articles on theodor w. adorno

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der spiegel 34/2003 Was wäre Glück, das sich nicht mäße an der unmeßbaren Trauer dessen was ist? Denn verstört ist der Weltlauf. Theodor W. Adorno, „Minima Moralia“ H underte waren dabei, viele haben es nacherzählt, sogar Bilder exis- tieren – und doch klingt sehr fern, was da am 22. April 1969 im Hörsaal VI der Frankfurter Universität ihrem prominen- testen Professor passierte: Drei Studentin- nen in Lederjacken umringen einen klei- nen rundlichen Mann mit fast kahlem Schädel, streuen Blüten über ihn, küssen ihn auf die Backen und rücken ihm mit nacktem Busen zuleibe, bis er im Schutz seiner Aktentasche aus dem Saal stürzt. Als Happening war es gedacht, als iro- nisch-freche Aktion, die Theodor W. Ador- no klar machen sollte, dass Umsturz nicht im Kopf allein stattfinden dürfe, dass seine Bannflüche über „Kulturindustrie“ und „Verblendungszusammenhang“ Folgen ha- ben müssten. „Wer nur den lieben Adorno läßt walten, der wird den Kapitalismus sein Leben lang behalten“, stand an der Tafel. Lang ist das her. Darum will Adornos Vaterstadt Frankfurt am Main, wo auch die Gralshüter des Theodor W. Adorno Archivs residieren, dem Verblassen seines Ruhms nun mit aller Macht Einhalt gebieten. Ein Festprogramm, wie es sonst nur der be- rühmteste Sohn der Stadt, Goethe, in Gang brächte, erreicht bald die heiße Phase. Symposien, Podiumsgespräche, Lesun- gen, Ausstellungen, die obligate Groß-Kon- ferenz, eine Preisverleihung samt Konzert, ein „Adorno-Lerntag“ und Aufführungen seiner Musikwerke: Wer dem Trubel tat- sächlich entkommt, wird früher oder spä- ter am neu gestalteten Theodor-W.-Ador- no-Platz im Westend landen und so vom Lokalhelden mit Weltniveau erfahren. Auf dem Buchmarkt gilt der 1969 gestor- bene Denker inzwischen als Klassiker. Von einem Neudruck der „Minima Moralia“, ein- schüchternd raffinierten „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“, wurde sein Haus- verlag Suhrkamp in zwei Jahren über 15000 Exemplare los. Selbst auf CD-Rom ist Ador- no bald durchklickbar. Fehlte zur Heiligen- legende eigentlich nur noch die Biografie. Jetzt, zu seinem 100. Geburtstag am 11. September, ist die Geschichte fast nur noch eine Kuriosität. Entrückt scheint sie wie die Jahre, in denen jeder aufrechte Linksintellektuelle jederzeit seine eiserne Ration von Adorno-Worten herunterras- seln konnte: dass „das Ganze“ nur „das Unwahre“ sein könne, dass „kein richtiges Leben im falschen“ denkbar oder dass nach Auschwitz Gedichte zu schreiben „barbarisch“ sei. 138 DENKER Narziss und Nilpferdkönig Der Allround-Intellektuelle Theodor Wiesengrund-Adorno inszenierte sich im Nachkriegsdeutschland virtuos als Vordenker und Gewissen der Nation. Zum 100. Geburtstag huldigen gleich drei Biografen dem widersprüchlichen, egomanischen Genie. Philosoph Adorno (um 1965 in Sils-Maria): „Wahr sind nur die Gedanken, die sich selbst nicht verstehen“ ADORNO ARCHIV Adorno mit Mutter (M.) und Tante (1916) Täglich zur Schule begleitet ADORNO ARCHIV Kultur

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3 Articles on the German Philosopher Theodor W. Adorno on the occasion of his 100. Anniversary

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  • d e r s p i e g e l 3 4 / 2 0 0 3

    Was wre Glck, das sich nicht me

    an der unmebaren Trauer dessen was ist?

    Denn verstrt ist der Weltlauf.

    Theodor W. Adorno, Minima Moralia

    Hunderte waren dabei, viele habenes nacherzhlt, sogar Bilder exis-tieren und doch klingt sehr fern,was da am 22. April 1969 im Hrsaal VI derFrankfurter Universitt ihrem prominen-testen Professor passierte: Drei Studentin-nen in Lederjacken umringen einen klei-nen rundlichen Mann mit fast kahlemSchdel, streuen Blten ber ihn, kssenihn auf die Backen und rcken ihm mitnacktem Busen zuleibe, bis er im Schutzseiner Aktentasche aus dem Saal strzt.

    Als Happening war es gedacht, als iro-nisch-freche Aktion, die Theodor W. Ador-no klar machen sollte, dass Umsturz nichtim Kopf allein stattfinden drfe, dass seineBannflche ber Kulturindustrie undVerblendungszusammenhang Folgen ha-ben mssten. Wer nur den lieben Adornolt walten, der wird den Kapitalismus seinLeben lang behalten, stand an der Tafel.

    Lang ist das her. Darum will AdornosVaterstadt Frankfurt am Main, wo auch dieGralshter des Theodor W. Adorno Archivsresidieren, dem Verblassen seines Ruhmsnun mit aller Macht Einhalt gebieten. EinFestprogramm, wie es sonst nur der be-rhmteste Sohn der Stadt, Goethe, in Gangbrchte, erreicht bald die heie Phase.

    Symposien, Podiumsgesprche, Lesun-gen, Ausstellungen, die obligate Gro-Kon-ferenz, eine Preisverleihung samt Konzert,ein Adorno-Lerntag und Auffhrungenseiner Musikwerke: Wer dem Trubel tat-schlich entkommt, wird frher oder sp-ter am neu gestalteten Theodor-W.-Ador-no-Platz im Westend landen und so vomLokalhelden mit Weltniveau erfahren.

    Auf dem Buchmarkt gilt der 1969 gestor-bene Denker inzwischen als Klassiker. Voneinem Neudruck der Minima Moralia, ein-schchternd raffinierten Reflexionen ausdem beschdigten Leben, wurde sein Haus-verlag Suhrkamp in zwei Jahren ber 15000Exemplare los. Selbst auf CD-Rom ist Ador-no bald durchklickbar. Fehlte zur Heiligen-legende eigentlich nur noch die Biografie.

    Jetzt, zu seinem 100. Geburtstag am 11. September, ist die Geschichte fast nurnoch eine Kuriositt. Entrckt scheint siewie die Jahre, in denen jeder aufrechteLinksintellektuelle jederzeit seine eiserneRation von Adorno-Worten herunterras-seln konnte: dass das Ganze nur dasUnwahre sein knne, dass kein richtigesLeben im falschen denkbar oder dassnach Auschwitz Gedichte zu schreibenbarbarisch sei.

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    D E N K E R

    Narziss und NilpferdknigDer Allround-Intellektuelle Theodor Wiesengrund-Adorno inszenierte sich

    im Nachkriegsdeutschland virtuos als Vordenker und Gewissen der Nation. Zum 100. Geburtstaghuldigen gleich drei Biografen dem widersprchlichen, egomanischen Genie.

