atz-konferenz chassis.tech plus die zukunft des fahrwerks

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ATZ-KONFERENZ CHASSIS.TECH PLUS DIE ZUKUNFT DES FAHRWERKS Am 7. und 8. Juni 2011 fand in München die von ATZlive in Kooperation mit dem TÜV Süd veranstaltete Tagung chassis.tech plus zum zweiten Mal statt. Mehr als 400 Fach- leute diskutierten in Plenar- sektionen gemeinsam über alle Systeme, die für die Fahrdyna- mik relevant sind. Die einzelnen Disziplinen Fahrwerk, Lenkung, Bremsen und Reifen wurden darüber hinaus detailliert in Fachsektionen behandelt. 125 JAHRE AUTOMOBIL = 125 JAHRE FAHRWERKS- ENTWICKLUNG 1986 schaffte es Karl Benz mit seinem Patent-Motorwagen als erster, einen Verbrennungsmotor mit einem eigens dafür konstruierten Fahrwerk zu einer funktionstüchtigen Einheit zu verhei- raten. Damit schuf er die Symbiose von Antrieb und Fahrwerk, die auch heute noch ein Automobil ausmacht. Anfänglich hinkte die Fahrwerksent- wicklung allerdings der Motorent- wicklung hinterher. Heute ist das Chassis Treiber von Innovationen in der Fahrzeugentwicklung. Wie Peter Pfeffer von der Hochschule München in seiner Eröffnungsrede erklärte, hat das Fahrwerk auch bei künftigen Fahr- zeugen mit Verbrennungsmotor und/ oder Elektroantrieb einen hohen Stel- lenwert. „Die CO 2 -Reduktion ist fast ein Konjunkturprogramm für Fahr- werksentwickler, schon allein weil weniger Gewicht immer wichtiger wird“, so Pfeffer. CO 2 : CHANCEN UND RISIKEN FüR DIE FAHRWERKSENTWICKLUNG Die Diskussion um immer geringere CO 2 -Emissionen birgt allerdings Chan- cen und Risiken für die Fahrwerksent- wicklung. Horst Schneider, TÜV Süd, verwies in diesem Zusammenhang auf hohe Mängelzahlen bei Fahrwer- ken von drei und fünf Jahre alten Fahrzeugen bei der Technischen Hauptuntersuchung. Insbesondere Effizienzbemühungen hätten die Fahr- werke durch konstruktiven Leichtbau und neue Materialen verändert und offenbar der Langzeithaltbarkeit geschadet. Künftig befürchtet Schnei- der sogar noch steigende Mängelzah- len über die Fahrzeuglaufzeit. Als Bei- spiel nannte er Fahrwerksbauteile aus Kunststoff. Schädigungen daran könn- ten nicht durch einfache Sichtprüfung erkannt werden, sondern würden auf- wendige Untersuchungen erfordern, die wirtschaftlich nicht vertretbar seien. Er forderte die Automobilher- steller auf, neue Werkstoffe nur nach ausführlichen Langzeithaltbarkeitsun- tersuchungen in Serie zu bringen. „Leichtbau ja – aber nur auf die tat- sächlichen Belastungen abgestimmt“, sagte Schneider. Pim van der Jagt von Ford stellte die elektrisch unterstützte Lenkung im neuen Ford Focus vor. Auch hier hatte das CO 2 -Einsparpotenzial der Technik einen hohen Stellenwert, neben Vorteilen durch mehr Frei- räume bei der Fahrzeugapplikation. Bei Ford ist die Fahrqualität eine der Hauptmarkenwerte. Daher hat das Unternehmen 1994 die Fahrdynamik- entwicklung aller Ford-Modelle im sogenannten Vehicle Dynamics Team zusammengefasst. Der Komponen- tenentwicklung übergeordnet werden dort Entwicklung, CAE und Fahr- zeugtests in einer Abteilung bearbei- tet. Damit gewährleistet Ford, dass alle Modelle von Ford den hohen unternehmenseigenen Ansprüchen bezüglich Dynamik und Komfort ent- sprechen. AKTUELL TAGUNGSBERICHT 618 DOI: 10.1365/s35148-011-0143-8

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Page 1: ATZ-Konferenz chassis.tech plus Die Zukunft des Fahrwerks

ATZ-KonferenZ chAssis.Tech plus Die Zukunft Des fahrwerksAm 7. und 8. Juni 2011 fand in München die von ATZlive in Kooperation mit dem TÜV Süd veranstaltete Tagung chassis.tech plus zum zweiten Mal statt. Mehr als 400 Fach­leute diskutierten in Plenar­sektionen gemeinsam über alle Systeme, die für die Fahrdyna­mik relevant sind. Die einzelnen Diszi plinen Fahrwerk, Lenkung, Bremsen und Reifen wurden darüber hinaus detailliert in Fachsektionen behandelt.

