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4081 1 Aristoteles: Metaphysik Aristoteles Metaphysik (Ta meta ta physika) Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie

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4081 1Aristoteles: Metaphysik

Aristoteles

Metaphysik

(Ta meta ta physika)

Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie

Metaphysik Erste Abteilung. Die Hauptstücke Vorbemerkung Einleitung I. Ausgangspunkt und Ziel der Wissenschaft II. Die Lehre von den Prinzipien bei den Früheren A: Die älteren Philosophen B: Pythagoreer und Eleaten C: Plato III. Ergebnisse aus den Lehren der Früheren und Kritik I. Die Probleme der Grundwissenschaft 1. Aufzeigung der Probleme 2. Versuchsweise Erörterung der Probleme II. Grundlegung I. Wesen und Aufgabe der Grundwissenschaft II. Das oberste Axiom der Grundwissenschaft III. Einteilung und Objekt der Wissenschaft IV. Das begriffliche Wesen 1. Die Substanz 2. Der Wesensbegriff der Substanz und des Akzidentellen 3. Das Werden 4. Die Definition 5. Ergebnisse für den Begriff des Wesens 6. Zusammenfassung und Abschluß V. Teil Potentialität und Aktualität 1. Die Potentialität als Vermögen der Bewegung 2. Die Aktualität VI. Das Wahre und das Falsche VII. Das Absolute 1. Die Prinzipien der sinnlichen Substanzen 2. Das absolute Prinzip Zweite Abteilung. Die angefügten Stücke I. Einheit Verschiedenheit Gegensatz II. Umriß der vorbereitenden Erörterungen zur Metaphysik 1. Die Probleme 2. Wesen und Aufgabe der Grundwissenschaft 3. Das oberste Axiom der Grundwissenschaft 4. Einteilung und Objekt der Wissenschaft III. Zufall, Bewegung, Unendliches, Veränderung, Räumlichkeit IV. Die Frage der unsinnlichen, unbeweglichen Substanzen 1. Die mathematischen Objekte 2. Die Ideen 3. Idealzahlen V. Widerlegung des Dualismus VI. Zur Terminologie 1. Prinzip, Grund, Element 2. Natur, Notwendigkeit, Einheit, Sein, Substanz 3. Identität, Unterschied, Gegensatz 4. Prius und Posterius, Vermögen und Unvermögen 5. Quantität, Qualität, Relation 6. Vollendet, Grenze, Bestimmtheit, Privation 7. Bestandteil, Teil, Ganzes, Bruchstück 8. Gattung, Falsch, Akzidens

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Erste AbteilungDie Hauptstücke

Vorbemerkung

Die Aufgabe der Wissenschaft, die auf Erforschungder Wahrheit gerichtet ist, darf man wohl in einer Be-ziehung als schwierig, in anderer Beziehung wiederals leicht bezeichnen. Ein Anzeichen davon ist schondies, daß kein Denker zwar die Wahrheit in völlig zu-treffender Weise zu erreichen, keiner aber auch sievöllig zu verfehlen vermag, sondern jeder wenigstensetwas vorzubringen weiß, was der Natur der Sacheentspricht, und daß, wenn auch der einzelne sie garnicht oder nur in geringem Maße trifft, doch aus demZusammenwirken aller sich schließlich ein gewissesQuantum des Wissens ergibt. Wenn es also etwas fürsich hat, was man im Sprichwort sagt: ein rechterSchütze, der ein Scheunentor verfehlt! so würde indiesem Sinne die Aufgabe immerhin leicht sein. Daßman aber ganz wohl mit dem Teile fertig werden unddoch am Ganzen scheitern kann oder umgekehrt,darin zeigt sich die Schwierigkeit der Sache. Es könn-te freilich auch sein, daß der Grund der Schwierigkeit,die sich in doppelter Beziehung darstellt, weit weni-ger im Gegenstande als in uns selber liegt. Denn wie

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sich das Auge der Fledermaus zum Tageslicht verhält,so verhält sich das denkende Vermögen unseres Gei-stes zu den Gegenständen, die von Natur und an sichunter allen gerade die lichtvollsten sind.

Billigerweise haben wir denn auch dankbar zu sein,nicht bloß denen, deren Ansichten man wohl zu teilenvermöchte, sondern auch denen, deren Darlegungender Sache minder gerecht werden; denn auch diesehaben zum weiteren Fortgang ihren Beitrag geliefertund unsere Fähigkeiten geschult. Wäre Timotheosnicht gewesen, so würden wir manches nicht besitzen,was doch zum Schatze unserer musikalischen Lyrikgehört, und wieder, wäre Phrynis nicht gewesen, sowürde Timotheos nicht gekommen sein. Es ist mit denDenkern, die sich wissenschaftlich um die Wahrheitbemüht haben, ganz dieselbe Sache. Da sind Leute,von denen wir gewisse Lehren überkommen haben,und wieder andere, die es möglich gemacht haben,daß jene aufgestanden sind.

Es hat wohl seinen guten Grund, wenn man diePhilosophie als die Wissenschaft bezeichnet, die dieWahrheit sucht. Denn das Ziel, nach dem das reintheoretische Verhalten ringt, ist die Wahrheit, wie dasZiel der Praxis die Anwendung ist. Diejenigen, diesich in der Praxis bewegen, haben auch dann, wennsie untersuchen, wie die Sache an sich beschaffen ist,nicht das Ewige im Auge, sondern das, was für ein

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anderes und was für den Augenblick von Bedeutungist.

Die Wahrheit aber wissen wir nicht, wo wir nichtden Grund der Sache wissen. Jegliches nun stellt sei-nen Begriff um so reiner dar, je mehr es den Grundbildet für das, was andere Dinge mit ihm gemeinhaben. So stellt uns das Feuer am reinsten die Wärmedar; denn es ist der Grund der Wärme auch für die an-deren Dinge. Und so stellt denn auch das am reinstendie Wahrheit dar, was im Abgeleiteten den Grunddafür bildet, daß es wahr ist. Darum müssen alsoauch die Prinzipien dessen, was ewig ist, am meistenWahrheit enthalten. Denn sie sind nicht bloß zuzeitenwahr und haben den Grund ihres Wahrseins nicht inetwas außer sich, sondern sie sind der Grund dafür,daß das andere wahr ist. Die Stufenfolge der Abhän-gigkeit im Sein ist also zugleich das Maß für denGrad der Wahrheit.

Jedenfalls, soviel steht fest, daß es einen oberstenGrund gibt und die Gründe dessen was ist nicht insUnendliche verlaufen können, weder im Sinne einerunendlichen Reihe, noch in dem von unendlich vielenArten von Gründen. Denn was zunächst die Materieals Grund anbetrifft, so ist es ausgeschlossen, daß daseine ins Unendliche aus dem anderen, z.B. Organi-sches aus Erde, Erde aus Luft, Luft aus Feuer entste-he, ohne daß es darin einen Abschluß gäbe. Und

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ebenso ist es bei der bewegenden Ursache ausge-schlossen, daß z.B. ein Mensch durch die Luft, diesedurch die Sonne, die Sonne durch den Streit in Bewe-gung gesetzt würde, ohne ein letztes abschließendesGlied. Dasselbe gilt nun auch von der Zweckursache.Auch hier kann es nicht ins Unendliche so fortgehen,so daß das Spazierengehen zum Zwecke der Gesund-heit, diese zum Zwecke des Glückszustandes, derGlückszustand wieder zu anderem Zwecke diente undso immerfort das eine seinen Zweck in einem anderenfände. Und mit dem begrifflichen Grunde verhältsich's nicht anders.

Wenn man nämlich ein Mittleres hat, das zwischeneinem Endgliede und einem Anfangsgliede liegt, soist notwendig das Anfangsglied der Grund für das,was auf dasselbe folgt. Denn sollten wir sagen, wasvon den dreien der Grund ist, so würden wir als sol-chen doch wohl das Anfangsglied bezeichnen, sichernicht das Endglied, das als letztes nicht Grund der an-dern sein kann; aber auch nicht das Mittelglied, dasGrund nur nach der einen Richtung hin ist. Dabeimacht es keinen Unterschied, ob es sich bei diesemAufsteigen von der Folge zum Grunde um ein einzi-ges Mittelglied oder um eine Mehrheit von Mittelglie-dern handelt, und ob solche Mehrheit eine unendlicheoder eine endliche Anzahl ausmacht. Ist es eine in die-sem Sinne des Immerweitergehens unendliche Anzahl,

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und überhaupt, handelt es sich um eine unendlicheReihe, so haben alle Glieder derselben in gleicherWeise die Stellung von Mittelgliedern bis zu dem hin,von dem die Betrachtung ausgeht. Gäbe es also keinerstes Glied, so gäbe es überhaupt nichts, was alsGrund gelten könnte. Andererseits aber, wenn nun inder Richtung von oben her ein erstes Glied vorhandenist, so ist es ebensowenig möglich, nach unten hinvom Grunde zur Folge ins Unendliche fortzugehen, sodaß etwa das Feuer den Grund des Wassers, diesesden Grund der Erde und so fort immer wieder jedesden Grund für eine andere Gattung bildete. Denn daßetwas in einem anderen seinen Grund hat, das kannzweifache Bedeutung haben – von dem, was man einbloß zeitliches Nacheinander nennt, wie etwa auf dieisthmischen Spiele die olympischen folgen, ist hiernicht die Rede – es kann also ein Geschehen bedeu-ten, entweder so wie aus dem Kinde, das sich verän-dert, ein Mann wird, oder so wie aus Wasser Luft ent-steht. Wir sagen, aus dem Kinde werde der Mann,indem aus dem Werdenden das Gewordene, aus demsich Entwickelnden das fertig Entwickelte wird. Dennimmer gibt es ein Dazwischenliegendes, wie zwischenSein und Nichtsein das Werden, so zwischen dem,was ist und dem was nicht ist, das was wird. Wer eineSache lernt, der ist ein Wissender im Werden, und dasmeint man, wenn man sagt, daß einer aus einem Ler-

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nenden ein Wissender wird. Wenn dagegen etwas soentsteht wie aus Wasser Luft, dann entsteht das eine,während das andere vergeht. In jenem Falle ist derÜbergang kein wechselseitiger; aus dem Manne wirdnicht wieder ein Kind. Denn da entsteht nicht etwaserst aus dem Prozeß des Werdens, sondern es bleibtetwas nach dem Prozeß bestehen. So geht auch derTag aus dem Morgen hervor, sofern er nach ihmkommt, und deshalb kann man auch nicht sagen, daßder Morgen aus dem Tage hervorgehe. Im anderenFalle dagegen geht wechselseitig jedes in das andereüber. Das aber ist in beiden Fällen ausgeschlossen,daß es so ins Unendliche fortgehe: im ersteren Falle,weil das, was in der Mitte liegt, notwendig an ein Zielgelangen muß, im anderen Falle, weil der Übergangvon dem einen zu dem anderen führt, und der Unter-gang des einen der Aufgang des anderen ist. Zugleichist damit die Notwendigkeit gegeben, daß das ersteGlied ewig sein muß und nicht vergänglich sein kann.Denn da der Prozeß des Werdens nicht nach oben hinsich ins Unendliche erstreckt, so ergibt sich, daß das-jenige, was zugrunde geht, wenn es den Grund für einanderes bildet, nicht der oberste Grund sein kann.Zweitens aber gibt es auch einen obersten Zweck,einen solchen, der nicht Mittel für anderes, sondernfür den alles andere Mittel ist. Damit also, daß eseinen solchen letzten Zweck gibt, ist der Fortgang ins

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Unendliche ausgeschlossen. Gäbe es kein solchesletztes Glied, so gäbe es überhaupt keine Zweckursa-che. Vielmehr, diejenigen, die den Fortgang ins Un-endliche setzen, heben damit, ohne sich dessen be-wußt zu sein, den Begriff des Zweckmäßigen völligauf. Und doch würde kein Mensch sich an irgend eineTätigkeit heranwagen, wenn er nicht die Aussichthätte, damit an ein Ziel zu gelangen; und gäbe es sol-che Leute, so würde es ihnen am gesunden Menschen-verstande fehlen. Denn wer Verstand hat, der hat beiseiner Betätigung immer einen Zweck im Auge, unddieser ist das Endziel; denn Zweck heißt gar nichtsanderes als Endziel.

Aber weiter, auch der begriffliche Grund läßt sichnicht immer wieder auf eine andere Bestimmung zu-rückführen, die ihrem Begriffe nach die umfassenderewäre. Denn der zugrunde liegende Begriff hat immerein Sein in höherem Sinne, der abgeleitete dagegenhat kein eigenes Sein. Wo aber kein Anfangsgliedexistiert, da existiert auch kein Abgeleitetes. Fernerheben diejenigen, die den Fortgang ins Unendlichezulassen, auch das Wissen auf. Denn es ist kein Wis-sen möglich, so lange man nicht bis zu den letztennicht weiter zerlegbaren Gliedern gelangt ist. Und sogäbe es auch kein Erkennen. Denn wie sollte es mög-lich sein, das was so ins Unendliche fortgeht zu den-ken? Es ist damit nicht etwa wie bei der Linie, die

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eine immer weitere Teilung ohne Ende zuläßt; denkenaber kann man auch sie nicht, wenn man nicht mitdem Einteilen innehält. Deshalb wird niemand, derdie ins Unendliche verlaufende Linie betrachten will,ihre Abschnitte zählen wollen. Aber auch die Materieist man gezwungen im bewegten Objekt zu erfassen,und nichts was ins Unendliche verläuft hat ein wirkli-ches Sein. Wäre dem nicht so, so wäre doch der Be-griff der Unendlichkeit selber nicht unendlich.

Nun aber noch der andere Fall. Gesetzt, die Artendes Grundes wären ihrer Anzahl nach unendlich, sowürde es auch auf diese Weise kein Erkennen geben.Denn wir glauben den Gegenstand dann zu kennen,wenn wir seine Gründe erkannt haben; es ist aberschlechthin eine Unmöglichkeit, das was in immerweiterem Fortgang ins Unendliche verläuft, in be-grenzter Zeit zu durchmessen.

Was den Vortrag der Wissenschaft anbetrifft, so er-hält er seinen Charakter durch die geistige Beschaf-fenheit der Zuhörer. Denn je nachdem wir vorbereitetsind, erwarten wir, daß man zu uns rede; was dawideranläuft, das erscheint uns nicht angemessen, sondernje mehr es von dem uns Geläufigen abweicht, in destohöherem Grade finden wir es schwer verständlich undfremdartig. Das uns Geläufige wird uns auch leichterzu erfassen. Wie groß die Macht der geläufigen Vor-stellungen ist, das zeigen die Gesetze, bei denen das

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in mythischer und kindlich einfältiger Form Ausge-drückte vermöge der Macht der herrschenden Vorstel-lungen größeren Einfluß auf die Gemüter ausübt, alses klare Erkenntnis je vermöchte. Die einen nun ver-stehen den Vortragenden nicht, wenn er nicht in derWeise der Mathematik redet, die anderen nicht, wenner die Sache nicht durch Beispiele deutlich macht;wieder andere fordern die Anführung von Dichterstel-len als Belegen. Die einen wollen alles in streng be-grifflicher Form vorgetragen haben, die anderen füh-len sich durch die strenge Form beängstigt, teils weilsie dabei nicht folgen können, teils weil die Haarspal-terei sie langweilt. Denn allerdings hat begrifflicheStrenge das an sich, und sie macht deshalb wie beider juristischen Formulierung von Urkunden so auchbei Vorträgen den Eindruck pedantischer Unfreiheit.Darum ist eine vorausgehende Unterweisung, wieman jede Form des Vertrags aufzunehmen hat, wohlangebracht; denn es hätte keinen Sinn, die Wissen-schaft und die Methode des Vertrags der Wissen-schaft beides zugleich studieren zu wollen. Ist dochjedes von beiden schon an sich nicht leicht zu erfas-sen. Eine begriffliche Strenge aber wie in der Mathe-matik darf man nicht in allen Wissenschaften verlan-gen; sie hat ihre Stelle nur in der Wissenschaft vomImmateriellen. Daher ist sie auch nicht die Methodeder Wissenschaft von der realen Welt. Denn was zur

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realen Welt gehört, das ist alles im Grunde mit Mate-rie verbunden. Man muß sich also zunächst darüberklar werden, was das Universum und was die Wissen-schaft vom Universum bedeutet. Dadurch erlangt mandann auch die Einsicht, was Gegenstand der Wissen-schaft vom Realen ist, sowie ob die Betrachtung derGründe und Prinzipien einer einzigen Wissenschaftoder einer Mehrheit von Wissenschaften angehört.

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Einleitung

I. Ausgangspunkt und Ziel der Wissenschaft

Allgemein in der menschlichen Natur liegt derTrieb nach Erkenntnis. Das zeigt sich schon in derFreude an der sinnlichen Wahrnehmung, die auch ab-gesehen von Nutzen und Bedürfnis um ihrer selbstwillen geschätzt wird, und vor allem der Gesichts-wahrnehmung. Denn nicht bloß zu praktischemZweck, sondern auch ohne jede derartige Rücksichtlegt man auf die Gesichtswahrnehmung im ganzenund großen einen höheren Wert als auf jede andere,und zwar deshalb, weil gerade sie vom Gegenstandedie deutlichste Erkenntnis vermittelt und eine Füllevon unterscheidenden Beschaffenheiten an ihm er-schließt.

Wahrnehmungsvermögen haben die lebendenWesen von Natur; bei einigen von ihnen aber läßt dasWahrgenommene keine dauernde Erinnerung zurück,dagegen wohl bei anderen. Die letzteren sind deshalbdie intelligenteren und zum Lernen befähigteren imVergleich mit denen, die das Vermögen der Erinne-rung nicht besitzen. Geschickt, aber ohne das Vermö-gen zu lernen, sind diejenigen, die der Gehörswahr-nehmung ermangeln, wie die Bienen und etwaige an-

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dere Gattungen von Wesen, die diese Eigenschaft mitihnen teilen. Diejenigen dagegen, bei denen zu der Er-innerung auch noch diese Art von Wahrnehmungenhinzutritt, besitzen damit auch die Fähigkeit zu ler-nen.

Die anderen Arten der lebenden Wesen nun lebenin Vorstellungen und Erinnerungsbildern und bildenErfahrungen nur in geringerem Maße; dem Menschendagegen eignet bewußte Kunst und Überlegung. BeimMenschen bildet sich auf Grund der Erinnerung dieErfahrung, indem die wiederholte und erinnerteWahrnehmung eines und desselben Gegenstandes dieBedeutung einer einheitlichen Erfahrung erlangt. DieErfahrung hat an sich schon eine gewisse Verwandt-schaft mit Wissenschaft und bewußter Kunst, undvermittelst der Erfahrung bildet sich denn auch beimMenschen Wissenschaft und Kunst: denn, wie Polusganz richtig bemerkt, Erfahrung hat die Kunst hervor-gebracht, Mangel an Erfahrung liefert dem Zufalleaus.

Bewußte Kunst entsteht, wo auf Grund wiederhol-ter erfahrungsmäßiger Eindrücke sich eine Auffassunggleichartiger Fälle unter dem Gesichtspunkte der All-gemeinheit bildet. Indem wir feststellen, daß demKallias, als er an dieser Krankheit litt, dieses be-stimmte Mittel zuträglich war, und dem Sokratesauch, und ebenso mehreren anderen einzelnen, ma-

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chen wir eine Erfahrung. Der Satz aber, daß allenunter diese Bestimmung Fallenden und begrifflich zueiner Gattung Gehörigen, die an dieser bestimmtenKrankheit, etwa an Verschleimung oder an Gallen-sucht oder an hitzigem Fieber litten, eben dasselbezuträglich gewesen ist, – dieser Satz bildet dann eineTheorie.

Wo es sich nun um praktische Zwecke handelt, trittder Unterschied von Erfahrung und Theorie nicht sohervor; wir sehen nur, daß die Erfahrenen eher nochhäufiger das Richtige treffen, als diejenigen, die zwarim Besitze der Theorie sind, aber keine praktische Er-fahrung besitzen. Der Grund ist der, daß die Erfah-rung Kenntnis der Einzelheit, die Theorie Kenntnisdes Allgemeinen ist, das praktische Verhalten und dasHervorbringen aber sich immer in der Einzelheit be-wegen. Denn nicht einen Menschen überhaupt kuriertder Arzt, oder doch nur gemäß einer der Bestimmun-gen, die dem Patienten zukommen, sondern den Kal-lias oder den Sokrates oder ein anderes Individuum,dem das gleiche Prädikat, die Bestimmung Mensch zusein, zukommt. Wenn also einer die Theorie besitztohne die Erfahrung, und das Allgemeine kennt, aberdas darunter fallende Einzelne nicht kennt, so wird erin der Praxis oftmals fehlgreifen. Denn Gegenstandder Praxis ist das Einzelne.

Gleichwohl nimmt man an, daß der Theorie die Er-

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kenntnis und das praktische Verständnis in höheremGrade innewohne als der Erfahrung, und man hält denTheoretiker für einsichtsvoller als den Praktiker, so-fern Einsicht jedem in um so höherem Maße eignet,als der Grad seiner Erkenntnis ein höherer ist, undzwar weil der eine die ursächlichen Zusammenhängeversteht, der andere nicht. Denn der Praktiker weißwohl das Daß, aber nicht das Warum; der Theoretikeraber weiß das Warum und den Kausalzusammenhang.So stellen wir denn den Arbeitsleiter höher und trauenihm eine höhere Erkenntnis auch des Einzelnen zu alsdem einfachen Arbeiter, weil jener die Gründe desVerfahrens durchschaut, dieser aber den unbeseeltenWesen gleicht, die tätig sind, ohne zu wissen, was sietun, gleich dem Feuer, welches brennt, ohne es zuwissen. Die nicht mit Verstand begabten Wesen sindjedes nach seiner Art tätig auf Grund natürlicher An-lage; jene Arbeiter sind tätig auf Grund ihrer Gewöh-nung und Übung; die Arbeitsleiter aber haben die hö-here Einsicht nicht in dem Maße als sie mehr prakti-sche Übung besitzen, sondern in dem Maße, als siedie Theorie bemeistert haben und die ursächlichen Zu-sammenhänge kennen. Schließlich ist dies das Kenn-zeichen des Wissenden, daß er andere zu unterweisenvermag, und aus diesem Grunde nennen wir die Theo-rie in höherem Grade wissenschaftlich als die bloßeErfahrung. Denn jene vermag andere zu unterweisen,

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diese nicht.Sinnliche Wahrnehmungen ferner als solche läßt

man nicht als Wissenschaft gelten. Freilich geben sieim eigentlichsten Sinne Kenntnis des Einzelnen; abersie geben keine Einsicht in die Gründe; so z.B. nicht,warum das Feuer wärmt, sondern nur, daß es wärmt.Zunächst also ist es wohl verständlich, daß derjenige,der irgend ein praktisches Verfahren über die gemein-menschlichen Wahrnehmungen hinaus erfand, vonden Menschen bewundert wurde, nicht bloß weil seineErfindung wertvoll, sondern weil er selber einsichts-voll war und sich den andern überlegen zeigte; undferner, daß, wenn eine Mehrzahl von solchen prakti-schen Veranstaltungen erfunden wurde, und unter die-sen solche, die dem Bedürfnis, und andere, die der Er-getzung dienten, die Erfinder der letzteren für geist-voller als die Erfinder der ersteren galten, weil die vonihnen gewonnenen Einsichten nicht dem bloßen Be-dürfnis dienten. Daher kommt es denn, daß man,nachdem eine Fülle derartiger Veranstaltungen bereitsersonnen war, nunmehr zur Auffindung der reinen Er-kenntnisse überging, die nicht für die Ergetzung undauch nicht für das Bedürfnis da sind, und zwar andenjenigen Orten, wo man der Muße genoß. So ist diemathematische Theorie zuerst in Ägypten ausgebildetworden; denn dort war dem Stande der Priester Mußevergönnt.

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In unserer »Ethik« haben wir den Unterschied zwi-schen praktischer Kunst, Wissenschaft und den an-dern verwandten Begriffen näher bestimmt. DerZweck, um dessen willen wir den Gegenstand hier be-handeln, ist der, zu zeigen, daß nach allgemeiner An-sicht das, was man wirkliche Wissenschaft nennt, aufdie letzten Gründe und Prinzipien geht. Darumschreibt man, wie wir vorher dargelegt haben, demPraktiker ein höheres Maß von Wissenschaft zu alsdenjenigen, die nur irgend welche sinnliche Wahrneh-mungen gemacht haben, ein höheres Maß dem Theo-retiker als dem Praktiker, dem Arbeitsleiter als demArbeiter, und der reinen Theorie ein höheres Maß alsder praktischen Handhabung. Daraus ergibt sich derSchluß, daß Wissenschaft die Erkenntnis von irgendwelchen Gründen und Prinzipien sein muß.

Da es nun diese Wissenschaft ist, deren Wesen wirermitteln wollen, so wird zu fragen sein, welche Artvon Gründen und welche Art von Prinzipien es ist,deren Erkenntnis die Wissenschaft ausmacht. Viel-leicht kann eine Erwägung der Vorstellungen, die manmit dem Begriffe des wissenschaftlichen Mannes ver-bindet, uns die Antwort darauf erleichtern.