    Philosoph Adorno (um 1965 in Sils-Maria): Wahr sind nur die Gedanken, die sich selbst nicht verstehen

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    Adorno mit Mutter (M.) und Tante (1916)Tglich zur Schule begleitet

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    Kultur

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    Doch wer traute es sich zu, einen Uni-versalisten zu schildern, der ber Zwlf-tonmusik wie Hegel, den AutoritrenCharakter wie seine erste Flugreise, janoch ber das Wort Uromi brillant-vertrackte Essays schrieb? Erst der Sogerwnschter Verehrung hat den Bann nungebrochen: Gleich drei Lebensgeschichtenund etliches andere erscheint dieser Tage(siehe Kasten Seite 141).

    Verblffend genug: Die Bcher ergn-zen sich nahezu perfekt. Was der ber tau-send Seiten starken offizisen Lebenschro-nik des Soziologen Stefan Mller-Doohman Verve und Weitblick abgeht, leisten dieanderen: FAZ-Redakteur Lorenz Jger,der ein zeitgeschichtlich umrahmtes Portrtgeliefert hat, oder der Adorno-Schler Det-lev Claussen, dessen feinfhliger Buch-essay ausdrcklich ein letztes Geniewrdigt (siehe Interview Seite 140). Abergerade das Licht von vielen Seiten offen-bart nun auch Brche und Widersprche.

    Beim Namen fngt es an. Gern lie derSohn eines jdischen Weinhndlers in sp-teren Jahren durchblicken, er stamme aus

    edler Genueser Patriziersippe. Tatschlichaber hatte sich erst sein Grovater mtter-licherseits, ein korsischer Offizier a. D. undFechtlehrer namens Jean Franois Calvel-li, der aus Liebe in Frankfurt gebliebenwar, nach eigenem Gutdnken ein klang-volles Adorno della Piana zugelegt.

    Bei der US-Einbrgerung 1943 lie sichTheodor Ludwig Wiesengrund, von Freun-den und Familie Teddie gerufen, den Bei-namen verbriefen; spter fgte er ein ver-schmtes W. ein. Dahinter steckte keineTcke, nur sein stets unbndiger Wille, soviel wie mglich aus sich zu machen.

    Schon der verhtschelte FrankfurterJunge, den Mutter und Tante tglich zurSchule begleiteten, dichtete und kompo-nierte; vom Sportunterricht befreit und all-jhrlich mit einem Ferienaufenthalt imidyllischen Odenwald-Nest Amorbach be-lohnt, war Teddie der Paradefall eines welt-fremden, manchmal gehnselten Primus.

    Alles schien dem Sngerinnen-Sohn ausbegtertem Haus zuzufliegen. Wie einverkleinerter Prinzensohn wirkte er aufseinen ersten Mentor, den 14 Jahre lterenSiegfried Kracauer, der bei der einflussrei-

    ten das Lehren. Als sogar seine Wohnungdurchsucht wurde, ergaben eilige Recher-chen nur eine Notlsung: England.

    Mit viel Glck und der Hilfe eines aus-gewanderten Wiesengrund-Onkels fander Zuflucht im renommierten OxforderMerton College: offiziell als advanced stu-dent, de facto eher als ein geduldeterAuenseiter. Zwar versuchte er, sein mise-rables Englisch aufzubessern, indem er Kri-mis im Akkord las, doch Gesprchspart-ner fehlten. In einem Angsttraum sei ergelandet, klagte Teddie und nannte seinCollege-Dasein gar das verlngerte dritteReich.

    Natrlich war der Brief-Seufzer kalku-liert: Er sollte bei einem alten Bekannten,dem Philosophen Max Horkheimer, Mit-gefhl wecken. Horkheimer war seit 1930Chef des privaten, finanzstarken marxisti-schen Instituts fr Sozialforschung, daser geschickt aus dem nun braunen Frank-furt ber Genf und Paris nach New Yorkverlegt hatte. Er hatte den brillanten Kopflngst verpflichten wollen. Doch zuvor soll-te Wiesengrund sich bewhren.

    Der tat das beinahe bereifrig mit Ar-beiten fr die institutseigene Zeitschrift frSozialforschung, etwa ber Jazzmusik,aber auch als Kontaktmann zu schwierigenMitarbeitern wie Benjamin oder Kracauer.Selbst als Horkheimer und sein MitstreiterFritz Pollock ihn mit Text-Nrgeleien aufdie Probe stellten, wurde der nur beflissener.

    Und es half: Dank Horkheimer fand sicheine Forschungsstelle in den USA. Anfang1938 konnten Gretel und Teddie, frisch ver-heiratet, nach New York ziehen.

    Alles Weitere zhlt lngst zum Grndungs-mythos der Frankfurter Schule: Wiesen-grunds Eintritt ins Institut fr Sozialfor-schung, 1941 der Umzug nach Kalifornien,das Leben unter Hollywoods Emigranten ob Greta Garbo, Bert Brecht oder Fritz Lang, die Philosophie der neuen Musik, dasFragebogen-Projekt zur Durchleuchtung derautoritren Persnlichkeit und die Arbeitmit Horkheimer am gemeinsamen Haupt-werk Dialektik der Aufklrung, wo es umdas Destruktive des Fortschritts ging.

    Doch neben der offiziellen Geschichtezeigen die Dokumente nun auch den pri-vaten Theodor Wiesengrund-Adorno:

    chen Frankfurter Zeitung Redakteurwar. An den Stuhl seiner Mutter gelehnt,beantwortete er die ihm gestellten Fragenin einem matten Ton, der den groen trau-rigen Augen widersprach, die unter denlangen Wimpern hervorblickten.

    Bald sah Kracauer, wie der Gymnasiastseine scharfsichtige Sozialkritik bis in De-tails bernahm hnlich ging Jung-Wie-sengrund wenig spter mit seinem Philo-sophie-Doktorvater um und dann, 1925 inWien, mit Alban Berg, dem Lieblings-schler des strengen Arnold Schnberg.Selbst die raunend-marxistischen Ideen desBerliners Walter Benjamin, der wie Teddieselbst mit einem Habilitationsversuch inFrankfurt gescheitert war, sog er auf Lernbegier und chamleonhafte Anleh-nungslust schienen sich zu decken.

    Scheu war er nicht: Als Konzertkritikerrief er Schnbergs Stcke zur einzigenWahrheit aus. Leider nur fand Schn-berg den jungen Komponier-Streber vonBergs Gnaden widerwrtig. Er soll einenwahren Wiesengrund-Komplex haben,beklagte sich Teddie bei Kracauer.

    Aber es musste ja nicht die Musik sein.In Frankfurt gelang es Wiesengrund nachimmerhin dreieinhalb Jahren doch noch,Philosophie-Dozent zu werden: mit einerStudie ber den dnischen ErzgrblerSren Kierkegaard, in der Walter Benjaminmanchen seiner Einflle wiedererkannte.

