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1/2004 ISSN 0945-6627 11. Jahrgang Mitherausgeber: Prof. Dr. Hans Albert (Heidelberg) Prof. Dr. Gerhard Besier (Heidelberg) Prof. Dr. Dieter Birnbacher (Düsseldorf) Prof. Dr. Noel Felici (Grenoble) Prof. Dr. Dietrich Grille (Erlangen) Prof. Dr. Rainer Hegselmann (Bayreuth) Prof. Dr. Hans Henning (Weimar) Prof. Dr. Horst Herrmann (Münster) Prof. Dr. Eric Hilgendorf (Würzburg) Prof. Dr. Norbert Hoerster (Mainz) Prof. Dr. Bernulf Kanitscheider (Gießen) Prof. Dr. Mark Lindley (Boston) Prof. Dr. Erich H. Loewy (Sacramento) Prof. Dr. Hubertus Mynarek (Odernheim) Prof. Dr. Johannes Neumann (Tübingen) Prof. Dr. Vallabhbhai J. Patel (Neuburg) Prof. Dr. Gerard Radnitzky (Trier) Prof. Dr. Hans-Martin Sass (Bochum) Prof. Dr. K. A. Schachtschneider (Nürnberg) Prof. Dr. Hermann J. Schmidt (Dortmund) Prof. Dr. Peter Singer (Princeton) Prof. Dr. Ernst Topitsch (Graz) Prof. Dr. Gerhard Vollmer (Braunschweig) Prof. Dr. Franz M. Wuketits (Wien) Aufklärung und Kritik Internet-Publikation Dr. Harald Lemke Feuerbachs Stammtischthese oder zum Ursprung des Satzes: „Der Mensch ist, was er isst“ Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie Herausgegeben von der Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg

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Page 1: Aufklärung und Kritik · Aufklärung und Kritik 1/2004 117 Dr. Harald Lemke (Hamburg) Feuerbachs Stammtischthese oder zum Ursprung des Satzes: „Der Mensch ist, was er isst“

1/2004 ISSN 0945-6627 11. Jahrgang

Mitherausgeber:Prof. Dr. Hans Albert (Heidelberg)Prof. Dr. Gerhard Besier (Heidelberg)Prof. Dr. Dieter Birnbacher (Düsseldorf)Prof. Dr. Noel Felici (Grenoble)Prof. Dr. Dietrich Grille (Erlangen)Prof. Dr. Rainer Hegselmann (Bayreuth)Prof. Dr. Hans Henning (Weimar)Prof. Dr. Horst Herrmann (Münster)Prof. Dr. Eric Hilgendorf (Würzburg)Prof. Dr. Norbert Hoerster (Mainz)Prof. Dr. Bernulf Kanitscheider (Gießen)Prof. Dr. Mark Lindley (Boston)Prof. Dr. Erich H. Loewy (Sacramento)Prof. Dr. Hubertus Mynarek (Odernheim)Prof. Dr. Johannes Neumann (Tübingen)Prof. Dr. Vallabhbhai J. Patel (Neuburg)Prof. Dr. Gerard Radnitzky (Trier)Prof. Dr. Hans-Martin Sass (Bochum)Prof. Dr. K. A. Schachtschneider (Nürnberg)Prof. Dr. Hermann J. Schmidt (Dortmund)Prof. Dr. Peter Singer (Princeton)Prof. Dr. Ernst Topitsch (Graz) �Prof. Dr. Gerhard Vollmer (Braunschweig)Prof. Dr. Franz M. Wuketits (Wien)

Aufklärung und Kritik

Internet-Publikation

Dr. Harald Lemke

Feuerbachs Stammtischtheseoder zum Ursprung des Satzes:„Der Mensch ist, was er isst“

Zeitschrift für freies Denken und humanistische PhilosophieHerausgegeben von der Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg

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Dr. Harald Lemke (Hamburg)

Feuerbachs Stammtischthese oder zum Ursprung des Satzes:„Der Mensch ist, was er isst“

Mit Ludwig Feuerbach wenden wir unsdem Denker und Autor des wohl meistzi-tierten gastrosophischen Satzes zu; derThese: „Der Mensch ist, was er isst.“ Da-bei bleibt es ganz ungereimt, wieso eineinhaltliche Beschäftigung mit seiner kri-tischen Theorie der menschlichen „Essis-tenz“ bis heute ausgeblieben ist. Kaum ei-ner kennt die philosophischen Hintergrün-de dieses verbreiteten Diktums.1 Von demgesamten Werk Feuerbachs hat sich dieRezeption fast ausschließlich seiner Reli-gionskritik gewidmet.2 Und selbst nochdie vereinzelten Versuche, die sich mitseiner Philosophie der Leiblichkeit ausein-andersetzen, lassen Feuerbachs wegwei-sende Gedanken zu einer gastrosophischenAnthropologie unerwähnt.3

Grundsätze einer Philosophie der Zu-kunft: a ventre principiumDer Mensch ist, was er isst – in diesersprichwörtlich gewordenen Formel kom-primiert Feuerbach eine bahnbrechendeund (im ursprünglichen Wortsinn) radi-kale Kritik an den anthropologischenGrundprämissen des philosophischenDenkens von Platon über Descartes bisHegel, dessen Vorlesungen der jungeQuerdenker besucht. Unter dem Bannereines ‹Materialismus› gräbt Feuerbach dentragenden Säulen der traditionellen Philo-sophie das klassische Fundament ab: Je-nem alten, „supranaturalistischen“ Idealis-mus, welcher für die Trennung und Über-höhung der Seele gegenüber dem Leib, desGeistes gegenüber dem Körper, der Ver-nunft gegenüber der Natur, des Bewusst-

seins gegenüber dem Sein sorgt. In der1846 erschienenen Streitschrift «Widerden Dualismus von Leib und Seele,Fleisch und Geist» wettert der stürmischeNeuerer, dessen Schriften seine Zeitgenos-sen Karl Marx und Friedrich Engels – trotzaller Unterschiede – als „eine wirklichetheoretische Revolution“ erleben4 , gegendie idealistische Vorstellung, wonach sichdie menschliche Wirklichkeit allein imGeiste abspielt: „Der Leib ist die Existenzdes Menschen; den Leib nehmen, heißt dieExistenz nehmen; wer nicht mehr sinn-lich ist, ist nicht mehr.“5 Die »Grundsät-ze der Philosophie der Zukunft« formu-lieren das Programm einer systematischenAufwertung der bislang verachteten undentwürdigten menschlichen Sinnlichkeitbzw. Leiblichkeit: „Wenn die alte Philo-sophie zu ihrem Ausgangspunkt den Satzhatte: Ich bin ein abstraktes, ein nur den-kendes Wesen, der Leib gehört nicht zumeinem Wesen; so beginnt dagegen dieneue Philosophie mit dem Satze: Ich binein wirkliches, ein sinnliches Wesen; jader Leib in seiner Totalität ist mein Ich,mein Wesen selber. Der alte Philosophdachte daher in einem fortwährenden Wi-derspruch und Hader mit den Sinnen, umdie sinnlichen Vorstellungen abzuwehren,die abstrakten Begriffe nicht zu verunrei-nigen; der neue Philosoph dagegen denktim Einklang und Frieden mit den Sin-nen.“6 Zu seinem Programm einer eman-zipatorischen Sinnlichkeit erläutert dermaterialistische Dialektiker Feuerbachweiter, die alte Philosophie gestünde dieWahrheit der Sinnlichkeit durchaus ein,

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aber nur versteckt, „nur begrifflich, nurunbewußt und widerwillig, nur weil siemusste“. Im Widerspruch zu dieser ratio-nalistischen Verfälschung der menschli-chen Sinnlichkeit anerkennt seine, dieneue Philosophie „die Wahrheit der Sinn-lichkeit mit Freuden, mit Bewußtsein: sieist die offenherzig sinnliche Philosophie.“(ebd.) Entscheidend für die vorliegendeBetrachtung ist nun die Tatsache, dassFeuerbach diese neue Philosophie anhandder Sinnlichkeit des Essens konkretisiert:„Sinnlich ist der berauschende Wein, abersinnlich ist auch das ernüchternde Was-ser, sinnlich ist die Üppigkeit und Schwel-gerei eines Alkibiades, aber sinnlich istauch die Armut und Barfüßigkeit einesPhokion; sinnlich ist die Gänseleberpaste-te, an der der Materialist La Mettrie starb,aber sinnlich sind auch die Gerstenklößeund die schwarze Suppe spartanischerEnthaltsamkeit.“7 So basiert – wie wir imweiteren sehen werden – der Satz, ‹derMensch ist, was er isst›, auf der bislangnicht rezipierten Feuerbach-These: DiePhilosophen haben das Essen nur ver-schieden negiert; es kommt aber daraufan, es zu verändern.In seiner euphorischen Besprechung deszu dieser Zeit gerade erschienenen Buches»Lehre der Nahrungsmittel« von JakobMoleschott, der in einer populärwissen-schaftlichen Sprache die Resultate der mo-dernen (Stoffwechsel-)Chemie und Ernäh-rungsphysiologie präsentiert, führt Feuer-bach aus: „Ich beginne meine Denunzia-tion mit der Philosophie und behaupte, daßdiese Schrift, obgleich sie nur von Essenund Trinken handelt, den in den Augenunserer supranaturalistischen Scheinkulturniedrigsten Akten, doch von der höchstenphilosophischen Bedeutung und Wichtig-keit ist. Ja, ich gehe weiter und behaupte,

daß nur sie die wahren ‹Grundsätze derPhilosophie der Zukunft› und Gegenwartenthält, daß wir in ihr die schwierigstenProbleme der Philosophie gelöst finden.“8

Entsprechend dieser programmatischenUmwertung der Werte und Neubestim-mung der philosophischen Grundbegriffereformuliert Feuerbach die gastrosophi-schen Grundsätze eines anthropologischenMaterialismus: „Was haben sich nichtsonst die Philosophen den Kopf zerbro-chen mit der Frage von dem Bande zwi-schen dem Leibe und der Seele! ... Washaben sich nicht die Philosophen mit derFrage gequält: Was ist der Anfang derPhilosophie? Ich oder Nicht-Ich, Bewußt-sein oder Sein? Oh, ihr Toren, die ihr vorlauter Verwunderung über das Rätsel desAnfangs den Mund aufsperrt und dochnicht seht, daß der offene Mund der Ein-gang ins Innere der Natur ist, daß die Zäh-ne schon längst die Nüsse geknackt ha-ben, worüber ihr noch heute euch vergeb-lich den Kopf zerbrecht!“ Aus dieserontologischen Kehre im Seinsprinzip lei-tet sich eine radikale Forderung auch fürdas Erkenntnisprinzip ab: „Damit mußman anfangen zu denken, womit man an-fängt zu existieren. Das principium essen-di ist auch das principium cognoscendi.Der Anfang der Existenz ist aber die Er-nährung, die Nahrung also der Anfang derWeisheit. Die erste Bedingung, daß duetwas in dein Herz und deinen Kopfbringst, ist, daß du etwas in deinen Ma-gen bringst. »A Jove principium« [vonJupiter der Anfang], hieß es sonst, aberjetzt heißt es: »A ventre principium« [vomBauch der Anfang].“ (Die Naturwissen-schaft und die Revolution, a.a.O.: 222)