Die Vorstellung, die man sich vom wissenschaftli-chen Manne macht, ist nun erstens die, daß er allesweiß, soweit es möglich ist, ohne doch die Kenntnisaller Einzelheiten zu besitzen; zweitens, daß er auch

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das Schwierige zu erkennen vermag, also das was ge-wöhnlichen Menschen zu wissen nicht leicht fällt. Diebloße Sinneswahrnehmung gehört nicht dahin; sie istallen gemeinsam und deshalb leicht und hat mit Wis-senschaft nichts zu schaffen. Weiter, daß auf jedemWissensgebiete derjenige mehr eigentliche Wissen-schaft habe, dessen Gedanken die strengere begriffli-che Form haben und zur Belehrung anderer die geeig-neteren sind. Man hält ferner diejenige Wissenschaft,die um ihrer selbst willen und bloß zum Zwecke desErkennens getrieben zu werden verdient, in höheremGrade für Wissenschaft als die, die nur durch ihrenNutzen empfohlen ist, und ebenso in höherem Gradediejenige, die geeigneter ist, eine beherrschende Stel-lung einzunehmen, als die bloß dienende. Denn derwissenschaftliche Mann, meint man, dürfe nicht dieStellung eines Geleiteten, sondern müsse die des Lei-tenden einnehmen und nicht von einem anderen seineÜberzeugung empfangen, sondern selber den minderEinsichtigen ihre Überzeugung vermitteln.

Damit wären die geläufigen Ansichten über dieWissenschaft und ihre Vertreter bezeichnet und aufge-zählt. Was nun das erste betrifft, so muß notwendi-gerweise die Eigenschaft, ein Wissen von allem zuhaben, dem am meisten zukommen, der die Kenntnisdes Allgemeinen besitzt. Denn dieser weiß damit zu-gleich in gewissem Sinne alles, was unter dem Allge-

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meinen befaßt ist. Dieses, das am meisten Allgemei-ne, möchte aber auch zugleich das sein, was den Men-schen so ziemlich am schwersten zu erkennen ist,denn es liegt von dem sinnlichen Bewußtsein am wei-testen ab. Die strengste Form ferner haben die Er-kenntnisse, die sich am unmittelbarsten auf die letztenPrinzipien beziehen. Denn begrifflich strenger sinddiejenigen, die aus einfacheren Prinzipien abfließen,als diejenigen, die allerlei Hilfsanschauungen heran-ziehen; so die Arithmetik gegenüber der Geometrie.Aber auch zur Unterweisung anderer geeigneter istdiejenige Wissenschaft, die die Gründe ins Auge faßt;denn diejenigen bieten wirkliche Belehrung, die vonjeglichem die Gründe anzugeben wissen. Daß aberWissen und Verständnis ihren Wert in sich selbsthaben, das ist am meisten bei derjenigen Wissen-schaft der Fall, deren Gegenstand der am meisten er-kennbare ist. Denn wer das Wissen um des Wissenswillen begehrt, der wird die Wissenschaft vorziehen,die es im höchsten Sinne ist, und das ist die Wissen-schaft von dem Gegenstande, der am meisten erkenn-bar ist; am meisten erkennbar aber sind die oberstenPrinzipien und Gründe. Denn vermittelst ihrer und aufGrund derselben erkennt man das andere, nicht abererkennt man sie vermittelst dessen, was unter ihnenbefaßt ist. Die oberste Herrscherin aber unter denWissenschaften und in höherem Sinne zum Herrschen

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berechtigt als die dienende, ist diejenige, die erkennt,zu welchem Zwecke, jegliches zu geschehen hat. Diesaber ist in jedem einzelnen Falle das Gute und in derWelt als Ganzem das absolute Gut.

Aus allem, was wir dargelegt haben, ergibt sich,daß es eine und dieselbe Wissenschaft ist, auf die derName, dessen Bedeutung wir ermitteln wollen, an-wendbar ist. Es muß diejenige sein, die sich mit denobersten Gründen und Prinzipien beschäftigt, undunter diese Gründe gehört auch das Gute und derZweck. Daß sie dagegen nicht auf praktische Zweckegerichtet ist, ersieht man auch aus dem Beispiel derältesten Philosophen. Wenn die Menschen jetzt, undwenn sie vor alters zu philosophieren begonnenhaben, so bot den Antrieb dazu die Verwunderung,zuerst über die nächstliegenden Probleme, sodann imweiteren Fortgang so, daß man sich auch über dieweiter zurückliegenden Probleme Bedenken machte,z.B. über die Mondphasen oder über den Lauf derSonne und der Gestirne wie über die Entstehung desWeltalls. Wer nun in Zweifel und Verwunderunggerät, der hat das Gefühl, daß er die Sache nicht ver-stehe, und insofern ist auch der, der sich in mythi-schen Vorstellungen bewegt, gewissermaßen philoso-phisch gestimmt; ist doch der Mythus auf Grund ver-wunderlicher Erscheinungen behufs ihrer Erklärungersonnen. Wenn man also sich mit Philosophie be-

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schäftigte, um dem Zustande des Nichtverstehens ab-zuhelfen, so hat man offenbar nach dem Wissen ge-strebt, um ein Verständnis der Welt zu erlangen, undnicht um eines äußerlichen Nutzens willen. Dasselbewird durch einen weiteren Umstand bezeugt. DieseArt von Einsicht nämlich begann man erst zu suchen,als die Menge dessen, was dem Bedürfnis, der Be-quemlichkeit oder der Ergetzung dient, bereits vor-handen war. Offenbar also treibt man sie um keinerleiäußeren Nutzens willen. Sondern wie wir sagen: einfreier Mann ist der, der um seiner selbst willen undnicht für einen anderen da ist, so gilt es auch von die-ser Wissenschaft. Sie allein ist freie Wissenschaft,weil sie allein um ihrer selbst willen getrieben wird.

Insofern dürfte man vielleicht mit Recht sagen, daßihr Besitz über des Menschen Natur hinaus liegt.Denn vielfach ist die Natur des Menschen unfrei, undnach Simonides kommt Gott allein jenes Vorrecht zu,für den Menschen aber, meint er, sei es ein Vorwurf,sich nicht auf diejenige Wissenschaft zu beschränken,die für ihn paßt. Wenn man nun etwas auf die Dichtergeben darf und es wirklich in der Götter Art liegt, nei-disch zu sein, so ist es verständlich, daß dies in die-sem Punkte am meisten zutrifft, und daß alle, die zuhoch hinaus wollen, daran zugrunde gehen. Aberweder hat es einen Sinn, daß die Gottheit neidischsei – vielmehr geht es auch hier nach dem Sprichwort:

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Viel lügen die Sänger zusammen; – noch soll maneine andere Wissenschaft suchen, die wertvoller wäreals diese. Vielmehr ist sie die göttlichste und erhaben-ste, und diesen Wert hat sie allein, und sie hat ihn indoppelter Beziehung. Denn göttlich ist erstens dieWissenschaft, die Gott am meisten eigen ist, undebenso wäre göttlich zweitens die, die das Göttlichezum Gegenstande hätte. Dieser Wissenschaft alleinnun kommt beides zu. Denn daß Gott zu den Gründengehört und Prinzip ist, ist selbstverständlich, und an-dererseits besitzt nur Gott diese Wissenschaft, oderdoch Gott im höchsten Grade. Nötiger mögen alsoalle andern Wissenschaften sein als diese; wertvollerals sie ist keine.

Übrigens muß in gewissem Sinne diese Wissen-schaft, wenn wir sie besitzen, uns in die entgegenge-setzte Stimmung versetzen, als die war, mit der wirsie im Anfang suchten. Denn, wie es oben hieß, denAusgangspunkt bildet bei allen die Verwunderung,daß die Sache sich wirklich so verhalten sollte. Sostaunen die Leute unter den Raritäten die Automatenan, solange sie noch nicht den Mechanismus durch-schaut haben. So verwundert man sich über die Wen-depunkte des Sonnenlaufs oder über die Inkommensu-rabilität zwischen der Diagonale und der Seite desQuadrats. Zuerst erscheint es jedermann verwunder-lich, daß es etwas geben sollte, was auch mit dem

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kleinsten gemeinsamen Maße nicht gemessen werdenkann. Zuletzt aber kommt es ganz anders, und wie esim Sprichwort heißt, daß das, was nachkommt, dasBessere ist, so geschieht es auch hier, wenn man nurerst über den Gegenstand unterrichtet ist. Denn eingeometrisch gebildeter Kopf würde sich über nichtsmehr verwundern, als wenn die Diagonale auf einmalkommensurabel sein sollte.

Damit wäre denn die Frage erledigt, welches dieNatur der Wissenschaft ist, die wir suchen, und wel-ches das Ziel, das unserer Untersuchung und unseremgesamten Verfahren gesteckt ist.

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II. Die Lehre von den Prinzipien bei den Früheren

Unser Ergebnis war, daß die Wissenschaft das, wasim prinzipiellsten Sinne Grund ist, zum Ausgangs-punkte zu nehmen hat. Denn dann behaupten wir dieErkenntnis eines Gegenstandes zu besitzen, wenn wirihn auf seinen letzten Grund zurückzuführen glauben.Vom Grunde aber sprechen wir in vierfacher Bedeu-tung. Als Grund bezeichnen wir einmal die Substanzund den Wesensbegriff; hier wird die Frage nach demWarum auf den Begriff als das Letzte zurückgeführt;Grund und Prinzip aber ist die abschließende Antwortauf diese Frage. Zweitens bezeichnen wir als Grunddie Materie und das Substrat, drittens den Anstoß,von dem die Bewegung ausgeht, viertens das geradeEntgegengesetzte, das Wozu und das Gute als denZweck, auf den alles Geschehen und alle Bewegunghinzielt.

In unserer »Physik« haben wir darüber ausreichendgehandelt. Gleichwohl wollen wir hier auch diejeni-gen heranziehen, die in der Untersuchung über dasSeiende und in der philosophischen Wahrheitsfor-schung unsere Vorgänger gewesen sind. Offenbarnehmen auch diese gewisse Gründe und Prinzipienan; es wird uns also eine Förderung für unsere gegen-wärtige Untersuchung gewähren, wenn wir sie befra-

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gen. Denn entweder werden wir bei ihnen noch eineweitere Art des Grundes finden oder im anderen Fallein der Beruhigung bei den eben aufgezählten Artenuns bekräftigt fühlen.

A: Die älteren Philosophen

Von den ältesten Philosophen nun waren die mei-sten der Ansicht, daß die Ursachen von materiellerArt allein als die Prinzipien aller Dinge zu gelten hät-ten. Das, woraus alle Dinge stammen, woraus allesursprünglich wird und worin es schließlich untergeht,während die Substanz unverändert bleibt und sich nurin ihren Akzidenzen wandelt, dies bezeichnen sie alsdas Element und als das Prinzip der Dinge. Daher istes ihre Lehre, daß es so wenig ein Entstehen als einVergehen gibt; bleibt doch jene Substanz stets erhal-ten. So sagen wir ja auch von Sokrates, daß ihmweder schlechthin ein Entstehen zukommt, wenn erschön oder wenn er kunstverständig wird, noch einUntergehen, wenn er diese Eigenschaften verliert, weilja das Substrat, Sokrates selbst, fortbesteht. Und soist es mit allem andern auch. Denn notwendig mußeine Substanz da sein, sei es nur eine oder mehr alseine, woraus das andere wird, während sie selbst fort-besteht.

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Was dagegen die Anzahl und die nähere Bestim-mung eines derartigen Prinzips betrifft, so findet sichdarüber keineswegs bei allen die gleiche Ansicht.Thales, der erste Vertreter dieser Richtung philoso-phischer Untersuchung, bezeichnet als solches Prinzipdas Wasser. Auch das Land, lehrte er deshalb, ruheauf dem Wasser. Den Anlaß zu dieser Ansicht botihm wohl die Beobachtung, daß die Nahrung allerWesen feucht ist, daß die Wärme selber daraus ent-steht und davon lebt; woraus aber jegliches wird, dasist das Prinzip von allem. War dies der eine Anlaß zuseiner Ansicht, so war ein andrer wohl der Umstand,daß die Samen aller Wesen von feuchter Beschaffen-heit sind, das Wasser aber das Prinzip für die Naturdes Feuchten ausmacht.

Manche nun sind der Meinung, daß schon die Ural-ten, die lange Zeit vor dem gegenwärtigen Zeitaltergelebt und als die ersten in mythischer Form nachge-dacht haben, die gleiche Annahme über die Substanzgehegt hätten. Diese bezeichneten Okeanos und Te-thys als die Urheber der Weltentstehung und dasWasser als das, wobei die Götter schwören; sie nen-nen es Styx wie die Dichter. Denn am heiligsten ge-halten wird das Unvordenkliche, und der Eid wirdbeim Heiligsten geschworen. Ob nun darin wirklicheine so ursprüngliche Ansicht über die Substanz zufinden ist, das mag vielleicht nicht auszumachen sein.

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4107 27Aristoteles: Metaphysik

Jedenfalls von Thales wird berichtet, daß er diese An-sicht von der obersten Ursache aufgestellt habe. DenHippon wird man nicht leicht sich entschließen, unterdiese Denker einzureihen; dazu ist sein Gedanken-gang doch zu unentwickelt.

Anaximenes sodann und Diogenes setzen vor dasWasser und als das eigentliche Prinzip unter den ein-fachen Körpern die Luft, Hippasos von Metapont undHeraklit von Ephesus das Feuer; Empedokles aberkennt vier Elemente, indem er zu den genannten dieErde als das vierte hinzufügt. Diese, meint er, seiendas beständig Bleibende; sie entständen nicht, son-dern verbänden sich nur in größerer oder geringererMasse zur Einheit und lösten sich wieder aus der Ein-heit. Anaxagoras von Klazomenae dagegen, der ihmgegenüber dem Lebensalter nach der frühere, seinenArbeiten nach der spätere war, nimmt eine unendlicheVielheit von Urbestandteilen an. So ziemlich alles,was aus gleichartigen Teilen besteht nach der Art vonWasser oder Feuer, entstehe und vergehe allein durchMischung und Scheidung; ein Entstehen und Verge-hen in anderem Sinne habe es nicht, sondern bleibeewig.

Demzufolge müßte man annehmen, es gebe nureine Art des Grundes, diejenige die man als den mate-riellen Grund bezeichnet. Als man aber in diesemSinne weiter vorging, zeigte die Sache selbst den For-

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4108 28Aristoteles: Metaphysik

schern den Weg nach vorwärts und zwang sie weiterzu suchen. Denn gesetzt, alles Entstehen und Verge-hen vollziehe sich noch so sehr an einem Substrat,ganz gleich ob dieses nur eines oder eine Mehrheit ist,so entsteht die Frage, warum das geschieht und wasder Grund dafür ist. Denn das Substrat bewirkt dochnicht selber seine Veränderung. Wie beispielsweiseweder das Holz noch das Erz den Grund dafür abgibt,daß das erstere oder das letztere sich verändert; es istnicht das Holz, was das Bett, und nicht das Erz, wasdie Bildsäule macht, sondern ein drittes ist die Ursa-che der Veränderung. Dieses dritte suchen aber heißteine zweite Art des Grundes, nämlich, wie wir unsausdrücken würden, den Anstoß suchen, aus dem dieBewegung stammt.

Diejenigen nun, die ganz im Anfang sich mit derUntersuchung beschäftigten und das Substrat als einessetzten, sahen die Schwierigkeit darin noch gar nicht.Dagegen gab es unter denjenigen, die die Einheit derSubstanz lehrten, einige, die gewissermaßen von die-ser Frage überwältigt, die Bewegung in diesem Einenund in der gesamten Natur geradezu leugneten, nichtbloß was das Entstehen und Vergehen anbetrifft, –denn darüber herrschte von Anfang an und bei allennur die eine Ansicht, – sondern auch, was jede andereArt von Veränderung betrifft; und darin besteht wassie Eigentümliches haben. Keiner indessen von denen,

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4109 29Aristoteles: Metaphysik

die die Einheit des Alls lehrten, kam zu der Einsicht,daß eine derartige Ursache anzunehmen sei, es seidenn etwa Parmenides, und dieser doch auch nur in-sofern, als er nicht bloß eine, sondern im Grunde zweiUrsachen setzt. Denjenigen, die eine Vielheit des Sei-enden annehmen, ist diese Einsicht eher erreichbar,z.B. denen, die das Warme und das Kalte, oder dasFeuer und die Erde als Prinzipien setzen. Ihnen dientzur Erklärung das Feuer als das mit bewegender Kraftausgestattete Wesen, Wasser aber und Erde und wassonst dahin gehört, als der Gegensatz dazu.

Nachdem diese Männer mit ihrer Ansicht von denPrinzipien vorausgegangen waren, sahen sich andereDenker, da die früheren Annahmen zur Erklärung derNatur des Wirklichen nicht ausreichten, von derWahrheit selbst, wie wir uns ausgedrückt haben, ge-zwungen, dasjenige Prinzip zu suchen, das sich un-mittelbar anschloß. Denn daß die Zweckmäßigkeitund die Wohlordnung, die sich im wirklichen Seinund im Prozessieren der Dinge vorfindet, zur Ursachedas Feuer oder die Erde oder etwas anderes vonderselben Art habe, das ist weder an sich denkbar,noch kann man jenen Männern eine solche Ansichtzutrauen. Dem Ohngefähr aber und dem Zufall dieseWirkung zuzutrauen, war auch keine mögliche An-nahme. Wenn daher ein Mann auftrat, der erklärte, esstecke Vernunft, wie in den lebenden Wesen, so in der

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4110 30Aristoteles: Metaphysik

Natur, und Vernunft sei der Urheber der Welt undaller Ordnung in der Welt, so erschien dieser im Ver-gleich mit den Forschern vor ihm wie ein Nüchternerunter Faselnden. Daß diesen Gedankengang Anaxa-goras mit Bestimmtheit ergriffen hat, wissen wir; esist aber Grund zu der Annahme, daß Hermotimos vonKlazomenae ihn schon vorher angedeutet hat.

Diejenigen nun, die so denken, sehen die Ursacheder Zweckmäßigkeit zugleich als das Prinzip des Sei-enden an, und zwar so, daß sie darin auch den Antriebfür die Bewegung der Dinge finden. Man könnte nunwohl auf die Vermutung kommen, Hesiod habe zuersteinem derartigen Prinzip nachgeforscht, oder wersonst die Liebe oder das Begehren im Seienden zumPrinzip gemacht hat. Zu diesen gehört auch Parmeni-des; denn in der Schilderung der Entstehung des Allssagt er:

»Eros ersann er zuerst, den Obersten unter denGöttern.«

Hesiod aber sagt:

»Chaos entstand von allem zuerst; es wurdedann weiter

Gaea mit weitem Gefild,Eros zugleich, der weit vor allen Unsterblichen

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4111 31Aristoteles: Metaphysik

vorglänzt.«

Sein Gedanke war dabei offenbar, es müsse demSeienden eine Ursache innewohnen, die die Dinge be-wege und zustande bringe. Die Entscheidung darüber,wem von diesen Männern die Priorität gebühre, maggestattet sein späterer Erörterung vorzubehalten.

Da aber in der Natur wie das Zweckmäßige auchder Gegensatz des Zweckmäßigen, und nicht bloßOrdnung und Schönheit, sondern auch Unordnungund Häßlichkeit begegnete, ja das Gute vom Schlech-ten, das Treffliche vom Geringwertigen überwogen zuwerden schien, so führte ein anderer die Liebe undden Haß als Ursachen ein, jene für das eine und die-sen für das andere. Denn wenn man der Sache nach-geht und bei Empedokles den Gedankeninhalt, nichtden noch unbeholfenen Gedankenausdruck ins Augefaßt, so wird man finden, daß was er meint die Liebeist als die Ursache des Guten und der Haß als die Ur-sache des Schlechten, Wenn also jemand behauptete.In gewissem Sinne setze schon Empedokles, und erals der erste, das Schlechte und das Gute als Prinzipi-en, so möchte er wohl das Richtige treffen, sofern dieUrsache alles Guten das Gute an sich, die Ursachealles Schlechten das Schlechte an sich ist.

Diese Männer haben, wie gesagt, und bis soweitzwei von den Ursachen, die wir in unserer »Physik«

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4112 32Aristoteles: Metaphysik

genauer bestimmt haben, berührt: die materielle Ursa-che und die bewegende Ursache, freilich in unsichererund unbestimmter Weise, ähnlich wie es im Kampfbei den Ungeübten vorkommt. Denn diese schlagenum sich und verüben dabei wohl auch manchen gutenHieb, freilich nicht vermöge ihrer Geschicklichkeit;ebenso scheint es, daß auch jene kein volles Bewußt-sein haben über das, was sie sagen. Denn es machtganz den Eindruck, als machten sie von ihrem Satzeso gut wie keinen oder nur einen ganz dürftigen Ge-brauch. Anaxagoras verwendet die Vernunft als Deusex machina für die Weltbildung, und wenn ihm dieFrage zu schaffen macht, aus welchem Grunde etwasnotwendig ist, dann zieht er sie heran; für das übrigewas geschieht macht er eher alles andere verantwort-lich als die Vernunft. Und Empedokles macht zwarvon seinen Ursachen einen reichlicheren Gebrauch alsjener, doch auch er nicht in dem Maße und nicht inder Weise, daß er eine volle Übereinstimmung in sei-nen Ausführungen herzustellen wüßte. Wenigstens istes bei ihm vielfach die Liebe, welche die Scheidung,und der Haß, der die Verbindung stiftet. Denn wenndas All unter der Einwirkung des Hasses in seine Ele-mente zerfällt, so wird eben damit das Feuer undebenso jedes der anderen Elemente jedes in sich zurEinheit verbunden; wenn sie aber durch die Wirkungder Liebe sich unter einander zur Einheit verbinden,

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4113 33Aristoteles: Metaphysik

so kann es nur so geschehen, daß die Teile sich ausder bisherigen Verbindung lösen.

Jedenfalls hat Empedokles im Gegensätze zu sei-nen Vorgängern zuerst diese Ursache so eingeführt,daß er sie spaltete, und die Ursache der Bewegungnicht als einheitlich gefaßt, sondern als gedoppelt undgegensätzlich. Er hat außerdem als der erste die mate-riell gedachten Elemente in der Vierzahl gesetzt. In-dessen macht er doch wieder nicht vollen Ernst mitder Vierzahl, sondern behandelt sie so, als wären esbloß zwei, auf der einen Seite das Feuer, und dem ge-genüber Erde, Luft und Wasser als eine zweite Klas-se. Wer genauer zusieht, wird das aus seinem Gedich-te entnehmen.

In der dargelegten Weise also hat Empedokles diePrinzipien aufgefaßt und in solcher Zahl sie aufge-führt. Dagegen lehrt nun Leukippos und sein SchülerDemokritos, Elemente seien das Volle und das Leere;jenes bezeichnen sie als das Seiende, dieses als dasNichtseiende, das Volle und Dichte nämlich als dasSeiende, das Leere und Dünne als das Nichtseiende.Deshalb behaupten sie auch, das Nichtseiende seiebensowohl wie das Seiende, und das Leere ebenso-wohl wie das Körperliche; diese sind also nach ihnendie Ursachen des Seienden im Sinne der Materie. Undso wie diejenigen, die die allem zugrunde liegendeSubstanz als eine setzen, das andere aus den Affektio-

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4114 34Aristoteles: Metaphysik

nen der Substanz erklären, indem sie Verdichtung undVerdünnung als die Grundformen dieser Affektionenbezeichnen, auf dieselbe Weise lehren auch diese, daßdie Unterschiede an den Substanzen die Ursache fürdas übrige seien. Solcher Unterschiede gibt es nachihnen drei: Gestalt, Anordnung und Lage. Die Unter-schiede in den Dingen lägen nur daran, wie jeglichesbemessen sei, wie eines das andere berühre und wiedie Teile gewendet seien. Das Maß ergibt die Gestalt,die Berührung die Anordnung und die Wendung dieLage. So sind A und N von Gestalt verschieden, ANvon NA durch die Anordnung, Z von N durch dieLage. Die Frage nach der Bewegung aber, woher sieund wie sie an die Dinge kommt, haben auch sie ganzähnlich wie die anderen ohne sich über sie den Kopfzu zerbrechen beiseite liegen lassen.

B: Pythagoreer und Eleaten

So viel ist es, was über die beiden in Rede stehen-den Ursachen frühere Denker in Angriff genommenhaben.

Unter diesen nun und noch vor ihnen haben die Py-thagoreer, wie man sie nennt, sich mit dem Studiumder Mathematik beschäftigt und zunächst diese geför-dert; in dieser heimisch geworden, haben sie sodann

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4115 35Aristoteles: Metaphysik

die Prinzipien derselben zu Prinzipien des Seiendenüberhaupt machen zu dürfen geglaubt. Da nun unterden Prinzipien der Mathematik der Natur der Sachenach in erster Linie die Zahlen stehen, so glaubten siein den Zahlen mancherlei Gleichnisse für das was istund was geschieht zu finden, und zwar hier eher als inFeuer, Erde oder Wasser. So bedeutete ihnen eineZahl mit bestimmten Eigenschaften die Gerechtigkeit,eine andere Seele und Vernunft, wieder eine andereden rechten Augenblick, und so fand sich eigentlichfür alles ein Gleichnis in einer Zahl. Da sie nun auchdarauf aufmerksam wurden, daß die Verhältnisse undGesetze der musikalischen Harmonie sich in Zahlendarstellen lassen, und da auch alle anderen Erschei-nungen eine natürliche Verwandtschaft mit den Zah-len zeigten, die Zahlen aber das erste in der gesamtenNatur sind, so kamen sie zu der Vorstellung, die Ele-mente der Zahlen seien die Elemente alles Seiendenund das gesamte Weltall sei eine Harmonie und eineZahl. Was sich nur irgend wie an Übereinstimmungenzwischen den Zahlen und Harmonien einerseits undden Prozessen und Teilen des Himmelsgewölbes unddem gesamten Weltenbau andererseits auftreiben ließ,das sammelten sie und suchten einen Zusammenhangherzustellen; wo ihnen aber die Möglichkeit dazu ent-ging, da scheuten sie sich auch nicht vor künstlichenAnnahmen, um nur ihr systematisches Verfahren als

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4116 36Aristoteles: Metaphysik

streng einheitlich durchgeführt erscheinen zu lassen.Ich führe nur ein Beispiel an. Da sie die Zehn für dievollkommene Zahl halten und der Meinung sind, siebefasse die gesamte Natur der Zahlen in sich, so stel-len sie die Behauptung auf, auch die Körper, die sicham Himmel umdrehen, seien zehn an der Zahl, und dauns nur neun in wirklicher Erfahrung bekannt sind, soerfinden sie sich einen zehnten in Gestalt der Gegen-erde. Wir haben darüber an anderer Stelle eingehen-der gehandelt.