    Allerdings mochte Benjamin noch ausanderem Grund eiferschtig sein: Er rede-te die Berliner Fabrikantentochter GretelKarplus, eine gertenschlanke, blitzgeschei-te Chemikerin, zwar traulich als Felizi-tas an mit Teddie aber war sie verlobt.

    Von solchen Privatheiten ahnten Wie-sengrunds erste Schler nichts. Alles, waser sagte, war druckreif, jeder Satz klangwie: So ist es, und nicht anders, erinner-te sich ein damaliger Student.

    Um diese Zeit wurde die immer kahlerwerdende Gestalt noch auf Kostmfestenals Napoleon gesichtet. Doch nach drei Se-mestern verbot die neue nationalsozia-listische Fhrung dem jungen Privatdozen-

    * Links: Elvis Presley im Film Sdsee-Paradies (1966);Mitte: Szene aus Big Brother; rechts: Modenschau inSo Paulo.

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    Adorno-Feindbilder Popmusik, Fernsehen, Kommerz-sthetik*: Grimmiger Feldzug gegen die einlullende Kulturindustrie

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    Kultur

    Claussen, 55, unterrich-tet Soziologie an derUniversitt Hannover.Seinen Lehrer Adornohat er jetzt in einem bio-grafischen Essay gewr-digt: Theodor W. Ador-no ein letztes Genie(S. Fischer Verlag, Frank-furt am Main).

    SPIEGEL: Herr Professor Claussen, wiesind Sie Adorno begegnet?Claussen: Am Alten Gymnasium inBremen besuchte ich einen Philoso-phie-Arbeitskreis, den der Dompredi-ger Abramzik anbot. Er organisierteauch Vortragsreihen fr Radio Bremen.Hinterher gab es Treffen bei Suppe undWein in seiner Dienstwohnung, zu de-nen auch ich eingeladen wurde. Daswar phantastisch. So lernte ich schonals Schler Ernst Bloch, Hans Mayerund 1964 eben auch Adorno kennen.SPIEGEL: Worber sprach er?Claussen: Es war sein damaliger Stan-dardvortrag er machte ja richtigeTourneen ber den Fortschritt. Schonder erste Augenblick war bezeichnend:Auf dem Podium standen ein Pult undein Klavier. Adorno schien ans Klavierzu wollen, dann bog er zum Kathederab. Erst spter habe ich gemerkt, wiesymbolisch dieser Moment war. Ador-no benahm sich wie ein Knstler, deretwas auffhrt, auch privat. Bei seinenPartys spter im Kettenhofweg setzte ersich gern an den Steinway und erspielte nicht nur Schnberg.SPIEGEL: Sie haben seine Performancesdann oft erlebt. Wie ging es zu im le-gendren Hrsaal VI?Claussen: Das Verblffende war: Manmerkte nicht, ob Adorno ablas oder freisprach. Dabei bildeten die Vorlesungeneinen Teil seines Schreibens. Auch Mit-schnitte gab es. Aber Tonbnder wa-ren fr ihn allenfalls, wie er sagt, Fin-gerabdrcke des lebendigen Geistes.SPIEGEL: Lieen sich seine gedrechsel-ten Stze berhaupt mitschreiben?Claussen: Kaum. Aber das war auchunwichtig. Am Anfang verstand keineretwas. Wer dabei blieb es waren fastalle , der hrte sich mit der Zeit einund merkte, wie genau da einer dach-te und redete.

    SPIEGEL: Sie nennen Adorno ein letz-tes Genie. Weshalb?Claussen: Es passt einfach, gerade weildarin schon der Widerspruch zum her-kmmlichen Begriff steckt. Anstatt dasOriginalgenie mit pltzlichen Einge-bungen zu spielen, hat Adorno wiealle echten Genies, auch das Frankfur-ter Bildungsbrger-Ideal Goethe vor-gelebt, worauf es wirklich ankommt:durch unendlichen Flei zu treffen, wasman auszudrcken hat. Er war ja auchein Wunderkind, das dem traurigenSchicksal so vieler Wunderkinder ent-rinnen wollte. Nur durch harte Arbeitkonnte das gelingen. Was ich hier tue,kannst du auch, signalisierte er. Daswar das Demokratische an ihm.SPIEGEL: Sie lernten also Denk-Moral?Claussen: Das Moralische wrde ich garnicht so betonen. Es ging bei Adornoimmer um die Sache, auf Lehrstzekam es nicht an.SPIEGEL: Aber auf Zeitgemheit?Claussen: Im tieferen Sinne, ja. Das Ge-nie bndelt, wie schon Hegel meint,das, was an der Zeit ist, das Epochale.Adorno vermittelte die berzeugung,dass Theorie den Dingen nicht hinter-herhinken darf. Sie muss auch etwasriskieren. Seit er wieder in Deutsch-land auftrat, machte er darum, wo im-mer er sprach und schrieb, klar: Eskann nicht weitergehen wie zuvor.SPIEGEL: Ein Pldoyer gegen jede Re-stauration?Claussen: Gewiss. Nur pldierte er nicht,er zeigte und analysierte. Das war dasberzeugende.

    SPIEGEL: Erlebten Sie ihn auchallzu menschlich?Claussen: Wenn er sich freute,wirkte er oft fast kindlich. Aberauch seine Klaue war ein Ku-riosum. Bekam jemand eine Se-minararbeit zurck, haben wiroft zu viert oder fnft die An-merkungen zu lesen versucht.Schlielich musste Frau Ol-brich, seine Sekretrin, helfen.SPIEGEL: 1968/69 war dann dieLustigkeit vorbei, als ihn seineStudenten attackierten undStudentinnenClaussen: Also, dieses Happe-ning mit den entblten Busenwird total berdramatisiert. Es

    waren richtige Idioten aus der Leder-jacken-Fraktion, das wussten alle. Wirwaren ja die ganze Zeit im Gesprch,Assistenten und Studenten und er sel-ber. Auch er selbst wusste haargenauBescheid zum Beispiel, dass die In-stitutsbesetzung nur dazu dienen soll-te, eine erlahmende Revolte wieder inGang zu bringen. Dass er die Polizeiholen lassen musste, war eine sehr dum-me und unfaire Aktion von uns SDS-Aktivisten, die doch zum grten Teilseine Schler waren.SPIEGEL: Nach Adornos pltzlichemTod, schreiben Sie, sei kaum eine L-cke zu sehen gewesen, wo sich freiformulieren lie. War sein Alles-Er-klrertum auch bedrohlich? Claussen: Nicht bedrohlich, aber wieein Mahlstrom, ein Sog. Es war einSchock, dass diese Verfhrungskraftpltzlich weg sein sollte.SPIEGEL: Schler ohne Guru?Claussen: Nein, Anbetung und Nach-plappern funktionierten bei ihm nicht.Er verlangte von uns harte Arbeit. Ergab sich ja auch mit sich nie zufrieden.SPIEGEL: Ist es das, was Sie von Ador-no gelernt haben? Claussen: Viel mehr. Und es gab jazudem auch noch Horkheimer undMarcuse. Sie alle vermittelten eine le-bendige kritische Theorie, keine aka-demischen Karrierismus. Das Glck,etwas zu verstehen, sogar Altbekann-tes mit neuen Augen zu sehen, das ha-be ich damals erfahren und versuche es heute meinen Studenten weiter-zugeben.