Die Nähe von Feuerbachs gastrosophi-scher Archäologie zu Epikurs Hedonis-

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mus der Weisheit des göttlichen Bauchesist kaum zu übersehen. Angesichts derfortgesetzten Denunziation und Verun-glimpfung der epikureischen Ethik desguten Lebens von Seiten der akademi-schen Philosophen und herrschenden Mo-ralhüter antizipiert Feuerbach auch fürseine radikale Kritik und Erneuerung zuerwartende Entrüstungen und Vorhaltun-gen: „Also ums Essen und Trinken han-delt es sich auch bei der Frage von derIdealität oder Realität der Welt?, ruft ent-rüstet der Idealist aus.“ Tatsächlich mussteFeuerbach bekanntlich die Radikalität sei-nes Denkens mit dem Verlust eines ‹gu-ten Rufs› und der Suspension von seineruniversitären Berufstätigkeit bezahlen.Verständlicherweise schimpft der zu Un-recht Marginalisierte zurück, indem er dieintrigante Doppelmoral seiner Kollegenattackiert: „Welche Gemeinheit! WelcherVerstoß gegen die gute Sitte, auf dem Ka-theder der Philosophie über den Materia-lismus aus allen Leibeskräften zu schimp-fen, dafür aber am table d´hôte von gan-zem Herzen und von ganzer Seele demMaterialismus im gemeinsten Sinne zuhuldigen!“ (Über Spiritualismus und Ma-terialismus, a.a.O.: 179)Trotz der Anfeindung und Missachtungdurch das Establishment insistiert Feuer-bach unbeirrt auf seine gastrosophischeAnthropologie der menschlichen Existenz:„Das Sein ist eins mit dem Essen; Seinheißt Essen; was ist, ißt und wird geges-sen.“ (Die Naturwissenschaft und dieRevolution, a.a.O.: 222) Die idealistischeBestimmung des Menschen als Subjekt,welchem die Welt als Objekt bloß äußer-lich gegenüberstellt und seiner tatkräfti-gen Herrschaft als bloß passive Materieunterwirft, hält er die unzertrennliche,dynamische Einheit von Subjekt und Ob-

jekt, Mensch und Welt in seiner natürli-chen Essistenz entgegen: „Essen ist diesubjektive, tätige, Gegessenwerden dieobjektive, leidende Form des Seins, aberbeides unzertrennlich. Erst im Essen er-füllt sich daher der hohle Begriff desSeins...“ (ebd.)9 Aus der Sicht einergastrosophischen Anthropologie kommteine elementare, bis dato unbegriffeneDimension des Menschseins in den Blick,die menschliche Ess-existenz oder Essis-tenz: die Tatsache, dass der Mensch es-sentiell durch Essen existiert und diesdie (im Vollsinne des Wortes) substanzielleWahrheit des Wesens seines leiblichenSeins ist, oder, in Feuerbachs Formel aus-gedrückt: Der Mensch ist, was er isst. DieEssenz seiner Existenz als Essender ist dieEssistenz. In einer Redewendung, die heu-te nur noch mit Marxens Kritik an Hegelsspekulativem Idealismus in Verbindunggebracht wird, fasst Feuerbach seine re-volutionäre Philosophie zusammen: „Diealte Welt stellte den Leib auf den Kopf,die neue setzt den Kopf auf den Leib; diealte Welt ließ die Materie aus dem Geiste,die neue läßt den Geist aus der Materieentspringen. Die alte Weltordnung wareine phantastische und verkehrte, die neueist eine natur- und ebendeswegen ver-nunftgemäße. Die alte Philosophie begannmit dem Denken, sie »wußte nur die Gei-ster zu vergnügen und ließ darum die Men-schen ohne Brot«, die neue beginnt mitEssen und Trinken.“ (ebd.)

Zur Freiheit der menschlichen Essis-tenz und wahre Universalität des Ge-schmackssinnsMit der Grundlegung einer gastrosophi-schen Anthropologie verbindet Feuerbachentsprechende konzeptuelle Konsequen-zen auch für die Moraltheorie und deren

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Freiheitsbegriff. Während die moralphi-losophische Tradition die menschlicheFreiheit (des Willens) in dem strikten undkategorischen Gegensatz zur natürlichenNotwendigkeit des Essens und der damitverbundenen leiblichen Bedürfnisse denkt,widerspricht eine gastrosophische Ethikdiesem unbegründeten Dogmatismus: „Ichkann z.B. von dieser oder jener Speise»abstrahieren«, aber nicht von jeder Spei-se, nicht von der Speise überhaupt; ichmuß essen, wenn ich nicht zugrunde ge-hen will. Aber diese Notwendigkeit emp-finde ich, solange ich wenigstens noch beiVerstand und Natur bin, nicht im Wider-spruch mit meinem Wesen und Willen;denn ich bin nun einmal ein der Nahrungbedürftiges Wesen. Ich kann mich nichtohne dieses Bedürfnis denken, und es fälltmir daher auch gar nicht ein, meine Frei-heit in die Abwesenheit oder Verneinungdesselben zu setzen.“ (Über Spiritualismusund Materialismus: 232)Es gibt eine Freiheit im Essen, nicht vomEssen: Erst wenn man sich klarmacht, dassder Umstand, aus physischer Notwendig-keit essen zu müssen, den Menschendurchaus nicht die praktische Freiheitraubt, selbst zu bestimmen und selbst zugestalten, was sie essen wollen, gewinntman einen allgemeinen ethischen Begriffder Esskultur als einer humanen Praxis derFreiheit. Insofern besteht die kulinarischeSelbsterfüllung unter anderem darin, „daßich diese oder jene Speise nicht essenkann, wenn ich sie nicht essen will; daßich nicht abhängig von gewissen Speisen,nicht unglücklich, nicht außer mir vor Är-ger bin, wenn ich sie entbehre; daß ichessen kann, was nur immer in die Sphäre,in die Gattung eines menschlichen Nah-rungsmittels fällt.“ (ebd.) Wegen diesesFreiheitsvermögens ist die menschliche

Essistenz gerade nicht gleichzusetzen mitder tierischen Bedürfnisbefriedigung,denn „der Magen des Menschen, so ver-ächtlich wir auf ihn herabblicken, ist keintierisches, sondern menschliches, weiluniversales, nicht auf bestimmte Artenvon Nahrungsmitteln eingeschränktesWesen. Eben darum ist der Mensch freivon der Wut der Freßbegierde, mit wel-cher das Tier über seine Beute herfällt.“(Grundsätze der Philosophie der Zukunft,a.a.O.: §53) Der traditionellen Polarisie-rung zwischen der Vernunft moralischerSelbstbestimmung und dem Essen als ani-malischem Trieb hält Feuerbach einengastrosophischen Freiheitsbegriff entge-gen, der allererst die Sittlichkeit und Ver-nunft der menschlichen Essistenz würdigt.Mit unausgesprochener Anspielung aufPlatons Rede vom Hungerbauch als wil-dem Tier heißt es in den Grundsätzen derPhilosophie der Zukunft: „Das sittlicheund vernünftige Verhältnis des Menschenzum Magen besteht daher auch nur darin,denselben nicht als ein viehisches, sondernmenschliches Wesen zu behandeln. Wermit dem Magen die Menschheit ab-schließt, den Magen in die Klasse der Tiereversetzt, der reduziert den Menschen imEssen zur Bestialität.“ (§53) So wenig, wieFeuerbach der konstruierten Antinomievon Freiheit des Willens versus Notwen-digkeit der Ernährung, menschlicher Ver-nunft versus animalischer Bedürfnisnaturfolgt, so sehr argumentiert er dafür, dieFreiheit des Menschen nicht durch dieGegenüberstellung von Sinnlichkeit undGeistigkeit zu begründen. Stattdessen gehtes um die anthropologische Einsicht, dasssich die menschliche Freiheit über „seinganzes Wesen“ (ebd.) erstreckt. Aufgrunddieser Ganzheitlichkeit oder Universalitätihres Wesens eignet den Menschen auch

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keine, auf bestimmte Bedürfnisse undReize genetisch und physiologisch vorpro-grammierte, sondern frei auszubildende,vergeistige Sinne: „Der Mensch hat nichtden Geruch eines Jagdhundes, eines Ra-ben; aber nur weil sein Geruch ein alleArten von Gerüchen umfassender, darumfreier, gegen besondere Gerüche indiffe-renter Sinn ist. Wo sich aber ein Sinn er-hebt über die Schranke der Partikularitätund seine Gebundenheit an das Bedürf-nis, da erhebt er sich zu selbständiger, zutheoretischer Bedeutung und Würde: uni-verseller Sinn ist Verstand, universelleSinnlichkeit Geistigkeit.“ (Grundsätze derPhilosophie der Zukunft, §53) Anschlie-ßend notiert Feuerbach einen Gedanken,der uns an dieser Stelle nicht weiter be-schäftigen kann: „Selbst die untersten Sin-ne, Geruch und Geschmack, erheben sichim Menschen zu geistigen, zu wissen-schaftlichen Akten.“ (ebd.)10

Gemeine Hausmannskost, alltäglicherFamilientisch, öffentlicher Festschmaus:gemeinschaftlicher GeschmackDer gastrosophische Irrtum und Unver-stand der traditionellen Moralphilosophienliegt darin begründet, wie Feuerbach in derleider unvollendet gebliebenen Studie«Zur eudämonistischen Ethik» erläutert,dass sie das offenkundig Gute einer ver-nünftigen und geschmackvollen Esspraxisfür ein rein subjektives Gutes ausgeben.Im deutlichen Gegensatz zu diesem be-haupteten subjektiven Relativismus ver-mag ein vorurteilsfreier Blick auf die rea-len Verhältnisse die normative Kraft desFaktischen zu erfassen, wonach der Le-bensgenuss des Wohlessens durchaus einmoralisch allgemeinfähiges, an und fürsich Gutes ist: „Die moralischen Hyper-physiker haben dem sinnlichen Genuß in

aristokratischem Gedankendünkel allesRecht, allen Anteil an moralischer Gesetz-gebung abgesprochen, weil er der Allge-meinheit ermangele, nur singulär und par-tikulär sei; und doch beweist jeder alltäg-liche Familientisch, jeder öffentliche Fest-schmaus, wo vielleicht sogar die in ihrenpolitischen, moralischen und religiösenMeinungen uneinigen Köpfe nur im gu-ten Essen und Trinken einig sind, daß esauch einen gemeinschaftlichen Geschmackgibt.“11 Allerdings räumt Feuerbach ein,dass sich unter bestimmten gesellschaftli-chen Bedingungen, die einen praktischenIndividualismus in Lebens- und Ge-schmacksfragen ermöglichen, die Allge-meingültigkeit dieses Glücksgutes insBeliebige und Partikulare subjektiviert.Dazu führt er aus: „Was übrigens denUnterschied des Geschmacks anbetrifft, sotritt dieser – und dies ist eine für die Sa-che des Glückseligkeitstriebes höchstwichtige Bemerkung – eigentlich erst her-vor auf dem Gebiete der aristokratischenKochkunst, der Gourmandise; er beziehtsich nicht auf die einfachen, notwendigen,allgemeinen, wenn auch nur, wie allesMenschliche, relativ allgemeinen, volks-tümlichen, landessittlichen Speisen. Wiesind im Genusse und Preise solcher Spei-sen alle Zungen und Herzen einstimmig!Nur wo der Kaviar oder sonst ein exoti-sches Reizmittel des Appetites den An-fang macht, hört der Gemeingeist desGeschmacks auf, wird der Geschmack undmit ihm die menschliche Glückseligkeitüberhaupt ‹subjektiv›, ‹partikulär› und‹singulär›, wozu ihn unsere spekulativenPhilosophen ohne Unterscheidung zwi-schen exquisiter table d´hôte und gemei-ner Hausmannskost gemacht haben.“ (ZurEthik: Der Eudämonismus, a.a.O.: 257)Insofern leugnet der Genusstheoretiker

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auch nicht, dass es unter allen Sinneninsbesondere der Sinn des Geschmacks ist,welcher die Wahrheit der Individualitätkundzutun vermag. Dem Geschmackssinnhat man „das Recht auf Individualität nichtstreitig gemacht, wie der allgemein aner-kannte Satz: ‹De gustibus non est dispu-tandum›, sattsam beweist.“ (Über Spiri-tualismus und Materialismus, a.a.O.: 105)Dieser faktische Subjektivismus des Ge-schmacks schließt im Prinzip jedoch nichtaus, dass auch eine delikate Speise, mit-hin jedes köstliche Produkt der verfeiner-ten Kochkunst genauso gut, wie konven-tionellerweise die gemeine Hausmanns-kost, zum Objekt eines gemeinschaftli-chen Geschmacks werden kann, insoferndie Individualität des Urteils sich nicht nurin der Verschiedenheit (Partikularität) derBeurteilung, sondern auch in einer Über-einstimmung mit anderen (Konvivialität)bestehen kann.12 Deshalb „hat und machtder Geschmack nicht weniger Anspruchauf Allgemeingültigkeit als die übrigenSinne.“ (ebd.) In diesem Kontext gibt Feu-erbach eine Anekdote aus der altchinesi-schen Philosophie wieder. So habe dernach Konfuzius größte Philosoph ChinasMenzius gesagt, ein Beamter aus Thsiunter dem Fürsten Wen-kong, ein berühm-ter Speisekünstler namens Y-ya, hätte zufinden gewußt, was allgemein dem Mun-de gefällt. Wäre sein Geschmacksorgandurch seine Natur von dem der andernMenschen verschieden gewesen wie vondem der Hunde und Pferde, die nicht mituns derselben Gattung sind, wie würdendann alle Menschen des Reichs in Sachendes Geschmacks mit Y-ya übereinstim-men? Jedermann hätte aber in Betreff derGenüsse mit Y-ya denselben Geschmack,weil der Geschmackssinn bei allen Men-schen ähnlich sei. (vgl. Spiritualismus und

Materialismus, a.a.O., 105) Mit anderenWorten: Die Individualität des Ge-schmackssinns schließt eine intersubjekti-ve Objektivität (subjektive Allgemeinheit)der Beurteilung nicht aus; an ihr haftet je-doch die Gefahr einer Borniertheit, wel-che die eigenen Erfahrungen und subjek-tiven Präferenzen unkritisch und unbe-gründet als Allgemeines anderen (und wi-der deren Erfahrungen und persönlichenPräferenzen) aufnötigt. In diesem Fall gilt,wie Feuerbach feststellt: „Jeder glaubtdaher, daß, was ihm wohlschmeckt undwohlbekommt, das müsse notwendig auchden andern wohlschmecken und wohlbe-kommen, und findet darum den Wider-spruch der Erfahrung mit dieser seinerVoraussetzung für ‹rein unbegreiflich›. Ja,der nicht über sich selbst hinaus denken-de, ohne Kritik und Unterscheidung vonsich auf andere schließende Mensch wen-det das compelle intrare (‘Nötige sie, her-einzutreten’) der alleinseligmachendenKirche auch auf die Speiseröhre an“.13

Diesem bornierten Subjektivismus im be-griffslosen Geschmacksurteil hält Feuer-bach einen gastrosophischen Pluralismusentgegen, der die Möglichkeit der indivi-duellen (geschmacksästhetischen) Freiheitrespektiert, dass manche „von dem Genus-se einiger Kirschen oder Johannisbeerenüber und über schwellen“ und andere In-dividuen, denen „der Kuchen ein Brech-mittel ist“ und wieder andere „Individu-en, die sogar das liebe heilige Brot nichtessen und vertragen können“. (Spiritua-lismus und Materialismus, a.a.O.: 106)Mithilfe dieser für die Gastrosophie zen-tralen Unterscheidung zwischen der prin-zipiellen Wahrheitsfähigkeit und Allge-meingültigkeit von freien Geschmacks-urteilen einerseits und dem präferenziellenSubjektivismus individueller Speise- und

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Geschmacksvorlieben andererseits unter-nimmt Feuerbach weitere Korrekturen angeläufigen Vorurteilen und verkürzendenDualismen, die dazu beitragen, den Be-reich des Kulinarischen als unphiloso-phisch zu diskreditieren.