Die Absicht, in der wir uns hier mit ihnen beschäf-tigen, ist die, auch bei ihnen nachzusehen, was siedenn nun für Prinzipien setzen und wie sie sich denvon uns genannten Arten des Grundes gegenüber ver-halten. Es zeigt sich, daß auch sie ein Prinzip anneh-men in der Gestalt der Zahl und zwar als Materie desSeienden und als Eigenschaften und Zustände dessel-ben; als Elemente der Zahl aber setzen sie das Geradeund Ungerade, als unbegrenzt das eine, das andere alsbegrenzt, die Einheit aber als beiden gleich zugehö-rig, zugleich gerade und ungerade; die Zahl aber las-sen sie aus der Einheit stammen, und das gesamteWeltall bezeichnen sie, wie gesagt, als Zahlen.

Andere, die eben dieser Schule angehören, bestim-men dann die Prinzipien als in der Zehnzahl vorhan-den und ordnen sie nach Paaren: Grenze und Unbe-grenztes, Ungerades und Gerades, eins und vieles,

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4117 37Aristoteles: Metaphysik

rechts und links, männlich und weiblich, Ruhe undBewegung, gerade und krumm, Licht und Finsternis,gut und schlecht, Quadrat und Oblongum. DiesenWeg scheint auch Alkmaeon von Kroton einzuschla-gen, mag er nun von jenen, oder jene von ihm diesenGedanken übernommen haben. Was sein Zeitalter be-trifft, so war Alkmaeon ein Jüngling, als Pythagorasschon ein Greis war; seine Lehre aber war der ebendargelegten nahe verwandt. Seine Behauptung istnämlich, die menschlichen Angelegenheiten seiendurchgängig ein Zwiespältiges; doch faßt er die Ge-gensätze nicht wie jene in bestimmter Ordnung, son-dern er zählt sie auf, wie es eben kommt: weiß undschwarz, süß und bitter, gut und schlecht, groß undklein. Über das übrige warf er seine Äußerungen hinohne alle genauere Bestimmung, während die Pytha-goreer die Gegensätze nach Zahl und Art festlegten.Aus beiden gemeinsam läßt sich so viel entnehmen,daß die Prinzipien des Seienden in Gegensätze zerfal-len; die Zahl und Art dieser Gegensätze aber findetman nur bei den Pythagoreern bezeichnet. Wie sichindessen diese Anschauung mit den von uns bezeich-neten Arten des Grundes in Verbindung bringen läßt,darüber läßt sich aus ihnen nichts entnehmen, wasklar und deutlich ausgedrückt wäre. Indessen hat esden Anschein, als ob sie die Elemente nach Art mate-rieller Prinzipien fassen; wenigstens lassen sie die

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4118 38Aristoteles: Metaphysik

Substanz aus denselben als aus innewohnenden zu-sammengesetzt und gebildet sein.

Das Beigebrachte reicht aus, um den Gedanken-gang der älteren Denker, die eine Mehrheit von Ele-menten der Natur annahmen, klarzulegen. Nun gibt esaber andere, die das All als ein einheitliches Wesenaufgefaßt haben, freilich auch diese nicht alle inderselben Weise, weder was den inneren Wert ihrerAnsichten noch was die Auffassung der Einheit anbe-trifft. Insbesondere für den Gegenstand unserer gegen-wärtigen Betrachtung, die Lehre von den Arten desGrundes, kommt eine Erwägung ihrer Ansichten garnicht in Betracht. Denn wenn einige unter den Natur-philosophen, die das Seiende als Eines setzen, gleich-wohl dieses Eine als die Materie für den Prozeß desWerdens auffassen, so haben die anderen nicht diegleiche, sondern eine ganz verschiedene Auffassung.Jene nehmen noch die Bewegung als zweites hinzuund lassen das All werden; diese nennen es unbeweg-lich. Indessen als zum Gegenstande unserer gegen-wärtigen Untersuchung gehörig, läßt sich doch sovielbezeichnen: Parmenides scheint die Einheit als be-griffliche zu fassen, Melissus als materielle. Jener be-zeichnet sie deshalb als begrenzt, dieser als unbe-grenzt. Xenophanes, der der erste Einheitslehrerwar – denn Parmenides soll sein Schüler gewesensein –, hat darüber nichts Bestimmtes gesagt und

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4119 39Aristoteles: Metaphysik

scheint sich für keine von beiden Auffassungen erklärtzu haben; im Hinblick auf das Weltall als Ganzesaber behauptet er, das Eine sei Gott. Bei der Frage,die uns jetzt beschäftigt, dürfen wir also wie gesagtdiese aus den Augen lassen, vornehmlich die beiden,deren Gedankengang überdies einigermaßen grobkör-nig ist, Xenophanes und Melissos, während Parmeni-des doch irgendwie einen tieferen Blick zu zeigenscheint. Da er nämlich der Ansicht ist, daß von einemNichtsein neben dem Sein zu reden unmöglich sei,sieht er sich zu der Annahme gezwungen, das Seiendesei Eines, und es gebe nichts außer ihm – wir habeneingehender darüber in unserer »Physik« gehandelt;da er sich aber gezwungen sieht, sich auf die Erschei-nungen einzulassen, und das Eine als dem Begriffe,die Vielheit aber als der sinnlichen Wahrnehmung an-gehörig faßt, so setzt er doch wieder eine Zweiheitvon Ursachen und eine Zweiheit von Prinzipien, dasWarme und das Kalte, wobei er an Feuer und Erdedenkt. Auf die Seite des Seienden stellt er das Warme,auf die Seite des Nichtseienden das Kalte.

Nach dem bisher Ausgeführten haben wir von denDenkern, die sich bereits früher mit diesem Problemebeschäftigt haben, so viel entnommen, daß die älte-sten sich das Prinzip als körperlich gedacht haben, –denn Wasser, Feuer und dergleichen sind körperlicherArt, – und zwar haben die einen nur eines, die ande-

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4120 40Aristoteles: Metaphysik

ren eine Mehrheit solcher körperlichen Prinzipien an-genommen, doch so, daß beide Richtungen sie sichals materielle Ursachen vorstellten. Ferner haben wirgesehen, daß einige zu dieser materiellen Ursachenoch die bewegende Ursache, und zwar die letztereals einheitlich oder als zwiespältig gesetzt haben. Biszu den italischen Denkern haben, wenn wir von die-sen absehen, die anderen weniger eingehend darübergehandelt, nur daß sie wie gesagt auf die Verwendungzweier Prinzipien verfallen sind, und zwar so, daß siedas eine derselben, die bewegende Ursache, die einenals einfach, die anderen als zwiefach setzen. In glei-cher Weise haben die Pythagoreer die Prinzipien alseine Zweiheit angenommen; aber sie sind, und das istihre Eigentümlichkeit, darüber insoweit hinausgegan-gen, als sie das Begrenzte und das Unbegrenzte einer-seits, das Eine andererseits nicht als Prädikate andererWesenheiten, wie des Feuers oder der Erde oder ande-rer von gleicher Art ansahen, sondern das Unbegrenz-te als solches und das Eine als solches zur Substanzdessen machten, wovon sie ausgesagt werden, unddeshalb die Zahl als die Substanz von allem bezeich-neten. Indem sie über diese Frage sich in diesemSinne entschieden, begannen sie auch das begrifflicheWesen zu erörtern und zu bestimmen, verfuhren aberdabei allerdings in hohem Grade arglos. Die Bestim-mungen, die sie gaben, waren nicht aus der Tiefe ge-

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4121 41Aristoteles: Metaphysik

schöpft; das erste Beste, bei dem sich die von ihnenaufgestellte Bestimmung vorfand, erklärten sie für dieSubstanz der Sache. Ihr Verfahren war wie das einesMenschen, der das Doppelte und die Zweizahl des-halb für eines und dasselbe ausgeben wollte, weil dasPrädikat doppelt zuerst bei der Zweiheit begegnet.Und doch bedeutet es augenscheinlich nicht dasselbedoppelt sein oder zwei sein; sonst müßte das Einevieles sein, eine Folgerung, die sich bei ihnen auchwirklich herausstellte.

So viel ist es, was man den älteren Denkern undden weiter folgenden entnehmen kann.

C: Plato

Nach den philosophischen Lehren, die wir bisherbehandelt haben, kam das platonische System, dassich in den meisten Beziehungen den früheren an-schloß, daneben aber auch manches Eigentümlicheund von der Philosophie der Italiker Abweichendeaufwies.

In seiner Jugend zuerst mit Kratylos vertraut und indie Lehre des Heraklit eingeweiht, wonach alles Sinn-liche sich in stetem Flusse befindet und keine wissen-schaftliche Erkenntnis zuläßt, hielt Plato an dieserÜberzeugung auch später fest. Dann wandte er sich

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4122 42Aristoteles: Metaphysik

dem Sokrates zu, der die Fragen des sittlichen Lebensbehandelte, die Fragen des natürlichen Daseins unbe-rührt ließ, in jenen nach den allgemeinen Begriffensuchte, und als der Erste das wissenschaftliche Den-ken in der Definition der Begriffe seinen Abschlußfinden ließ. So kam Plato zu der Ansicht, daß es sichim wissenschaftlichen Verfahren um andere Objekteals um das Sinnliche handle, durch die Überlegung,daß von dem Sinnlichen, das in steter Umwandlungbegriffen sei, es unmöglich sei einen allgemeingülti-gen Begriff zu bilden. Dieses in Begriffen Erfaßbarenannte er Ideen; das Sinnliche aber, meinte er, liegeaußerhalb derselben und empfange nur nach ihnenseine Benennung; denn in der Form der Teilnahme anden Ideen habe die Vielheit dessen, was nach ihnenbenannt wird, sein Sein. An dieser »Teilnahme« istnun nur der Ausdruck neu. Denn schon die Pythagore-er lehrten, das Seiende sei durch »Nachahmung« derZahlen; Plato aber lehrt, es sei durch Teilnahme anden Ideen. Welcher Begriff indessen mit jener Teil-nahme oder mit dieser Nachahmung zu verbinden sei,das haben sie als offene Frage stehen lassen. Außer-dem kennt Plato noch als ein drittes zwischen demSinnlichen und den Ideen die mathematischen Objek-te, die sich von dem Sinnlichen dadurch unterschei-den, daß sie ewig und unbeweglich sind, von denIdeen aber dadurch, daß sie jede in unbestimmter

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4123 43Aristoteles: Metaphysik

Vielheit gleichartiger Exemplare existieren, währenddie Idee als solche ein schlechthin Einheitliches fürsich sei. Da er aber die Ideen als die Ursachen desAnderen betrachtet, so gelten ihm die Elementederselben für die Elemente alles Seienden. So setzteer das Groß-und-Kleine als Prinzip im Sinne der Ma-terie und das Eine im Sinne der Substanz: aus jenembeständen der Teilnahme an dem Einen zufolge dieIdeen.

Darin, daß er das Eine als Substanz faßte und dasEine und die Zahlen nicht bloß von anderem ausge-sagt werden ließ, näherte er sich der Ausdrucksweiseder Pythagoreer, und ebenso darin, daß er die Zahlenals die Ursachen für die Wesenheit des Übrigenansah. Dagegen ist dies das Eigentümliche bei ihm,daß er das Unbegrenzte nicht als Einheit sondern alsZweiheit faßt und das Groß-und-Kleine zu seinen Ele-menten macht, ferner, daß er die Zahlen neben diesinnlich wahrnehmbaren Gegenstände getrennt vonihnen stellt, während jene die Zahlen als die Dingeselbst und das Mathematische nicht als ein Mittlereszwischen den Ideen und den Dingen ansehen. Dies,daß er das Eine und die Zahlen neben die Dinge stelltim Gegensätze zu den Pythagoreern, sowie die Ein-führung der Ideen ergab sich ihm aus dem Hinblickauf das begriffliche Denken – denn seine Vorgängerhatten sich mit Dialektik noch nicht befaßt; – daß er

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4124 44Aristoteles: Metaphysik

aber das den Ideen Entgegengesetzte als eine Zweiheitfaßte, ergab sich ihm daraus, daß sich die Zahlen, vonden ursprünglichen, den Primzahlen und den ungera-den, abgesehen, aus jener Zweiheit wie aus einer Artvon formbarem Stoff leicht erzeugen lassen. Gleich-wohl zeigt die erfahrungsmäßige Wirklichkeit das Ge-genteil, und die Konstruktion ist wenig annehmbar.Man läßt aus derselben Materie eine Vielheit vonDingen hervorgehen, die Idee dagegen soll nur eineinziges Mal erzeugen; in Wirklichkeit kommt auseiner Materie nur ein einziger Tisch; der aber, der dieForm heranbringt, ist selbst nur einer und wird dochder Urheber einer Vielheit Ganz ähnlich ist es im Ver-hältnis des Männlichen zum Weiblichen. Denn dasWeib wird durch eine Begattung befruchtet, der Mannhingegen vermag viele Weiber zu befruchten. Unddoch müßten rechtmäßigerweise jene Anschauungenan diesen Vorgängen ihre Illustration finden.

Das nun sind die Bestimmungen, die Plato überden Gegenstand unserer Untersuchung gegeben hat.Aus unserer Darstellung ergibt sich, daß er nur zweiPrinzipien, ein begriffliches und ein materielles, ver-wendet; – denn die Ideen sind die Ursachen der be-grifflichen Bestimmtheit für die Dinge, und das Einsist diese Ursache für die Ideen; – und auf die Frage,was die Materie ist, die als Substrat dient, und aufGrund deren im Sinnlichen von Ideen, in den Ideen

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4125 45Aristoteles: Metaphysik

vom Einen die Rede ist, antwortet er, sie sei eineZweiheit, das Groß-und-Kleine. Den Grund desGuten und des Schlechten, des Zweckmäßigen unddes Zweckwidrigen hat er in den beiden Elementengefunden, in dem einen die Ursache des Zweckmäßi-gen, in dem andern die Ursache des Gegenteils, eineErklärung, um die sich, wie oben nachgewiesen,schon einige der älteren Philosophen, wie Empedo-kles und Anaxagoras, bemüht hatten.

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4126 46Aristoteles: Metaphysik

III. Ergebnisse aus den Lehren der Früheren undKritik

Nur in aller Kürze und den Hauptzügen nach habenwir die Männer, welche von den Prinzipien und vonder Wesenserkenntnis gehandelt haben, und die ver-schiedenen Auffassungen, die sie dabei geleitet haben,an uns vorüberziehen lassen. Doch haben wir sovieldaraus ersehen, daß von denen, die über Prinzip undUrsache sprechen, keiner etwas beigebracht hat, wasnicht unter dem von uns in unserer »Physik« genauerBezeichneten mitbefaßt wäre, daß vielmehr alle au-genscheinlich auf eben diese Bestimmungen, wennauch unsicher, hindeuten.

Zunächst also begegnen wir dem materiellen Prin-zip, das sich bei manchen findet, mögen sie es nun alseines oder als eine Vielheit, als körperlich oder alsunkörperlich nehmen. Dahin gehört Plato, der dasGroß-und-Kleine, und die italischen Philosophen, diedas Unbegrenzte zum Prinzip machen; dahin Empe-dokles, der Feuer, Erde, Wasser und Luft, und Anaxa-goras, der die unendliche Anzahl der Homöomeriendafür setzte. Wie alle die Genannten, so haben einPrinzip von materieller Art auch diejenigen aufge-stellt, die die Luft oder das Feuer oder das Wasseroder ein anderes, was dichter als Feuer, aber dünner

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4127 47Aristoteles: Metaphysik

als Luft ist, an die Stelle setzen; in der Tat habenmanche als oberstes Element etwas von der Art deszuletzt Genannten angenommen.

Diese nun haben nur die eine Art von Ursachen ge-nannt; andere haben auch noch eine zweite Art, diebewegende Ursache, ins Auge gefaßt. So diejenigen,die die Freundschaft und den Streit oder die Vernunftoder die Liebe zum Prinzip erheben. Die dritte Art,die begriffliche, die Wesensursache, hat mit Be-stimmtheit niemand bezeichnet, am ehesten nochhaben es die Vertreter der Ideenlehre getan. Denn dieIdeen und in den Ideen das Eine, wie sie es fassen,sind nicht die Materie des Sinnlichen, und sind auchnicht die bewegende Ursache, das woraus die Bewe-gung stammt; eher gelten sie ihnen als die Ursacheder Unbeweglichkeit und des Ruhezustandes; – dieIdeen bedeuten vielmehr für jegliches Andere das be-griffliche Wesen, und das Eine bedeutet eben dasselbefür die Ideen. Endlich die Zweckursache, das, umdessen willen die Handlungen, die Veränderungenund die Bewegung sich vollziehen, haben manchewohl in gewisser Weise als Ursache erfaßt, aber dochnicht in diesem Sinne und nicht, wie es die Sache for-dert. Diejenigen, die die Vernunft oder die Freund-schaft als Prinzip setzen, verleihen zwar diesen Ursa-chen den Charakter des Guten, aber doch nicht so,daß das Seiende ausdrücklich um dieses Zweckes wil-

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4128 48Aristoteles: Metaphysik

len wäre oder geschähe; sondern sie stellen sie nur sodar, daß sie die Bewegungen daraus hervorgehen las-sen. Ganz ebenso leiten diejenigen, die dem. Einenoder dem Seienden diesen Rang anweisen, das be-griffliche Wesen daraus als aus einer Ursache ab; aberdaß es um dieses Zweckes willen da sei oder werde,das sagen sie nicht. Und so begegnet es ihnen denn,daß sie das Gute wohl als Ursache bezeichnen undauch wieder nicht bezeichnen; denn sie bezeichnen esals solches nicht direkt, sondern nur nebenbei. DasErgebnis ist, daß diese Denker insgesamt uns als Zeu-gen dafür geeignet scheinen, daß die Bestimmungen,die wir über Zahl und Art des Grundes gegebenhaben, die richtigen sind; denn weitere Arten aufzu-zeigen, vermögen auch sie nicht. Ferner hat sich er-wiesen, daß die Frage nach den Prinzipien entwederin allen den genannten Formen oder in einer oder deranderen dieser Formen zu lösen ist. Im folgendenwollen wir nun im einzelnen die Schwierigkeiten be-trachten, die sich aus der Art und Weise ergeben, wiejeder dieser Männer von den Prinzipien gelehrt hatund wie er sich zu ihnen stellt.

Diejenigen nun, die das All als Eines und nur eineWesenheit in Gestalt der Materie setzen und dieselbeals körperhaft und ausgedehnt fassen, verfehlen offen-bar in mehrfacher Beziehung das Ziel. Sie weisen zu-nächst Elemente nur des Körperlichen, nicht des Un-

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4129 49Aristoteles: Metaphysik

körperlichen nach, das doch auch existiert. Währendsie ferner sich anheischig machen, die Ursachen fürdas Entstehen und Vergehen zu bezeichnen und vonallem eine natürliche Erklärung zu geben, haben siefür die Ursache der Bewegung keinen Platz. Dazukommt, daß sie die Wesenheit und auch den Begriffals Ursache für irgend etwas zu verwenden unterlas-sen, und daß sie ferner einen beliebigen unter den ein-fachen Körpern ohne weiteres als Prinzip annehmen,nur die Erde ausgenommen, ohne genauer darauf zuachten, in welchem Sinne sie die Entstehung desEinen aus dem Anderen verstehen. So ist es mitFeuer, Wasser, Erde und Luft. Denn wo das Eine ausdem Anderen entsteht, da geschieht es das eine Maldurch Verbindung, das andere Mal durch Trennung;ein Unterschied, der doch für die Frage, ob etwas ur-sprünglich oder ob es abgeleitet ist, sehr ins Gewichtfällt. Denn handelt es sich um jene Art des Entste-hens, so dürfte als eigentliches Element am ehestenunter allen dasjenige gelten, woraus das Andere alsaus dem Ursprünglichen durch Verbindung entsteht;ein solches aber wäre dann derjenige Körper, der ausden kleinsten Teilen besteht und am wenigsten Dich-tigkeit besitzt. Dieser Erwägung möchten diejenigen,die das Feuer zum Prinzip erheben, am meisten Rech-nung tragen; indessen stimmen im Grunde darüber,daß, was als Element der Körper gelten darf, von der

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4130 50Aristoteles: Metaphysik

genannten Beschaffenheit sein muß, auch alle anderenüberein. Wenigstens hat sich keiner von den Späterenund von denen, die nur ein Element annehmen, zu derAnnahme entschlossen, die Erde sei dieses Element,offenbar, weil sie aus zu groben Teilen besteht. Vonden drei anderen Elementen hat jedes seinen Gönnergefunden. Die einen haben sich für das Feuer, die an-deren für das Wasser, wieder andere für die Luft er-klärt. Und doch, weshalb eigentlich entscheidet sichniemand für die Erde, wie es doch dem gemeinenManne am nächsten liegt? Denn der hält alles fürErde. Sagt doch auch Hesiod, die Erde sei unter denKörpern zuerst entstanden; so alt und so verbreitetmuß diese Anschauung gewesen sein. Gilt aber diebezeichnete Rücksicht, so erweist sich jede Ansichtals unzulässig, die etwas anderes als das Feuer alsElement setzt, auch wenn jemand als Element ein sol-ches bezeichnet, das dichter als die Luft, aber dünnerals das Wasser sei. Freilich, wenn das der Entstehungnach Spätere das der Natur nach Frühere ist, das Ver-arbeitete und Zusammengesetzte aber der Entstehungnach das Spätere ist, dann würde der entgegengesetzteSchluß gelten, und das Wasser wäre früher als dieLuft, die Erde früher als das Wasser.

So viel über diejenigen, die nur eine Ursache undzwar eine von der bezeichneten Art angenommenhaben. Das Gleiche gilt aber auch von denjenigen, die

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4131 51Aristoteles: Metaphysik

solche Ursachen in der Mehrheit setzen, wie Empedo-kles, nach dem vier Körper die Materie bilden. Auchbei ihm ergeben sich notwendig teils die gleichenSchwierigkeiten, teils solche, die ihm besonders eigensind. Sehen wir doch das eine aus dem anderen wer-den; nicht das Feuer, nicht die Erde bleibt immer der-selbe Körper – ich habe darüber in meinen Schriftenzur Naturwissenschaft gehandelt –, und auch was dieUrsache der Bewegung anbetrifft, die Frage, ob mansie als eine oder als zweifach annehmen muß, kannman seine Ansicht keineswegs in jedem Sinne zutref-fend oder sicher durchgeführt nennen. Überhaupt sinddiejenigen, die dieser Annahme folgen, gezwungen,die qualitative Veränderung zu leugnen. Denn dasKalte wird nach ihnen nicht aus dem Warmen, nochdas Warme aus dem Kalten. Müßte es doch etwasgeben, was diese entgegengesetzten Beschaffenheitenannimmt, und ein einheitliches Wesen existieren, daszu Feuer oder zu Wasser wird. Davon aber weiß ernichts zu sagen.

Was Anaxagoras betrifft, so würde derjenige, derihm die Annahme zweier Elemente zuschreibt, amehesten noch seinen Gedankengang erfassen. Er selberhat diese Annahme freilich nicht klar ausgesprochen,aber er müßte sie gelten lassen, wenn man ihm diesel-be vorhielte. Denn obwohl es auch sonst schon keinenrechten Sinn hat zu sagen, daß im Anfang alles mit

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allem vermischt gewesen sei, teils deshalb weil ange-nommen werden muß, daß vor der Mischung das Un-gemischte bereits vorhanden gewesen sei, teils weil esnicht in der Art der Natur liegt, daß Beliebiges sichmit Beliebigem vermischt, außerdem aber, weil dieAffektionen und die Qualitäten neben den Substanzengesondert gedacht werden müßten – denn es ist einesund dasselbe, woran die Vermischung und die Sonde-rung stattfindet –, so würde sich gleichwohl, wenneiner das, was in Anaxagoras' Absicht lag, folgerichti-ger und bestimmter auseinanderlegt, herausstellen,daß seine Lehre doch etwas Neues und Wertvollesbringt. Denn so lange noch gar keine Aussonderungeingetreten war, ließ sich offenbar noch nichts mitWahrheit über jene Substanz aussagen, wie z.B., daßsie weiß oder schwarz oder grau sei oder irgend eineandere Farbe habe; sie war vielmehr notwendig ohneFarbe, da sie sonst eine von diesen bestimmten Far-ben hätte haben müssen. Aus demselben Grunde warsie weiter auch ohne Geschmack und ohne jede andereBestimmtheit. Sie hatte nicht die Möglichkeit, so oderso beschaffen, so oder so groß, noch überhaupt etwasBestimmtes zu sein; sonst wäre ihr irgend eine der be-sonderen Formen zugekommen, und das ist unmög-lich, wo alles durcheinander gemischt ist. Es wärealso schon die Sonderung eingetreten; seine Behaup-tung aber ist, daß alles durcheinander gemischt war,

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den Nous allein ausgenommen; dieser allein ist ihmungemischt und rein. Daraus ergibt sich als sein ei-gentlicher Gedanke doch dieser: die Prinzipien sinderstens das Eine, – denn dies ist einfach und unge-mischt, – und zweitens das »Andere«, wie wir Plato-niker das Unbestimmte nennen, bevor es bestimmtwird und an irgend einer Gestalt teilhat. Was er aus-drücklich sagt, ist also weder zutreffend noch klar;dagegen was er im Sinne hat, ist dem, was die Späte-ren sagen und was allerdings in höherem Grade ein-leuchtet, doch nicht so gar unähnlich.

