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deren Probleme weder den Kindern noch den Erziehern persönlichin die Schuhe geschoben werden sollten.

Eine Kritische Psychologie will und kann Menschen nicht sagen,wie sie zu leben haben, weil Emanzipation nicht als fremdgesetzteNorm oder Normierung / Formierung gedacht werden kann. Der Stand-punkt der Kritik der Kritischen Psychologie – als marxistischer Sub-jektwissenschaft – sind nicht perfekte Menschen in beliebigen Ver-hältnissen, sondern Verhältnisse, in denen der Mensch – mit Marxgesprochen – nicht mehr »ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein ver-lassenes, ein verächtliches Wesen« ist, Verhältnisse, »worin die freieEntwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung al-ler ist«. Sofern diese Perspektive – gedanklich oder real – verallge-meinerbar ist, steht sie einer normativen Fassung von Erziehung ent-gegen. Standpunkt der Kritischen Psychologie ist also Kritik dergesellschaftlichen Verhältnisse, nicht eine Norm für die, die darinleben. Darin, so schätze ich, dürften Armin Bernhard und ich uns ei-nig sein – die Differenz besteht darin, wie man Kinder dazu gewin-nen kann, diese Perspektive zu teilen.

Wenn die Perspektive der Veränderung die Perspektive der Verän-derung der Gesellschaft ist, dann kann Erziehung nur als von ihrerproblematischen Form befreites Moment des Zugangs zur – kom-plizierter (und derzeit auch kälter) werdenden – Welt gedacht wer-den. Dagegen verschiebt die anfänglich erwähnte neue Erziehungs-debatte auf Erziehung und Erziehende, was eigentlich Problemgesellschaftlicher Widersprüche ist.

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