Erst das Essen dann die Moral – desEssensSo wehrt sich der Hedonist gegen Kantsrigorose Trennung der Moral vom Glück,des sittlich Richtigen vom eudämonistischGuten (i.S. „des Angenehmen“ eines reinsubjektiven Wohlgefallens), und nimmtdarin aktuelle Diskussionen der philoso-phischen Moraltheorie vorweg. Wie dasAngenehme durchaus auch moralisch gutsein kann, so braucht umgekehrt auch dasmoralisch Richtige nicht nur unangeneh-me Pflicht, sondern kann auch wohlge-fällig und eine Lust sein – wie beispiels-weise die Praxis des guten Essens und dasGlück der Gaumenfreuden: „Die Selbst-erhaltung ist nach der Moral, auch nachder Kantischen, eine Pflicht; folglich istauch das Essen, als ein notwendigesSelbsterhaltungsmittel, Pflicht. Die Mo-ral hat nun, nach Kant, nur die der Pflichtder Selbsterhaltung entsprechenden Spei-sen zu ihrem Gegenstande, und Speisen,die zur Selbsterhaltung genügen, sindgute; der Glückseligkeitstrieb dagegen istein Gourmand, er geht nur auf Speisen,die angenehm sind, die den Gaumen kit-zeln, auf Leckerbissen aus, und Kant hatdaher recht: jeder hat seine eigene Glück-seligkeit, d.h. seine eigenen Leckerbissenund Lieblingsspeisen. Ist denn aber die-ser Leckerbissentrieb der natur- undpflichtmäßige, der demokratische, popu-läre Glückseligkeitstrieb? Stimmen nichtalle Menschen darin überein, daß sie vorallem ihren Hunger stillen wollen? Und

ist nicht die bloße Stillung des Hungerauch angenehm? Ist nur die Trüffelpasteteoder Mandeltorte des Kantischen Glück-seligkeitstriebes, nicht auch das trockeneBrot der Pflicht ein Leckerbissen, wennman hungrig ist? Ist das Brot nicht so gutwie die Torte ein Gegenstand des Glück-seligkeitstriebs?“ (Zur Ethik: Der Eudä-monismus, a.a.O.: 257) Feuerbachs Mo-raltheorie des Glücks lehrt für sich genom-men weder das trockene Brot noch dieMandeltorte oder Trüffelpastete; sie ver-fährt formal, indem sie – ohne inhaltlichvorzugeben, was jeder im einzelnen es-sen soll und welche Leckerbissen indivi-duell goutiert wird – schlichtweg ein all-gemein Gutes aufzeigt, dessen voller Ge-nuss glücklich macht. Entgegen der pla-tonischen Antiküche und christlich-aske-tischen Verachtung des kulinarischen Ge-nusslebens, entgegen aller eilfertigen Ein-wände und essensvergessenen Denkge-wohnheiten verbindet sich in einer gastro-sophisch geglückten Lebenskunst, gut es-sen zu wissen, Ethik mit Ästhetik: „DieMoral verdirbt und verübelt uns nicht ...den ästhetischen Geschmack, den Wohlge-schmack an guter geistiger und leiblicherNahrung. Es ist also nicht unmoralisch,Gutes zu essen“ (ebd.). Die hedonistischeEthik reduziert den Menschen nicht auf‹tierische› Funktionen, auf seine Leib-,Lust- oder Bedürfnisnatur, nicht darauf,nur zu leben um zu essen, wie immer wie-der behauptet wird. Feuerbachs sokrati-sche Gastrosophie erklärt das gute Essenzu einer moralischen Tugend, ohne es zumeinzigen Lebensinhalt zu verabsolutieren.„Es ist keineswegs unmoralisch, Lecker-bissen zu speisen, wenn man dazu dieMittel hat und darüber nicht andere Pflich-ten und Aufgaben versäumt.“ (ebd.)14 DieÄsthetik des guten Essens, wie sie von der

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eudämonistischen Ethik Feuerbachs ent-worfen wird, beinhaltet entsprechend ih-res Moralitätsprinzips einen Standpunktder sozialen Gerechtigkeit, welcher for-dert, die verfügbaren Nahrungsmittel mitanderen zu teilen. Auch in diesem gerech-tigkeitstheoretischen Sinne ist es mora-lisch gut, gut zu essen; „aber unmoralischist es, das Gute, das man sich gönnt, an-deren zu entziehen oder nicht zu gönnen,nur den eigenen, nicht auch den Glück-seligkeitstrieb der anderen als eine berech-tigte Macht theoretisch und praktisch an-zuerkennen, nicht das Unglück andererwie eine Verletzung des eigenen Glückse-ligkeitstriebes sich zu Herzen zu nehmen.Tätige Teilnahme an anderer Glück undUnglück ..., um womöglich, ... dem Übelabzuhelfen – das allein ist Moral.“ (ZurEthik: Der Eudämonismus, a.a.O.: 257)15

Von diesem gerechtigkeitstheoretischenStandpunkt aus ist es mit Feuerbachschließlich möglich, über eine sozialphilo-sophische Fassung des Menschenrechtsauf Nahrung hinaus zu gehen und denRechtsbegriff einer staatlichen Versorgungmit (bloß quantitativ) ausreichendem Es-sen durch den ethischen Begriff des (qua-litativ) guten, dem kulinarischen Wohl ge-mäßen Essen zu flankieren. Der gastroso-phische Moralbegriff des Wohlessens er-gänzt so das Grundrecht auf Sättigung (alsFreiheit von Hunger) durch den Glücks-aspekt des kulinarischen Genusses. Vondiesem moralischen Standpunkt aus fälltes Feuerbach nicht schwer, sich konzep-tuell stärker auf Marx’ Kritik der politi-schen Ökonomie als Ursache gesellschaft-lichen Übels und Hungerelends bzw. vonFehlernährung zu beziehen und auf denvon Marx und Engels vorgetragenen Ein-wand zu reagieren, sein anthropologischerMaterialismus würde die sozio-histori-

schen und politisch-ökonomischen Bedin-gungen für die praktische Freiheit eineralltäglichen Erfüllung des kulinarischenGlücks (unter anderem) außer Acht las-sen. So macht sich Feuerbach klar, dasseine „Majorität des Menschengeschlechts“nur von täglichem Brot leben muss undstellt unter dem Eindruck seiner Lektüredes wirkungsmächtigen Werkes seinesjüngeren Kollegen kapitalismuskritischfest: „Die Tugend bedarf ebenso gut wieder Körper Nahrung, Kleidung, Licht,Luft, Raum. Wo die Menschen so aufein-ander gepreßt sind, wie z.B. in den engli-schen Fabriken und Arbeitswohnungen,wenn man anders Schweineställe Woh-nungen nennen kann, wo ihnen selbstnicht der Sauerstoff der Luft in zureichen-der Menge zugeteilt wird – man verglei-che hierüber die wenigstens an unbestreit-baren Tatsachen interessanter, aber auchschauerlichster Art reiche Schrift von K.Marx: Das Kapital – da ist auch der Mo-ral aller Spielraum genommen, da ist dieTugend höchstens nur ein Monopol derHerren Fabrikbesitzer, der Kapitalisten.“16

Als Konsequenz aus dieser Einsicht machtsich der Marxist Feuerbach17 den kriti-schen Standpunkt einer materialistischenGesellschaftstheorie zu eigen. „Wo daszum Leben Notwendige fehlt, da fehltauch die sittliche Notwendigkeit. DieGrundlage des Lebens ist auch die Grund-lage der Moral. Wo du vor Hunger, vorElend keinen Stoff im Leibe hast, da hastdu auch in deinem Kopfe, deinem Sinneund Herzen, keinen Grund und Stoff zurMoral.“ (Zur Ethik: Der Eudämonismus,a.a.O.: 249) Deshalb steht für eine gesell-schaftskritische, materialistische Moral-philosophie außer Zweifel, „daß die not-wendigen Lebensmittel auch die notwen-digen Tugendmittel sind.“ (ebd.: 250)

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Die revolutionären Kräfte der Legumi-nosenEntgegen Marx’ legendärer 11. Feuer-bach-These spielt Feuerbach durchaus aufden revolutionären Gedanken an, dass eineVeränderung der gesellschaftlichen Le-bensverhältnisse und die Verwirklichungeiner besseren Welt möglich ist – freilichganz anders, als der Chefideologe der pro-letarische Klasse Marx denkt: nämlichdurch eine revolutionäre Ernährungspra-xis. Ähnlich, wie bereits der sozialistischeUtopist Charles Fourier18, realisiert Feuer-bach in seiner Auseinandersetzung mitMoleschotts naturwissenschaftlicher Er-nährungslehre die „wichtige ethische undpolitische Bedeutung der Lehre von denNahrungsmitteln“. (Zur Ethik: Der Eudä-monismus, a.a.O.: 229) Das revolutionä-re Potential der Esspraxis soll in das poli-tische Programm einer verbesserten Er-nährungspolitik münden, die den existen-ziellen Zusammenhang zwischen Lebenund Essen im Sein des ethischen Gutenrealisiert. In diesem Kontext findet sichjene Stelle, wo Feuerbach seinen berühmtgewordenen Satz erstmals notiert: „Wolltihr das Volk bessern, so gebt ihm stattDeklamationen gegen die Sünde bessereSpeisen. Der Mensch ist, was er ißt.“(ebd.)Der gastrosophische Revolutionär Feuer-bach attackiert als den größten Gegenspie-ler und die wirkungsstärkste Macht reak-tionärer Gesinnung – die Kartoffel. In dempopulären Knollgewächs erkennt er aus er-nährungsphysiologischen Gründen19 ein„unmenschliches und naturwidriges Nah-rungsmittel“, sofern die Kartoffel das ein-zige oder doch hauptsächliche Nahrungs-mittel ist. In der programmatischen Ver-achtung der Kartoffel-Stärke weiß sichFeuerbach mit Leibniz und Goethe in be-

ster Gesellschaft.20 Im gleichen Geiste,wie 50 Jahre später die italienische Künst-lergruppe der Futuristen gegen die Nudel-kultur als wahre Ursache für den sittlich-geistigen Zerfall ihres Landes kämpft,sieht der von der neuen positivistischenNaturwissenschaft naiv begeisterte Philo-soph in der Kartoffel nicht die hochgeprie-sene Quelle der (preußischen) Stärke, son-dern im Gegenteil den eigentlich tragi-schen Grund für die unpolitische Schwä-che, allgemeine Trägheit und geistlose Un-tertänigkeit der Deutschen, welche – des-halb – die historische Chance der 1848erRevolution verpassten. Seine eigenwilli-ge Analyse der historische Ereignisse lau-tet: „Daher auch bei uns der Sieg der Re-aktion, der schmähliche Verlauf und Aus-gang unserer sogenannten Märzrevoluti-on; denn auch bei uns besteht der größteTeil des Volks nur durch und aus Kartoffel-stopfern.“ (Die Naturwissenschaft und dieRevolution, a.a.O.: 229) Gegen diesesElend ist aber ein Kraut gewachsen: Ret-tung und ein echtes Potential an revolu-tionären Kräften sieht der utopistische Tro-phologe greifbar nahe. Den konzeptuellenFormalismus seiner materialen Moraltheo-rie des Guten ignorierend propagiert er dasprimitiv-materialistische Schlaraffenlandder grenzenlosen Leguminosen: „Ja, esgibt einen Stoff, der der Bürge einer bes-sern Zukunft ist, den Keim zu einer neu-en, wenn auch langsamen und allmähli-chen, aber um so solidern Revolution ent-hält: Es ist der Erbsenstoff. Er zeichnetsich durch seinen Reichtum an Phosphoraus, das Gehirn aber kann ohne phosphor-haltiges Fett nicht bestehen, er ist überdemein eiweißartiger Körper, und zwar einsolcher, der nicht nur den Klebergehalt desBrotes, sondern auch den im Fleisch ent-haltenen Faserstoff bedeutend übertrifft.“