Indessen, die bezeichneten Denker sind eben nur inden Gedanken heimisch, die das Entstehen und Ver-gehen und die Bewegung betreffen. Ihre Untersuchun-gen erstrecken sich kaum über etwas anderes als al-lein über die Substanz in diesem Sinne und über diePrinzipien und Ursachen in diesem Sinne. Diejenigendagegen, die alles Seiende zum Gegenstande ihrer Be-trachtung machen, im Seienden aber das sinnlichWahrnehmbare vom sinnlich nicht Wahrnehmbarenunterscheiden, dehnen natürlich auch ihre Betrachtungauf beide Arten von Objekten aus. Deshalb ist es ge-boten, länger bei ihnen zu verweilen, um zu sehen,was sie zu der uns hier beschäftigenden UntersuchungWertvolles oder minder Wertvolles beitragen.

Die Männer, die man als Pythagoreer bezeichnet,verwenden Prinzipien und Elemente von entlegenerer

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Art als die Naturphilosophen. Der Grund ist der, daßsie sie nicht aus dem Gebiete des Sinnlichen entnom-men haben; denn den mathematischen Objekten, wennman von den astronomischen Objekten absieht, bleibtdie Bewegung fremd. Gleichwohl bezieht sich ihrganzes Untersuchen und Verfahren doch auf die Er-scheinungen der Natur. Sie beschäftigen sich mit derEntstehung des Himmels und beobachten die Vorgän-ge an den Himmelskörpern, ihre Schicksale und Ver-richtungen; ihre Verwendung der Prinzipien und Ur-sachen erschöpft sich an diesen Objekten, als stimm-ten sie mit den anderen Naturphilosophen darin über-ein, daß das Seiende eben das ist, was sinnlich wahr-nehmbar ist und was der Himmel, wie man ihn nennt,in seinem Umfang befaßt. Und doch gäben, wie ge-sagt, die Ursachen und Prinzipien, die sie im Augehaben, das rechte Mittel an die Hand, auch zu den hö-heren Gattungen von Objekten sich zu erheben; ja, siewürden hier noch angemessener sein als für die Unter-suchungen über die Naturdinge. Wie aber eine Bewe-gung zustande kommen soll, wenn nur die Grenze unddas Unbegrenzte, das Ungerade und das Gerade alsGrundlagen gegeben sind, darüber sprechen sie sichnicht aus, auch nicht darüber, wie ohne Bewegungund Veränderung ein Entstehen und Vergehen oderdie Wirkungen der Körper, die den Himmel umwan-deln, möglich sein sollen. Ferner, gesetzt auch, es

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4135 55Aristoteles: Metaphysik

gebe ihnen jemand zu, daß von jenen Prinzipien dieräumliche Ausdehnung als mathematische herstamme,oder sie könnten dies beweisen, dann bliebe immernoch die Frage, wie es kommt, daß einige Körperschwer, andere leicht sind. Denn aus den Prinzipien,die sie ausdrücklich zugrunde legen, wollen sie jaebenso wie für das Mathematische auch für das sinn-lich Wahrnehmbare die Erklärung hernehmen. Daherkommt es, daß sie vom Feuer oder von der Erde oderden anderen Körpern der gleichen Art auch nicht dasMindeste zu sagen gewußt haben, wie ich meine,doch wohl aus dem Grunde, weil sie die Eigentüm-lichkeit des sinnlich Wahrnehmbaren überhaupt nichtbedacht haben. Außerdem, wie soll man es verstehen,daß die Eigenschaften der Zahlen und die Zahl selbstdie Ursachen sein sollen für das was am Himmel istund vorgeht wie von Anbeginn so heutigentages, unddaß es doch keine Zahl weiter geben soll als diejenigeZahl, aus der die Welt besteht? Nach ihnen hat manan diesem bestimmten Teile des Himmels die Vorstel-lung und den rechten Augenblick zu suchen, einwenig weiter oben oder unten aber die Ungerechtig-keit und die Scheidung oder Mischung; als Beweisdafür führen sie an, daß das Bezeichnete jeglicheseine Zahl sei. Dann ergibt sich, daß jeder dieser Orteauch diese bestimmte Menge von entsprechendenGrößen in sich begreifen muß, weil die genannten Be-

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stimmtheiten je zu einem dieser Orte gehören. Wiedann? Soll diese Zahl am Himmel dieselbe sein wiedie, die man für jede dieser Bestimmtheiten sonst an-setzen muß, oder eine andere neben dieser? Platomeint, sie sei eine andere; gleichwohl teilt er die An-sicht, daß die Bestimmtheiten und ihre Ursachen Zah-len seien; nur daß er die einen sich als intelligibleZahlen und Ursachen, die anderen als sinnlich wahr-nehmbare denkt.

Damit mögen die Pythagoreer für jetzt erledigtsein; mit dem, was wir über sie bemerkt haben, ist inder Tat der Sache genügt. Was aber diejenigen be-trifft, die die Gründe der Dinge in den Ideen finden,so haben diese, indem sie die Gründe der gegebenenDinge zu erfassen suchten, erst noch eine gleiche Zahlanderer Dinge hinzugebracht. Sie machen es geradewie jemand, der Gegenstände zählen will, und glaubt,er vermöge es nicht, so lange noch ihre Anzahl einegeringere sei; wenn er aber die Anzahl vergrößere,dann werde er es können. In der Tat dürfte die Zahlder Ideen etwa ebenso groß oder doch nicht wesent-lich geringer sein als die Zahl der gegebenen Dinge,die, indem man ihre Gründe suchte, den Anlaß boten,über das Gegebene zu den Ideen hinauszugehen. Gibtes doch für alles Einzelne eine Idee, die den gleichenNamen trägt, nicht bloß für die selbständigen Wesenauch für das übrige, soweit es irgend in einer Vielheit

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einen einheitlichen Begriff gibt, und das ebensowohlim Gebiete der sinnlichen wie in dem der ewigenDinge.

Zweitens aber findet sich unter den Gründen, mitdenen man die Existenz der Ideen zu erweisen sucht,kein einziger, der wirklich einleuchtend wäre. Undzwar die einen nicht, weil sie nicht das Material zueinem stringenten Schluß bieten; die anderen nicht,weil sich nach den Platonikern Ideen auch für solcheDinge ergeben würden, für die sie doch keine Ideenannehmen. Geht man nämlich von der Tatsache derwissenschaftlichen Erkenntnis aus, so müßte es Ideengeben für alles, was Gegenstand der Erkenntnis ist.Geht man aus von dem Begriff als der Einheit in derVielheit, so würde es Ideen geben auch vom Negati-ven, und geht man davon aus, daß doch auch die Vor-stellung des Vergangenen bleibt, auch Ideen des Ver-gänglichen; denn wir behalten doch davon eine blei-bende Vorstellung. Weiter aber, ein konsequenteresDenken ergibt die Annahme von Ideen auch für dasRelative, das wir doch nicht als eine selbständigeGattung anerkennen, und andererseits läuft die Sacheauf den »dritten Menschen« hinaus.

Überhaupt aber, die Ideenlehre hebt gerade das auf,dem diejenigen, die dieser Lehre anhangen, ein höhe-res Sein zuschreiben, als den Ideen selber. Denn dieFolge ist, daß nicht die Zweiheit das Ursprüngliche

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ist, sondern die Zahl, daß das Relative früher ist alsdie selbständige Existenz, und so vieles anderes,womit manche, die der Ideenlehre Folge geleistethaben, zu ihren eigenen Prinzipien sich in offenenWiderspruch gesetzt haben. Der Gedankengang fer-ner, der zu der Annahme von Ideen führt, ergibt wei-ter die Folgerung, daß es Ideen geben müßte nichtbloß von selbständigen Dingen, sondern auch vonvielem anderen; denn der Begriff faßt nicht bloß selb-ständig Existierendes in eine Einheit zusammen, son-dern auch das andere, und eine Erkenntnis gibt esnicht bloß von Substanzen, sondern auch von ande-rem. Und so könnten wir mit Einwürfen von gleicherArt beliebig fortfahren.

Halten wir uns an die Notwendigkeit der Sache undan den Charakter der Lehre, so dürfte es, wenn dochvon einer »Teilnahme« an den Ideen die Rede seinsoll, notwendigerweise Ideen nur von selbständigenWesen geben. Denn solches Teilnehmen findet nichtstatt in dem Sinne, daß etwas Prädikat an dem ande-ren wäre, sondern es kann einem jeglichen nur in derWeise zukommen, daß es sich nicht um Akzidenzenan einem Substrate handelt. Zum Beispiel: wennetwas an der Idee der Gedoppeltheit teilhat, so hateben dasselbe allerdings auch an der Idee des Ewigenteil, aber dies in akzidentieller Weise; denn die Ge-doppeltheit hat es an sich, ein Ewiges zu sein. Die

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Ideen sind demnach Substantielles, und daß etwasSubstanz ist, das bedeutet ganz dasselbe in der Weltdes Diesseits wie in der Welt des Jenseits. Oder wassollte es sonst heißen, wenn man sagt, es sei nochetwas neben den realen Dingen, nämlich der Begriff,als das Eine im Vielen? Entweder die Ideen und das,was an den Ideen teil hat, sind der Form nach iden-tisch: dann wird es etwas geben, was beiden gemein-sam ist. Denn wie sollte es kommen, daß wohl in densinnlichen Zweiheiten und in den mathematischenZweiheiten, welche letzteren zwar viele, aber zugleichewig sind, der Begriff der Zweiheit beidemale einerund derselbe wäre, aber nicht in der Zweiheit an sichund in einer beliebigen sinnlichen Zweiheit? Oderaber sie sind der Form nach nicht identisch; dann hät-ten sie nichts Gemeinsames als die Benennung, undes wäre gerade so, als ob einer den Kallias und einStück Holz beide mit dem Worte Mensch benennenwollte, ohne daß er dabei irgend etwas Gemeinsamesan beiden im Auge hätte.

In das allergrößte Bedenken aber versetzt dieFrage, was denn eigentlich die Ideen, sei es für das,was unter den sinnlich wahrnehmbaren Dingen dasEwige ist, sei es für das, was entsteht und vergeht, lei-sten. Liegt doch in Urnen keinerlei begründendeWirksamkeit, weder für irgend eine Bewegung nochfür eine qualitative Veränderung. Aber noch mehr:

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4140 60Aristoteles: Metaphysik

auch zu der Erkenntnis des übrigen nützen sie nichts.Sie bilden nicht die Substanz dieser Dinge, sonstmüßten sie ihnen immanent sein; und sie machenebenso wenig ihr Dasein aus, da sie in dem, was anihnen teilhat, nicht gegenwärtig sind. Am ehestenkönnte es scheinen, daß sie in der Weise Ursachensind, wie das Weiße in der Mischung Ursache für dieFarbe des weißen Gegenstandes ist. Indessen auchdiese Annahme, wie sie Anaxagoras zuerst, nach ihmEudoxos und manche andere vorgetragen haben, bie-tet der Widerlegung allzu reichlichen Anlaß, und eswäre leicht, eine Menge von Undenkbarkeiten widereine derartige Ansicht aufzutreiben.

Und weiter: aus den Ideen läßt sich das, was nichtIdee ist, auch auf keine der sonst gebräuchlichen Wei-sen ableiten. Wenn man sagt, sie seien die Musterbil-der und das andere habe Teil an ihnen, so ist das eineleere Redensart und eine bloße dichterische Metapher.Denn welches wäre das Subjekt, das in seinem Wir-ken auf diese Ideen den Blick gerichtet hielte? Ist esdoch ganz wohl möglich, daß etwas einem Gegen-stande ähnlich ist und wird, auch ohne daß es aus-drücklich dem anderen nachgebildet ist, wie einer einMensch gleich Sokrates werden kann, ob nun Sokra-tes existiert oder nicht; und dasselbe würde offenbarauch dann gelten, wenn dieser Sokrates etwas Ewigeswäre.

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4141 61Aristoteles: Metaphysik

Für denselben Gegenstand wird es ferner eineMehrzahl von Musterbildern, also auch von Ideengeben, für den Menschen z.B. das lebende Wesen unddas Wesen mit zwei Beinen und den Menschen-an-sich. Ferner würden die Ideen nicht bloß die Vorbil-der der sinnlich wahrnehmbaren Dinge, sondern auchder Ideen selbst sein, wie die Gattung Idee für dieArten der Ideen, wobei denn eines und dasselbe Vor-bild und Abbild zugleich würde.

Außerdem scheint es unmöglich, daß die Substanzgetrennt existiere von dem, dessen Substanz sie ist.Oder was soll es heißen, daß die Ideen getrennt vonden Dingen existieren, wenn sie doch die Substanzderselben sind? Im »Phaedon« heißt es, daß die Ideendie Ursachen des Seins und des Entstehens sind. Abergesetzt auch, die Ideen existieren, so kann deshalbgleichwohl noch nicht das, was an ihnen teilhat, zumDasein gelangen, wo es keine bewegende Ursachegibt; dagegen kommt vieles andere ganz gut zustande,wofür man doch keine Ideen annimmt, wie ein Hausoder ein Ring. Offenbar also kann durch eben diesel-ben Ursachen, wie sie für das eben Bezeichnete gel-ten, auch das übrige sein Dasein und Entstehen fin-den.

Nun aber zu etwas anderem. Wenn die Ideen Zah-len sind, wie können sie Ursachen sein? Etwa weil dieexistierenden Dinge auch wieder Zahlen wären, z.B.

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4142 62Aristoteles: Metaphysik

diese bestimmte Zahl ein Mensch, diese Sokrates,diese Kallias wäre? Inwiefern wären dann jene Zahlendie Ursachen für diese? Daß die einen ewig sind, dieandern nicht, das macht doch für die Ursächlichkeitnichts aus. Wenn sie aber deshalb die Ursachen seinsollen, weil die irdischen Gegenstände vielmehr Ver-hältnisse von Zahlen sind, wie z.B. die musikalischeHarmonie eines ist, so gibt es offenbar ein Einheitli-ches, zugrunde Liegendes, dessen Verhältnisse siesind. Liegt nun ein derartiges als eine Art von Materiezugrunde, so werden offenbar auch die Idealzahlennicht sowohl Zahlen als Verhältnisse zwischen ver-schiedenen Gliedern sein. Zum Beispiel wenn Kalliasein Zahlenverhältnis von Feuer, Erde, Wasser undLuft ist, so wird auch die Idee ein Zahlenverhältnissein von gewissen anderen Bestandteilen, die ihr Sub-strat ausmachen, und der Mensch-an-sich, ob er nuneine Zahl ist oder nicht, wird jedenfalls nicht eineZahl schlechthin sein, sondern ein zahlenmäßigesVerhältnis zwischen gewissen Elementen, und alsowird die Idee keine Zahl sein.

Ferner, aus einer Vielheit von Zahlen entsteht eineneue Zahl; soll also aus einer Vielheit von Ideen aucheine neue Idee werden? und wie? Wenn die neue Zahlaber nicht sowohl aus den gegebenen Zahlen, als viel-mehr aus den in den Zahlen, z.B. in der Zahl 10000,enthaltenen Einheiten gebildet wird: wie verhalten

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4143 63Aristoteles: Metaphysik

sich dabei die Einheiten? Sind sie gleichartig, so er-gibt sich eine Menge von Ungereimtheiten; sind sienicht gleichartig, weder die Einheiten einer undderselben Zahl untereinander, noch die Einheiten dereinen Zahl mit den Einheiten aller anderen, worin sollder Unterschied zwischen ihnen bestehen, da sie dochohne Beschaffenheit sind? Alles das hat keinen rech-ten Sinn, noch verträgt es sich mit gesunder Überle-gung.

So sieht man sich denn gezwungen, außer diesernoch eine weitere Art der Zahl sich zu beschaffen,nämlich die, die in der Arithmetik und in dem ganzenGebiete herrscht, das manche als das »Mittlere« zwi-schen den sinnlichen Dingen und der Ideenwelt be-zeichnen. Wie aber soll man sich diese Art von Zah-len entstanden denken und aus welchen Prinzipien?oder warum soll es zwischen den diesseitigen Dingenund jenen Idealzahlen mitteninne stehen?

Ferner müßten die Einheiten, die in der Zweiheitenthalten sind, jede wieder aus einer früheren Zwei-heit stammen, was doch unmöglich ist. Und wodurchbildet die Idealzahl, die doch aus Einheiten besteht,wieder eine Einheit? Übrigens, abgesehen von demschon Bemerkten: wenn die Einheiten wirklich untersich verschieden sind, dann hätte man sich auch soausdrücken sollen, wie es diejenigen Denker tun, diedie Zahl der Elemente als vier oder als zwei bezeich-

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4144 64Aristoteles: Metaphysik

nen. Denn von diesen nennt jeder Element nicht daswas darin das Gemeinsame ist, nämlich den Körper,sondern er nennt als solches Feuer und Erde, gleich-gültig ob die Körperlichkeit ihnen gemeinsam ist odernicht Die Platoniker aber sprechen, als sei das Eineein in sich Gleichartiges in der Weise wie Feuer oderWasser es ist. Wäre dem aber wirklich so, so wärendie Zahlen wieder keine selbständig existierendenIdealzahlen; soll es dagegen eine Eins als Idealzahlgeben, und soll dieselbe zugleich als Prinzip gelten,so wird Einheit dabei offenbar in mehreren Bedeutun-gen genommen; sonst hätte die Sache gar keinen Sinn.

Indem wir als Platoniker das was selbständige We-senheit ist auf die Prinzipien zurückführen wollen,lassen wir die Länge aus dem Langen und dem Kur-zen, aus etwas, was der Art des Groß-und-Kleinen an-gehört, entstehen, die Fläche aus dem Breiten undSchmalen, den Körper aber aus dem Hohen und Nied-rigen. Indessen, wie kann die Linie in der Fläche,Linie und Fläche aber im Körperlichen enthaltensein? Gehören doch das Breite und Schmale, dasHohe und Niedrige verschiedenen Arten an. Wie nundie Zahl nicht in ihnen enthalten ist, weil das Vieleund Wenige wieder eine andere Gattung als jene bil-det, so wird auch kein anderer der übergeordneten Be-griffe in dem untergeordneten enthalten sein. Aberauch das Breite ist doch keine Art des Hohen; sonst

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4145 65Aristoteles: Metaphysik

würde der Körper eine Fläche sein. Die Punkte so-dann, woraus soll man sie ableiten? Plato hat zwardiesen Begriff als eine Erfindung der Mathematikerbekämpft; er sprach lieber von dem »Prinzip derLinie«, und als solches pflegte er häufig den Begriffder »unteilbaren Linien« einzuführen. Aber auchdiese müssen doch irgendwie eine Grenze haben, unddarum wird in demselben Begriffe, in dem die Liniegedacht wird, auch der Punkt mitgedacht.

Kurz, indem unsere Wissenschaft die Erklärungsuchte für die Tatsachen, haben wir gerade diese bei-seite liegen lassen. Von der Ursache, aus der die Ver-änderung stammt, sagen wir überhaupt nichts – undindem wir das Wesen des Realen zu bezeichnen mei-nen, reden wir davon, daß es andere Wesen gebe, be-helfen uns aber mit leeren Redensarten, wenn wir an-geben sollen, wie diese Wesen mit jenen zusammen-hangen. Denn das »Teilnehmen« bedeutet, wie schonoben bemerkt, gar nichts. Auch dasjenige, was wir alserzeugenden Grund für die Wissenschaften wirksamsehen, das, um dessen willen alle Vernunft und alleNatur tätig ist, auch diese Art des Grundes, der wirdoch die Geltung als eines der Prinzipien zugestehen,hat mit den Ideen keinerlei Berührung. Dafür ist beiden Heutigen die Mathematik an die Stelle der Philo-sophie getreten, während sie doch selber sagen, manmüsse die Mathematik deshalb betreiben, um sich den

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4146 66Aristoteles: Metaphysik

Weg zu den höheren Erkenntnissen erst zu bahnen.Sodann aber, was die Platoniker als Materie und Sub-strat setzen, das möchte man eher als zu mathema-tisch gefaßt ansehen und eher für ein Prädikat derSubstanz, für einen Unterschied an der Substanz undan der Materie, als für die Materie selber halten; – ichdenke dabei an das Groß-und-Kleine; – es ist die glei-che Manier, wie ja auch die Naturphilosophen vomDünnen und Dichten als den obersten Unterschiedenan dem Substrat reden. Auch dies bedeutet ein Hin-ausgehen über und ein Zurückbleiben hinter demMaß.

Was aber die Bewegung anbetrifft, so wird manden Ideen, wenn das Groß-und-Kleine Bewegung ist,Bewegung beilegen müssen. Wenn man sie ihnenaber nicht beilegen darf, woher ist dann die Bewe-gung gekommen? Damit wäre denn die ganze physi-kalische Betrachtung eigentlich beseitigt. Aber auchdas, was doch so leicht zu sein scheint, nämlich zuzeigen, daß eine Gesamtheit von Gegenständen einsist, auch das nicht einmal bringen sie zustande. Denndurch ihr Heraussetzen einer Wesenheit als einer selb-ständigen wird nicht etwa die Einheit der Gesamtheitgesetzt, sondern auch wenn man ihnen alles zugibt,doch nur ein besonderes an sich seiendes Eins, undnicht einmal dies, wenn man ihnen nicht auch das zu-gibt, daß das Allgemeine eine Gattung ausmacht, was

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4147 67Aristoteles: Metaphysik

doch in manchen Fällen unmöglich ist. Es gibt aberauch keinen rechten Aufschluß über das, was sie sicham nächsten an die Zahlen anschließen lassen, idealeLinien, Flächen und Körper, weder wie diese existie-ren oder abzuleiten sind, noch welche Bedeutung siehaben.

Denn Ideen können sie nicht sein – sie sind jakeine Zahlen –, und das »Mittlere« auch nicht – denndas wäre das Mathematische – und gehören auchnicht zu den vergänglichen Dingen. So tritt uns dennhier ein weiteres, viertes Geschlecht des Seienden ent-gegen.

Völlig unmöglich endlich ist es, die Elemente desSeienden ausfindig zu machen, wenn man nicht unter-scheidet, in wie vielfachem Sinne vom Seienden ge-sprochen wird, und nun gar, wenn man nach derWeise der Platoniker die Untersuchung so anstellt,daß man fragt, welcher Art die Elemente sind, ausdenen alles Seiende besteht. Denn die Frage, aus wel-chen Elementen etwa das Tun oder das Leiden oderdas Gerade besteht, ist doch völlig unverständlich;soll die Frage nach den Elementen einen Sinn haben,so kann es sich doch immer nur um die Elementeeines selbständig Existierenden handeln. Schon des-halb hat es keinen Sinn, wenn man von allem Seien-den die Elemente sucht oder sie gar erkannt zu habenglaubt. Was kann es denn auch nur heißen, daß man

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4148 68Aristoteles: Metaphysik

die Elemente von allem kennen lernt? Offenbar wäredann die Voraussetzung, daß man vorher gar keineKenntnis von irgend etwas besitzt. Denn wie der Jün-ger der Mathematik wohl anderes vorher schon wis-sen kann, aber das, was Gegenstand seiner Wissen-schaft ist und was er zu erlernen im Sinne hat, nichtschon vorher kennt, so ist es auch bei den anderenWissenschaften; und wenn es daher eine Wissenschaftgibt, die sich auf alles erstreckt, wie manche behaup-ten, so würde, wer an sie herantritt, vorher schlechter-dings nichts wissen dürfen. Und doch geschieht allesErlernen auf Grund davon, daß alles oder doch eini-ges schon vorher erkannt ist, und zwar ebenso, wo aufdem Wege des Beweises, wie da, wo vermittels vonDefinitionen das Erlernen stattfindet. Die Elementeder Definition muß man schon vorher kennen und mitihnen vertraut sein, und bei dem Verfahren der Induk-tion verhält es sich ebenso. Gesetzt aber, dies Wissenwäre uns angeboren, so wäre es erst recht zu verwun-dern, wie wir die wichtigsten Erkenntnisse besitzenkönnen, ohne es zu wissen. Und dann, wie kann je-mand erkennen, aus welchen Elementen das Seiendebesteht, und wie kann er es deutlich machen? Auchdas hat seine Schwierigkeit. Die Bedenken, die sichhier erheben, sind ganz ähnlich, wie die betreffs ge-wisser Silben. Die einen lassen »Za« aus s, d und abestehen, andere lehren dagegen, Z sei ein besonderer

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4149 69Aristoteles: Metaphysik

Laut für sich und keiner von den bekannten. Außer-dem, wo es sich um Gegenstände sinnlicher Wahrneh-mung handelt, wie kann man diese kennen, wenneinem die sinnliche Wahrnehmung fehlt? Und dochmüßte diese Kenntnis möglich sein, wenn die Ele-mente aller Dinge ebenso dieselben wären, wie diezusammengesetzten Laute aus den ihnen eigenen Ele-menten bestehen.