125 Jahre automobil = 125 Jahre Fahrwerks­entwicklung

1986 schaffte es Karl Benz mit seinem Patent-Motorwagen als erster, einen Verbrennungsmotor mit einem eigens dafür konstruierten Fahrwerk zu einer funktionstüchtigen Einheit zu verhei-raten. Damit schuf er die Symbiose von Antrieb und Fahrwerk, die auch heute noch ein Automobil ausmacht. Anfänglich hinkte die Fahrwerksent-wicklung allerdings der Motorent-wicklung hinterher. Heute ist das Chassis Treiber von Innovationen in der Fahrzeugentwicklung. Wie Peter Pfeffer von der Hochschule München in seiner Eröffnungsrede erklärte, hat das Fahrwerk auch bei künftigen Fahr-zeugen mit Verbrennungsmotor und/oder Elektroantrieb einen hohen Stel-lenwert. „Die CO

2-Reduktion ist fast ein Konjunkturprogramm für Fahr-werksentwickler, schon allein weil weniger Gewicht immer wichtiger wird“, so Pfeffer.

co2: chancen und risiken Für die Fahrwerksentwicklung

Die Diskussion um immer geringere CO2-Emissionen birgt allerdings Chan-cen und Risiken für die Fahrwerksent-wicklung. Horst Schneider, TÜV Süd, verwies in diesem Zusammenhang auf hohe Mängelzahlen bei Fahrwer-ken von drei und fünf Jahre alten Fahrzeugen bei der Technischen Hauptuntersuchung. Insbesondere Effizienzbemühungen hätten die Fahr-werke durch konstruktiven Leichtbau und neue Materialen verändert und offenbar der Langzeithaltbarkeit geschadet. Künftig befürchtet Schnei-der sogar noch steigende Mängelzah-len über die Fahrzeuglaufzeit. Als Bei-spiel nannte er Fahrwerksbauteile aus Kunststoff. Schädigungen daran könn-ten nicht durch einfache Sichtprüfung erkannt werden, sondern würden auf-wendige Untersuchungen erfordern, die wirtschaftlich nicht vertretbar seien. Er forderte die Automobilher-steller auf, neue Werkstoffe nur nach

ausführlichen Langzeithaltbarkeitsun-tersuchungen in Serie zu bringen. „Leichtbau ja – aber nur auf die tat-sächlichen Belastungen abgestimmt“, sagte Schneider.

Pim van der Jagt von Ford stellte die elektrisch unterstützte Lenkung im neuen Ford Focus vor. Auch hier hatte das CO2-Einsparpotenzial der Technik einen hohen Stellenwert, neben Vorteilen durch mehr Frei-räume bei der Fahrzeugapplikation. Bei Ford ist die Fahrqualität eine der Hauptmarkenwerte. Daher hat das Unternehmen 1994 die Fahrdynamik-entwicklung aller Ford-Modelle im sogenannten Vehicle Dynamics Team zusammengefasst. Der Komponen-tenentwicklung übergeordnet werden dort Entwicklung, CAE und Fahr-zeugtests in einer Abteilung bearbei-tet. Damit gewährleistet Ford, dass alle Modelle von Ford den hohen unternehmenseigenen Ansprüchen bezüglich Dynamik und Komfort ent-sprechen.

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Fahrdynamik von hybrid­ und elektroFahrzeugen

Eine der großen Herausforderungen bei Hybrid- und Elektrofahrzeugen mit einer Funktion zur Bremsenergierekupe-ration ist das Zusammenspiel von Elekt-romaschine im Generatorbetrieb und der konventionellen Betriebsbremse. Ralf Stroph von BMW stellte ein inno-vatives Bremssystem für Elektrofahr-zeuge vor. Wenn die Elektrifizierung des Antriebs stark genug ist, wird dabei keine konventionelle Reibbremse an der elektrifizierten Achse benötigt. „Da das Bremssystem nur eine hydraulische Bremsachse bedienen muss, kann bei Fahrzeugen bis zu einem Gewicht der Kompaktklasse zudem auf eine Brems-kraftunterstützung verzichtet werden“, so Stroph. Die Auslegung beruht darauf, dass ein geringeres Flüssigkeitsvolumen erforderlich ist, wenn nur noch eine Achse hydraulisch gebremst wird. Dadurch ist ein kleinerer Hauptbrems-zylinder ausreichend, der den gleichen Bremsdruck bei wesentlich geringerer Betätigungskraft aufbaut.