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(ebd.)21 Auch wenn sich diese kommuni-stische Utopie der fleischlos-satten Bäu-che, zugegebenermaßen und zurückhal-tend gesagt, grotesk ausnimmt und weitphantastischer klingt, als die alternativeVersion – Marxens Hoffnung auf den Auf-stand der arbeitenden Massen in ihremVerlangen nach besseren Lebens- (und Er-nährungs-)bedingungen –, so belässt esFeuerbach immerhin nicht dabei, die re-volutionäre Praxis nur von den anderen,„den armen Schluckern“, den proletari-schen Kartoffelstopfern und Kartoffel-opfern,22 zu erwarten. Sein Manifest derplanetarischen Diät – im übrigen ein Tag-traum, dem heute noch nachgehangenwird23 – richtet sich ausnahmslos an alleund jeden, mithin an sich selbst und sei-nesgleichen. „Auch wir, die wir unver-dienterweise so glücklich sind, nicht al-lein von Kartoffeln zu leben, müssen dieLehre der Nahrungsmittel zu unsererRichtschnur nehmen, wenn wir einen gu-ten Grund zu einer neuen Revolution le-gen wollen. Die Diät ist die Basis derWeisheit und Tugend, der männlichen,muskelkräftigen, nervenstarken Tugend;aber ohne Weisheit und Tugend gedeihtkeine Revolution.“ (Die Naturwissen-schaft und die Revolution, a.a.O.: 230)Bemerkenswerterweise gibt die Philoso-phiegeschichte keinerlei aufschlussreicheAuskünfte über Feuerbachs eigene Kücheund den Bauch dieses Philosophen zu be-richten. (Ein Sachverhalt, der ausnahms-weise Feuerbach mit Hegel und Marx eint,ganz im Unterschied zu den Selbstversor-gern Kant und Nietzsche: womit bereitsein versteckter Hinweis auf die nahe lie-genden Gründe gefallen ist.) Vermutlichaber würde sich, wüsste man mehr dar-über, nur der Verdacht bestätigen, dass hierkein kulinarischer Praktiker spricht, und

dass die vertretene politische Ethik undLebenskunst des guten Essens nicht mehrist, als ein gut gemeintes Schreibtischpro-dukt männlicher Weisheit und Tugend.Doch wenden wir uns einem anderen, er-giebigeren und der Entdeckung auch wür-digen Aspekt von Feuerbachs Philosophiezu: seinem gastrosophischen Natur-verständnis.

Menschwerdung der NaturFür Feuerbach impliziert die anthropolo-gische Einsicht, dass der Mensch essenmuss und Sein Essen heißt, eine naturphi-losophische Dimension. Denn in dem es-sistenziellen Wesen des Menschen zeigtsich, dass er ein Teil der Natur ist und einnatürliches Wesen inkarniert. Daraus folgt:Wie für das Subjekt die Nahrung der rea-le (materiale) „Anfang der Weisheit“ ist,„so ist notwendig auch der objektiv be-gründete Anfang, die wahre Basis derPhilosophie, die Natur.“24 Während derhistorische Materialismus von Marx diemenschliche Arbeit in der anthropologi-schen Beschreibung des Mensch-Natur-Metabolismus ins Zentrum rückt, setzt der‹naturalistische Anthropologe›, wie sichFeuerbach in diesem Kontext selbst be-zeichnet, bei der Ernährungspraxis an. Dernaturphilosophischen Fundierung seinerAnthropologie geht es folglich nicht dar-um, sich in die bodenlosen Spekulationeneiner theoretischen Naturbetrachtung zuverwickeln. An Sokrates’ und Hippokra-tes’ Kritik des spekulativen Naturbegriffsder traditionellen Metaphysik anknüpfend,begreift Feuerbach seine gastrosophischeAnthropologie als praktische Naturphilo-sophie: Eine philosophische Wissenschaft,die ihren erkenntnistheoretischen Aus-gangspunkt aus der Lebenspraxis (desEssens als Naturpraxis) herleitet. Dieses

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lebensweltliche Erkenntnisinteresse unddieser lebenspraktische Standpunkt derNaturphilosophie versteht sich indessennicht als zufälliger Ausdruck einer belie-bigen Weltanschauung oder eines persön-lichen Forschungsvorhabens, sondern istobjektiv begründet – eben in dem Anthro-pomorphismus eines metabolischen Na-turverhältnisses.25 Am deutlichsten erfasstMarx die fundamentalen gesellschafts-(bzw. agrar-)politischen und wissen-schaftstheoretischen Konsequenz diesesökologischen Grundgedankens: „DieSinnlichkeit (siehe Feuerbach) muß dieBasis aller Wissenschaft sein. ... DerMensch ist der unmittelbare Gegenstandder Naturwissenschaft.“ Und der avant-gardistische Umweltanthropologe Marxergänzt: „Die gesellschaftliche Wirklich-keit der Natur und die menschliche Na-turwissenschaft oder die natürliche Wis-senschaft vom Menschen sind identischeAusdrücke.“ (Nationalökonomie und Phi-losophie, a.a.O.: 245f.) Aber Feuerbachgebührt die Anerkennung, sich als ersterden naturphilosophischen Sachverhaltklargemacht zu haben, dass im – bezüg-lich seiner Existenzialität gewöhnlich un-terschätzten – essistenziellen Naturver-hältnis eine alltägliche und unerlässlicheMenschwerdung der Natur stattfindet:„Essen und Trinken ist die alltägliche, des-wegen nicht bewunderte, ja missachteteInkarnation, Menschwerdung, der Natur.“(Über Spiritualismus und Materialismus,a.a.O.: 218) Eine naturalistische Anthro-pologie macht sich mit dieser unspekta-kulären Einsicht, welche von der ideali-stischen Anthropologie gemeinhin über-gangen wird, einen fundamentalen (auchfundamental-ontologischen, metaphysi-schen) Sachverhalt des menschlichenSeins klar: Die menschliche Physis, das

Ich, ist ganz und gar einverleibte, zu Leibgemachte, menschlicher Leib gewordeneUmwelt. Feuerbach führt aus: „Das Ichist beleibt – heißt aber nichts anderes als:das Ich ist nicht nur ein Aktivum, son-dern auch Passivum. Und es ist falsch,diese Passivität des Ich aus seiner Aktivi-tät ableiten oder als Aktivität darstellen zuwollen.“ (Über den ‹Anfang der Philoso-phie›, a.a.O.: 72) Und zu diesem physi-schen Metabolismus ergänzend, heißt esan einer Stelle (wo Feuerbach eine bisheute fortbestehende Unentschiedenheit inder begriffliche Verwendung von ‹Leib›,‹Fleisch› oder ‹Körper› berührt): „Der we-sentlichste, der ursprünglichste, der not-wendig mit dem Ich verknüpfte Gegen-satz des Ich ist – der Leib, das Fleisch. ...Ja, das Fleisch oder, wenn ihr lieber wollt,der Leib, hat nicht nur eine naturhistori-sche oder empirisch-psychologische, erhat wesentlich eine metaphysische Bedeu-tung. Denn was ist der Leib anderes alsdie Passivität des Ich?“ (ebd.: 74)26

Mit der naturphilosophischen Erkenntniseiner (in diesem gastrosophischen Sinneverstandenen) meta-physischen Leibphä-nomenologie ausgerüstet, verfolgt Feuer-bach in vielen seiner Texte seinen Feld-zug gegen den Idealismus, oder wie ersagt, den Spiritualismus und Supranatu-ralismus der ‹alten Philosophie›. Das idea-listische Denken, das die Welt strikt inGeist und Natur, Seele versus Leib ent-zweit, verabsolutiere das „spekulativeIch“, einem „nur aus sich selbst allesschöpfenden Ich“ (ebd.: 73), das sich vonder Natur als „dem Anderen des Ich“, als„Nicht-Ich“ distanziere. In dieser Vorstel-lung stehe der Mensch, als Subjekt, derWelt, als Objekt (seines Denkens undTuns, seiner Macht und Herrlichkeit), reinäußerlich gegenüber. Diesem absoluten,

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leiblosen und unberührten Ich hält die‹neue Anthropologie› die objektive Pas-sivität des sinnlichen, sich ernährenden,verkörperten Ichs entgegen: „Allein dasIch ist keineswegs «durch sich selbst» alssolches, sondern durch sich als leiblichesWesen... Im Leib sein, heißt in der Weltsein.“ (ebd.) Mit dieser meta-physisch na-turphilosophischen Bestimmung des Leib-seins des Menschen und seiner „Wahr-heit“27 nimmt Feuerbach die Grundein-sicht der phänomenologischen Leibphilo-sophie vorweg, wie sie von Merleau-Pontyund anderen Autoren entwickelt wurde.28

Meta-Physik des porösen Ichs, Vorgangdes ObjektsDer entscheidende Punkt der wenig be-achteten, essistenziellen Herleitung vonFeuerbachs Leibphilosophie ist sicherlichder Gedanke der „porösen“ Natur desMenschen, unserer physisch-sinnlichenund metabolischen Offenheit zur Welt. ImAnschluss an die Feststellung, dass Leib-sein Weltsein heißt, notiert Feuerbach,dass das Ich „durch den Leib, der Weltoffen“ sei und fügt hinzu: „Soviel Sinne– soviel Poren, soviel Blößen. Der Leibist nichts anderes als das poröse Ich.“29

Es wurde zurecht darauf hingewiesen,dass sich Feuerbach mit der anthropolo-gischen Charakterisierung des Menschenals weltoffenem Wesen zwar zum scharf-sinnigen Vordenker einer zentralen Er-kenntnis sowie eines grundlegenden Be-griffs der ‹philosophischen Anthropolo-gie› gemacht hat, wie diese über ein hal-bes Jahrhundert später dann von Plessnerund Scheler entworfen wird, dennoch aberseine praktische Anthropologie nicht indem Kanon dieser philosophischen Tra-dition einzureihen sei (vgl. Schmidt,Emanzipatorische Sinnlichkeit, a.a.O.:

31). Die weltoffene Porosität des Körpersdient Feuerbach nicht zur Wesensbestim-mung des Menschen über eine biologisti-sche Abgrenzung gegenüber anderen Le-bewesen, wie beispielsweise PlessnersKonzept der „exzentrischen Positionali-tät“, oder über die Annahme einer „exi-stenziellen Entbundenheit vom Organi-schen“, wie Scheler den anthropologi-schen Begriff der „Weltoffenheit“ in sei-nem Hauptwerk «Die Stellung des Men-schen im Kosmos» postuliert. Mit derRede von der Porosität unseres leiblich-sinnlichen Wesens versucht Feuerbach dasphysische Ich in seiner empirischen Pas-sivität als natürliches Objekt bzw. ver-menschlichte Natur induktiv zu erfassen.Denn das beleibte Ich ist wesentlich inseiner Weltoffenheit ein Passivum, was „inWahrheit nichts anderes ausdrückt als dasunfreiwillige Gesetztsein des Ich von sei-ten des Objekts“. (Über den ‹Anfang derPhilosophie›, a.a.O.: 70) Der Gedankevom Vorrang des Objektes, den FeuerbachAdorno vermacht30, dezentriert die Hier-archie in der Verhältnisbestimmung vonSubjekt und Objekt, Mensch und Natur,wie sie die ‹alte›, idealistische Anthropo-logie mit ihrer Konstruktion vom absolutgesetztem, alles Sein nur aus dem eige-nen Geist schöpfendem, spekulativem Ichrechtfertigt. Wenn, wie Feuerbachs öko-logische Anthropologie darlegt, das „Pas-sivum des Ichs“ gleichbedeutend ist mitdem „Aktivum des Objekts“ – was insGastrosophische übersetzt nichts anderesmeint, als dass Nahrung und Essen dersubstanzielle Anfang des Seins sind undMenschwerdung (Subjekt) über die tägli-che Einleibung und transsubstanzialisierteInkarnation der Natur (Objekt) geschieht–, dann ist die Natur nicht das Andere desIchs. Vielmehr ist das physische Ich als