Das Ergebnis unserer bisherigen Betrachtungen istdies, daß alle Denker augenscheinlich um eben diesel-ben Arten des Grundes sich bemühen, die wir in unse-ren Schriften zur Naturwissenschaft bezeichnet haben,und daß sich außer diesen eine weitere nicht wohl auf-zeigen läßt. Freilich haben sie sie nur dunkel ange-deutet, und wenn in gewissem Sinne alle jene Artendes Grundes bereits früher erörtert worden sind, so istes in gewissem Sinne auch wieder nicht der Fall ge-wesen. Denn die früheste Arbeit an der Wissenschaftin bezug auf jedes Objekt gleicht einem stammelndenVersuch; in ihren Anfängen und bei ihrer Entstehungerscheint sie wie ein Neuling. Noch Empedokles er-klärt den Knochen durch das Verhältnis der Stoffe;dann bedeutet doch dieses Verhältnis das Wesen unddie Substanz der Sache. Dann muß aber in demselbenSinne auch das Fleisch und jedes andere seinemWesen nach dieses Verhältnis sein oder gar nichts;durch dieses Verhältnis also wäre Fleisch und Kno-

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4150 70Aristoteles: Metaphysik

chen und jegliches andere das was es ist, und nichtdurch die Materie, die er dafür in Anspruch nimmt,Feuer, Erde, Wasser und Luft. Indessen, hätte ihm dasein anderer gesagt, so würde er wohl genötigt gewe-sen sein zuzustimmen; er selber hat es nicht ausdrück-lich gesagt. Wir haben darüber schon oben gehandelt.Jetzt wollen wir uns wieder zurück und den Proble-men zuwenden, die sich bei eben diesen Untersuchun-gen ergeben. Vielleicht gelingt es uns, daraus Materi-al zu gewinnen, das uns die Behandlung der späterhervortretenden Probleme erleichtert.

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4151 71Aristoteles: Metaphysik

I. TeilDie Probleme der Grundwissenschaft

Indem wir nunmehr an die von uns zu behandelndeWissenschaft herantreten, gilt es zunächst uns klar zuwerden über die Fragen, über die wir eine Entschei-dung zu treffen haben. Es sind zum Teil solche, überwelche die Denker vor uns abweichende Ansichtengeäußert haben; wir müssen aber auch an etwaigeweitere denken, die sie übersehen haben möchten.

Wer einer Sache recht auf den Grund kommen will,für den ist das erste Erfordernis dies, daß er den Pro-blemen scharf ins Gesicht sehe. Denn die nachher zuerlangende Einsicht hängt an der Lösung der vorherins Auge gefaßten Probleme; wer den Knoten nichtkennt, der kann ihn auch nicht lösen. Solch ein Kno-ten in dem Objekte aber ist es, den das Problem dar-stellt, wie es sich für das Nachdenken auftut. DemDenken nämlich, sofern es die Schwierigkeit gewahrwird, ergeht es ganz ähnlich wie den Leuten, die sichdurch einen festen Knoten eingeschnürt fühlen: beidekönnen keinen Schritt vorwärts tun. Darum ist esnötig, zuvörderst alle Schwierigkeiten ins Auge ge-faßt zu haben; ist es schon aus diesem Grunde gebo-ten, so ist ein weiterer Grund der, daß man, wenn manohne diese Erwägung der Probleme an die Untersu-

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4152 72Aristoteles: Metaphysik

chung herantritt, dem Wanderer gleicht, der nichtweiß, wohin er seinen Weg zu richten hat; und daßman außerdem im andern Fall nicht einmal, wennman etwas gefunden hat, zu erkennen imstande wäre,ob das Gefundene auch das ist, was man sucht, odernicht. Denn in jenem Fall ist das Ziel nicht klar; wohlaber ist es dem klar, der zuvor die Probleme sich zumBewußtsein gebracht hat. Dazu kommt, daß, wer einUrteil zu fällen hat, notwendig sich in günstigererLage befindet, wenn er die Äußerungen sämtlichersich befehdenden Gegner gleichsam wie streitenderParteien im Prozeß vorher angehört hat.

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4153 73Aristoteles: Metaphysik

1. Aufzeigung der Probleme

Das erste Problem ist dasjenige, das wir schon inunserer Einleitung berührt haben, nämlich die Frage,ob die Untersuchung der letzten Gründe die Aufgabeeiner oder mehrerer Wissenschaften ist, und ob dieWissenschaft nur die obersten Prinzipien der reinenWesenheit zu betrachten hat, oder auch die Prinzipi-en, die überhaupt jedem Beweisverfahren zugrundeliegen, Prinzipien also wie dieses, ob es möglich ist,eines und dasselbe zugleich zu bejahen und zu vernei-nen, oder nicht, und was dergleichen mehr ist.

Wenn ferner die Wissenschaft von der reinen We-senheit handelt, so fragt es sich, ob eine Wissenschaftalle Wesenheiten betrachtet oder ob es dafür eineMehrheit von Wissenschaften gibt, und wenn dasletztere der Fall ist, ob diese Wissenschaften alle un-tereinander verwandt sind, oder ob man die einen alsphilosophische Disziplinen, die anderen anders be-zeichnen muß.

Weiter gehört zu dem, was notwendig untersuchtwerden muß, auch dies, ob die sinnlich wahrnehmba-ren Dinge als die einzigen zu gelten haben, die exi-stieren, oder ob man außer ihnen noch andere anzu-nehmen hat, sowie ob man nur eine Gattung solcherselbständiger Wesen oder eine Mehrheit von Gattun-

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4154 74Aristoteles: Metaphysik

gen setzen soll, wie es diejenigen tun, welche dieIdeen und dann noch als ein Mittleres zwischen denIdeen und den sinnlichen Dingen die mathematischenObjekte setzen. Das also, meinen wir, ist der ersteGegenstand der Untersuchung.

Eine weitere Frage ist dann die, ob die Erörterungsich nur auf die reinen Wesenheiten zu erstrecken hat,oder auch auf die Bestimmungen, die ihnen als sol-chen zukommen. Weiter aber fragt es sich in bezugauf Identität und Unterschied, Ähnlichkeit und Un-ähnlichkeit, Einheit und Gegensatz, Ursprünglichesund Abgeleitetes und alle derartigen Bestimmungen,an denen die Dialektiker, indem sie sich bloß im Krei-se der herrschenden Vorstellungen tummeln, ihreKräfte erproben, – es fragt sich also, welche Wissen-schaft von allem diesem zu handeln hat, eine Frage,die es ebenso in bezug auf die Bestimmungen, die denbezeichneten Gegenständen an und für sich zukom-men, zu beantworten gilt. Die Frage ist eben nicht nurdie nach dem Wesen jedes dieser Begriffe, sondernauch die, ob zu jedem einzelnen derselben nur einerden Gegensatz bildet, ob die Prinzipien und Elementein den Gattungen zu finden sind, oder in den Bestand-teilen, in die sich jeder Gegenstand zerlegen läßt. Undwenn es die Gattungen sind, so fragt sich, ob es dieje-nigen Gattungen sind, die den Individuen zunächststehend als die letzten gelten, oder ob es die obersten

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4155 75Aristoteles: Metaphysik

sind, wie z.B. ob der Begriff lebendes Wesen oder derBegriff Mensch das Prinzip ist und den Einzeldingengegenüber einen höheren Grad von Realität hat.

Den hauptsächlichsten Gegenstand der Untersu-chung und alles wissenschaftlichen Verfahrens aberbildet die Frage, ob es neben der Materie noch etwasgibt, was erzeugender Grund an und für sich ist, odernicht, sodann ob dieses abgetrennt für sich bestehtoder nicht, und ob es der Zahl nach eines oder eineMehrheit ist. Es fragt sich weiter, ob es neben demZusammengesetzten – und ich rede vom Zusammen-gesetzten da, wo die Materie eine Bestimmtheit ange-nommen hat –, ob es also neben diesem noch etwasanderes gibt oder nicht, ob dies wohl auf dem einenGebiete der Fall ist und nicht auf dem anderen, undwelche Beschaffenheit dem letzteren Gebiete des Sei-enden zukommen möchte. Es fragt sich weiter, ob diePrinzipien, die begrifflichen sowohl wie die materiel-len, der Zahl oder der Art nach bestimmt sind, ob siefür die vergänglichen und für die unvergänglichenDinge dieselben oder ob sie verschieden sind, ob diePrinzipien sämtlich unvergänglich oder ob die Prinzi-pien der vergänglichen Dinge auch selber vergänglichsind.

Dazu kommt dann, was unter allem die größteSchwierigkeit und das schwerste Bedenken mit sichbringt, die Frage, ob das Eine und das Seiende, wie es

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4156 76Aristoteles: Metaphysik

die Pythagoreer und wie es Plato auffaßt, nicht etwasanderes als die Dinge, sondern ihr eigentliches Wesenist, oder ob es nicht vielmehr ein Substrat hat, dasdavon verschieden ist. Als solches Substrat bezeich-net Empedokles die Freundschaft, ein anderer dasFeuer, ein dritter das Wasser, ein vierter die Luft. Esschließt sich die weitere Frage an, ob die Prinzipienden Charakter der Allgemeinheit tragen oder ob sieein Sein gleich den Einzeldingen haben, ob sie derPotentialität oder der Aktualität nach existieren undob sie noch in anderer Weise sind als in der Weise derBewegung. Auch diese Fragen sind wohl imstandeernsthafte Schwierigkeiten zu verursachen.

Eine weitere Frage ist endlich die, ob Zahlen, Lini-en, Figuren, Punkte selbständige Wesenheiten sindoder nicht, und falls sie solche Wesenheiten sind, obsie abgetrennt von den sinnlichen Dingen oder in denletzteren immanent bestehen.

Über alle die aufgezählten Probleme ist es nicht nurschwierig sich der Wahrheit zu versichern, sondernschon das ist nicht leicht, den Punkt, wo die Schwie-rigkeit liegt, sich gründlich klar zu machen.

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2. Versuchsweise Erörterung der Probleme

Das erste Problem

Wir handeln zunächst von dem, was wir an ersterStelle genannt haben: ob es die Aufgabe einer odereiner Mehrheit von Wissenschaften ist, alle Arten desGrundes in Betracht zu ziehen.

Wir fragen: wie kann es das Werk einer einzigenWissenschaft sein, die Prinzipien zu erkennen, diedoch zu einander nicht im Verhältnis des Gegensatzesstehen? Zudem, es gibt eine Fülle von Wesenheiten,bei denen die Prinzipien keineswegs alle vertretensind. Welchen Sinn hätte z.B. für das Unbewegte einPrinzip der Bewegung oder die Bestimmung alsGutes? Hat doch alles, was an und für sich und nachseiner natürlichen Bestimmtheit ein Gutes ist, die Be-deutung des Zweckes, und in diesem Sinne auch desGrundes, sofern das andere sein Werden und seinSein um seinetwillen hat, und ist doch der Zweck unddas Wozu Ziel eines Handelns, alles Handeln abermit Bewegung verbunden. Daher, scheint es, könntevon einem derartigen Prinzip bei dem, was unbewegtist, nicht die Rede sein, und es könnte darum auch derBegriff des an sich Guten hier keine Anwendung fin-den. In der Tat hat denn auch in der Mathematik eine

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Erklärung durch diese Art des Grundes keine Stätte;hier wird nichts in der Weise bewiesen, daß man auf-zeigte, es sei etwas das Bessere oder das Schlechtere.Ein Beweisgang dieser Art kommt auf diesem Gebietekeinem Menschen auch nur in den Sinn. Aus diesemGrunde haben denn auch manche Philosophen wieAristippos von diesem Gebiete der Untersuchung mitgründlicher Geringschätzung gesprochen. In den an-deren Gebieten, auch im gemeinen Handwerk wie beidem des Zimmermanns oder Schusters, da werde allesunter den Gesichtspunkt des Besseren oder Schlechte-ren gestellt; die mathematischen Wissenschaften aberhandelten mit keinem Worte vom Guten oderSchlechten.

Andererseits, wenn es eine Mehrheit von Wissen-schaften gibt, die von den verschiedenen Arten desGrundes handeln, und wenn jede einzelne derselbenvon einem besonderen Prinzip handelt: welche dieserWissenschaften soll man für diejenige erklären, umdie es sich für uns handelt? oder wen sollen wir unterdenjenigen, die jene Wissenschaften betreiben, alsden besten Kenner dieses unseres Gebietes ansehen?Ist es doch ganz wohl möglich, daß bei einem unddemselben Gegenstande alle Arten des Grundes zu-sammentreffen; so beim Hause als bewegende Ursa-che die Kunst und der Baumeister, als Zweckursacheder Dienst, den das Haus leistet, als Materie Erde und

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Steine, als Formursache der Begriff im Geiste desBaumeisters. Nach dem, was wir oben bereits an be-grifflichen Bestimmungen über die Frage gegebenhaben, welche unter den Wissenschaften als Philoso-phie zu gelten hat, gibt es gute Gründe, unter denWissenschaften, die eines jener Prinzipien behandeln,jede als die gesuchte zu bezeichnen. Als oberste Herr-scherin und Führerin von allen, als diejenige, der dieanderen Wissenschaften als unterwürfige Dienerinnennicht einmal zu widersprechen das Recht haben,würde die Wissenschaft vom Zweck und vom Gutendiesen Anspruch erheben dürfen; denn um des Zwek-kes willen ist alles andere. Sofern aber die Philoso-phie bestimmt worden ist als die Wissenschaft vonden letzten Gründen und von dem was im höchstenGrade erkennbar ist, würde es die Wissenschaft vonder reinen Wesenheit sein, die dieser Bestimmungentspricht. Da es nämlich ein Wissen von einem unddemselben Gegenstande in mehrfacher Bedeutunggibt, so schreiben wir demjenigen ein Wissen in hö-herem Sinne zu, der erkennt, was der Gegenstand ist,als demjenigen, der erkennt, was er nicht ist, undunter jenen wieder dem einen ein eigentlicheres Wis-sen als dem anderen, und das höchste Wissen dem,der weiß, was die Sache ist, nicht wie groß oder wiebeschaffen sie ist oder was zu tun oder zu leiden inihrer Natur liegt. Und so auch auf den anderen Gebie-

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ten meinen wir, daß das Wissen von jeglichem, auchda, wo es strenge Beweisführung gibt, dann vorhan-den sei, wenn wir wissen, was der Gegenstand ist,z.B. was die Verwandlung in ein Quadrat ist, näm-lich, daß sie das Finden der mittleren Proportionalebedeutet. Und das Gleiche gilt von allem anderen.Von Entstehung aber, von Tätigkeit und überhauptvon jeder Veränderung haben wir ein Wissen dann,wenn wir den Ausgangspunkt der Bewegung kennen.Dies aber bedeutet etwas anderes als den Zweck, ja essteht zu ihm im Gegensätze. Und so könnte man wohlzu der Ansicht kommen, daß die Erforschung jedeseinzelnen dieser obersten Gründe einer besonderenWissenschaft angehört.

Das zweite Problem

Eine weitere Streitfrage ist die über die Prinzipiendes Beweisens. Gehören sie einer Wissenschaft odermehreren an? Unter den Prinzipien des Beweisensverstehe ich die gemeinsamen Grundsätze, auf Grundderen man überall einen Beweis führt, z.B. denGrundsatz, daß man notwendig jegliches entweder be-jahen oder verneinen muß, und daß es unmöglich ist,daß eines und dasselbe zugleich sei und nicht sei, undwas es etwa sonst an derlei obersten Sätzen geben

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möchte. Die Frage ist, ob alles dies einer und dersel-ben Wissenschaft wie der Wissenschaft von der rei-nen Wesenheit angehört, oder einer anderen, undwenn nicht einer und derselben, welche von beidenman als die Wissenschaft, die wir im Auge haben, an-zusprechen hat.

Nun ist es nicht wohl annehmbar, daß alle jeneSätze einer einzigen Wissenschaft zu überweisenseien. Denn warum sollte es mit mehr Recht die ei-gentümliche Aufgabe der Mathematik als irgend eineranderen Wissenschaft sein, von jenen Dingen eine Er-kenntnis zu gewinnen? Ist es aber die Aufgabe jederbeliebigen Wissenschaft in gleichem Maße, und kannes doch unmöglich die Aufgabe aller insgesamt sein,so wird die Erkenntnis dieser Dinge, wie sie nichtAufgabe der anderen Wissenschaften ist, so auchnicht die eigentümliche Aufgabe derjenigen Wissen-schaft sein, die sich mit der Erkenntnis der reinen We-senheit beschäftigt.

Zugleich aber: in welchem Sinne kann es eine Wis-senschaft von diesen Dingen geben? Was ein jeglichervon den obersten Grundsätzen bedeutet, das wissenwir ja schon ohnedas. Es wenden sie wenigstens auchdie anderen Zweige der Wissenschaft an, gerade soals wären sie ihnen bekannt. Gibt es aber eine Wis-senschaft, die sie zu beweisen hat, so wird dazu einzugrunde liegendes allgemeines Objekt erforderlich

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sein, und teils besondere Bestimmungen desselben,teils Axiome für die Ableitung der letzteren. Denndaß es von allem einen Beweis gebe, ist undenkbar.Zu einem Beweise gehört dreierlei: eine Grundlage,von der aus, ein Gegenstand, betreffs dessen, und ge-wisse Bestimmungen an ihm, für die er geführt wird.Es ergibt sich daraus, daß es eine einheitliche Gattungist, auf die sich alle bewiesenen Sätze beziehen. Dennüberall, wo etwas bewiesen wird, stützt man sich aufdie allgemeinsten Axiome.

Aber andrerseits: gesetzt, die Wissenschaft von derreinen Wesenheit sei eine andere als die Wissenschaftvon diesen Grundsätzen: welche von beiden ist danndie ihrer Natur nach höher stehende und prinzipiel-lere? Das am meisten Allgemeine, das für allesGrundlegende sind die Axiome. Wenn es nun nichtdie Aufgabe des Philosophen sein sollte, inbetreff die-ser die Frage nach dem Wahren und dem Falschen zubehandeln, welchem anderen sonst möchte man dieseAufgabe überweisen?

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Das dritte Problem

Überhaupt ist zu fragen, ob es für alles, was selb-ständige Wesenheit ist, eine einzige Wissenschaftoder eine Mehrheit von Wissenschaften gibt. Wenn esnicht bloß eine einzige Wissenschaft ist, welche Artvon Wesenheiten soll man der Wissenschaft überwei-sen, von der wir sprechen? Daß es aber für alle We-senheiten eine einzige Wissenschaft geben sollte, daswill doch auch nicht recht einleuchten. Dann würdeauch eine einzige Wissenschaft die Aufgabe haben,für alle Bestimmungen, die den Wesenheiten zufallen,den Beweis zu führen, wenn doch jede Wissenschaftvon strengem Charakter auf einem bestimmten Gebie-te das, was dem Gegenstande an und für sich an Be-stimmungen zukommt, auf Grund der allgemeinenGrundsätze zu erforschen hat. Soweit es sich also umein und dasselbe Gebiet handelt, hat eine und dieselbeWissenschaft die Aufgabe, die Bestimmungen, diedem Gegenstande an und für sich zukommen, aufGrund derselben Grundsätze zu erforschen. Denn ge-hört das Gebiet, auf dem man sich bewegt, einer ein-zigen Wissenschaft an, so gilt dasselbe auch für dieGrundsätze, von denen man ausgeht, ganz gleich obdie Wissenschaft von diesen Grundsätzen dieselbewie die Wissenschaft von den Wesenheiten ist oder

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eine andere, und deshalb ist es auch eine einheitlicheWissenschaft, die die Bestimmungen, die dem Gegen-stande zufallen, zu erforschen hat, ganz gleich ob jeneWissenschaften selbst, oder eine von ihnen diese Auf-gabe hat.

Das vierte Problem

Ferner fragt es sich, ob die Untersuchung nur dieselbständigen Wesenheiten selbst zum Gegenstandehat, oder auch die ihnen zufallenden Bestimmungen;z.B. wenn der Körper eine solche Wesenheit ist unddie Linien und die Flächen auch, ob es die Aufgabeeiner und derselben Wissenschaft ist, diese Gegen-stände zu erkennen und zugleich die Eigenschaftenjeder einzelnen Gattung von Gegenständen, um diesich die Untersuchungen der Mathematik drehen, oderob dies die Aufgabe einer anderen Wissenschaft ist.Ist beides die Aufgabe derselben Wissenschaft, sowürde diese Wissenschaft, auch wo sie von der We-senheit handelt, eine beweisende Wissenschaft seinmüssen; und doch nimmt man eher an, daß es vondem an sich seienden Wesen keinen Beweis gibt. Istes aber die Aufgabe einer anderen Wissenschaft, wasist das dann für eine Wissenschaft, die die Eigen-schaften der Wesenheit untersucht? Es möchte außer-

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ordentlich schwer sein, sie anzugeben.

Das fünfte Problem

Ferner aber: soll man sagen, die sinnlich wahr-nehmbaren Gegenstände seien die einzigen Wesenhei-ten, oder soll man neben diesen noch andere anneh-men? Und wenn das letztere der Fall ist, gibt es nureine einzige oder gibt es mehrere Arten solcher We-senheiten, wie sie diejenigen annehmen, die Ideen undaußerdem noch ein Mittleres setzen, das sie in demObjekt der mathematischen Wissenschaften finden?Daß man die Ideen als Ursachen und an sich seiendeWesenheiten bezeichnet, darüber haben wir gehan-delt, wo zuerst auf sie die Rede gekommen ist. Wennnun diese Annahme zu vielfachen Bedenken Anlaßgibt, so möchte der Satz keinem anderen an Wunder-lichkeit nachstehen, wenn man einerseits sagt, es exi-stierten neben den Dingen in der Welt noch gewisseandere Wesen, andererseits aber diesen die gleicheBeschaffenheit wie den sinnlich wahrnehmbaren Din-gen zuschreibt, nur daß sie ewig sein sollen, währendjene vergänglich sind. So spricht man von dem Men-schen an sich, von dem Pferde an sich und von derGesundheit an sich, ohne daß eine weitere Änderungim Gegenstande damit einträte; ganz ähnlich wie

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4166 86Aristoteles: Metaphysik

wenn man zwar das Dasein von Göttern behauptet,sie sich aber ganz menschenähnlich vorstellt. Denn indiesem Falle hat man nichts anderes getan, als daßman Menschen mit dem Prädikat der Ewigkeit aus-stattet; in jenem Falle nichts anderes, als daß mansich Ideen denkt ganz wie sinnliche Gegenstände,aber mit dem Prädikat der Ewigkeit.

Aber auch wenn man zu den Ideen und den sinnli-chen Gegenständen ein Mittleres setzt, so bietet auchdas große Bedenken. Offenbar müßte es dann ganzebenso neben den Linien an sich und den sinnlichwahrnehmbaren Linien noch andere Linien geben,und das Gleiche wird von jeder anderen Gattung vonGegenständen gelten. Und also, da die Sternkunde mitzu diesen Wissenschaften gehört, wird es auch nebendem sinnlich wahrnehmbaren Himmel noch einenHimmel und eine Sonne, einen Mond und die übrigenHimmelskörper ganz ebenso neben den anderengeben. Und doch, wie soll man an solche Dinge ernst-haft glauben? Daß dieser Himmel unbeweglich sei,läßt sich schwer vorstellen; daß er sich aber bewege,ist ganz und gar undenkbar. Von den Gegenständen,mit denen sich die Optik und die mathematischeLehre von der Harmonie beschäftigt, gilt ganz dassel-be; auch hier ist es aus denselben Gründen undenk-bar, daß es neben den sinnlich wahrnehmbaren Ge-genständen noch andere gebe. Denn wenn das Mittle-

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re, wie es doch hier der Fall wäre, in sinnlichen Ge-genständen und sinnlichen Wahrnehmungen bestehensoll, so müßte es auch empfindende Wesen geben, diemitteninne stehen zwischen den Ideen der lebendenWesen und ihren vergänglichen Exemplaren.

Ein weiteres Bedenken ist dies: Welcher Art sinddie Objekte, für deren Behandlung man diese Wissen-schaften annehmen soll? Wenn der Unterschied derGeometrie von der Feldmeßkunst nur darin besteht,daß die letztere es mit sinnlichen, die andere mit nichtsinnlichen Dingen zu tun hat, so muß es offenbarebenso neben der ärztlichen Wissenschaft noch eineandere geben – eine Wissenschaft, die zwischen derärztlichen Wissenschaft an sich und der realen in derMitte liegt –, und ebenso ist es mit jeder anderenWissenschaft. Und doch, wie wäre das denkbar?Dann müßte es ja ein Gesundes von irgend welcherArt neben dem Gesunden als Sinnlichem und dem Ge-sunden als Idee geben. Zugleich aber hat es nicht ein-mal damit seine Richtigkeit, daß die Feldmeßkunst esmit den sinnlichen und vergänglichen Größen zu tunhätte. Denn dann würde sie mit vergehen, wenn diesevergehen. Aber auch die Sternkunde hat es doch ei-gentlich nicht mit sinnlich wahrnehmbaren Größennoch mit dem sichtbaren Himmel zu tun, ebensowenigwie die sinnlich wahrnehmbaren Linien diejenigensind, von denen der Geometer handelt. Denn in dem

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4168 88Aristoteles: Metaphysik

sinnlich Wahrnehmbaren findet sich das Gerade instrengem Sinne nicht und auch nicht das Runde, undein Lineal berührt den Kreis nicht bloß in einemPunkte; vielmehr es ist wirklich so wie Protagoras inseiner Widerlegung der Geometer ausgeführt hat: dieBewegungen und Kurven am Himmel fallen keines-wegs mit denen zusammen, die die Sternkunde in Be-tracht zieht, und die Natur der Punkte ist nicht auchdie der Sterne.