    Was ich hier tue, kannst du auchAdorno-Biograf Detlev Claussen ber die pdagogische Verfhrungskunst des Philosophen

    Attacke auf Adorno (1969): Dumm und unfair

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  • als Papier-Marxisten, der unentwegt sin-niert, warum die Menschheit, anstattin einen wahrhaft menschlichen Zustandeinzutreten, in eine neue Art von Bar-barei versinkt, aber nur ungern in derTouristenklasse ber den Atlantik fhrt;

    als verwhnten Eierkopf, der Einrich-tung und Haushalt seiner Gattin ber-lsst (eine Aufgabe, an der teilzuneh-men ich in der zynischsten Weise ab-lehne), sie als Schreib-Hilfe nutzt, aberSchlafzimmer-Trennung praktiziert;

    als braven Sohn, der sich in Briefen anseine bald ebenfalls ausgewandertenEltern Nilpferdknig Archibald nennt Gretel muss bei Schwiegermama aliasWundernilstute Marinumba von Bauch-schleifer das Rezept von Teddies ge-liebter Buttersuppe erfragen;

    als Dauer-Pessimisten, der entsetzt sthnt,da man, ganz gleichgltig wo, hoff-nungslos gefangen ist; aber auch

    als Erotiker, der sich unentwegt in Af-fren strzt, um dann durch Schreib-arbeit der Sehnsucht zu entrinnen.Keineswegs alle Opfer dieser grenzen-

    losen Fhigkeit zum Leiden, zum Hinge-rissen-Werden, zum sich Verlieren (soAdorno selbst) nennen die Biografen beimNamen. Schon 1926 gab es in Frankfurteine Kurzliaison mit der SchauspielerinEllen Dreyfuss-Herz; in Los Angeles in-szenierte Adorno 1943 einen Schauerro-man mit der Aktrice Rene Nell, fr dieer sogar demtig-keck dichtete: Vergibmir, Schnste, da ich Dich erfand.

    Im Jahr darauf hatte esihm ausgerechnet die Frauseines Arztes angetan. Da-neben flirtete er stets vonechtem Adel gebannt mitdem Starlet Luli Deste,einer Grfin Goerz undgeborenen Baronesse Bo-denhausen: Ein Jahr nurjnger als ich, aber schlech-terdings das schnste, edels-te und zauberhafteste Ge-schpf, das ich in meinemLeben getroffen habe.

    Aber auch weniger edleEskapaden leistete er sichoft. Bordellbesuche sind

    Adorno vor Bekannten mit seiner Zuarbeitprahlte, rckte Thomas Mann ab vom Wirk-lichen Geheimen Rat, der als penetrant do-zierender Musiklehrer Wendell Kretzschmarim Buch auftrat. Und er nahm subtile Rache,indem er fnf Noten bei Beethoven die Wor-te grner Wiesengrund unterlegte.

    Als 1947 Doktor Faustus und die Dia-lektik der Aufklrung erschienen, gab esschon wieder Verbindung nach Deutsch-land. Auch wenn es nun das Land der Mr-der war, ohne seine Muttersprache fhlteAdorno sich verloren.

    Doch erst drei Jahre spter gelang esHorkheimer, das Institut wieder in Frank-furt anzusiedeln; Professor wurde Adornogar erst 1957. In dieser Zeit erschrieb sichder Rundum-Interpret, der Paradoxe lieb-te (Die wahre Sprache der Kunst istsprachlos) und nicht mde wurde, die mo-derne Welt kulturkritisch als Kapital-Jam-mertal zu schildern, einen festen Platz imintellektuellen Nachkriegsdeutschland.

    Nicht alle fanden das richtig. Adorno seieiner der widerlichsten Menschen, die ichkenne, giftete die jdische Heidegger-Schlerin Hannah Arendt im Brief an denPhilosophen Karl Jaspers. Auch Jaspersvermutete Schwindel hinter Adornosunermesslich viel wissenden, alles hin-und herwendenden Schriften. Selbst FrauHorkheimer hatte einmal erklrt: Teddiesei der ungeheuerlichste Narzi, den diealte und neue Welt aufzuweisen hat einSatz, den Biograf Mller-Doohm lieber indie Anmerkungen abschiebt.

    Nun aber war das Publikum da, und esschien zu rufen. Musik-Analysen, von Bachber Wagner bis Alban Berg, lieen auf-horchen; Soziologen beriefen sich auf die(heute im Fach kaum noch anerkannten)Fragebogen-Methoden des Instituts. Kafkaoder Geschenkartikel, Beckett oder eineTheorie der Halbbildung kein Kultur-thema schien Adorno fremd, und immerzeigte sich hinter seiner manierierten Aus-drucksweise ein versonnener Denk-Spieler.Wenn Philosophen, denen bekanntlichdas Schweigen immer schon schwerfiel,aufs Gesprch sich einlassen, so solltensie so reden, da sie allemal unrecht be-

    * Anfang der dreiiger Jahre.

    belegt, und in einer New Yorker Tagebuch-notiz von 1949, jetzt im neuen Bildbanderstmals gedruckt, heit es ber eine bis-lang unbekannte Dame:Das Weekend mit Carol. Wir aen imRumpelmeier, ich setzte ihr das Pro-gramm auseinander, das wir streng inne-hielten; Genieen der Vorlust Nach-mittag der uersten Exzesse, in vlligerHelle und Klarheit. Echte Masochistin:zweimal ihr Orgasmus nur beim freilicherbarmungslosen Schlagen Das Kunst-stck beim Lieben von hinten einen ganzeinzuschlieen Morgens nackte Repri-se. Menschlich und geistig gereift.

    Solche Kehrseiten lassen die Biografennahezu unerwhnt. Gretel, die fast alleswusste, hielt still; auch spter, wenn sichAdorno in Frankfurt einer Eva hier oder ei-ner Arlette dort nherte. An der Fugn-

    gerampel konnte ProfessorAdorno ungestraft seineGattin mit dem Spazier-stock fortschubsen, um freieSicht auf eine attraktive jun-ge Dame zu gewinnen.

    Wichtiger als jeder Flirtaber war ihm in Kaliforniensein Kontakt zum Star der Exil-Literaten, ThomasMann. Fr den Komponis-tenroman Doktor Faus-tus lieferte Adorno Mate-rial und sogar Beschrei-bungen nie erklungenerStcke, die Mann kaum re-tuschiert bernahm. Erst als

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    Lorenz Jger: Adorno. Eine politische Biographie.Deutsche Verlags-Anstalt, Mnchen; 320 Seiten;22,90 Euro. Zeitgeschichtlich-kritisches Portrtvor weitem Horizont.