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Leib dieses Andere selbst, die Identität vonSubjekt und Objekt. Die Meta-Physik desweltoffenen Leibseins hat ihre substan-zielle Objektivität in und basiert auf demMetabolismus der objektiven Umwelt-(leib)lichkeit des Menschen als physi-schem Naturwesen. Auch wenn Feuer-bach keine geschlossene und ausgearbei-tete Anthropologie des menschlichen Um-weltseins liefert, kommt er – über seineSchriften verstreut – auf einzelne Elemen-te wie Luft, Licht, Wasser oder eben Es-sen, also auf solche Faktoren des Umwelt-‹einflusses› zu sprechen, welche uns stän-dig durchströmen und deren Substrat wirzu unserem Ich beleiben bzw. in unseremphysischen Zustand verkörpern. Andersgesagt: „Vor allem bin ich ein nicht ohneLicht, ohne Luft, ohne Wasser, ohne Erde,ohne Speise existierendes, ein von Naturabhängiges Wesen.“31 Für das gastroso-phische Anliegen bleibt an dieser Stellefestzuhalten, dass Feuerbachs naturphi-losophisch fundierte Anthropologie erst-mals wieder die hippokratische Erkennt-nis der Umweltleiblichkeit des Menschenausspricht. Bekannt geworden ist diese fürein ökologisches Selbstverständnis eben-so wie für ein umweltethisches Denkengrundlegende Einsicht lediglich in Marx’griffigen Formel von „der wahren Resur-rektion der Natur“, wonach der „vollen-dete Naturalismus = Humanismus“ undder „vollendete Humanismus = Naturalis-mus“ sei.32

Eine weitere Konsequenz, die sich ausFeuerbachs neuer Philosophie ergibt, be-trifft den Sachverhalt, dass ein gastroso-phischer Existenzialismus trotz dessenpraktischen Anthropomorphismus aufkein anthropozentrisches Naturverständ-nis hinausläuft, sondern umgekehrt eherdie normativen Grundlagen für eine mo-

ralische Anerkennung der Natur als Sub-jekt liefert. Dies hängt nicht zuletzt mitFeuerbachs Freiheitsbegriff zusammen,der auch hier durch einen radikal neuenGedanken die dualistischen Fundamenteder ‹alten Philosophie› untergräbt, dieFreiheit und Natur als Gegensatzpaardachte. In den «Vorläufigen Thesen zurReform der Philosophie» von 1842schreibt der ‹junge Wilde›: „Nur der neu-en Philosophie wird es gelingen, die Frei-heit, die bisher eine anti- und supranatu-ralistische Hypothese war, zu naturalisie-ren.“33Diese Naturalisierung des Freiheits-begriffs beinhaltet im Umkehrschluss,dass der normative Bezugspunkt einerphilosophischen Betrachtung der Naturkategorial durch das menschliche Frei-heitsvermögen gegeben ist, das täglicheEssen als eine potentielle Praxis der Frei-heit auffassen zu können. Mithin impli-ziert dieses gastrosophische Freiheitsver-ständnis nicht die Unabhängigkeit (dieFreiheit) von Natur bzw. natürlichen kör-perlichen Bedürfnissen. Naturphiloso-phisch gewendet, verbindet sich für Feuer-bach aus dem normativen Selbstverständ-nis seiner praktischen Anthropologie einwerthaltiger, qualitativer Naturbegriff.Denn wiewohl die alltägliche Menschwer-dung durch die Inkarnation der ‹Wohl-natur› geschieht34, wird „die Natur nurMensch infolge der Identität von Subjektund Objekt, die sich uns im Gefühl desWohlseins offenbart.“ (Spiritualismus undMaterialismus: 218)Obschon Feuerbachs meta-physischer wiequalitativer Begriff der Wohlnatur, wegendessen praktischem (‹anthropomorphem›)Bezugspunktes des menschlichen Wohl-seins, nicht direkt den umweltethischenGedanken einer Anerkennung der objek-tiven Natur als Subjekt formuliert, liefert

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er mit der Feststellung, dass die Natur alstätiges Objekt des leiblichen Wohls desMenschen auch (wohltätiges) Subjekt ist,den ersten Anstoß zu einem neuen, öko-logischen Seinsverständnis und der An-erkennung des Wohls der Nutzpflanzenund Nutztiere als gleichberechtigter wiegenussfähiger Subjekte. Mit Bezug auf diesubjektive Genussfähigkeit der Tiere er-läutert der Naturkundler Feuerbach in iro-nischem Ton: „Wie glücklich wären wirdaran, wenn die Natur ihre Reize nur unse-rem Ich enthüllte! O wie glücklich! Dannwürde keine Honig- oder Wachsmotte un-sere Bienenstöcke, kein Rüsselkäfer un-sere Kornböden, keine Kohlweißlingsrau-pe unsere Gemüsegärten zugrunde rich-ten. Allein was uns süß und lieblichschmeckt, mundet auch anderen Wesenaußer uns.“ (Über den ‹Anfang der Philo-sophie›, a.a.O.: 71)

Naturphilosophische Normativität: derLeib als Bio-IndikatorAbschließend verdient ein bislang uner-wähnt gebliebener Aspekt von Feuerbachsnaturphilosophischer Neubestimmung desanthropologischen SelbstverständnisseErwähnung. Als Teil (Objekt) der Naturbegleitet die sittlich-leibliche Existenz jeneobjektive Passivität des Ichs, welcher wireinerseits – im Falle der ‹heiligen› Ein-heit35 – unser kulinarisch erfülltes, physi-sches Wohl-sein verdanken, an welcherdas Ich aber andererseits auch leidet: „Dar-um sind Hunger und Durst peinliche Emp-findungen, Empfindungen des Unwohl-seins, weil hier diese Einigkeit unterbro-chen ist, weil ich ohne Speise und Tranknur ein halber, kein ganzer Mensch bin.“(Spiritualismus und Materialismus, a.a.O.:218) Diese natürliche ‹Pathologie› unse-res sinnlichen Wesens steht dabei jedoch

in keinem Widerspruch zum Freiheits-vermögen; beim essistenziellen Unwohl-sein und Übelbefinden, wie dem Hunger-gefühl und der Entkräftung durch einenleeren Magen, handelt es sich vielmehr um„ein Leiden, dessen sich das Ich nicht zuschämen hat“, wie Feuerbach klarstellt.(Über den ‹Anfang der Philosophie›,a.a.O.: 72) Die naturhafte und potentiellleidige wie wohlige Befindlichkeit lässtdie poröse „Wahrheit des Leibes“ in einerumweltphysiologischen Perspektive, wiediese von einigen der aktuellenÖkophilosophien vertreten wird, als eben-so krisenfähigen wie kritischen „Bio-In-dikator“36 funktionieren. So macht sichGernot Böhme klar, wenn auch ohnebewussten Bezug auf Feuerbachs prakti-sche Anthropologie des (Umwelt-) Leibs-eins und auch ohne gastrosophischenSinn, dass das, was wir das Umweltpro-blem und die Naturkrise nennen, primär„ein Problem der menschlichen Leiblich-keit“ sei. Denn erfahren wir, wie Böhmezurecht feststellt, die anthropogenen Ver-änderungen unserer natürlichen Um-welt überhaupt nur als problematisch,„weil wir letztlich die Veränderungen, diewir in der äußeren Natur anrichten, ameigenen Leib spüren. ... Durch das Um-weltproblem sind wir in neuer Weise aufunsere Leiblichkeit gestoßen.“37 Ange-sichts dieser heute weitestgehend unstrit-tigen und allseits bekannten Tatsachen ge-langt Gernot Böhme schließlich zu Feuer-bachschen Einsichten: „Wir müssen an-erkennen, daß wir in und mit der Naturleben, gewissermaßen im Durchzug dernatürlichen Medien. Erde, Wasser undLuft“ – und in gastrosophischer Hinsichtsind hier Pflanzen und Tiere hinzuzufü-gen – „ziehen durch uns hindurch, undwir können nur leben in diesem Durch-

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zug. Mit dieser Erfahrung wurde plötz-lich deutlich, daß der Mensch nicht alleinoder primär ein Vernunftwesen ist, son-dern daß er ein leibliches Wesen ist. DasUmweltproblem ist deshalb primär eineFrage der Beziehung des Menschen zusich selbst. Es stellt die Aufgabe, die Na-tur, die wir selbst sind, d.h. den menschli-chen Leib in unser Selbstbewußtsein zuintegrieren.“ (ebd.)38

Im Rahmen des vorliegenden Aufsatzesmuss auf die Erörterung verzichtet wer-den, wie Feuerbachs naturphilosophischbegründete und gastrosophisch ausgerich-tete Anthropologie der menschlichen Um-weltleiblichkeit ihre Analyse des essisten-ziellen Naturverhältnisses weiter vertieft.Dazu wären jene ideologischen, nämlichmythologischen und theologischen Impli-kationen desselben kritisch einzubeziehen,welche Feuerbach zufolge mit der existen-ziellen Grunderfahrung des Menschseins,als umweltliches, sich ernährendes Wesenvon der Natur wohl oder übel abhängigzu sein, im unmittelbaren Zusammenhangstehen. Diese tiefengastrosophische Ana-lyse nimmt sich Feuerbach in seinen um-fangreichen religionskritischen Studienvor. Sie werden uns im folgenden nur so-weit beschäftigen können, wie sie zu ei-nem „gastrotheologischen“ Verständnisdes Wesens der Religion sowie des – vorallem in der antiken und christlichen Re-ligiosität präsenten – Mythos vom Gott-Essen beitragen und der Aufklärung dergöttlichen Kunst, gut und menschenwür-dig zu essen, dienen.

Opfermahl und GötterspeiseIn dem Untertitel, den Feuerbach seinerAbhandlung über «Das Geheimnis desOpfers» gibt, taucht erneut die Formel auf:«Der Mensch ist, was er isst». Diese Ver-

bindung lenkt den Ursprung dieser For-mel also auf die Frage, was der wahre Sinndes Speiseopfers sei, die sich Feuerbachin diesem Text nachgeht. Zu Beginn wirderwähnt, dass die religionskritische Re-konstruktion des Speiseopfers es ermög-liche, „sogleich einen Gegenstand derGastrologie (Lehre vom Magen, vom Gau-men) zu einem Gegenstand der Theolo-gie, freilich damit auch einen Gegenstandder Theologie zu einem Gegenstand derGastrologie“ zu machen.39 Damit wird dieAnalyse einer „Gastrotheologie“ (ebd.: 49)in Angriff genommen, die am Beispiel derkultischen Praxis des antiken Opfermahlseine religionskritische Fallstudie für diegastrosophische Erkenntnis, dass „derMensch ist, was er isst“ durchführt. Dar-über hinaus wendet Feuerbach seine (obenbereits angesprochenen) naturphilosophi-schen Einsichten religionsphilosophischan. Vorzugsweise an der griechischen My-thologie40 verdeutlicht Feuerbach anhandder religiösen Opferpraxis die eminenteBedeutung des Essens. Kurz und knappwird das Geheimnis des Opfers gelüftetund der Sinnzusammenhang zwischenKult und Kost benannt: „Opfern heißt, dieGötter speisen.“ (ebd.: 35) Als materiali-stischen Hintergrund des heidnischenOpfermahls macht der Religionsphilosophim wesentlichen zwei Sachverhalte aus:Die Dankbarkeit gegenüber dem Opferund die List der Selbstvergötterung.Bevor auf diese beiden ‹Geheimnisse› desklassischen Opfermahls näher eingegan-gen werden kann, scheint es angebracht,einen von Feuerbach selber kaum berück-sichtigten Gedankengang voranzuschik-ken, welcher den sachlichen Konnex zwi-schen Gastrotheologie und Naturphiloso-phie herstellt. Mit Bezug auf Homer erin-nert der Religionsforscher daran, dass die