Manche nun behaupten zwar, es gebe ein solchesMittleres zwischen den Ideen und den sinnlichen Ge-genständen; es sei aber nicht von den sinnlichen Din-gen getrennt, sondern in diesen zu suchen. Es würdeunmöglich sein, alle Konsequenzen, die sich aus die-ser Annahme ergeben, ausführlich durchzugehen; esgenügt auch, uns auf das Folgende zu beschränken.Erstens hat es keinen rechten Sinn, daß es nur mitjenem Mittleren sich so verhalten soll; offenbar könn-ten ebenso gut auch die Ideen den sinnlichen Dingenimmanent sein; denn beides sind nur zwei Fälle einesund desselben Begriffs. Zweitens aber müßten dannzwei Körper in einem und demselben Räume sein;und jenes Mittlere könnte nicht unbewegt sein, wennes in den sinnlichen Dingen steckte, die bewegt sind.Vor allem aber: was für einen Zweck hat es eigent-lich, dergleichen zwar zu setzen, aber es als im Sinn-lichen immanent zu setzen? Die widersinnigen Konse-

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4169 89Aristoteles: Metaphysik

quenzen, die wir vorher aufgezeigt haben, würdensich ja auch dabei wieder einstellen. Es würde einenHimmel geben neben dem Himmel, nur daß er nichtgetrennt für sich, sondern in demselben Räume exi-stierte, und das ist nur noch undenkbarer.

Das sechste Problem

Ist es nun betreffs dieser Punkte eine überausschwierige Frage, welche Annahmen man dazu ma-chen hat, um sich der Wahrheit zu bemächtigen, sogilt dasselbe auch von der Frage nach den Prinzipien.Soll man als Prinzipien und Elemente der Dinge dieGattungen betrachten, und nicht vielmehr die letztenBestandteile, aus denen sich die Dinge zusammenset-zen? So möchte man z.B. beim Tone geneigt sein,seine Elemente und Prinzipien in dem zu suchen, wor-aus alle Töne als aus ihren letzten Bestandteilen be-stehen, aber nicht in dem Ton als dem Allgemeinen,und als Elemente der geometrischen Figuren bezeich-nen wir etwas dann, wenn die Beweise dafür in denBeweisen für die anderen, für alle oder doch für diemeisten, mit enthalten sind. Was aber die Körper an-betrifft, so bezeichnen ebensowohl diejenigen, diemehrere Elemente derselben, wie die, die nur einesannehmen, als Prinzipien der Körper das, woraus sie

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4170 90Aristoteles: Metaphysik

bestehen und woraus sie entstanden sind. So nenntEmpedokles Feuer und Wasser und was zwischenbeiden in der Mitte liegt, Elemente als Bestandteiledessen was ist, aber nicht als Gattungen der Dinge.Und so auch sonst bei den anderen Dingen, z.B. beieiner Bettstelle: wenn einer ihr Wesen durchschauenwill, so erkennt er es dann, wenn er weiß, aus welchenTeilen sie besteht und wie die Teile angeordnet sind.

Diesen Erwägungen gemäß dürfte man die Gattun-gen der Dinge nicht für ihre Prinzipien halten. Ande-rerseits wieder müßten, sofern die Begriffsbestim-mung das Mittel ist, durch das wir jeglichen Gegen-stand erkennen, die Gattungen aber die Prinzipien derBegriffsbestimmungen sind, die Gattungen auch diePrinzipien der durch den Begriff zu bestimmendenDinge sein. Und wenn eine Erkenntnis der Dinge ge-winnen so viel heißt, wie eine Erkenntnis von denArten gewinnen, nach denen die Dinge ihren Namenerhalten, so bilden die Gattungen wiederum die Prin-zipien für die Arten.

Augenscheinlich nehmen denn auch manche vondenen, die das Eine und das Sein oder das Groß-und-Kleine als Elemente der Dinge bezeichnen, eben diesezugleich im Sinne von Gattungen. Aber die Prinzipienin dieser doppelten Bedeutung zu nehmen, ist gleich-falls nicht zulässig. Denn der Begriff der Wesenheitist ein einheitlicher; die Begriffsbestimmung vermit-

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4171 91Aristoteles: Metaphysik

telst der Gattungen aber würde etwas anderes sein alsdie Begriffsbestimmung vermittels der Bestandteile.

Das siebente Problem

Außerdem, gesetzt auch, die Gattungen hätten nochso sehr die Bedeutung von Prinzipien, wie dann? Sollman die obersten Gattungen als Prinzipien setzenoder die niedrigsten, wie sie von den Einzelwesenausgesagt werden? Das ist doch auch ein sehr frag-würdiger Punkt. Ist nämlich jedesmal das Allgemeine-re auch in höherem Grade Prinzip, so ist es offenbardas höchste Allgemeine auch im höchsten Grade,denn dieses wird von allem ausgesagt. Es würde dannalso ebensoviele Prinzipien der Dinge geben, als esoberste Gattungen gibt, und so würden dann das Seinund das Eins Prinzipien und selbständige Wesenhei-ten sein; denn das wird am meisten von allem ausge-sagt. Und doch ist es ausgeschlossen, daß das Seinund das Eins eine Gattung der Dinge sei. Denn denArtunterschieden einer jeden Gattung muß notwendigdas Sein zukommen, und ebenso muß jeder einer sein;es ist aber unmöglich, entweder die Arten der Gattungoder die Gattung ohne ihre Arten von den zugehöri-gen Artunterschieden als Prädikat auszusagen. Wennalso das Eins oder das Sein die Bedeutung der Gat-

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4172 92Aristoteles: Metaphysik

tung hat, so könnte kein Artunterschied weder Einsnoch Seiendes sein; wenn sie aber die Bedeutung derGattung nicht haben, so sind sie auch nicht Prinzipi-en, wenn doch den Gattungen der Rang zukommensoll, Prinzipien zu sein. Überdies wird auch das, waszwischen den höchsten und den niedersten Gattungenin der Mitte liegt, zusammen mit den Unterschiedenbis herab zu den letzten nicht weiter einzuteilendenArten, zu den Gattungen zu rechnen sein; man möchteaber eher glauben, daß das wohl für einige gelte, fürandere aber nicht. Dazu kommt, daß dann die Artun-terschiede weil allgemeiner auch in höherem GradePrinzip wären als die Gattungen. Wenn aber auchdiese Unterschiede Prinzipien sind, so wird die Zahlder Prinzipien geradezu unendlich groß, insbesonderedann, wenn man von der obersten Gattung ausgehendherabsteigt.

Nehmen wir nun den anderen Fall. Man schreibtdem Eins die Bedeutung des Prinzips in höheremGrade zu; Eins aber ist das Unteilbare, und unteilbarist etwas der Quantität nach oder der Art nach. Dannist die Teilung der Art nach das Vorgehende, und dieGattungen sind noch in Arten teilbar; es würde alsodie letzte der Arten, die nur noch Individuen untersich befaßt, in eigentlicherem Sinne ein Eines sein alsdie höheren Gattungen. So ist »Mensch« keine Gat-tung, der noch Arten von Menschen subordiniert

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4173 93Aristoteles: Metaphysik

wären.Ferner, in solchen Reihenfolgen, wo es vorausge-

hende und nachfolgende Glieder in fester Ordnunggibt, da ist es undenkbar, daß das, was diesen überge-ordnet ist, auch noch neben ihnen existiere. Z.B. wenndie Zwei der Ursprung der Zahlen ist, so wird nichteine Zahl noch neben den Arten der Zahlen, und eben-sowenig wird eine Figur noch neben den Arten der Fi-guren existieren. Wenn es aber in diesen Fällen sichso verhält, so werden kaum in den anderen Fällen dieGattungen neben den Arten existieren; denn dortkönnte man noch am ehesten annehmen, daß es solcheGattungen gibt. Nun gibt es hier bei den letzten Artenallerdings weder ein Vorausgehendes noch ein Nach-folgendes; aber da, wo es ein Höherstehendes und einNiedrigerstehendes gibt, ist das Höherstehende auchimmer das Prius; also würde es danach auch hierkeine Gattung neben den Arten geben können.

Demzufolge wäre augenscheinlich die Art, die nurnoch Individuen umfaßt, in eigentlicherem Sinne Prin-zip als die Gattungen. Andererseits aber läßt sichnicht leicht sagen, in welchem Sinne man jene alsPrinzip auffassen soll. Denn was Prinzip und Grundist, das muß auch neben den Gegenständen, für die esPrinzip ist, bestehen und das Vermögen haben, vonihnen gesondert für sich zu sein. Wie aber sollte ir-gend jemand auf die Annahme geraten, daß etwas der-

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4174 94Aristoteles: Metaphysik

artiges wirklich Hebenden Einzelwesen existiere,wenn nicht deshalb, weil es als ein Allgemeines giltund von einer Gesamtheit ausgesagt wird? Wenn aberdies den Grund bildet, so müßte man, was in höheremGrade allgemein ist, auch als das gelten lassen, was inhöherem Sinne Prinzip ist, und mithin müßten esdann wieder die obersten Gattungen sein, die die Be-deutung von Prinzipien haben.

Das achte Problem

Nun hängt aber damit eine Schwierigkeit zusam-men, die unter allen die ernsteste und für eine sorgfäl-tige Erwägung die dringlichste ist; von ihr zu handelnist jetzt der Augenblick gegeben. Wenn es nämlichnichts Weiteres neben den Einzelwesen gibt, die Ein-zelwesen aber ins Unendliche verlaufen: wie ist es damöglich, eine Erkenntnis dieses Unendlichen zu ge-winnen? Erkennen wir alles doch nur insofern, als esdarin Einheit und Identität gibt und insofern ein All-gemeines vorliegt. Andererseits aber, wenn dies sichnotwendig so verhält, und wenn es demnach nebenden Einzelwesen noch etwas weiteres geben muß, sowürde mit Notwendigkeit folgen, daß, was neben demEinzelnen existiert, die Gattungen sind, seien es nundie niedrigsten oder auch die obersten. Eben aber

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4175 95Aristoteles: Metaphysik

haben wir durch unsere Überlegungen ausgemacht,daß das unmöglich ist.

Weiter aber, gesetzt auch, es sei ausgemacht, daßneben dem Zusammengesetzten, also neben dem, wasMaterie mit der von ihr ausgesagten Bestimmung ist,noch etwas Weiteres existiert, wie dann? Muß es,wenn es dergleichen gibt, ein solches neben allemgeben, oder wohl neben einigem und neben anderemnicht, oder auch neben gar keinem? Wenn es nichtsaußer den Einzelwesen gibt, so gäbe es auch nichts,was Gegenstand des Denkens wäre; alles wäre Gegen-stand sinnlicher Wahrnehmung, und eine Erkenntnisvon irgend etwas wäre unmöglich, wofern man nichtso weit geht, schon die sinnliche Wahrnehmung füreine Erkenntnis auszugeben. Damit gäbe es dann auchnichts Ewiges, nichts Unbewegtes. Denn was sinnlichwahrgenommen wird, das ist alles vergänglich und inbeständiger Bewegung. Andererseits, wenn es nichtsEwiges gibt, dann wird auch alles Entstehen undenk-bar. Denn damit etwas entstehe, muß es ein Seiendesgeben, das wird und aus dem etwas wird, und dasletzte Glied der Reihe muß dem Entstehen entnom-men sein, wenn es in der Ableitung des einen aus demandern nach rückwärts ein Letztes gibt, und es dochunmöglich ist, daß etwas aus Nichts geworden sei.Weiter aber, wenn es ein Entstehen und eine Bewe-gung gibt, dann muß es dafür auch ein Endglied nach

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4176 96Aristoteles: Metaphysik

vorwärts geben. Denn ohne Ende vollzieht sich keineBewegung, sondern jede hat ein Ziel, und daß etwasentstehe, dessen Entstandensein unmöglich ist, dashat keinen Sinn; was aber entstanden ist, das mußsein Dasein in dem Augenblick haben, wo seine Ent-stehung beendet ist. Und weiter, wenn also die Mate-rie Existenz hat, weil sie unentstanden ist, dann ist esdoch wohl noch viel mehr anzunehmen, daß die Formexistiert als das Wesen, das die Materie annimmt.Denn wäre weder die eine noch die andere, dann exi-stierte überhaupt nichts. Ist das aber undenkbar, somuß notwendig neben dem konkreten Gebilde nochetwas sein, nämlich die Gestalt und die Form.

Wenn man aber ein solches setzt, so erhebt sichdas neue Bedenken, für welche Gegenstände man eszu setzen hat, für welche nicht. Denn offenbar hat eskeinen Sinn, es für alle Gegenstände zu setzen. Sowerden wir nicht annehmen, daß es neben den einzel-nen Häusern noch ein Haus obendrein gibt. Und au-ßerdem: soll in allen Einzelwesen die Wesenheit eineeinheitliche sein, z.B. eine in allen Menschen? Daswäre doch widersinnig; denn alles das, was eine ein-heitliche Wesenheit hat, ist eines. Oder soll sie Vielesund Verschiedenes sein? Aber auch dies ist unan-nehmbar. Und zugleich: auf welchem Wege wird denndie Materie zu jeglichem von diesen? und in welchemSinne ist denn das konkrete Gebilde jenes beides zu-

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4177 97Aristoteles: Metaphysik

sammen?

Das neunte Problem

Sodann, die Prinzipien betreffend läßt sich nochfolgendes fernere Bedenken erheben. Ist jedes Prinzipein Eines nur im Sinne einer Art, so wird nichts ausden Prinzipien abgeleitetes eins sein der Zahl nach,auch nicht die Eins selber und nicht das Seiende. Wiesoll es aber ein Erkennen geben, wenn es nicht einEines gibt über allem? Andererseits, ist jedes derPrinzipien numerisch eins, existiert es also nur ein-mal und nicht wie bei den sinnlichen Gegenständenjedesmal im gegebenen Falle als ein numerisch Ande-res – so z.B. sind für diese bestimmte Silbe, jedesmalwo sie als eine und dieselbe vorkommt, auch dieBuchstaben, aus denen sie besteht, der Art nach die-selben, während sie numerisch andere sind – ist esalso nicht so, sondern sind die Prinzipien des Seien-den jedes numerisch eins: so wird es nicht neben die-sen Elementen noch etwas anderes geben; so viel Ein-zelwesen, so viel Prinzipien. Denn ob man sagt: nu-merisch eines, oder: Einzelwesen, das macht keinenUnterschied. Das eben ist der Sinn des Wortes: dasEinzelwesen ist das numerisch Eine, das Allgemeineaber das in den Einzelnen Gemeinsame. Es verhält

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4178 98Aristoteles: Metaphysik

sich also damit wie bei den Elementen des Lautgebil-des. Wenn diese numerisch bestimmt wären, so müßtedie Anzahl sämtlicher Lettern die es gibt ebenso großsein wie die der Buchstabenarten, da nicht zwei odermehr existierende Lettern denselben Buchstaben be-deuten würden.

Das zehnte Problem

Eine Frage sodann, die an Schwierigkeit keiner an-deren nachsteht, ist von unseren Zeitgenossen ebensowie von ihren Vorgängern unerledigt gelassen wor-den; wir meinen die Frage, ob die Prinzipien der ver-gänglichen Dinge dieselben sind wie die der unver-gänglichen, oder ob sie von ihnen verschieden sind.Sind sie dieselben, wie geschieht es, daß das eine ver-gänglich, das andere unvergänglich ist, und was istder Grund dafür? Die Gesinnungsgenossen des He-siodos wie alle die, deren Reflexion sich in mythi-scher Form bewegte und sich auf das ihrem Vorstel-lungskreis Zusagende beschränkte, haben was uns be-schäftigt nicht beachtet. Indem sie die Prinzipien zuGöttern machen und alles von Göttern ableiten, lautetihre Erklärungsweise etwa so: sterblich geworden sei,was nicht von Nektar und Ambrosia gekostet habe!Mit solchen Ausdrücken meinten sie offenbar in der

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4179 99Aristoteles: Metaphysik

ihrem Vorstellungskreise geläufigen Weise der Sachezu genügen. Indessen, schon mit der Verwendung vonUrsachen dieser Art zur Erklärung haben sie etwas füruns völlig Unverständliches vorgebracht. Denn neh-men die Götter diese Dinge zu sich bloß um des Ge-nusses willen, so bilden Nektar und Ambrosia für ihrDasein nicht den Grund; andererseits nehmen sie siezu sich um der Selbsterhaltung willen, wie können dieGötter als unsterblich gelten, wenn sie doch der Nah-rung bedürfen? Indessen, auf solches Philosophierenin mythischer Form sich ernsthaft einzulassen, istnicht der Mühe wert. Wir müssen uns an diejenigenhalten, die in der Form strenger Wissenschaft verfah-ren, und müssen sie befragen, wie es kommt, daß vonden Wesen, die aus denselben Quellen stammen, dereine Teil seiner Natur nach ewig, der andere vergäng-lich ist.

Da sie einen Grund dafür nicht anzugeben wissenund die Sache auch nicht wohl verständlich ist, soliegt der Schluß nahe, daß die Prinzipien und Gründefür beides wohl nicht die gleichen sein werden. Hatdoch selbst Empedokles, von dem man wohl anneh-men kann, daß er noch am ehesten seine Gedanken instrenger Folgerichtigkeit entwickelt, sich dieserSchwierigkeit nicht zu entziehen gewußt. Er setzt einPrinzip, den Streit, als Grund der Vergänglichkeit;aber nichtsdestoweniger möchte man meinen, daß

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4180 100Aristoteles: Metaphysik

dies Prinzip doch auch erzeugend wirkt, ausgenom-men für die oberste Einheit. Denn alles übrige zwarstammt von ihm, nur nicht dies ursprünglich Eine,Gott. So wenigstens heißt es:

Daraus stammt, was war, was ist, und alles wassein wird,

Daraus sind die Pflanzen entsproßt, die Männerund Weiber,

Tiere des Feldes und Vögel nebstwasserbewohnenden Fischen,

Götter auch, die langlebigen.

Aber auch abgesehen davon ist die Sache klar.Denn er sagt: wäre nicht der Streit in den Dingen, sowürde alles eines sein; und wenn sie sich verbinden,

»entflohn ist der Streit zu der Welt Rand«.

Daher ergibt sich bei ihm die Konsequenz, daßGott, der doch der seligste ist, an Erkenntnis ärmerist, als die übrigen Wesen. Denn er kennt die Elemen-te nicht alle, ihm bleibt der Streit fremd; erkannt aberwird das Gleiche durch das Gleiche. So sagt er:

Denn durch die Erd' in uns schaun Erde wir,Wasser durch Wasser,

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4181 101Aristoteles: Metaphysik

Luft, die hehre, durch Luft, das verheerendeFeuer durch Feuer,

Liebe durch Liebe, den Streit durch Streithinwieder, den schlimmen.

Aber wovon wir abgekommen sind: so viel ist alsKonsequenz offenbar, daß bei ihm der Streit Grunddes Seins ebensowohl als Grund des Vergehens, undebenso die Freundschaft nicht bloß Grund des Seinsist; denn indem sie Verbindung stiftet, hebt sie dasgesonderte Sein auf. Zugleich aber weiß er einenGrund der Veränderung selbst nicht anzugeben;genug, daß es sich nun einmal so mit der Natur derDinge verhält:

Doch als mächtig der Streit in den Gliedern desGanzenheranwuchs,

Hoch zu Ehren empor sich hob im Laufe derZeiten,

Die nach bestimmendem Schwur zum Wechselihnen gesetzt sind...

Das heißt also: der Wechsel ist notwendig; abereinen Grund für diese Notwendigkeit gibt er nicht an.Aber allerdings, insoweit ist er der einzige, der sichkonsequent bleibt. Er läßt nicht einen Teil des Seien-den vergänglich, einen anderen unvergänglich sein,

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4182 102Aristoteles: Metaphysik

sondern nach ihm ist alles vergänglich, bloß mit Aus-nahme der Elemente. Die Frage dagegen, von der wirhier handeln, ist die, aus welchem Grunde das einevergänglich ist, das andere nicht, wenn doch alles ausderselben Quelle stammt.

Das Bisherige mag ausreichen, um zu zeigen, daßdie Prinzipien für beides nicht wohl dieselben seinkönnen. Nehmen wir andererseits an, die Prinzipienfür beides seien verschieden, dann ergibt sich die eineFrage, ob auch die Prinzipien für das Vergänglicheals unvergänglich, oder ob sie als vergänglich zu den-ken sind. Sind sie vergänglich, so müssen offenbarauch sie aus irgend etwas abgeleitet sein; denn alleswas vergeht, löst sich wieder in das auf, woraus esstammt. Die Folgerung, die sich daraus ergibt, wärealso die, daß unter den Prinzipien die einen die ur-sprünglicheren, die anderen die abgeleiteten wären.Das aber ist undenkbar, gleichviel ob man irgendwoHalt macht oder ob man damit ins Unendliche fort-geht. Überdies, wie soll es zu einem Sein des Ver-gänglichen kommen, wenn die Prinzipien selber ver-gehen? Sind sie aber unvergänglich, aus welchemGrunde soll aus dem einen Unvergänglichen Vergäng-liches, aus dem anderen Unvergänglichen aber Unver-gängliches stammen? Das ist nicht recht verständlich;sondern es ist entweder ganz undenkbar, oder es be-dürfte doch einer umständlichen Ableitung. Wirklich

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hat niemand es auch nur unternommen, besonderePrinzipien für das Vergängliche anzugeben; sondernman nimmt für alles dieselben Prinzipien an, undknabbert und nagt an jenem fundamentalen Bedenkenherum, als sähe man darin etwas ganz Unerhebliches.

Das elfte Problem

Was aber für die Untersuchung unter allem dasSchwierigste und zugleich für alle Wahrheitserkennt-nis das Unerläßlichste ist, das ist die Frage, ob dasSein und das Eine das wahre Wesen der Dinge unddiese beiden, jenes als Eines, dieses als Sein, nicht aneinem Anderen sind, oder ob man zu fragen hat, wasdas Sein, was das Eine ist als Bestimmung an einemanderen ihnen beiden zugrunde liegenden Wesen. DieAnsichten darüber sind geteilt; die einen nehmenjenes, die anderen dieses Verhältnis an. Plato und diePythagoreer meinen, das Sein und das Eine seiennicht an einem von ihnen verschiedenen Substrat;sondern das eben sei ihre Natur, daß die Idee der Ein-heit und die Idee des Seins ihr Wesen ausmachten.Anders die Naturphilosophen, wie Empedokles. Erlegt dar, was das Eine ist, indem er den Begriff aufgeläufigere Begriffe zurückführt. Denn man darf dochwohl annehmen, daß mit seinem Begriffe von Freund-

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schaft eben dies gemeint ist; wenigstens ist sie nachihm der Grund des Einsseins für alles. Andere setzendas Feuer, wieder andere die Luft als dieses Eine undSeiende, wodurch die Dinge ihr Sein und Entstehenhaben, und bei denjenigen, die eine Vielheit von Ele-menten setzen, steht es ganz ebenso; denn auch siesind gezwungen, das Eine und das Sein ebenso viel-fach anzunehmen, als die Prinzipien, die sie setzen.

Wenn man nun das Eine und das Sein nicht alsselbständige Wesenheit setzen will, so ist die Konse-quenz die, daß auch sonst kein anderes Allgemeinesselbständige Wesenheit hat; denn jene sind unterallem das Allgemeinste. Gibt es also nichts, was ansich ein Eines oder an sich Seiendes wäre, so kannkaum von dem anderen irgend etwas ein Sein habenneben dem was man als Einzelwesen bezeichnet. Undferner, ist das Eine nicht selbständige Wesenheit, sogäbe es offenbar auch keine Zahl im Sinne einer vonden Dingen gesonderten Wesenheit. Denn die Zahl isteine Vielheit von Einheiten, die Einheit aber ist dasWesen der Eins. Existiert dagegen etwas, was einEines und Seiendes an sich ist, dann ist das Eine unddas Sein notwendig das eigentliche Wesen desselben.Denn dann gibt es kein anderes, wovon sie ausgesagtwürden, sondern eben sie selber sind ihr eigenes Sub-strat.

Aber andererseits, wenn es ein Sein und ein Eines

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an sich gibt, so erhebt sich die große Schwierigkeit,wie es neben ihnen noch etwas anderes geben kann,d.h. wie das Seiende mehr als eines sein kann. Dennwas ein Anderes ist als das Seiende, das hat keinSein. Und so wäre man denn nach der Ausführung desParmenides zu der Folgerung gezwungen, daß alleswas ist. Eines, und daß dieses das Seiende wäre.