    Theodor W. Adorno: Kindheit in Amorbach.Hrsg. von Reinhard Pabst. Insel Verlag, Frank-furt am Main; 252 Seiten; 9,50 Euro. Detek-tivische Spurensuche im Jugendparadies.

    Adorno. Eine Bildmonographie. Hrsg. vom Th.W. Adorno-Archiv. Suhrkamp Verlag; 296 Sei-ten; 39,90 Euro. Enthlt viele Privat-Texte.

    Theodor W. Adorno: Briefe an die Eltern.Suhrkamp Verlag; 576 Seiten; 39,90 Euro.Rhrende Belege fr Adornos politische Nai-vitt, erotische Anflligkeit und Sohnestreue.

    BCHER ZU ADORNOTheodor W. Adorno: Die Hauptwerke. Suhr-

    kamp Verlag, Frankfurt am Main; zus. 1958 Seiten; 50 Euro. Auswahl zum Jubilum.

    Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften.CD-Rom. DirectMedia Verlag, Berlin; 79,90Euro (erscheint 30. 10.). Magebliche Ausgabeim Volltext, ideal fr Bonmot-Stberer.

    Stefan Mller-Doohm: Adorno. Eine Biographie.Suhrkamp Verlag; 1032 Seiten; 29,90 Euro.Umfassende, offizise Chronik, aber ohneviel Esprit.

    Detlev Claussen: Theodor W. Adorno. Ein letztesGenie. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main;480 Seiten; 26,90 Euro. Leidenschaftliche Wr-digung, mit vielen kaum bekannten Zitaten.

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    Institutssitzung mit Horkheimer und Adorno (M., 1955): Zu jeder Analyse auch das Gegenteil

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    Adorno-Braut Gretel Karplus*Stets getrennte Schlafzimmer

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  • dammte, liebte privat die Serie Dak-tari mit ihren ulkigen Tierfiguren.

    Den NS-belasteten Philosophen MartinHeidegger wollte er am Jargon derEigentlichkeit entlarven obwohl seinStil vergleichbare Schrullen zeigte, etwadas nachgestellte sich (Wer den rech-

    halten, aber auf eine Weise, die den Geg-ner der Unwahrheit berfhrt.

    Nach diesem absichtsvoll verquerenGrundsatz stritt er fr das, was HorkheimerKritische Theorie genannt hatte: ein-greifende, verndernde Weltbetrachtung,aufgeklrt, skeptisch, ohne Utopie und imZweifel links-materialistisch kurz: das jefortgeschrittenste Bewutsein zur Kultur-und Geisteslage. Aber nach welchem Ma-stab war es zu finden? Die Antwort daraufverweigerte Adorno hartnckig.

    Von berall her sahen die Frankfurtersich inzwischen beargwhnt: Spottete hierder moskautreue Literatur-Philosoph Ge-org Lukcs ber das bequeme Grand Ho-tel Abgrund, so unkten dort Konservative,das Institut mache Umstrzlerei hoffhig.

    Selbst Adornos geistiger Ziehvater Sieg-fried Kracauer grollte: Er schreibt ja auchso viel, und manches ist auf einer hohenEbene falsch, ausgeleierter Tiefsinn undeine Radikalitt, die es sich gutgehen lt.

    Zumindest das Letzte stimmte so nicht:Arbeitend bis zur Erschpfung, obendreinvon Schlaflosigkeit geplagt, durchlitt Ador-no alle Qualen eines Medienstars der ers-ten Stunde. Und immer hufiger waren Wi-dersprche zu erkennen: Der Gesellschaftsvernderer liebte es

    grobrgerlich vom Urlaub im Luxus-hotel Waldhaus in Sils Maria bis zurFrhstcksorder: ein groes Omelettmit Toast und dazu ein gespritztertrockener Riesling von der Mosel.

    Zwar mahnte Adorno, auch sthetischins Offene und Ungesicherte zu den-ken, aber Jazz hielt er fr Kommerz-gedudel, schimpfte auf die grlendeGefolgschaft des Elvis Presley und fandin den ersten Liedern der Beatles sofortetwas Zurckgebliebenes.

    Er, der fr Resistenz gegen das Auf-gedrngte, gegen die Macht des Be-stehenden, Charaktermasken unddas Funktionieren eintrat, schtzteprivat feine Formen: Endlich braucheich mich nicht zu genieren, so hflich zu sein, wie ich bin, notierte er er-leichtert beim ersten Paris-Besuch nachdem US-Exil.

    Anwalt der Zivilcourage, ordnete er sichdoch dem Machtmenschen Horkheimerunter: Sowohl bei der Ab-lehnung des homosexuel-len Golo Mann als Profes-sor fr Frankfurt wie sp-ter bei Horkheimers Neinzum Nachwuchsphiloso-phen Jrgen Habermasgab Adorno klein bei.

    Wie kein anderer frderteer das Erbe Walter Benja-mins, doch bei der Editionvon dessen Schriften er-laubte er sich Eingriffe.

    Er, der Fernsehen alsIdeologie und einlullen-de Kulturindustrie ver-

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    Kultur

    Belletristik

    Bestseller

    Patrizierpalsteund verwinkelteGassen: eine Irr-fahrt durch dasBarcelona derNachkriegszeit

    1 (1) Henning Mankell Vor dem FrostZsolnay; 24,90 Euro

    2 (2) Joanne K. Rowling Harry Potterand the Order of the PhoenixBloomsbury; 24,80 Euro (unverbindl. Preisempfehlung)

    3 (3) Eric-Emmanuel Schmitt

    Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran Ammann; 12 Euro

    4 (5) Siegfried Lenz FundbroHoffmann und Campe; 21,90 Euro

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    d e r s p i e g e l 3 4 / 2 0 0 3

  • ten Kontakt mit Bchern hat, der fhltschwerlich in Bibliotheken sich wohl).In seiner Philosophie des Nicht-Identi-

    schen, die er unter dem Buchtitel Negati-ve Dialektik bndelte, beabsichtigte er,ber den Begriff durch den Begriff hin-auszugelangen. Unbeirrbar zog er gegen

    konservative Genieerei zu Felde. Wahrsind nur die Gedanken, die sich selbst nichtverstehen, sagte er. Oder: Nur das u-erste hat die Chance, dem Brei der etablier-ten Meinung zu entgehen. Das steht als Ma-xime hinter jedem Satz, den ich schreibe.

    Adorno sagt zu jeder seiner Analysenauch das Gegenteil, notierte ausgerechnetsein Kompagnon Max Horkheimer. Abertrotz dieser auf die Spitze getriebenen Dia-lektik bleibt das, was er sagt, unwahr. Denndie Wahrheit lt sich nicht sagen Eskommt aber darauf an, das, was man anWahrheit hat, irgendwie zu realisieren.Das forderten Mitte der sechziger Jahrepltzlich auch Adornos Studenten.