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antike Mythologie den Unterschied zwi-schen Menschen und Göttern am Unter-schied ihrer Ernährungsweise veranschau-licht. So sind Götter, was sie sind, weilsie Ambrosia und Nektar genießen, wäh-rend die Sterblichen von den Früchten derErde zehren müssen (vgl. Feuerbach, DasGeheimnis des Opfers, a.a.O.: 29). DieseDifferenz zwischen der Götter Speise undder Menschen Diät beinhaltet, dass „diedas Korn der Demeter essenden Sterbli-chen“, wie Homer das Menschenge-schlecht bezeichnet, sich von den Gewäch-sen und Gestalten aus dem Reich der Na-tur zu ernähren haben – zu dem Preis, ausdiesem Opfer anderen Lebens ihre eigeneLebenskraft schöpfen. Ihre Essistenz, ihrephysische Existenz verstrickt sie in einen„nutritiven Schuldzusammenhang“ (H.Böhme, Transsubstantiation und symbo-lisches Mahl, a.a.O.), verdammt sie zueiner Art gastronomischer Anthropodizee.Dem gegenüber erquicken sich die Götteran einer unschuldigen Kost, ihrem Man-na und Ambrosia, weshalb in den großenmythischen Erzählungen der griechischenAntike das ‹Goldene Zeitalter› bzw. in derjüdisch-christlichen Religion der paradie-sische Zustand des ‹Garten Edens› als eineEpoche beschrieben wird, wo die Mensch-heit an der schuldlosen Tafelgemeinschaftund dem grenzenlosen Festmahl der Göt-ter teilhatte. Wie der Verlust des GoldenZeitalters bzw. die Vertreibung aus demParadies gleichgesetzt wird mit demZwang zur kulinarischen Selbstständig-keit, unter der unabwendbaren Last undSchuld, anderes Leben zu opfern, um sichselbst am Leben zu erhalten, so hängt diereligiöse Vorstellung von der göttlichenUnsterblichkeit unmittelbar mit ihrer Spei-se und Ernährungsweise zusammen. MitVerweis auf Homer kommt Feuerbach auf

diesen Punkt zu sprechen: „In der Iliasheißt es ausdrücklich: ‘Nicht essen dieGötter Brot, noch trinken sie funkelndenWein, deswegen haben sie kein Blut undheißen Unsterbliche.’ Sie essen Ambro-sia; Ambrosia aber bedeutet nach den Al-ten unsterbliche Speise, nach den Neuernist es ein Substantiv und bedeutet schlecht-weg Unsterblichkeit. Gott ist, was er ißt;er ißt Ambrosia, d.h. also Unsterblichkeitoder unsterbliche Speise, also ist er einUnsterblicher, ein Gott“. (Das Geheimnisdes Opfers, a.a.O.: 28) Auch auf den reli-giösen und gastrotheistischen Wunsch,wie die Götter, göttlich gut zu leben undzu speisen, ohne sich an anderem Leben,den Pflanzen und Tieren, zu verschuldenbeziehungsweise ohne Sterbliches verkör-pern zu müssen, lässt sich der alles be-herrschende Wunsch des Menschen zu-rückführen, den Göttern nahe zu sein, Gottwerden zu wollen. Dieser Wunsch derEbenbildlichkeit erkennt Feuerbach vorallem in der ‹technokratischen› Vorstel-lung einer göttlichen Welterschaffung, dieam ausgeprägtesten im Schöpfungsmy-thos des jüdisch-christlichen Glaubens zufinden ist. „Wo sich der Mensch mit Wil-le und Verstand über die Natur erhebt,Supranaturalist wird, da wird auch Gottein supranaturalistisches Wesen. Wo sichder Mensch zum Herrscher aufwirft ‘überdie Fische im Meer und über die Vögelunter dem Himmel und über das Vieh undüber die ganze Erde und über alles Ge-würm, das auf Erden kriechet’, da ist ihmdie Herrschaft über die Natur die höchsteVorstellung, das höchste Wesen, der Ge-genstand seiner Verehrung, seiner Religi-on daher der Herr und Schöpfer der Na-tur, denn eine notwendige Folge der Vor-aussetzung vielmehr der Herrschaft ist dieSchöpfung. ... Erst in der Schöpfung also

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bewahrheitet, verwirklicht, erschöpft sichdie Herrschaft.“ (Das Wesen der Religi-on, a.a.O.: 49)41 Mit der religionskriti-schen Analyse des ideologischen Zusam-menhangs zwischen dem christlichenWeltbild und dem menschlichen Herr-schaftsanspruch über die natürliche Um-welt klärt Feuerbach eine kulturhistorischmaßgebliche (und vielleicht sogar diemaßgeblichste) Voraussetzung für ein reininstrumentelles Naturverständnis auf undarbeitet die kulturelle Grundlage für diegrenzenlose Naturausbeutung der westli-chen Zivilisation heraus. Innerhalb dernaturphilosophischen Diskussionen undökoethischen Selbstverständigungsprozes-se der letzten Jahrzehnte wurde auf dieseProblematik vielfach eingegangen.42 Des-halb braucht dieser, bereits bei Feuerbachvorfindliche, aber kaum rezipierte reli-gionsphilosophische Aspekt der globalenUmweltzerstörung nicht weiter vertieftwerden. Stattdessen gilt es auf die Analy-se der gastrotheologischen Hintergründedes religiösen Opfermahls zurückzukom-men. Als ein Motiv für dasselbe führtFeuerbach die Dankerweisung an: Diebange Dankbarkeit gegenüber den er-wünschten Gaben der Natur, deren Vor-kommen, Ertragsmenge, Qualität, etc.nicht vollständig kontrollierbar sind. Die-se (stets ungewissen) Gaben „von unend-lich vielen und guten Speisen, welche dieNatur dem Menschen gewährt“, deutet dertheistische Mensch als Bekundung der„unendlichen Güte ihres Schöpfers“. (DasGeheimnis des Opfers, a.a.O.: 35) Dieseswohltätige Geschenk ist ein wesentlicherGrund der religiösen Opferpraxis (undnicht weniger Grund auch für die vielfäl-tigen Ausprägungen von Erntedankfeiernund Fruchtbarkeitskulten). Das Opferndient dann dazu, „die Götter zu versöh-

nen, d.h. freundlich und wohlgesinnt ge-gen den Menschen zu machen. (ebd.: 36)Der liturgische Gehalt der Opferung (z.B.von Speisen), als einer praktischen Dank-erweisung, besteht demnach in der tätigbekundeten Gegen-Gabe, in der dienstba-ren Antwort und der kultischen Verant-wortung gegenüber dem realen Opfer.43

Das Speiseopfer manifestiert dies durchden ermöglichten Genuss, welcher denGöttern durch dargebotenes Essen berei-tet wird. Feuerbach erklärt: „Das Bedürf-nis der Speisen hat der Mensch für sichselbst, aber den Genuß derselben teilt ermit den Göttern. Hunger und Durst lei-den ist menschlich, aber Hunger und Durststillen ist göttlich. ... Also haben sie auchvom Essen und Trinken nur das Gute, nurden seligen Genuß, nicht die traurigenVorbedingungen“. (Das Geheimnis desOpfers, a.a.O.: 31) Anthropologisch undreligionskritisch betrachtet, verbirgt sichfreilich hinter der rituellen Praktik desOpfermahls in Wahrheit der rein mensch-liche Genuss, denn zweifelsohne fällt derwirkliche materielle Genuss nur den Op-fernden zu.44 Mit Belegen unter anderemaus der altindischen Kultur und dem Al-ten Testament erinnert Feuerbach daran,dass sich der gottesdienstliche Gehalt derOpferstoffe „ursprünglich nur ihrer wirk-lichen, physiologischen oder anthropolo-gischen Wirkung und Bedeutung verdan-ken“ würde (Das Geheimnis des Opfers:33). Beispielsweise lässt sich die wichti-ge Rolle des Salzes im Speiseopfer aufdiesen humanen Sinn und (listigen) Zweckder Religion zurückführen. So verdanktsich die symbolische Bedeutung von Salz,nämlich Zeichen der Freundschaft oderdes Bundes zu sein, auch des kulinari-schen Sachverhalts, dass es unzertrennlichist von der Genießbarkeit der Nahrung. Es

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ist eine essentielle Substanz für denmenschlichen Organismus, verleiht undverstärkt den Geschmack und macht, wasleicht verfällt und fault, haltbar und ver-daulich. So ist das Salz geradezu „Sym-bol der Speise, weil es derselben erst ihreSeele, Geschmack und Verdaulichkeitgibt“. (ebd.: 37)

Gott EssenInnerhalb von Feuerbachs religionskriti-schen Schriften nimmt die Analyse deschristlichen Glaubens mit Abstand dengrößten Raum ein. Auch darin kommenzahlreiche gastrotheologische Themen zurSprache. Um so erstaunlicher erscheint es,dass die biblische Erzählung von der fol-genschweren Nascherei verbotener Früch-te, dem Sündenfall im Garten Eden, derso unglaublich reich an Essensmetaphorikist,45von Feuerbach mit keiner eigenen Be-trachtung bedacht wird. In seinem Haupt-werk zum Wesen des Christentums gehter jedoch auf das andere, allseits bekann-te Motiv dieser Religion, der heiligenKommunion der Eucharistie, ein und stelltdazu fest: „Essen und Trinken ist das My-sterium des Abendmahls.“46 Der dialek-tische Materialist Feuerbach extrahiert ausden opfertheoretischen Implikationen desvon Jesus symbolträchtig in Szene gesetz-ten letzten Abendmahls die humane Reli-giosität des Essens, dessen gastrotheolo-gisch wahrer Sinn und Zweck sich in dem‹Heil› (der Hoch-und-Heiligkeit) einerfundamentalen Kulturleistung mensch-lichen Wohllebens offenbart: „Wein undBrot gehören zu den ältesten Erfindungen.Wein und Brot vergegenwärtigen, versinn-lichen uns die Wahrheit, daß der Menschdes Menschen Gott und Heiland ist.“(ebd.: 410) Durch die Kunst der Speise-zubereitung, der Erschaffung von Genuss-

produkten bringt die Menschheit ein heil-wirksames wie wohlvolles Wunderwerkhervor und beweist darin eine eigene Gött-lichkeit. Daher sind Nahrungsmittel im ur-sprünglichen und eigentlich gastrosophi-schen (d.h. gastrotheologisch aufgeklär-ten) Sinne nie bloß ‹Mittel›, wie es derverräterische Sprachgebrauch unserer Ess-kultur will.47 Feuerbachs gastrotheologi-schen Dialektik geht es darum, die alltäg-lichen und gemeinhin zur Nebensache ver-drängten ‹Lebensmittel› wegen ihrerwohltätigen Wirkungen und Eigenschaf-ten, „die zur Bildung des Menschen undseiner Wohlfahrt“ beitragen, als „Sakra-mente, d.h. etwas Heiliges, ja Göttliches“zu würdigen.“ (Heidelberger Vorlesungenüber ‹das Wesen der Religion›, a.a.O.:124) In diesem die menschliche Koch-bzw. Backkunst vergötternden Sinne ge-hörte, woran Feuerbach angesichts der li-turgischen Bedeutung des Brotes imchristlichen Glauben erinnert, das ‹heili-ge Brot› bereits „zu den Mysterien dergriechischen Religion.“ (ebd.)48

An diesen heidnischen Hintergrund dergastrotheologischen Heiligkeit des Essens– also insbesondere in ihrer klassisch grie-chischen und weniger in ihrer christlichspirituellen Version49 – knüpft die neuePhilosophie mit dem beachtlichen Ergeb-nis an: „Essen und Trinken ist in der Tatan und für sich selbst ein religiöser Akt;soll es wenigstens sein.“ (Das Wesen desChristentums, a.a.O.: 409) Dennoch ver-mag Feuerbachs religionskritische Be-trachtung des christlichen Abendmahls andemselben den kryptogastrosophischen(nämlich: gastrotheologischen) Sinn zuerkennen, das tägliche Mahl als „heiligen“oder „religiösen Akt“ zu kultivieren. Frei-lich sieht ein philosophischer Geist beialler zugestandenen Religiosität des Es-

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sens im Unterschied zur gläubigen Gesin-nung nicht über die ganze, überreligiöseWahrheit des Phänomens (beispielsweiseseiner ausgeschiedenen, übelriechendenReste) hinweg. Feuerbach stellt fest: „DasEssen und Trinken in seiner ganzen Aus-führlichkeit und Förmlichkeit vorgestellt,ist allerdings eine profane, irreligiöse, derGötter unwürdige Vorstellung; aber andieses profane Detail denkt auch nicht derGottgläubige.“ (Theogonie, a.a.O.: 206f.)Trotz der erwähnten Einschränkungen undProfanisierungen seiner „neuen Religion“des guten Essens ist sich Feuerbach durch-aus der rhetorischen Missverständlichkeitihrer dialektischen Umwertung bewusst.Denn selbstverständlich geht es dem re-volutionären Programm seiner Gastroso-phie nicht um die Statuierung neuer Glau-benssätze, sondern um die Würdigung derHeiligkeit der Küche als vernünftiger Pra-xis. In der Antizipation wahrscheinlicherEinwände seitens voreiliger Kritik und dersicheren Vorbehalte seitens christlicherVerächter der kulinarischen Vernunft –deren Liturgie gleichwohl um das Mahlkreist – setzt sich der Verkünder der neu-en Weltweisheit zur Wehr: „Und willst dudarüber lächeln, daß ich das Essen undTrinken, weil sie gemeine, alltägliche Aktesind, deswegen von Unzähligen ohneGeist, ohne Gesinnung ausgeübt werden,religiöse Akte nenne, nun so denke dar-an, daß auch das Abendmahl ein gesin-nungsloser, geistloser Akt bei Unzähligenist, weil er oft geschieht...“. (Das Wesendes Christentums, a.a.O.: 410) Freilichwäre Feuerbach nicht der dialektischeGlaubens- und Ideologieaufklärer, würdeer seine gastrosophische Heiligsprechungder angeblich unwichtigen und neben-sächlichen Sache des Essens nicht durchderen Humanität a ventre principium be-

gründen, weil der Mensch ist, was er isst.Deshalb heißt es weiter in der eben ange-führten Passage, die zugleich die abschlie-ßenden Wortes seines Hauptwerks sind:„...versetze dich, um die religiöse Bedeu-tung des Genusses von Brot und Wein zuerfassen, in die Lage hinein, wo der sonstalltägliche Akt unnatürlich, gewaltsamunterbrochen wird. Hunger und Durst zer-stören nicht nur die physische, sondernauch geistige und moralische Kraft desMenschen, sie berauben ihn der Mensch-heit, des Verstandes, des Bewußtseins. ...So braucht man nur den gewöhnlichengemeinen Lauf der Dinge zu unterbrechen,um dem Gemeinen ungemeine Bedeutung,dem Leben als solchem überhaupt religiö-se Bedeutung abzugewinnen. Heilig seiuns darum das Brot, heilig der Wein, aberauch heilig das Wasser! Amen.“