Einen Schritt weiter in die Zukunft des elektrifizierten Automobils weisen Konzepte mit voneinander mecha-nisch unabhängigen Elektromotoren an jedem Rad, beispielsweise in den Radnaben. Masato Abe vom Kana-gawa Institute of Technology, Japan, hat untersucht, welche Möglichkeiten der Fahrdynamikkontrolle durch opti-male Radkraftverteilung künftige Drive-by-Wire-Elektrofahrzeuge dieser Bauart bieten. Abe hat in Simulatio-nen wesentliche Sicherheitsvorteile ermittelt, beispielsweise erhebliche kürzere Verzögerungswege. Allerdings verwies er in seiner Rede darauf, dass die Rückmeldung des Systems an den Fahrer ein wichtiger Entwicklungsas-pekt ist. Sie muss so gestaltet werden, dass sie dem Fahrer eine einfache Kontrolle des Fahrzeugs erlaubt.

Auch für Etsuo Katsuyama von Toyota liegt die Zukunft der Elektro-mobilität im Radnabenmotor. Anhand von Simulationen sowie Untersuchun-gen an einem Prototypen auf Lexus-Basis zeigte er eindrucksvoll das Potenzial von Radnabenmotoren für die Fahrdynamik: „Mit unserer Ent-

wicklung können wir Gieren, Rollen, Neigen sowie Heben und Senken des Fahrzeugs unabhängig voneinander alleine durch eine intelligente Rad-kraftsteuerung auf die Anforderungen einstellen“, meinte Katsuyama.

von der Fahrerassistenz zum autonomen Fahren?

Wie sich in der abschließenden Ple-narsektion herauskristallisierte, ist neben der weiteren CO2-Reduzierung die Fahrerassistenz Megatreiber für die künftige Fahrwerksentwicklung. Radaufhängung, Lenkung, Bremsen und Reifen werden künftig immer mehr zum vernetzten Fahrwerkssys-tem, das mit Fahrerassistenzsystemen kommuniziert, die in den nächsten Jahren auf breiter Front Einzug in das Automobil halten werden. Dabei geht es laut Christian Sobottka von Bosch neben Komfort- und Dynamikaspek-ten vor allem um die Reduzierung der bei Unfällen Getöteten oder Verletz-ten, insbesondere Fußgänger. „Das Innovationspotenzial aus der Vernet-zung von Chassis- und Fahrerassis-tenzsystemen ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft“.

Ralf Schwarz von Audi stellte den E-Tron-Quattro vor. Das Fahrzeug nutzt einen auf die Vorderachse wirkenden Hybridantrieb, der um einen Elektro-motor an der Hinterachse ergänzt ist. Hinten kommen elektromechanische Bremsen zum Einsatz. Ihre schnelle elektrische Betätigung soll eine hoch-präzise Regelung des Fahrstabilitätspro-gramms ESP gewährleisten.

Im Rahmen einer Podiumsdiskus-sion gewährten Ralf Schwarz von Audi, Christian Sobottka von Bosch und Bernd Gombert vom Entwick-lungszentrum für Mechatronik einen weitreichenden Blick in die mögliche Zukunft der individuellen Mobilität. Die Vision von Bosch mündet im autonomen Fahren, das laut Sobottka im Jahr 2020 möglich sein könnte. Auch für Gombert „geht über kurz oder lang nichts am autonomen Fah-ren vorbei“. Als Schritt in diese Rich-tung entwickelt er derzeit ein Elektro-fahrzeug für die Stadt, bei dem die

kompletten Antriebs-, Brems-, Lenk- und Federungsfunktionen in die Rad-naben integriert sind. Auf die Frage, ob modulare Radnabenlösungen die Vision vom autonomen Fahren begünstigen könnten, antwortete Sobottka: „Man hat ja heute schon Steer-, Brake- und Drive-by-Wire-Sys-teme. Ich sehe eher eine psychologi-sche Hilfestellung, weil autonomes Fahren bei einem neuen Fahrzeugkon-zept leichter akzeptiert werden könnte“. Schwarz gab auf die Frage nach Radnabenmotoren zu bedenken, dass es derzeit unter anderem noch Probleme bei der Spur- und Sturzver-stellung gibt, sodass er eine Serien-umsetzung kritisch sieht.

Dies und vieles mehr wurde von mehr als 400 Fachleuten diskutiert. Die nächste ATZlive-Tagung chassis.tech plus findet am 21. und 22. Juni 2012 wieder in München statt.

Richard Backhaus

09i2011 113. Jahrgang 619

Zitate

horst schneider, tüv süd: „Leichtbau ja – aber nur auf die tatsächlichen Belastungen abgestimmt.“

christian sobottka, bosch: „Das innovations­potenzial aus der Vernet­zung von chassis­ und Fahrerassistenzsystemen ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft.“

bernd gombert, entwicklungszentrum Für mechatronik: „Über kurz oder lang geht nichts am auto­nomen Fahren vorbei.“