Die Schwierigkeit also besteht in beiden Fällen.Denn ob das Eine keine selbständige Wesenheit hat,oder ob es ein Eines an sich gibt, immer ist es un-denkbar, daß die Zahl eine selbständige Wesenheitsei. Wenn das Eins keine selbständige Wesenheit ist,so haben wir vorher dargelegt, aus welchem Grundeauch die Zahl es nicht ist. Ist sie aber selbständigeWesenheit, so ergibt sich dieselbe Schwierigkeit wiein bezug auf das Sein. Denn woher soll ein anderesEines kommen neben dem Einen an sich? Es müßtenotwendig ein nicht-Eines sein. Alles aber was ist, istentweder eine Einheit oder eine Vielheit, und dieVielheit besteht wieder aus Einheiten. Außerdem,wenn das an sich Eine ein Unteilbares ist, so würde esnach dem, was Zeno ausführt, nichts sein. Denn das-jenige, was hinzugefügt oder abgezogen eine Größeweder größer noch kleiner macht, das, führt er aus, seinichts Seiendes, offenbar weil er meint, das Seiendesei ein Ausgedehntes, und wenn ein Ausgedehntes,auch ein Körperliches. Denn Körperliches ist jeden-

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falls Seiendes; solches aber was nicht körperlich ist,macht hinzugefügt im einen Falle größer, im andernFalle nicht, wie z.B. Fläche und Linie; Punkt und Ein-heit aber tut es in keinem Falle. Da indessen Zenovon der sinnlichen Anschauung aus räsonniert, sobleibt es ganz wohl möglich, daß es ein Unteilbaresgebe, und es läßt sich auch in der aufgezeigten Bedeu-tung und auch Zeno gegenüber sehr wohl in Schutznehmen. Denn freilich, eine Vergrößerung der Aus-dehnung nach wird ein solches, wenn es hinzugefügtwird, nicht bewirken, wohl aber eine Vermehrung derZahl nach. Dagegen bleibt die Frage: wie soll sich auseinem derartigen oder aus mehreren derartigen etwaswie Ausdehnung ergeben? Es wäre ebenso, wie wennman sagen wollte, eine Linie bestehe auspunkten.Aber andererseits, auch wenn jemand der Ansichtwäre, die Zahl entstehe, wie manche lehren, aus deman sich Einen und einem Anderen, das nicht ein Einessei, so muß man auch in diesem Falle fragen, aus wel-chem Grunde und auf welchem Wege das was entstehtdas eine Mal eine Zahl, das andere Mal ein Ausge-dehntes wird, wenn doch das, was als nicht-Eineszum Einen hinzukam, beidemale als »Ungleichheit«und zugleich beidemale als von Wesen dasselbe ange-nommen wurde. Denn man sieht nicht ein, wie ausdem Einen und diesem Bestandteil, und ebensowenigwie aus der Zahl und diesem Bestandteil die ausge-

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dehnten Größen entstehen können.

Das zwölfte Problem

In enger Beziehung dazu steht ein weiteres Beden-ken. Sind Zahlen, Körper, Flächen, Punkte selbstän-dige Wesenheiten oder nicht? Sind sie es nicht, sobleibt unerklärt, was denn nun das Seiende ist, undwelches die Wesenheiten im Seienden sind. Denn Be-schaffenheiten, Bewegungen, Relationen, Zustande,Verhältnisse bezeichnen, so muß man doch wohl an-nehmen, nicht die Wesenheit irgend eines Gegenstan-des. Sie bilden sämtlich Prädikate zu einem Substrat,aber keines von ihnen bezeichnet einen konkreten Ge-genstand selber. An den Dingen aber, die am meistendafür gelten könnten, selbständige Wesenheiten zubedeuten, an Wasser, Erde, Feuer, Luft, den Bestand-teilen der zusammengesetzten Körper, treten Wärme-und Kältezustände und anderes derart als Bestimmun-gen auf, nicht als selbständige Wesen, und der Körperalso, dem diese Bestimmungen zufallen, bleibt alleinals ein Seiendes und ein selbständiges Wesen übrig.Andererseits aber ist der Körper selbständige Wesen-heit in geringerem Grade als seine Oberfläche; dieseist es in geringerem Maße als die Linie, und diesewieder in geringerem Maße als die Einheit und der

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Punkt. Denn von diesen empfängt der Körper erstseine Bestimmtheit, und sie, so scheint es, könnenwohl ohne die Körper existieren, wogegen der Körperohne sie undenkbar ist.

Daher kommt es, daß, wenn die große Masse, undwenn auch die älteren Denker als selbständige We-senheit und als das Seiende nur den Körper und dasandere als Bestimmungen des Körpers betrachten undman denn auch die Prinzipien, die für das Körperlichegelten, für die Prinzipien des Seienden überhaupt er-klärte, neuere Denker, denen man tiefere Einsicht zu-geschrieben hat, dafür die Zahlen setzten. Nach unse-ren obigen Darlegungen nun gibt es, wenn die ge-nannten Dinge keine selbständigen Wesenheiten sind,überhaupt keine selbständige Wesenheit und nichtsSeiendes. Denn was als bloße Bestimmung an jenenauftritt, das hat doch keinerlei Anspruch darauf, einSeiendes genannt zu werden.

Dagegen andererseits, wenn zugegeben wird, daßLinien und Punkte in höherem Grade selbständigeWesen sind als die Körper, und wir doch nicht rechtsehen, was das für eine Art von Körpern ist, an denensie auftreten – denn daß es die sinnlich wahrnehmba-ren Körper seien, ist ausgeschlossen – so würde esüberhaupt keine selbständige Wesenheit geben. Über-dies stellt sich alles dieses augenscheinlich als bloßeTeilungen des Körpers dar, teils nach der Breite, teils

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nach der Tiefe, teils nach der Länge. Dazu kommt,daß in dem Körper jede beliebige Gestalt oder auchkeine enthalten ist. Wenn im Stein nicht der Hermes,so ist auch im Würfel nicht die Hälfte des Würfels alsein bestimmter Teil enthalten, und ebenso auch nichtdie Fläche. Denn wenn irgend eine vorhanden wäre,dann wäre auch die vorhanden, die die Hälfte ab-grenzt. Dasselbe gilt mit Bezug auf Linie, Punkt, Ein-heit. Wenn also noch so sehr der Körper selbständigeWesenheit wäre, die genannten Dinge aber, denendoch keinerlei selbständige Wesenheit zukommt, es innoch höherem Sinne wären, dann ist unfaßbar, wasdas Seiende ist und was das Wesen des Seienden.

Zu dem bisher Ausgeführten kommen nämlich nochweitere Undenkbarkeiten hinzu, die sich aus den Be-griffen des Entstehens und Vergehens ergeben. EinWesen, wenn es erst nicht war und dann ist, oderwenn es erst war und nachher nicht mehr ist, erfährt,so sollte man annehmen, solche Veränderung in derForm des Entstehens und Vergehens. Punkte aber, Li-nien und Flächen können weder entstehen noch verge-hen, obgleich sie doch jetzt sind, jetzt nicht sind.Wenn zwei Körper sich berühren oder ein Körper ge-teilt wird, so wird zugleich das eine Mal bei der Be-rührung aus zweien eines, das andere Mal bei derTrennung aus einem zwei. Es ist also, wenn die Ver-bindung hergestellt wird, das was vorher war, nicht

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4190 110Aristoteles: Metaphysik

mehr vorhanden, sondern verschwunden, und wennTrennung eintritt, ist das vorhanden, was vorher nochnicht war. Und gar erst der Punkt, der unteilbar ist!Der ist doch wohl dabei nicht in zwei geteilt worden.Wenn sie aber entstehen und vergehen, so ist etwasvorhanden, woraus sie entstehen. Ganz ähnlich ver-hält es sich auch mit dem zeitlichen Jetzt. Auch dieskann nicht entstehen oder vergehen, und dennochmacht es den Eindruck, immer ein anderes zu sein,während es doch kein selbständiges Wesen hat. Of-fenbar ist es mit Punkten, Linien und Flächen dieselbeSache; das Verhältnis ist ganz dasselbe. Denn allesdas hat dieselbe Bedeutung, entweder von Grenzenoder von Teilungen.

Das dreizehnte Problem

Überhaupt aber darf man die Frage aufwerfen, auswelchem Grunde man denn eigentlich sich nach etwasanderem neben den sinnlichen Dingen und denen, diezwischen Sinnlichem und Intelligiblem ein Mittleresbilden, umsehen muß, warum also z.B. nach Ideen,wie wir als Platoniker sie setzen. Geschieht es viel-leicht deshalb, weil die mathematischen Gegenständesich von den sinnlich irdischen Dingen zwar in ande-rer Beziehung unterscheiden, aber darin nicht unter-

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4191 111Aristoteles: Metaphysik

scheiden, daß jede Art derselben (z.B. das Dreieck) ineiner unbestimmten Anzahl von Exemplaren vor-kommt? Die Prinzipien für dieselben existieren des-halb nicht in bestimmter Anzahl, und es ist damitebenso wie mit den Buchstaben, den Prinzipien fürunsere sinnlichen Sprachlaute; auch die kommen allezusammen gleichfalls nicht in bestimmter Zahl vor,wohl aber sind sie nach bestimmten Arten unterschie-den. Man darf dabei nur nicht an die Laute diesereinen Silbe oder Lautgruppe denken, wie sie dies eineMal an dieser Stelle steht; denn da freilich wird auchdie Zahl der Buchstaben eine bestimmte sein. Geradeso nun geht es auch bei jenem »Mittleren«, den ma-thematischen Objekten; denn auch hier befaßt jedes-mal eine Gattung eine unbestimmte Anzahl von Ex-emplaren unter sich. Wenn es daher nicht neben densinnlichen Dingen und jenen mittleren noch irgend einanderes gibt von der Art, wie die Ideen im Sinne derplatonischen Schule, so gibt es überall keine Wesen-heit, die der Zahl und der Gattung nach einheitlichwäre, und auch die Prinzipien des Seienden würdendann nicht in bestimmter Anzahl, sondern nur in be-stimmten Arten existieren. Ist nun dieses die notwen-dige Konsequenz, so ist man auch, um sie zu vermei-den, zur Annahme von Ideen gezwungen. Zugegebenauch, daß diejenigen, die diese Lehre aufgestellthaben, sie keineswegs klar genug zu begründen wis-

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4192 112Aristoteles: Metaphysik

sen, so ist es doch eben das Bezeichnete, was ihnenim Gedanken vorschwebt, und der Sinn, den sie mitihrer Lehre verbinden, ist notgedrungen der, daß dieIdeen jegliche eine Wesenheit für sich bilden undkeine eine bloße Bestimmung an einem anderen dar-stellt. Aber allerdings, geben wir die Existenz derIdeen zu und lassen wir es gelten, daß die Prinzipien,jedes als numerisch eines, aber nicht als eine Art, nureinmal vorkommend existieren, so haben wir obenausgeführt, welche Undenkbarkeiten sich aus einersolchen Annahme mit Notwendigkeit ergeben.

Das vierzehnte Problem

Eng verwandt mit diesen Fragen ist das fernereProblem, ob die Elemente bloß der Potentialitätnach existieren oder in anderem Sinne, also der Ak-tualität nach. Existieren sie irgendwie in letztererWeise, so gibt es etwas anderes, was für die Prinzipi-en das Vorausgegebene bildet. Denn das Wirklichesetzt das Mögliche als vorausgegeben voraus; dage-gen ist es nicht notwendig, daß alles was möglich ist,auch in jenen Zustand der Aktualität übergehe. Ande-rerseits, wenn die Elemente nur der Möglichkeit nachexistieren, so bleibt es immer möglich, daß nichts seivon allem was ist. Denn möglich ist das Sein auch

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4193 113Aristoteles: Metaphysik

dessen, was noch nicht ist; was wird, das ist nochnicht. Dagegen wird nichts wirklich, dessen Seinnicht möglich ist.

Das fünfzehnte Problem

Dies sind die Schwierigkeiten, die man betreffs derPrinzipien ins Auge fassen muß; dazu kommt abernoch die weitere Frage, ob sie als Allgemeines exi-stieren oder nach Art dessen, was man als Einzelwe-sen bezeichnet. Haben sie die Natur des Allgemeinen,so sind sie keine selbständigen Wesen; denn kein All-gemeines bezeichnet einen konkreten Gegenstand,sondern einen Artcharakter; selbständige Wesenheitaber heißt konkreter Gegenstand. Existiert aber dasPrinzip als konkreter Gegenstand, und wird das wasman als Allgemeines aussagt, als selbständig Seien-des aufgefaßt, so wird aus Sokrates eine Vielheit vonLebewesen: er wird erstens er selbst als Einzelperson,zweitens Mensch und drittens lebendes Wesen sein,falls nämlich jeder dieser Begriffe einen als Einheitfür sich bestehenden Gegenstand bezeichnet. Das sinddie Konsequenzen, wenn man die Prinzipien als All-gemeines faßt. Faßt man sie aber nicht als Allgemei-nes, sondern nach Art der Einzelwesen, dann sind siewieder kein Gegenstand der Erkenntnis; denn alle Er-

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4194 114Aristoteles: Metaphysik

kenntnis ist Erkenntnis des Allgemeinen. Es müßtedann also, wenn es doch eine Erkenntnis von ihnengeben soll, noch andere als Allgemeines von ihnengültige Prinzipien geben, die noch ursprünglicherwären als die Prinzipien.

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4195 115Aristoteles: Metaphysik

II. Teil.Grundlegung

I. Wesen und Aufgabe der Grundwissenschaft

Es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende als Sei-endes und die demselben an und für sich zukommen-den Bestimmungen betrachtet. Sie fällt mit keiner dersogenannten Spezialwissenschaften zusammen. Dennkeine der letzteren handelt allgemein vom Seiendenals solchem; sie sondern vielmehr ein bestimmtes Ge-biet aus und betrachten dasjenige, was dem diesemGebiet angehörenden Gegenstande zukommt. Somacht es z.B. die Mathematik. Da wir nun die ober-sten Prinzipien und Gründe suchen, so sind diese of-fenbar als Gründe einer an und für sich bestehendenWesenheit zu denken. Wenn nun diejenigen, die dieElemente dessen was ist erforscht haben, gleichfallsdiese Prinzipien gesucht haben, so ergibt sich mitNotwendigkeit, daß auch die Elemente, die sie mein-ten, Elemente sind des Seienden nicht als dessen wasan anderem ist, sondern was schlechthin ist, und daßdeshalb auch wir die obersten Gründe des Seiendenrein sofern es ist ins Auge zu fassen haben.

Vom Seienden spricht man in mehrfacher Bedeu-tung, indessen immer unter Beziehung auf einen ein-

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4196 116Aristoteles: Metaphysik

heitlichen Gesichtspunkt und eine einheitliche Wesen-heit, also nicht bloß so, daß nur das Wort dasselbewäre, sondern in der Weise, wie man etwa das Wort»gesund« gebraucht. Denn alles was man gesundnennt, hat irgendwie auf die Gesundheit Bezug; es istsolches, was die Gesundheit schützt, oder was siewiederherstellt, oder auch was ein Kennzeichen derGesundheit oder was für sie empfänglich ist. Undebenso verhält sich das Wort »medizinisch« zur ärzt-lichen Kunst. Medizinisch heißt das eine Mal der, derdie ärztliche Kunst besitzt, das andere Mal, wer dafürdie Anlage besitzt, oder wiederum was zu den Aufga-ben der ärztlichen Kunst gehört. Und in gleicherWeise wie diese werden wir auch andere Ausdrückezu deuten haben. So spricht man denn auch vom Sei-enden wohl in mehrfacher Bedeutung, aber jedesmalin Beziehung auf einen und denselben prinzipiellenGesichtspunkt. Wir nennen das eine Seiendes, weil esSubstanz, das andere, weil es Bestimmung an derSubstanz, das dritte, weil es auf dem Wege zur Sub-stanz ist: Untergang, Privation, Qualität, Herstel-lungs- oder Erzeugungsursache der Substanz oderdessen, was nach seiner Beziehung auf die Substanzbenannt wird, oder was sich zu einem der Genanntenoder zur Substanz als Negation verhält. Sagen wirdoch auch vom Nichtseienden, daß es ein Nichtseien-des sei.

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4197 117Aristoteles: Metaphysik

Wie nun die Wissenschaft von allem was unter dieBenennung »gesund« fällt, eine einheitliche Wissen-schaft ist, so gilt das Gleiche auch auf anderem Ge-biete. Denn als die Aufgabe einer einheitlichen Wis-senschaft ist nicht nur das zu betrachten, was nacheinem und demselben Begriff benannt wird, sondernauch das, was nach seiner Beziehung auf eine einheit-liche Wesenheit zu verstehen ist. Denn auch diesesletztere steht in gewissem Sinne noch unter dem ein-heitlichen Gesichtspunkt. Augenscheinlich also ist esdie Sache einer einheitlichen Wissenschaft, alles wasSeiendes als solches ist zu betrachten. Überall aber istdie Wissenschaft im eigentlichen Sinne Wissenschaftvon dem obersten Prinzip, wovon das übrige abhängtund wonach es benannt wird. Ist nun dies Oberste diereine Wesenheit, so wird es die Aufgabe des Philoso-phen sein, die Prinzipien und Ursachen der reinenWesenheit zu erfassen.

Von jeglicher Gattung von Gegenständen ist diesinnliche Wahrnehmung eine einheitliche als voneinem Objekt und die Wissenschaft ebenso. So z.B.betrachtet die eine Sprachwissenschaft die Gesamtheitder Sprachlaute. Und ebendeshalb ist es auch eineeinheitliche Wissenschaft, die alle Arten des Seiendenals Seienden ebenso wie die Gattung selber, und dannauch weiter die Arten der Arten zu betrachten hat.

Nun ist aber das Seiende und das Eine eines und

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4198 118Aristoteles: Metaphysik

dasselbe und macht eine einheitliche Wesenheit aus,sofern beide immer zusammen auftreten wie etwaPrinzip und Grund, aber doch nicht so, als fielen siebeide in einem einheitlichen Begriff zusammen. Frei-lich macht es auch nicht viel aus, wenn wir sie in letz-terer Weise bestimmen; in mancher Beziehung könnteman es sogar als zweckdienlich bezeichnen. Denn obich sage: ein Mensch, oder: ein Mensch, welcher ist,oder bloß: Mensch, das ist dasselbe, und wenn manden Ausdruck verdoppelnd sagt: er ist Mensch, oder:er ist ein Mensch, so wird auch dadurch der Sinnnicht verändert. Demnach ist offenbar das Sein vondem Eins weder wenn etwas entsteht noch wenn etwasuntergeht zu trennen, und ebensowenig das Eins vomSein. Augenscheinlich bedeutet der Zusatz »seiend«dabei nur eben dasselbe wie »eins«, und »eins« nichtsanderes als »seiend«. Ferner ist die Substanz jedesGegenstandes ein Eines, und das ist sie nicht bloß ne-benbei; und ebenso ist sie auch ein Seiendes, undauch dies wesentlich. So viele Arten von Einheit esgibt, so viele gibt es daher auch vom Seienden, unddie Wesensbestimmtheit dieser Arten zu betrachten,ist die Aufgabe derselben Wissenschaft die auch dieGattung betrachtet; dahin gehört Identität, Gleichheitund dergleichen, sowie die Gegensätze davon. Soziemlich sämtliche Gegensätze lassen sich auf diesesPrinzip, den Gegensatz des Einen und des Vielen, zu-

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4199 119Aristoteles: Metaphysik

rückführen. Das aber mag in unserer Schrift über die»Auslese der Gegensätze« weiter nachgesehen wer-den.

Von der Philosophie gibt es demnach so vieleTeile, als es Arten der reinen Wesenheit gibt, und esmuß daher unter diesen eine die oberste und eine dieabgeleitete sein. Denn das Seiende und Eine hat es ansich, daß es von vornherein Arten in sich befaßt, undeben aus diesen ergeben sich die einzelnen Zweige derWissenschaft. Von dem Philosophen gilt in dieser Be-ziehung dasselbe, was vom Mathematiker gilt. Auchdie Mathematik zerfällt in Fächer; auch unter den ma-thematischen Fächern gibt es eine grundlegende undeine abgeleitete Wissenschaft, und darunter wiederandere in bestimmter Reihenfolge.

Nun aber ist es die Aufgabe jeder einzelnen Wis-senschaft die Begriffe zu betrachten, die einen Gegen-satz bilden, und zu dem Einen bildet den Gegensatzdie Vielheit. Ebenso ist es die Aufgabe jeder einzel-nen Wissenschaft, auch die Negation und die Privati-on zu betrachten, weil Negation oder Privation demEinen gilt, das in beiden Beziehungen betrachtet wird.Denn wir sagen entweder schlechthin, daß etwas nichtvorhanden ist, oder daß es an einer bestimmten Gat-tung von Gegenständen nicht vorhanden ist. In demeinen Falle wird außer dem was negiert wird, zu demEinen nur die Negation hinzugesetzt, die den Unter-

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4200 120Aristoteles: Metaphysik

schied bezeichnet; denn die Negation bedeutet bloß,daß das, was negiert wird, nicht da ist. Bei der Priva-tion dagegen handelt es sich außerdem noch um eineWesenheit als das Substrat, von dem die Privationgilt. Dem Einen steht nun die Vielheit gegenüber, undinfolgedessen hat die bezeichnete Wissenschaft auchdas dem oben Angeführten gegensätzlich Gegenüber-stehende, das Andere, das Unähnliche und Ungleiche,zu erkennen, und alles übrige, was unter diesem Ge-sichtspunkte oder unter dem der Vielheit und desEinen ausgesagt wird. Dahin gehört nun auch derkonträre Gegensatz. Denn unter den Begriff des Un-terschiedes fällt auch der konträre Gegensatz, der Un-terschied aber fällt unter den Begriff des Andersseins.Da nun von Einheit in mehreren Bedeutungen gespro-chen wird, so wird auch dieses letztere in mehrfachenBedeutungen ausgesagt werden; gleichwohl bleibt esdie Aufgabe der einen Wissenschaft, alles dies zu er-forschen. Denn nicht schon deshalb, weil es mehrereBedeutungen hat, gehört es auch verschiedenen Wis-senschaften an; das würde es erst dann, wenn dieseBedeutungen weder auf einen einheitlichen Gesichts-punkt hinausliefen, noch auf eine einheitliche Bezie-hung hindeuteten. Da aber alles auf das oberste Prin-zip bezogen wird, z.B. alles was ein Eines heißt aufdie oberste Einheit, so muß man dasselbe auch vondem Identischen, dem Verschiedenen und dem Entge-

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4201 121Aristoteles: Metaphysik

gengesetzten gelten lassen. Darum hat man wohl zuunterscheiden, in wie vielen Bedeutungen jeglicherder genannten Begriffe ausgesagt wird, um sodann beijeder Aussage anzugeben, in welcher Beziehung zujenem obersten Prinzip sie gemeint ist. Das eine wirdauf dieses Oberste bezogen sein in dem Sinne, daßdieses es an sich hat, das andere in dem Sinne, daß esdasselbe bewirkt, und ebenso wieder anderes in ande-rem Sinne.

Offenbar nun ist es, wie oben in der Abhandlungvon den Problemen dargelegt worden ist, die Aufgabeeiner und derselben Wissenschaft, über diese Bestim-mungen wie über die reine Wesenheit selbst die Un-tersuchung zu führen. Dies war der eine Punkt in derErörterung der Probleme. Des Philosophen Kennzei-chen ist es, daß er über alles, was Gegenstand ist,wissenschaftlich zu handeln vermag. Leistet es nichtder Philosoph, wer wollte dann solche ernste Fragenerörtern wie die, ob Sokrates und der sitzende Sokra-tes ein und derselbe Sokrates ist, oder ob das, wasdem Eins entgegengesetzt ist, wieder Eins ist; oderwas ein Gegensatz ist oder in wie vielen Bedeutungenvon ihm die Rede ist, und was es sonst noch an ähnli-chen Fragen gibt! Da nun dies alles Bestimmungensind, die an und für sich das Eine betreffen, sofern esEines, und das Seiende, sofern es Seiendes ist, abernicht sofern sie Zahlen oder Linien oder Feuer sind,

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4202 122Aristoteles: Metaphysik

so ist es offenbar die Aufgabe jener Wissenschaft, so-wohl das reine Wesen der Gegenstände zu erforschenwie die an ihnen auftretenden Bestimmungen. Unddiejenigen, welche über Fragen wie die oben bezeich-neten ihre Untersuchungen anstellen, fehlen nichtdarin, daß sie solches behandelten, was nicht in dasGebiet der Philosophie gehörte, sondern darin, daßsie nicht von der reinen Wesenheit, die doch das Priusist, zuerst Einsicht zu gewinnen suchten. Denn wiedie Zahl als Zahl ihr eigentümlich zukommende Be-stimmungen hat, z.B. das Gerade und das Ungerade,Kommensurabilität und Gleichheit, das Zuviel unddas Zuwenig, Bestimmungen, die den Zahlen an undfür sich und in Beziehung auf einander zukommen,oder wie in derselben Weise die Körper die Bestim-mung der Bewegung und der Bewegungslosigkeit, derSchwere und der Leichtigkeit an sich tragen und ande-re ihnen eigentümliche Bestimmungen: so hat auchdas Seiende, sofern es Seiendes ist, ihm eigentüm-lich zukommende Bestimmungen, und diese nun sindes, über die die Wahrheit zu ermitteln die Aufgabedes Philosophen bildet.