    Vergeblich suchte der Solist am Kathe-der, stets rhrend um seine Schler besorgt,den revolutionslustigen jungen Leuten klarzu machen, dass er ihnen Kant und Hegelerklren, aber kein Stichwortgeber fr Ge-walt sein mochte. Er habe niemals ein Mo-dell zu irgendwelchen Aktionen gege-ben, beteuerte er in einem SPIEGEL-Ge-sprch vom Mai 1969, als lngst Molotow-Cocktails geflogen waren, das Institut poli-zeilich gerumt worden war und auch diebizarre Busen-Attacke stattgefunden hatte.

    Dabei war ihm schon 1939 eingefallen:Eigentlich kann man nichts mehr sagen.Die Tat ist die einzige Form, die der Theo-rie noch bleibt. Nun riefen seine Schlerzur Tat, ohne das Quentchen Wahn(Adorno) in ihren Kpfen zu bemerken.

    Wie stets am Semesterende ausgelaugt,zustzlich entnervt von endlosen, fruchtlo-sen Diskussionen mit den Studenten, brachAdorno Ende Juli 1969 zum blichen Berg-Urlaub auf. In Visp nahe Zermatt ereilteden 65-jhrigen, von einer hastigen Gipfel-tour geschwchten Denker am 6. August1969 ein tdlicher Herzinfarkt. Die Nach-richt von Adornos Tod wurde noch am sel-ben Tag von den wichtigsten Medien ver-breitet, meldet Biograf Mller-Doohm mitThomas-Mann-Pathos, dann aber macht erbald ein Ende. Zgig schlieen auch Jgerund Claussen ihr Panorama in alpiner Gip-

    fel-Melancholie. Ein Res-mee berlassen sie anderen.

    Vielleicht aber hat derMann, der im selben Jahr zurWelt kam wie der Teddybr,selbst schon am ehrlichstenseine Ziele benannt. Er, derAllround-Intellektuelle, des-sen Denk- und Schreibgestusviele Jahre lang jeder Geis-teswissenschaftler wie dieMasern berstehen musste(so der Philosoph Odo Mar-quard), dieser zum Przep-tor gewordene Mustersch-ler und Sprachkomponist,der alle Fachwissenschaftler

    bertrumpfen wollte, war schon in seinemAbitur-Aufsatz ganz sicher gewesen: DieWelt aber im Ich zu gestalten, ist der Sinndes Lebens. Johannes Saltzwedel

    143

    Sachbcher

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    d e r s p i e g e l 3 4 / 2 0 0 3

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  • FEUILLETON

    1

    Die Zeit hatte einen doppelten BodenDer Philosoph Theodor W. Adorno in den fnfziger Jahren. Einepersnliche NotizVON J. Habermas | 04. September 2003 - 14:00 Uhr

    Was im Rckblick trivial erscheint, war damals, als ich in das Institut fr Sozialforschung

    eintrat, nicht selbstverstndlich: dass die Reputation des Hauses von der ungebrochenen,

    jetzt erst ihrem Hhepunkt zustrebenden Produktivitt Adornos eher abhngen wrde

    als vom Erfolg der empirischen Forschungen, mit denen sich das Institut eigentlich

    legitimieren sollte. Obwohl bei ihm alle Fden der Institutsarbeit zusammenliefen,

    konnte Adorno mit Organisationsmacht nicht umgehen. Er bildete eher den passiven

    Mittelpunkt eines komplexen Spannungsfeldes. 1956, als ich ankam, bestanden zwischen

    Max Horkheimer, Gretel Adorno und Ludwig von Friedeburg symmetrische Gegenstze,

    die dadurch definiert waren, dass sich ihre jeweils an Adorno gerichteten Erwartungen

    durchkreuzten.

    Friedeburg hatte das legitime Interesse an einer inhaltlichen Kooperation mit Adorno,

    die zu einer strker theoretischen Ausrichtung der empirischen Forschung fhren sollte.

    Unabhngig davon wollte Gretel den persnlichen, sowohl wissenschaftlichen wie

    publizistischen Erfolg des Philosophen, den Adorno eigentlich erst posthum errungen

    hat. Und fr Horkheimer sollte Adorno die unmgliche Aufgabe lsen, dem Institut

    mithilfe politisch unanstiger, akademisch eindrucksvoller Studien ffentliche Geltung

    zu verschaffen, ohne die Radikalitt der gemeinsamen philosophischen Intentionen ganz

    zu verleugnen und die nonkonformistische Signatur der Forschungsrichtung das fr die

    studentische Nachfrage wichtige Image des Instituts zu beschdigen.

    Fr mich gewann Adorno eine andere Bedeutung: Die Zeit hatte im Institut einen doppelten

    Boden. Whrend der fnfziger Jahre hat es vermutlich in der ganzen Republik keinen

    zweiten Ort gegeben, an dem die intellektuellen zwanziger Jahre so selbstverstndlich

    prsent waren. Gewiss, die alten Mitarbeiter des Instituts, Herbert Marcuse , Leo Lwenthal

    und Erich Fromm , auch Franz Neumann und Otto Kirchheimer waren in Amerika

    geblieben. Aber in ganz ungezwungener Weise kursierten zwischen Adorno, Gretel und

    Horkheimer auch die Namen von Benjamin und Scholem, Kracauer und Bloch, Brecht und

    Lukcs, Alfred Sohn-Rethel und Norbert Elias, natrlich die Namen von Thomas und Erika

    Mann, Alban Berg und Arnold Schnberg oder die von Kurt Eisler, Lotte Lenya und Fritz

    Lang .

    Das war kein Name-Dropping. Die Namen waren auf eine verblffend alltgliche Weise

    in Gebrauch, um auf Personen Bezug zu nehmen, die man seit Jahrzehnten kannte, mit

    denen man befreundet oder und dies vor allem verfeindet war. Bloch beispielsweise

    war zu der Zeit, als Adorno Die groe Blochmusik schrieb, immer noch Persona non

    grata. Die irritierend selbstverstndliche Gegenwart dieser Geister brachte mir eine

  • FEUILLETON

    2

    Differenz im Zeitgefhl zu Bewusstsein. Whrend "fr uns" die Weimarer Zeit jenseits

    einer abgrndigen Zsur lag, hatte ja "fr sie" die Fortsetzung der zwanziger Jahre in der

    Emigration erst wenige Jahre zuvor ein Ende gefunden. Es waren kaum drei Jahrzehnte

    verstrichen, seitdem Adorno seine sptere Frau, die gelernte Chemikerin Gretel Karplus,

    in Berlin, wo sie die Lederwarenfabrik ihres Vaters weiterfhrte, zu besuchen pflegte, um

    bei einer dieser Gelegenheiten auch Benjamin kennen zu lernen. Benjamins Angelus Novus,

    den George Bataille, damals Bibliothekar an der Bibliothque Nationale, beim Abschied

    von Paris in Verwahrung genommen hatte, hing in Gretels Zimmer an der Wand links

    neben dem Eingang. Dann ging das Bild in Scholems Besitz ber und hngt heute in jenem

    Raum der Hebrischen Universitt, wo die einzigartige Bibliothek dieses sammelwtigen

    Gelehrten untergebracht ist. Als ich nach Frankfurt kam, war Benjamin fr mich wie fr

    fast alle Jngeren ein Unbekannter. Aber die Bedeutung des Bildes sollte ich bald kennen

    lernen.