Anmerkungen:1 Ferdinand Fellmann bringt diese Situation tref-fend auf den Punkt: „‹Der Mensch ist, was erisst›. Dieser zur Zeit des Deutschen Idealismusschockierende Satz von Ludwig Feuerbach hatheute kaum mehr Wert als den einer Kuriosi-tät.“ F. Fellmann, Kulturelle und personale Iden-tität, in: H. J. Teuteberg (Hrsg.), Essen und kul-turelle Identität, Berlin 1997: 27.2 Eine aktuelle Einführung in das ganze Werk,freilich ohne Berücksichtigung von FeuerbachsGastrosophie, bietet: C. Weckwerth, LudwigFeuerbach zur Einführung, Hamburg 20023 Vgl. A. Schmidt, Emanzipatorische Sinnlich-keit, Frankfurt a. M. 1973; W. Wahl, Feuerbachund Nietzsche. Die Rehabilitierung der Sinnlich-keit und des Leibes in der deutschen Philoso-phie des 19. Jahrhunderts, Würzburg 1998; U.Reitemeyer, Philosophie der Leiblichkeit, Frank-furt a. M. 19884 Der junge Marx spricht sich über den nachhal-tigen Einfluss des etwas älteren Feuerbach inhöchsten Tönen aus: „Die positive Kritik über-haupt (verdankt) ihre wahre Begründung den

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Entdeckungen Feuerbachs. Von Feuerbach da-tiert erst die positive humanistische und natura-listische Kritik. Je geräuschloser, desto sicherer,tiefer, umfangreicher und nachhaltiger ist dieWirkung der Feuerbachschen Schriften, die ein-zigen Schriften, seit Hegels Phänomenologie undLogik, worin eine wirkliche theoretische Revo-lution enthalten ist.“ (Marx, Nationalökonomieund Philosophie, in: Ders., Die Frühschriften,Stuttgart 1968: 227) Begeistert schreibt Marx ananderer Stelle: „Es gibt keinen andern Weg ...zur Wahrheit und Freiheit, als durch den Feuer-bach. Der Feuerbach ist das Purgatorium derGegenwart.“ (Marx, Luther als Schiedsrichterzwischen Strauß und Feuerbach, in: Werke, Bd.I, Berlin 1957: 27) Auch Engels verleiht seinem(anfänglichen) Enthusiasmus gegenüber Feuer-bachs materialistischen Kritik an der idealisti-schen Philosophie schwunghaften Ausdruck:„Wer hat ... das Geheimnis des ‹Systems› aufge-deckt? Feuerbach. Wer hat die Dialektik derBegriffe, den Götterkrieg, den die Philosophenallein kannten, vernichtet? Feuerbach. Wer hat... ‹den Menschen› an die Stelle des alten Plun-ders, auch des ‹unendlichen Selbstbewusstseins›gesetzt? Feuerbach und nur Feuerbach.“ (Engels,Die heilige Familie, Werke, a.a.O., Bd. II: 7) Be-kanntlich nimmt die Begeisterung und geistigeVerwandtschaft zwischen dem Begründer des an-thropologischen Materialismus und den Vor-kämpfern des historischen Materialismus imLaufe der Zeit ab; siehe Marx’ berühmten Feuer-bach-Thesen und Engels späte Position in «Lud-wig Feuerbach und der Ausgang der klassischendeutschen Philosophie», in: Marx u. Engels,Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Berlin19855 Feuerbach, Wider den Dualismus von Leib undSeele, Fleisch und Geist, in: Ders., AusgewählteSchriften I, Frankfurt a. M. 1985: 1816 Feuerbach, Grundsätze der Philosophie derZukunft, in: Ders., Ausgewählte Schriften I,a.a.O., hier: §36; Hervorh. im Original7 Feuerbach, Über Spiritualismus und Materia-lismus, besonders in Beziehung auf die Willens-freiheit, in: Ders., Kleinere Schriften IV, Gesam-melte Werke, Berlin 1982: 111.8 Feuerbach, Die Naturwissenschaft und dieRevolution, in: Ders., Anthropologischer Mate-rialismus. Ausgewählte Schriften II, a.a.O.: 222

9 In der Abhängigkeit vom Anderen seinerSelbst, als Naturwesen, isst der Mensch und hatsich deshalb nicht. Der rationalismuskritischeGastrosoph Feuerbach nimmt hier grundlegen-de Einsichten – und einschlägige Formulierun-gen – von Freuds Meta-Psychologie des Es-Ichvorweg: „Der Mensch steht mit Bewußtsein aufeinem unbewußten Grunde; er ist unwillkürlichda, er ist ein notwendiges Wesen der Natur. DieNatur wirkt in ihm ohne sein Wollen und Wis-sen. Er nennt seinen Leib sein und ist ihm dochabsolut fremd; er ißt mit Genuß, und was ihnzum Hunger treibt, ist ein anderes Wesen. Er ißt:und doch hat er weder den Grund noch die Fol-gen desselben in seiner Gewalt ... Er muß essen.Er ist in seinem eigenen Hause ein Fremdling,er hat alle Lasten und Genüsse, Schmerzen undFreuden, ohne doch Grundeigentümer, Herr zusein. Er ist gestellt auf die Spitze einer schwin-delnden Anhöhe – unter ihm ein unbegreiflicherAbgrund. Er weiß nicht seinen Anfang, nicht seinEnde. Er ist eher im Besitz, ohne im Grund desSeins zu sein. Er ist Nicht-Selbst und Selbst. ...Er gehört zur Natur: er ist ein notwendiges Pro-dukt. Er steckt tief in ihr.“ (Die Naturwissen-schaft und die Revolution a.a.O.: 228)10 An anderer Stelle bin ich näher auf diese Ein-sicht eingegangen: Harald Lemke, Phänomeno-logie des Geschmackssinns, in: Dietrich von En-gelhardt (Hg.), Vom Sinn der Sinne, New York /Frankfurt a. M., 200411 Feuerbach, Zur Ethik: Der Eudämonismus, in:Ders., Ausgewählte Schriften II, a.a.O.: 25612 Diese subjektiv-allgemeine Gültigkeit und ge-meinsinnliche Reflexion des Geschmacksurteilsist das Thema von Kants diesbezüglichen Aus-führungen in der Kritik der Urteilskraft. Zur Not-wendigkeit einer intersubjektiven Geschmacks-reflexion und sinnlichen Erkenntnis der kulina-rischen Wahrheiten siehe auch: Harald Lemke,Ästhetik des guten Geschmacks. Vorstudien zueiner Gastrosophie, in: R. Behrens, R. Peplow,K. Kresse, Symbolisches Flanieren. Kulturphi-losophische Streifzüge, Weinheim 200113 Diese dogmatische Nötigung des Geschmacksspürt Feuerbach nicht nur in den „lästigen Bit-ten“ übereifriger Gastgeber, sondern auch in je-ner schwarzen Pädagogik auf, wenn Eltern ih-ren Kindern bzw. Erzieher ihren Zöglingen „bö-sen Willen oder Eigensinn“ unterstellen, weil sie

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den ihnen unbegreiflichen Widerwillen gegeneine Speise, die vielleicht bloß ihre eigene Lieb-lingsspeise ist, nicht begreifen. (ebd.)14 In diesem Rahmen kann nicht auf die verblüf-fende Tatsache eingegangen werden, dass ent-gegen der üblichen – hier auch von Feuerbachvorgetragenen – Kant-Rezeption Kant selberdurchaus ein gastrosophisches Zusammenspielvon Moralität und Glückseligkeit, dem sittlichGuten mit dem kulinarisch Guten denkt, wel-ches den zitierten Ausführungen Feuerbachsvorgreift. Auf alle Fälle weiß der KönigsbergerRationalist sehr wohl – aus eigener Erfahrungwie vorbildlicher Praxis – um das Zusammen-wirken von „Tugend und Wohlleben“ in der „gu-ten Mahlzeit in guter Gesellschaft.“ (Anthropo-logie: § 64) Ihm ist der ungewöhnliche Gedankeder praktischen Vernunft einer Ästhetik des gu-ten Essens bestens vertraut: Seine Philosophiekulminiert in der kulturellen Praxis und würde-vollen Humanität eines „geschmackvollen Gast-mahls“ als der menschenmögliche „Genuß ei-ner gesitteten Glückseligkeit“. (Anth. § 59)15 Als Beispiel für dieses Gerechtigkeitsprinzipführt Feuerbach aus: „Es ist unmoralisch, alsFamilienvater, diesen Genuß nur mir allein mitAusschluß der meinigen oder gar auf Kostenihres eigenen Nahrungsbedürfnisses zu gönnen.Was aber die Moral uns gebietet: uns zu be-schränken in unseren Lebensbedürfnissen, wennsie nur zum Nachteil und Verderber der anderenbefriedigt werden können, ... denn das mit denSeinigen geteilte Stück trockenen Brotesschmeckt und bekommt ihm besser als das al-lein für sich genossene, saftigste Bratenstück.“(Zur Ethik: Der Eudämonismus, a.a.O.: 256)16 Diese marxistische ‹Politisierung› des Feuer-bachschen Denkens wird in den späteren Jahrenvon Engels nicht gebührend gewürdigt. Jeden-falls fällt sein Vorwurf, Feuerbachs würde kei-nen kritisch-theoretischen Sinn für gesellschaft-liche Probleme haben, zu rigoros aus. (vgl. En-gels, Feuerbach und der Ausgang der klassischendeutschen Philosophie, a.a.O.: 349ff.)17 Dass sich Feuerbach im Laufe der Zeit derMarx’schen Position inhaltlich wie weltanschau-lich nähert, belegt nicht zuletzt die Tatsache, dasser noch im Alter von 64 Jahren der sozialdemo-kratischen Partei beitritt.