    Soeben hatten Gretel und Teddy Adorno bei Suhrkamp die ersten Aufstze von Benjamin

    herausgebracht. Da das ffentliche Echo schwach war, forderte Gretel mich auf, eine

    Rezension zu schreiben. Auf diese Weise kam ich in den Besitz jener beiden hellbraunen

    Lederbnde, die Benjamin aus dem Vergessen zurckholten. Ute und ich versenkten uns

    in die dunkel leuchtenden Essays und waren auf merkwrdige Weise berhrt von jener

    unbestimmten Verbindung aus luziden Stzen und apokryphen Andeutungen, die in kein

    Genre zu passen schien.

    Auf die Bezge der temporalen Doppelbdigkeit des Institutsalltags war ich zwar

    literarisch nicht ganz unvorbereitet. Aber sie brachten mir das akademische Milieu der

    deutsch-jdischen Tradition erst zur Anschauung auch das Ausma der immer schon

    versprten moralischen Korruption einer deutschen Universitt, die die Vertreibung und

    Ausrottung dieses Geistes, wenn nicht geradewegs betrieben, so wenigstens schweigend

    hingenommen hatte. Damals begann ich, mir die Gemtsverfassung der Kollegen

    vorzustellen, die in der ersten Fakulttssitzung des Sommersemesters 1933 auf die

    leeren Sthle gestarrt haben mssen. In Frankfurt, wo die junge Universitt ihren in der

    Weimarer Zeit erworbenen Ruhm dem Nicht-Diskriminierungsgebot ihrer Satzung und

    einer gegenber Juden unvoreingenommenen Berufungspraxis verdankt hatte, wurde der

    Lehrkrper 1933 um fast ein Drittel dezimiert.

    Intellektuell bin ich 1956 in ein neues Universum eingetreten. Trotz vertrauter Themen

    und Fragestellungen war es zugleich fremd und faszinierend. Verglichen mit dem Bonner

    Universittsmilieu, war hier die Lava des Gedankens im Fluss. Nie zuvor war ich einer

    so differenzierten gedanklichen Komplexitt im Zustand ihrer Entstehung begegnet im

    Modus der Bewegung, bevor sie ihren literarischen Niederschlag fand. Was Schelling in

    seinen Jenaer Vorlesungen zur Methode des akademischen Studiums im Sommersemester

    1802 als Idee der deutschen Universitt entwickelt hatte, nmlich "das Ganze seiner

  • FEUILLETON

    3

    Wissenschaft aus sich selbst zu konstruieren und aus innerer, lebendiger Anschauung

    darzustellen", das praktizierte Adorno in diesem Frankfurter Sommersemester.

    Scheinbar anstrengungslos fhrte er in freier, aber druckreifer Rede die dialektische

    Verfertigung spekulativer Gedanken vor. Gretel hatte mich aufgefordert, sie zur Vorlesung,

    die damals noch im kleinem Hrsaal stattfand, zu begleiten. In den folgenden Jahren, als

    ich lngst anderes zu tun hatte, sah ich, dass sie kaum jemals eine von Teddys Vorlesungen

    versumte. Beim ersten Mal hatte ich Mhe, dem Vortrag zu folgen; geblendet von der

    Brillanz des Ausdrucks und der Prsentation, stolperte ich dem Duktus des Gedankens

    hinterher. Dass sich auch diese Dialektik oft zur bloen Manier verfestigte, merkte ich erst

    spter. Der beherrschende Eindruck war die noch aus dem Dunkel des Unverstandenen

    funkelnde Prtention der Aufklrung das Versprechen, verschwiegene Zusammenhnge

    transparent zu machen.

    Wie sich eine neue Welt auftut

    Jedoch brachen die mir unbekannten Autoren und Gedanken Freud und Durkheim,

    Psychoanalyse und Religionssoziologie nicht wie von auen, reduktionistisch, in die

    heiligsten Bezirke des Deutschen Idealismus ein. Mithilfe von Freuds ber-Ich und

    Durkheims Kollektivbewusstsein wurde die schmhliche Rckseite des kategorischen

    Imperativs dessen falscher Gebrauch nicht beleuchtet, um Kants freien Willen zu

    denunzieren, sondern die repressiven Verhltnisse, die dieses Potenzial verkmmern lieen.

    Was Paul Ricur spter eine Hermeneutik des Verdachts nannte, war Adornos Sache

    nicht. Denn der rettende Impuls war ebenso stark wie der kritische, der jenem diente. So

    jedenfalls erschien es mir. Wir hatten an den moralisch morschen Universitten der frhen,

    durch Selbstmitleid, Verdrngung und Unempfindlichkeit gezeichneten Adenauer-Zeit

    studiert. Im geistfetischistisch hohlen und abendlndisch verschwiemelten Milieu eines

    "Verlustes der Mitte" war unser unklares Bedrfnis nach einem Akt begreifender Katharsis

    nicht befriedigt worden. Erst die intellektuelle Instndigkeit und die durchdringende

    analytische Arbeit eines in Einsamkeit renitenten Adorno hat fr uns damals die Substanz

    der eigenen groen Traditionen auf dem einzig mglichen Wege durch die unerbittliche

    Kritik an deren Entstellungen gerettet.

    Das imperativische Bewusstsein, absolut modern sein zu mssen, verband sich mit

    dem erinnernden Blick eines Proust auf die wst nivellierende Fortschrittlichkeit einer

    erinnerungslosen Modernisierung. Diese war kaum irgendwo so aufdringlich wie in den

    hastig und roh angebrachten Korrekturen am verwundeten Straenbild einer schwer

    gezeichneten Stadt wie Frankfurt Berliner Strae! Wer Adorno zuhrte, konnte den

    avantgardistischen Geist der Moderne nicht mit dem falschen, sthetisch sich selbst

    dementierenden Fortschritt des "Wiederaufbaus" verwechseln. Diesem Voranhasten war

    die Einsicht in die zukunftsweisende Dialektik der Unangepasstheit des als "berholt"

    Abgeschriebenen verloren gegangen. Fr mich neu und unerhrt: In einem philosophischen

    Kontext gewannen sthetische Argumente unmittelbar politische Evidenz.

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    Wenn ich mich an die Ambivalenz meiner ersten Eindrcke in der neuen Umgebung recht

    erinnere, mischte sich in meiner intellektuellen Erregung Befremden mit Bewunderung.

    Ich kam mir vor wie in einem Balzacschen Roman der unbeholfen-ungebildete Junge

    aus der Provinz, dem die Grostadt die Augen ffnet. Ich wurde mir der Konventionalitt

    meines Denkens und Fhlens bewusst. Akademisch war ich in den herrschenden, also

    in den durch die Nazizeit ununterbrochen fortgefhrten Traditionen gro geworden und

    fand mich jetzt in einem Milieu wieder, in dem alles das lebte, was die Nazis eliminiert

    hatten. Es ist leicht, sich an die fremden Inhalte zu erinnern, die es nun zu lernen gab.

    Aber schwer zu beschreiben, wie sich ein Universum von Begriffen und eine Mentalitt

    dadurch verndern, dass sich eine neue Welt auftut. Das geschah kurz nach meiner Ankunft

    whrend des Besuchs jener denkwrdigen Vorlesungsreihe, die von Alexander Mitscherlich

    und Horkheimer aus Anlass des 100. Geburtstages von Sigmund Freud veranstaltet

    wurde. Die auf mich einstrmenden, vllig neuen Gedanken hatten etwas Augen ffnend

    berwltigendes.

    Auf Adorno und auf das produktive Zusammenfhren von Philosophie und Soziologie, von

    Hegel und Marx war ich immerhin vorbereitet, wenn mir auch der systematische Duktus

    ungewohnt war, mit dem ein radikaler gesellschaftstheoretischer Anspruch eingelst zu

    werden versprach. Adorno erweckte die systematisch in Gebrauch genommenen und

    miteinander fusionierten Begriffe von Marx, Freud und Durkheim zu neuem Leben. Er

    streifte allem, was ich aus der Marx-Diskussion der zwanziger Jahre schon kannte, im

    Medium eines zeitgenssisch-soziologischen Denkens das blo Historische ab und machte

    es ganz gegenwrtig. Erst im Schmelztiegel dieser gesellschaftstheoretisch aufgeklrten

    Kulturkritik haben sich die verschwommen kulturkonservativen Begrifflichkeiten

    meiner Bonner Studienzeit aufgelst. Aber der Nebel unscharfer, bildungshumanistisch

    aufgeladener geisteswissenschaftlicher Kategorien htte sich nicht so schnell gelichtet,

    wenn ich mich nicht vom wissenschaftlichen Charakter des neuen Blicks auf die Tatsachen

    berzeugt htte.

    Die Kraft negierenden Denkens

    Dazu verhalfen mir die inzwischen legendren Freud-Vorlesungen. Damals befand sich

    die Psychoanalyse in den USA, in England, Holland und der Schweiz auf dem Hhepunkt

    ihrer Reputation. Die bahnbrechenden Werke von Erik Erikson, Ren Spitz, Ludwig

    Binswanger, Franz Alexander, Michael Balint, Gustav Bally und vielen anderen (zu denen

    natrlich auch Anna Freud gehrte) genossen internationale Anerkennung. Kaum mehr

    als ein Jahrzehnt nach Kriegsende trat diese Elite von Wissenschaftlern vor ein deutsches

    Publikum, um ber die Fortschritte der 1933 schmhlich vertriebenen Disziplin zu

    berichten. Ich wei nicht, was mich, dem Freud whrend seines Psychologiestudiums nur

    in abschtzigen Zusammenhngen begegnet war, mehr fasziniert hat: die eindrucksvollen

    Personen oder die glanzvollen Vortrge. In dieser serisen Umgebung erhielten auch

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    die beiden Beitrge von Adorno und Marcuse zur Horkheimer-Festschrift ein schrferes

    wissenschaftliches Profil.

    Damals kannte ich das Forschungsprogramm des alten Instituts noch nicht und konnte

    nicht wissen, dass es allein diese beiden Autoren waren, die whrend der fnfziger Jahre

    die Tradition, ohne an einen Bruch zu denken, fortfhrten. Leo Lwenthal hatte wie

    Horkheimer seine produktivste Zeit hinter sich. Otto Kirchheimer und Franz Neumann

    waren immer schon eigene Wege gegangen. Erich Fromm war aus der Sicht des engeren

    Institutskreises zum "Revisionisten" geworden. Und Friedrich Pollock bte seit der

    Diskussion ber Staatskapitalismus Anfang der vierziger Jahre theoretische Enthaltsamkeit.

    Nicht alles war fremd in einem befreienden Sinne. Jemandem, der ein konventionelles

    Philosophiestudium abgeschlossen hatte, fielen im Frankfurter Kanon befremdliche Lcken

    auf. Was fr mich die philosophischen "Zeitgenossen" waren, also die groen Autoren der

    zwanziger und dreiiger Jahre wie Scheler, Heidegger, Jaspers, Gehlen, aber auch Cassirer,

    selbst Plessner, ganz zu schweigen von Carnap und Reichenbach sie kamen in Seminar

    und Vorlesung nicht vor. Wenn sie berhaupt erwhnt wurden, dann in einem Aperu wie

    dem von Horkheimer: "wenn schon Jaspers, dann lieber Heidegger". Die hermeneutische

    Tradition von Humboldt bis Dilthey war als idealistisch abgestempelt. Nicht viel besser

    stand es mit der phnomenologischen Schule; Husserls Entwicklung schien vor dessen

    transzendentaler Wende abzubrechen. Von den Neukantianern wurden nur Cohen und

    Cornelius, der Lehrer von Horkheimer, mit einem gewissen Respekt erwhnt.

    Die relevante Geschichte der Philosophie schien mit Bergson, Georg Simmel und dem

    Gttinger Husserl, also vor dem Ersten Weltkrieg aufzuhren. Erst beim Lesen der posthum

    verffentlichten Antrittsvorlesung ber Die Aktualitt der Philosophie habe ich mit einem

    gewissen Erstaunen festgestellt, dass Adorno sich als Privatdozent mit Heideggers Sein

    und Zeit intensiv auseinander gesetzt haben muss; der bald darauf erschienene Jargon der

    Eigentlichkeit hatte mich davon nicht berzeugen knnen. Allerdings muss ich hinzufgen,

    dass jene erste Adorno-Vorlesung die einzige blieb, die ich ber ein ganzes Semester hin

    besucht habe. fter nahm ich an den Hegelseminaren teil. Das Fehlen der Philosophie der

    zwanziger Jahre verlieh dem Frankfurter Diskurs etwas gewissermaen Altmodisches.

    Umso strker war der Kontrast zum Geist der sthetischen und der freudianischen

    Avantgarde, den Adorno auf radikale Weise, bis in die Fingerspitzen hinein ausdrckte.

    Wenn ich den Bewusstseinswandel beschreiben soll, den die mentalittsprgende Kraft

    des tglichen Umgangs mit Adorno bei mir herbeigefhrt hat, so ist es die Distanzierung

    von dem vertrauten Vokabular und der Weltsicht der sehr deutschen, in Herders Romantik

    wurzelnden historischen Geisteswissenschaften. Der ernchternde soziologische

    Blick auf die unbegriffene Komplexitt des verknoteten Ganzen eines verstmmelten

    Lebenszusammenhangs verband sich mit dem Vertrauen in die analytische Kraft eines

    negierenden Denkens, das diesen Knoten lsen wrde wenn sich die denkenden Subjekte

    nur nicht einschchtern lieen.

  • FEUILLETON

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    Jrgen Habermas war von 1956 bis 1959 Forschungsassistent am Institut fr

    Sozialforschung in Frankfurt am Main. 1964 folgte er Max Horkheimer auf den Lehrstuhl

    fr Philosophie an der Universitt Frankfurt

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