18 Fouriers kritische Analyse der aufkommendenIndustriegesellschaft mündet in der Utopie vomSchlaraffenland. Statt in einer Zivilisation, diedurch Mangel und Saures gekennzeichnet ist,sollte in der neuen Gesellschaft, die durch Über-fluss und Süßes sich auszeichnet, durch eine in-tensive Ernährungserziehung den Kindern dieWahrheit der Harmonie von Kindesbeinen an,vermittelt über gastronomische Debatten, kab-balistische Spiele über Geschmacksnuancen undpraktische Kochkunst, zuteil werden. Fourierarbeitet also die gesellschaftspolitische Tragwei-te der Ernährungsfrage heraus. Siehe: MichelOnfray, Der Bauch der Philosophen, FrankfurtNew York 199019 Fasziniert zitiert er Moleschotts Forschungs-ergebnisse: „Was soll man von einem Nahrungs-mittel halten, in dem Eiweiß und Fettbildner ge-rade im umgekehrten Verhältnisse von den Ei-weißkörpern und dem Fett des Blutes vorhan-den sind? Mit Fett kann es das Blut und die Ge-webe überfüllen; aber wie es das Blut nur ärm-lich mit Eiweiß versorgt, so kann es den Mus-keln keinen Faserstoff und keine Kraft, dem Ge-hirn weder Eiweiß noch phosphorhaltiges Fettzuführen...“ (Die Naturwissenschaft und die Re-volution, a.a.O.: 229)20Auf diese skurrile Allianz macht Engelhardt,leider ohne Quellenangabe, aufmerksam: „DerPhilosoph Leibniz ist der Auffassung, das dieKartoffel den Menschen verdumme. In GoethesWilhelm Meisters Wanderjahren (1821) ist eben-falls vom ‹unseligen Kartoffelgenuß› die Rede.“Engelhardt, Essen und Lebensqualität, FrankfurtNew York 2001: 5821 Die ernährungsphysiologische Fundierung vonFeuerbachs vegetarischer Utopie der Hülsen-früchte entzieht Nietzsches scheinheiligen Ver-such, die (eine Zeitlang von ihm aus tierethischenGründen verfochtene) fleischlose Kost, als für„geistig produktive Menschen“ unzureichend,schließlich zu verwerfen, jede philosophischeGrundlage. Siehe: Harald Lemke, Nietzsche undder Wille zur Wurst, in: Mitteilungen des Inter-nationalen Arbeitskreises für Kulturforschungdes Essens, Heft 11, 200322 Mit Blick auf die elende Lage der irländischenArbeiter weiß auch Marx wovon die Rede ist:„Der Irländer kennt nur mehr das Bedürfnis desEssens und zwar nur mehr des Kartoffelessens

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und zwar nur der Lumpenkartoffeln, der schlech-testen Art von Kartoffeln.“ Marx, Nationalöko-nomie und Philosophie, a.a.O.: 25623 Vgl. Frances Moore Lappé und Anna Lappé,Hope’s Edge. The next Diet for a Small Planet,New York 2002; John Robbins, The Food Re-volution: How Your Diet Can Help Save YourLife and Our World, Berkeley 200124 Feuerbach, Über den ‹Anfang der Philoso-phie›, in: Ders., Ausgewählte Schriften I, a.a.O.:6925 Dieser naturpraktische Anthropomorphismuswiderspricht den beiden Hauptpositionen derpraktischen Naturphilosophie, wie sie heute inder ökologischen Ethikdebatte vertreten werden:sowohl dem biozentrischen Holismus als auchdem unökologischen Anthropozentrismus. Zudieser Debatte siehe: Angelika Krebs (Hg.), Na-turethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- undökoethischen Diskussion, Frankfurt a.M. 199726 In diesem Zusammenhang charakterisiert Al-fred Schmidt Feuerbachs anthropologischen Ma-terialismus (oder genauer Essistenzialismus)treffend „mit altmodischem Ausdruck als ‹Meta-physik auf induktiver Basis›.“ (Schmidt, a.a.O.:51)27 In seiner Kritik an Hegels idealistischen Theo-rie der Seele, der zufolge „der Leib keine, dieSeele alle Wahrheit“ (Über Spiritualismus undMaterialismus: 192) für sich habe, hält Feuer-bach dem Hegelschen ‹Spiritualismus› die Ein-heit und physische Ganzheitlichkeit von Leib undSeele, als der wirklichen „Wahrheit des Leibes“,entgegen.28 Vgl. beispielsweise Bernhard Waldenfels, Dasleibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomeno-logie des Leibes, Frankfurt am Main 2000; Her-mann Schmitz, System der Philosophie, 2. Bd, ITeil: Der Leib, Bonn 1965; Philipp Thomas,Leiblichkeit und eigene Natur. Naturphiloso-phische Aspekte der Leibphänomenologie, in:Gernot Böhme und Gregor Schiemann (Hrsg.),Phänomenologie der Natur, Frankfurt a. M. 199729 Feuerbach, Über den ‹Anfang der Philosophie,a.a.O.: 73; ähnlich: Spiritualismus und Materia-lismus, a.a.O.: 21630 Diesen Bezug zu Adorno stellt auch Schmidther, vgl. Ders., Emanzipatorische Sinnlichkeit,a.a.O.: 122

31 Feuerbach, Das Wesen der Religion, in: Ders.,Kleinere Schriften III, Gesammelte Werke 10,a.a.O.: 432 Karl Marx, Nationalökonomie und Philoso-phie, a.a.O.: 235.33 Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reform derPhilosophie, in: Ders., Ausgewählte Schriften I,a.a.O.: 9834 Diese Transsubstanziation begreift Feuerbachnicht gemäß der spekulativen Identitätslogik,wonach die Materie, das Andere, im Einverlei-bungsprozess dem Selbst ‹angeglichen› (assimi-liert) wird, wie dies Hegel in seiner Theorie derVerdauung denkt (vgl. Hegel, Enzyklopädie derphilosophischen Wissenschaften II, (§357-365).Feuerbachs gastrosophische Anthropologie ent-wickelt eine andere Vorstellung: Die Verkörpe-rung der Natur (des natürlichen Substrats) ge-schieht aufgrund einer meta-physischen Identi-tät (in der Differenz) von Umweltsein undMenschsein: „Weil das, was ich esse, was ichtrinke, selbst mein ‹zweites Ich›, mein anderesGeschlecht, meines Wesens ist, wie ich umge-kehrt seines Wesens bin. So ist das trinkbareWasser, das Wasser als möglicher Bestandteil desBlutes, menschliches Wasser, menschliches We-sen“. (Spiritualismus und Materialismus, a.a.O.:218)35 In den nachgelassenen Aphorismen findet sichfür die gastrosophische Ethik und ihrem Begriffdes Guten und des Wohls eine interessante be-griffsanalytische Notiz: „Man sagt statt Heil‹Wohl, Wohlsein›; wie werden die Heilslehrersich darüber entsetzen! Und doch hat das heili-ge Wort ursprünglich denselben profanen Sinn,nur daß durch Absonderung dieses Wortes imGebrauch für das religiöse Wohl, welches dochselbst ebenfalls, wenn auch nur im Jenseits, daskörperliche Wohlsein bedeutet, das Wort Heileinen besonderen, mystischen, heiligen Sinn be-kommen hat.“ Feuerbach, Nachgelassene Apho-rismen, a.a.O.: 24436 Siehe: Lothar Schäfer, Das Bacon-Projekt. Vonder Erkenntnis, Nutzung und Schonung der Na-tur, Frankfurt a. M. 1993: 223ff.37 Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neu-en Ästhetik, Frankfurt a. M. 1995: 1438 Gernot Böhme argumentiert hier in Überein-stimmung mit (seinem Bruder) Hartmut Böhme,der allerdings den Bezug zur Gastrosophie deut-

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licher hervorhebt. Vgl. Hartmut Böhme, Trans-substantiation und symbolisches Mahl. Die My-sterien des Essens und die Naturphilosophie, in:Zum Naturbegriff der Gegenwart, Stuttgart 1995:139-15839 Feuerbach, Das Geheimnis des Opfers oderDer Mensch ist, was er isst, in: Ders., KleinereSchriften IV, Gesammelte Werke, Band 11,a.a.O.: 2640 Obschon auch interkulturelle Hinweise zuanderen Kulturen, wie z.B. der indischen Reli-gion und ihrer Philosophie hergestellt werden.41 In Abgrenzung zum ‹Supranaturalismus› deschristlichen Herrschaftsdenkens stellt Feuerbachfür die heidnische Religiosität klar: „Die Götterder Heiden waren wohl auch schon Herren derNatur, aber keine Schöpfer derselben, darum nurkonstitutionelle, beschränkte, in bestimmteGrenzen eingeschlossene, nicht absolute Mon-archen der Natur, d.h. die Heiden waren nochnicht absolute, unbedingte, radikale Supranatu-ralisten.“ (Das Geheimnis des Opfers, a.a.O.: 49)42 Besonders ausführlich auf die religionsge-schichtlichen Hintergründe geht Meyer-Abichein. Seine Rekonstruktion der griechischen, ba-bylonischen, germanischen, jüdisch-christlichenMythologie bzw. Theologie bestätigen Feuer-bachs Befunde: „Für das Geltungsbedürfnis desmodernen Menschen gibt es weder in der grie-chischen noch in der babylonischer Mythologieirgendein Vorbild. Wie dort gehören auch späterin der germanischen ‹Edda› sowohl die Götterwie die Menschen zur Theokosmogonie derNatur, und die Menschen erheben keinerlei An-sprüche auf einen besonderen Status gegenüberder natürlichen Mitwelt. Im Alten Testament istdies anders. Hier gibt es einmal den erden-fremden Schöpfer, dem die Welt äußerlich ist,der also zwar an ihrem Schicksal Anteil nimmt,es aber nicht selber teilt, und zum andern denAnspruch des Menschen, ein Ebenbild diesesGottes zu sein. Damit verbinden sich der Herr-schaftsanspruch des Menschen gegenüber dernatürlichen Mitwelt und der Gedanke der Ver-fluchung der ganzen Natur anläßlich desmenschlichen ‹Sündenfalls›.“ (Meyer-Abich,Praktische Naturphilosophie, München 1999:452) Diese religiös legitimierte und popularisier-te Naturbeherrschung keimt in der Neuzeit aufund bildet die ideologische Grundlage für die

Überheblichkeit der westlichen Menschheit, sichals „interplanetarischer Eroberer“ aufzuführenund mündet, wie Meyer-Abich meint, in der an-thropozentrischen „Apotheose der Industrie-gesellschaft“. Zu dieser Selbstvergötterung, dieschließlich im Triumph des wissenschaftlich-technischen Zeitalters kulminiert, wird erläutert:„Man hatte sich Gott so gedacht, dass man ihmähnlich werden und an seine Stelle treten konn-te, mit der Allwissenheit der Wissenschaft undder Allmacht der Technik.“ (ebd.: 314)43 Der Altertumshistoriker Burkert bestätigt inseiner Studie zum Ursprung des Opfers vielesvon Feuerbach, ohne sich allerdings auf ihn zubeziehen: Walter Burkert, Wilder Ursprung.Opferritual und Mythos bei den Griechen, Ber-lin 199144 Lakonisch bemerkt Feuerbach dazu, sicher-lich „lecken die Götter nicht den für sie auf dieErde gegossenen Wein auf“. (Aus der«Theogonie» nach den Quellen des klassischen,hebräischen und christlichen Altertums, in: Feu-erbach, Ausgewählte Schriften II, a.a.O.: 206)45 Gerhard Neumann, Das Gastmahl als Insze-nierung kultureller Identität, in: Hans JürgenTeuteberg (Hrsg.), Essen und kulturelle Identi-tät, a.a.O.: 45ff.46 Feuerbach, Das Wesen der Christentums,Stuttgart 1998: 409. In der Speiseordnung desAbendmahls ist gegenüber den Beschreibungenim Alten Testament ein kulinarischer Fortschrittabzulesen: Diesmal lockt die Versuchung nichtmit einer wohlriechenden, aber verbotenenBaumfrucht, dessen sündhafter Genuss die Men-schen aus dem irdischen Paradies vertreibt. Dies-mal reizt die Verführung durch verfeinerte Kü-che: lebendiges Brot und reinem Wein, um dasMenschengeschlecht dazu zu bringen, sich zumhimmlischen Leben durchzufuttern – freilich imGeiste eines kannibalischen Aktes.47 Daher greift es in der Sache zu kurz, wenninnerhalb der einschlägigen Literatur zur Ess-kultur gegen ein bloß funktionelles (instrumen-telles) Verständnis des Essens emphatisch be-tont wird, Nahrungsmittel seien „Lebensmittel“,um auf diese Weise (in dem Hinweis auf das Le-ben im Lebensmittelsbegriff) den gastrosophi-schen Eigenwert und Selbstzweck des Essens,seine Heiligkeit, zu markieren.48 In einer bestechenden Formulierung bezeich-

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net Feuerbach das ‹heilige Brot› der christlichenEucharistie als „Konfekt“, weil ihm nicht (mehr)der kulinarische Nähr- und Geschmackswert zu-kommt, Grundbestandteil eines sättigendenGastmahls zu sein, sondern offenbar lediglichgierigen Symbolhunger befriedigen soll: „Wennwir das Brot, dessen Heiligkeit bekanntlich inden heidnischen Mysterien gefeiert wurde, alsdas charakteristische Symbol der alten, naturge-treuen, nur an reelle natürliche Bedürfnisse sichanschließenden Religionen betrachten können,so haben wir dagegen an dem Konfekt das cha-rakteristische Symbol der christlichen Theolo-gie, denn das Brot ist der Gegenstand eines na-türlichen Bedürfnisses, das Konfekt aber nur derGegenstand eines überschwenglichen, suprana-turalistischen Gelüstes, jenes esse ich, um mei-nen Hunger zu stillen, also aus Interesse, diesesaber nur aus Luxus, aus reiner, interessenloserKonfektliebhaberei.“ Wider den Dualismus vonLeib und Seele, Fleisch und Geist, a.a.O.: 11149 Angesichts der gastrotheologischen Bedeu-tung des Weines und Brotes im antiken Poly-theismus konstatiert Feuerbach enttäuscht: „DasChristentum hat kein Weingott, keine Brot- oderGetreidegöttin, keine Ceres“. (ebd., S. 126) –Und das, obwohl bekanntlich Wein und Brotauch im christlichen Glauben gottesdienstlichenWert haben.

Der Autor lehrt als Dozent für Philoso-phie und Kulturtheorie an der Universi-tät Lüneburg.Email: www.haraldlemke.de