Man sieht das schon daran: die Dialektiker und dieSophisten gebärden sich genau so wie der Philosoph.Denn die Sophistik ist eine wissenschaftliche Betäti-gung nur dem Scheine nach, und dasselbe gilt von derDialektik. Sie reden über alles; gemeinsamer Gegen-

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4203 123Aristoteles: Metaphysik

stand für sie alle aber ist das Seiende, und wenn siedarüber reden, so geschieht es offenbar aus demGrunde, weil dies das eigentümliche Gebiet der Philo-sophie bezeichnet. Denn Sophistik und Dialektik dre-hen sich um dasselbe Reich der Objekte wie die Phi-losophie; den Unterschied macht nur bei der einen dieRichtung, die das Erkenntnisvermögen einschlägt, beider anderen das Lebensziel, das sie sich steckt. DieDialektik ist eine bloße Übung der Erkenntniskräftean den Gegenständen, die die Philosophie ernsthaft zuerkennen trachtet, und die Sophistik treibt die Wis-senschaft nur zum Schein, nicht wirkliche Wissen-schaft.

Von den Paaren von Gegensätzen ist nun weiter je-desmal das eine Glied die Privation; alle Gegensätzeaber lassen sich zurückführen auf den Gegensatz desSeienden und des Nichtseienden, der Einheit und derVielheit. So z.B. fällt die Ruhe auf die Seite desEinen, die Bewegung auf die Seite der Vielheit. Nunlassen so ziemlich alle übereinstimmend das Seiendeund die Substanz aus Entgegengesetztem zusammen-gesetzt sein; wenigstens stellen alle die Prinzipien inGegensätzen dar. Die einen bezeichnen als solche dasUngerade und das Gerade, die anderen das Warmeund das Kalte, die dritten das Begrenzte und das Un-begrenzte oder die Liebe und den Haß. Aber auch alleübrigen Gegensätze sind offenbar auf das Eine und

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4204 124Aristoteles: Metaphysik

das Viele zurückzuführen, eine Zurückführung, diewir hier als vollzogen voraussetzen; die Prinzipienaber, und nun vollends auch die, die bei den anderenDenkern auftreten, fallen gleichfalls unter diese Gat-tungen: Einheit und Vielheit.

Auch daraus geht augenscheinlich hervor, daß esdie Aufgabe einer einheitlichen Wissenschaft ist, dasSeiende als Seiendes zu betrachten. Denn alles ist ent-weder entgegengesetzt oder besteht aus Gegensätzen,die Prinzipien aber für die Gegensätze sind das Eineund das Viele, und diese sind Gegenstände einer ein-heitlichen Wissenschaft, sei es, daß sie unter eineneinheitlichen Gesichtspunkt gestellt werden odernicht, welches letztere doch wohl der Wirklichkeitmehr entspricht. Aber gleichwohl, wenn auch die Ein-heit in mehrfacher Bedeutung aufgefaßt wird, so wer-den doch alle diese Bedeutungen in Beziehung auf dasoberste Prinzip gedacht, und von dem Entgegenge-setzten gilt dasselbe. Und deshalb, wenn auch dasSeiende oder das Eine nicht allgemein und nicht inallem identisch noch etwas für sich Getrenntes ist,wie es doch wohl wirklich nicht ist, so ist es dochteils auf die Einheit bezogen, teils stufenweise davonabgeleitet; schon deshalb also ist es nicht die Sacheetwa des Mathematikers zu untersuchen, was der Ge-gensatz oder was das Vollkommene oder das Seiendeoder das Eine oder das Identische oder das Andere ist,

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4205 125Aristoteles: Metaphysik

sondern nur sofern es für sein besonderes Objekt vonBedeutung ist.

Daß also eine einheitliche Wissenschaft die Aufga-be hat, das Seiende als Seiendes und das was ihm alssolchem zukommt zu betrachten, wird daraus klar ge-worden sein, ebenso, daß eine und dieselbe Untersu-chung nicht nur die reinen Wesenheiten, sondern auchdas, was an ihnen auftritt, zu betrachten hat, also zudem oben Angeführten auch noch das Ursprünglicheund das Abgeleitete, die Gattung und die Art, dasGanze und den Teil und die anderen hierher gehörigenBegriffe.

Wir müssen weiter die Frage behandeln, ob dieWissenschaft, die von den Sätzen handelt, die denvon der Mathematik her geläufigen Namen Axiometragen, eine und dieselbe Wissenschaft ist wie diejeni-ge, die von der reinen Wesenheit handelt, oder ob eszwei verschiedene Wissenschaften sind. Offenbar istes eine und dieselbe Wissenschaft und zwar die desPhilosophen, die auch diese Untersuchung über dieAxiome zu führen hat. Denn diese Axiome gelten ge-meinsam für alles Seiende und nicht bloß für eine be-sondere Gattung des Seienden ausschließlich im Ge-gensatze zu den anderen. Alle wenden sie an, weil siefür das Seiende gelten, sofern es ist, jede besondereGattung aber ein Gebiet des Seienden bildet; aberman wendet sie an jedesmal soweit es zweckdienlich

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4206 126Aristoteles: Metaphysik

ist, und das bedeutet, soweit als es das Gebiet erfor-dert, auf das sich die wissenschaftliche Tätigkeit je-desmal erstreckt. Da nun die Axiome offenbar füralles, was ist, gelten, sofern es ist – denn sie sind füralles gemeinsam –, so ist auch die Untersuchung die-ser Sätze gleichfalls die Aufgabe desjenigen, der dasSeiende als solches zu erforschen hat. Daher kommtes, daß niemand, der eine Spezialwissenschaft be-treibt, es als seine Aufgabe betrachtet, über sie zuhandeln, ob sie zutreffend sind oder nicht, weder einerder Geometrie, noch einer der Arithmetik treibt. Wenngleichwohl einige, die sich mit der Wissenschaft vonder Natur beschäftigen, sich darauf eingelassen haben,so erklärt sich das daraus, daß sie meinten, sie seiendie einzigen, die die Natur überhaupt und somit auchdas Seiende zu ihrem Arbeitsgebiete hätten. In der Tataber ist einer da, der auf höherer Warte steht als derNaturforscher; denn auch die Natur ist doch nur einGebiet des Seienden. Und mithin ist die Erforschungdieser Gegenstände die Aufgabe desjenigen, der dasAllgemeine und die oberste Wesenheit zum Gegen-stande seiner Betrachtung hat. Gewiß ist die Natur-wissenschaft ein Zweig der Wissenschaft, aber sie istdoch nicht die höchste Wissenschaft selber. Wennaber gewisse Leute, die Bücher über die »Wahrheit«schreiben, die Frage in die Hand nehmen, wie mansich zu den Axiomen zu verhalten hat, so ist der

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Grund einfach der, daß sie keine Logik gelernt haben.Wer an die Sache herantritt, muß über diese Dingeschon unterrichtet sein und nicht erst im Lauf der Er-örterung der Sache sich danach umtun.

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4208 128Aristoteles: Metaphysik

II. Das oberste Axiom der Grundwissenschaft

Man sieht also, daß auch die Untersuchung derPrinzipien des Schließens die Aufgabe des Philoso-phen als desjenigen ist, der alle Wesenheit als solchezu betrachten hat. Wer auf irgend einem GebieteFachmann ist, für den ziemt es sich, daß er die ammeisten grundlegenden Prinzipien des Verfahrens fürsein Gebiet aufzeigen könne; und so muß es auch der-jenige, der das Seiende als solches betrachtet, für diegrundlegenden Prinzipien von allem leisten können.Dies aber ist der Philosoph, und das Prinzip vongrundlegendster Bedeutung unter allen ist dasjenige,über welches es schlechterdings unmöglich ist, ande-rer Meinung zu sein. Ein solches Prinzip muß der Er-kenntnis am leichtesten zugänglich sein, – denn aufeinem Gebiete, das er nicht kennt, geht jedermann indie Irre, – und es muß unbedingt gelten; denn das wasjedermann, der irgend ein Seiendes verstehen will,notwendig muß gelten lassen, das ist kein Bedingtes.Was aber derjenige, der irgend etwas erkennen will,schon kennen muß, das muß er schon notwendig inne-haben, wenn er an die Sache herantritt. Daß ein Prin-zip von dieser Art unter allen das grundlegendste ist,ist augenscheinlich. Welches aber dieses Prinzip ist,wollen wir nunmehr aussprechen:

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4209 129Aristoteles: Metaphysik

Es ist ausgeschlossen, daß ein und dasselbe Prä-dikat einem und demselben Subjekte zugleich und inderselben Beziehung zukomme und auch nicht zu-komme.

Die etwaigen sonstigen Bestimmungen, die hinzu-zufügen sind, um den auf Grund des Wortlautes erho-benen Schwierigkeiten zu begegnen, nehmen wir alshinzugefügt an. Dies also ist das grundlegendste unterallen Prinzipien, denn es trägt die oben angegebenenKennzeichen an sich. Es ist ausgeschlossen, daß ir-gend ein Mensch der Ansicht sei, daß eines und das-selbe sei und auch nicht sei. Heraklit freilich sollnach der Meinung mancher so gesagt haben; aber esist nicht notwendig, daß jemand eine Ansicht wirklichso hege, wie er sie in Worten ausdrückt. Wenn es aus-geschlossen ist, daß demselben Subjekte die entge-gengesetzten Prädikate zukommen, – die näheren Be-stimmungen, die wir hinzuzufügen pflegen, mögenauch hier als dem Satze hinzugefügt gelten, – undwenn ferner der negative Satz das Gegenteil des posi-tiven bildet, so liegt darin augenscheinlich auch dieUnmöglichkeit, daß ein und derselbe Mensch zugleichdie Ansicht habe, ein und dasselbe sei, und es seiauch nicht. Denn wer in diesem Sinne auf Irrwege ge-riete, würde zugleich die eine Ansicht und auch dieentgegengesetzte haben. Deshalb führt jeder, deretwas beweisen will, seinen Satz auf diesen Satz als

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den letzten zurück; denn er ist der Natur der Sachenach das Prinzip auch für sämtliche andere Axiome.

Freilich gibt es wie oben gesagt Leute, die behaup-ten, es sei doch möglich, daß eines und dasselbe seiund auch nicht sei, und daß man auch in dieser Formdenke. Man findet eine solche Ansicht auch bei man-chen Naturforschern. Wir dagegen haben es soebenals ganz undenkbar bezeichnet, daß etwas zugleich seiund nicht sei, und gezeigt, daß dieses eben deshalbdas grundlegendste unter allen Prinzipien ist. Wennandererseits manche einen Beweis auch für diesenSatz fordern, so zeugt das von Mangel an gedankli-cher Bildung. Denn Mangel an Bildung ist es, wenneiner nicht zu unterscheiden vermag, wofür man sichnach einem Beweise umzusehen hat und wofür nicht.Daß es schlechterdings für alles einen Beweis gebe,ist ausgeschlossen; damit geriete man in den Fortgangins Unendliche, und es ließe sich überhaupt nichtsmehr beweisen. Wenn es aber doch Sätze gibt, für dieman nicht nach einem Beweise suchen darf, so wür-den jene Leute schwerlich anzugeben vermögen, vonwelchem anderen Prinzip es in höherem Grade geltensollte als von diesem.

Indessen läßt sich doch auch von der oben genann-ten Ansicht die Unmöglichkeit aufzeigen auf demWege der Widerlegung; dazu braucht es nur, daß der,der unsern Satz bestreitet, irgend etwas sagt. Sagt er

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aber nichts, so wäre es lächerlich, demjenigen gegen-über, der keine Gründe hat, eben sofern er sie nichthat, mit Gründen vorgehen zu wollen. Ein Mensch,der sich so verhält, wäre eben, sofern er sich so ver-hält, nichts anderes als ein Stock. Auf dem Wege derWiderlegung aber etwas aufzeigen und einen Beweisführen, das sind, meine ich, verschiedene Dinge.Wollte einer den Satz beweisen, so würde er dabei of-fenbar das zu Beweisende schon voraussetzen; zeigtman dagegen, daß ein anderer darin einen Fehler be-geht, so ist das, was damit geleistet wird, eine Wider-legung, nicht ein Beweis.

Das Prinzip, von dem man auszugehen hat, umallen dergleichen Einsprüchen zu begegnen, ist nichtdies, daß man von dem anderen fordert, er müssedoch anerkennen, daß etwas entweder ist oder nichtist, – denn das, könnte man sagen, heiße eben das zuBeweisende schon voraussetzen, – sondern nur daß eretwas bezeichne, was für ihn und für den anderen gel-ten soll. Denn das muß er notwendig tun, wenn er ir-gend etwas sagt; im anderen Falle würde er garnichtssagen, weder selber für sich noch für einen anderen.Macht er aber eine solche Aussage, so wird auch einBeweis möglich. Denn dann liegt ein Festhalten anetwas Bestimmtem vor; dies aber liefert dann nichtder, der den Beweis führt, sondern der, der seinenSatz vertritt. Denn indem er den Satz aufhebt, vertritt

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er den Satz. Überdies, wer auch nur so viel zugestan-den hat, der hat damit auch schon zugestanden, daßetwas wahr sei ohne Beweis, und daß deshalb nichtjegliches sich so und zugleich nicht so verhalte.

Vor allem nun ist offenbar eben dieses wahr, daßdas Wort Sein oder Nicht-Sein etwas Bestimmtes be-deutet, und schon deshalb kann sich nicht jegliches sound auch nicht so verhalten. Ebenso, wenn das WortMensch eines bedeutet, etwa das lebende Wesen mitzwei Beinen. Es bedeutet eines, darunter verstehe ich,daß wenn das Wort Mensch diese Bedeutung hat,jeder, der ein Mensch ist, dieser Bedeutung, nämlichdem Menschsein, entsprechen muß. Dabei macht eskeinen Unterschied, wenn einer sagt, das Wort habemehrere Bedeutungen; vorausgesetzt nur, daß es be-stimmte Bedeutungen sind. Denn da könnte manebensogut für jede dieser Bedeutungen auch einen be-sonderen Ausdruck setzen. Wenn z.B. jemand sagte,Mensch habe nicht eine, sondern mehrere Bedeutun-gen; lebendes Wesen mit zwei Beinen sei nur einedavon, es habe daneben aber noch mehrere andere inbestimmter Anzahl: da könnte man für jede dieser Be-deutungen je einen besonderen Ausdruck setzen. Da-gegen wäre dem nicht so, und sagte er, das Wort habeunendlich viele Bedeutungen, dann hätte es offenbargar keinen Sinn mehr. Denn nichts Bestimmtes be-deuten heißt überhaupt nichts bedeuten, und wenn die

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4213 133Aristoteles: Metaphysik

Wörter nichts bedeuten, so ist damit das Sprechen derMenschen unter einander aufgehoben und in Wahrheitauch das Selbstgespräch; denn es ist unmöglich zudenken, wenn man nicht etwas Bestimmtes denkt.Soll es aber möglich sein, so muß man auch für diebestimmte Sache den bestimmten Ausdruck setzen.

Es sei also, wie wir zu Anfang gesagt haben: dasWort habe eine bestimmte und zwar eine einheitlicheBedeutung. Dann ist es nicht möglich, daß Mensch-sein dasselbe bedeutet wie Nicht-Mensch-sein, wennMensch nicht bloß eine Bestimmung an dem einheitli-chen Gegenstande, sondern den einheitlichen Gegen-stand selber bedeutet. Denn was wir als Bestimmtheitder Bedeutung verlangen, ist nicht dies, daß etwas alsPrädikat von einem Bestimmten ausgesagt werde: sowürde auch gebildet und blaß und Mensch einen Ge-genstand bedeuten und schließlich alles eins sein;denn es wären alles nur verschiedene Bezeichnungenfür denselben Gegenstand. Sein und Nichtsein selberkönnte nur im Sinne eines Gleichklangs der Wortedasselbe sein, etwa wie das was wir Mensch nennenbei anderen nicht Mensch heißt. Die Frage aber ist janicht, ob ein und dasselbe Mensch und Nichtmenschheißen, sondern ob der Gegenstand beides zugleichsein könne. Hat aber Mensch und Nicht-Mensch nichtverschiedene Bedeutung, so ist offenbar auchMensch-sein und Nicht-Mensch-sein nicht etwas Ver-

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schiedenes; Mensch-sein würde so viel heißen wieNicht-Mensch-sein, und beides würde eins sein. Denneins sein bedeutet eben dies, wie es bei Gewand undKleid der Fall ist, nämlich daß der Begriff einer ist.Sind beide eins, so bedeutet Mensch-sein und Nicht-Mensch-sein dasselbe. Es war aber gezeigt worden,daß die Bedeutung von beiden verschieden ist.

Wenn es also möglich sein soll etwas Wahres zusagen, so muß notwendig, indem man etwas als einenMenschen bezeichnet, dieser als lebendes Wesen mitzwei Beinen gemeint sein; denn das war es, was dasWort Mensch bedeutete. Ist dies aber notwendig, sokann es nicht von eben demselben gelten, daß er nichtein Lebendiges mit zwei Beinen sei. Denn daß etwasnotwendig ist, bedeutet eben dies, daß das Gegenteilunmöglich ist. Es ist also unmöglich zu sagen, es seibeides zugleich wahr, nämlich daß eines und dasselbeMensch und daß es Nicht-Mensch sei.

Ganz dieselbe Ausführung gilt nun auch für dasNicht-Mensch-sein. Denn Mensch-sein bedeutetetwas anderes als Nicht-Mensch-sein, wie ja auchblaß-sein etwas anderes bedeutet als Mensch-sein. Ja,jenes bedeutet einen noch weit schärferen Gegensatzund hat also völlig anderen Sinn. Wenn aber erwidertwird, auch blaß bedeute ein und dasselbe wieMensch, so werden wir wieder antworten wie vorhergesagt worden, daß dann alles, und nicht bloß die

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4215 135Aristoteles: Metaphysik

kontradiktorischen Gegensätze, eins würde. Ist dasaber unmöglich, so ergibt sich, was wir ausgeführthaben, falls nur der Gegner beantwortet, wonach ergefragt wird. Fügt er aber, wenn man ihn einfachfragt, auch noch hinzu, was alles nicht Mensch bedeu-tet, so gibt er keine Antwort auf das wonach er gefragtist. Denn nichts hindert, daß ein und dasselbe Menschund blaß und tausend anderes auch noch sei; aber aufdie Frage, ob man mit Wahrheit dies als einen Men-schen bezeichnet oder nicht, muß man dies eine ant-worten, was die begriffliche Bedeutung ausmacht, undnicht hinzusetzen, daß er auch noch blaß und groß ist.Denn die ganze Reihe der Bestimmungen, die unend-lich ist, durchzugehen wäre doch unmöglich. Manmüßte aber entweder alle Bestimmungen angeben,oder gar keine. Ganz ebenso nun: wenn Mensch mitBestimmungen in unerschöpflicher Anzahl, die nichtdie Bedeutung Mensch haben, dasselbe ist, so darfman doch nicht auf die Frage, ob einer ein Mensch ist,antworten, daß er zugleich auch nicht Mensch sei,wenn man nicht auch alle anderen Bestimmungen, dieihm zukommen, alles was er ist und nicht ist, gleichmit hinzufügen zu müssen meint. Läßt der Gegnersich aber darauf ein, so hört eben alles Unterredenauf.

Vor allem: diejenigen, die auf diese Weise Antwortgeben, machen mit der Wesenheit und dem Wesens-

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4216 136Aristoteles: Metaphysik

begriff ein völliges Ende. Sie sind gezwungen allesfür zufällige Bestimmung auszugeben und den Begriffdes Menschen oder des lebenden Wesens zu leugnen.Denn gibt es einen Begriff des Menschen, so kann derBegriff Nicht-Mensch-sein oder Mensch-nicht-seinnicht mit ihm zusammenfallen; und diese sind dochdie Negationen von jenem. Was das Wort bedeutet,ist nach dem oben Bemerkten ein Bestimmtes, undzwar ist es die bleibende Wesenheit. Die bleibendeWesenheit aber angeben bedeutet angeben, daß diesund nichts anderes das Wesen des Gegenstandes ist.Gibt es also einen Begriff Mensch-sein, so wird derBegriff Nicht-Mensch-sein oder Mensch-nicht-seinein davon verschiedener sein.

Jene Leute sind mithin gezwungen zu sagen, daß esvon keinem Gegenstande einen Begriff in diesemSinne gibt, sondern daß alles nur zufallende Bestim-mung ist. Denn darin liegt der bestimmte Unterschiedvon begrifflicher Wesenheit und zufallender Bestim-mung. Daß er blaß ist, ist am Menschen eine zufallen-de Bestimmung, weil er wohl blaß, aber nicht dieBlässe selbst ist. Wenn aber alles als solche zufallen-de Bestimmung ausgesagt wird, so gibt es kein Ur-sprüngliches, von dem es ausgesagt würde, währenddoch die zufallende Bestimmung immer eine Aussageüber irgend ein Substrat bedeutet. So gerät man dennnotwendig in den Fortgang ins Unendliche und damit

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4217 137Aristoteles: Metaphysik

ins Undenkbare. Denn es gibt nur diese beiden, deneneine Bestimmung beigelegt werden kann: entweder istes eine zufallende Bestimmung oder ein selbständigesWesen. Der zufallenden Bestimmung fällt nicht wie-der eine zufallende Bestimmung zu, es sei denn in derWeise, daß beide einem und demselben Gegenstandezufallen, wie wenn z.B. das Blasse auch ein Gebilde-tes, und ein Gebildetes auch ein Blasses ist, weil bei-des Bestimmungen an einem Menschen sind. Dagegenist Sokrates gebildet nicht in der Weise, daß diesesbeides, Sokrates und gebildet, Bestimmungen aneinem anderen wären. Nun werden diese Bestimmun-gen, die einen in diesem Sinne als Bestimmungen aneinem Subjekt, die anderen in jenem Sinne ausgesagtals Bestimmungen an einer Bestimmung. Eine Aussa-ge wie blaß von Sokrates kann nicht nach oben hinins Unendliche fortgesetzt werden, so daß z.B. vondem blassen Sokrates wieder eine andere Bestimmunggälte. Denn aus der Gesamtheit solcher Bestimmun-gen ergäbe sich keine Einheit. Andererseits hat dieBestimmung blaß nicht wieder eine andere Bestim-mung, wie etwa gebildet, an sich; denn das eine istum nichts mehr eine Bestimmung am anderen, als die-ses an jenem. Zugleich aber ist festgelegt worden, daßdas eine Mal etwas in dieser Weise Bestimmung aneiner anderen Bestimmung ist, das andere Mal aber inder Weise wie das Prädikat gebildet am Sokrates.

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4218 138Aristoteles: Metaphysik

Was in letzterer Weise ausgesagt wird, das wird nichtwie eine Bestimmung, die der Bestimmung zufällt,ausgesagt; sondern so wird nur das ausgesagt, was inder anderen Weise ausgesagt wird. Es wird also nichtalles als ein Zufallendes ausgesagt werden, und esgibt auch solches, was eine Bestimmung an der We-senheit selber bezeichnet. Ist dem aber so, so ist es er-wiesen, daß es unmöglich ist, kontradiktorisch entge-gengesetzte Urteile zugleich zu behaupten.

Aber weiter: wenn kontradiktorisch entgegenge-setzte Aussagen von einem und demselben sämtlichwahr sind, so wird offenbar alles eins. Dann ist einund derselbe Gegenstand ein Schiff und auch eineMauer und auch ein Mensch, wenn man etwas vonjedem Gegenstand ebensowohl bejahen wie verneinenkann, wie es die notwendige Folgerung für diejenigenist, die sich den Gedankengang des Protagoras aneig-nen, daß für jeden ist, was jedem scheint. Denn wennes einem scheint, daß der Mensch kein Schiff ist, soist er danach offenbar kein Schiff, und er ist wiederdoch ein Schiff, wenn auch das Widersprechendewahr ist. Und dann kommt man bei dem Satze desAnaxagoras an, wonach alles durcheinander ist, mit-hin nichts in Wahrheit existiert. Es macht also denEindruck, als sprächen sie von dem schlechthin Unbe-stimmten, und in der Meinung, sie sprächen vom Sei-enden, sprechen sie vielmehr vom Nichtseienden.

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4219 139Aristoteles: Metaphysik

Denn das Unbestimmte ist das, was ein bloß potenti-elles, nicht ein aktuelles Sein hat.

Aber jedenfalls sind sie gezwungen, von jeglichemGegenstande jegliche Bestimmung in der Form derBejahung oder der Verneinung auszusagen. Denn eskommt eine Absurdität heraus, wenn jeglichem zwardie Verneinung seiner selbst zukommen soll, die Ver-neinung eines anderen aber, was ihm nicht zukommt,nicht zukommen soll. Z.B. wenn die Aussage vomMenschen, daß er nicht Mensch sei, wahr ist, so istoffenbar auch die Aussage wahr, daß er kein Schiffist. Gilt nun die Bejahung, so gilt notwendig auch dieVerneinung. Gilt aber die Bejahung nicht, so gilt dieVerneinung dessen, was der Gegenstand nicht ist,immer noch eher, als die Verneinung seines eigentli-chen Wesens. Gilt also auch diese, so wird von ihmauch die Verneinung, daß er kein Schiff sei, gelten;gilt aber diese, so gilt ebensowohl auch die Bejahung.

Zu solchem Unsinn kommt man, wenn man sichauf diesen Gedankengang einläßt. Damit ist aber auchdies gegeben, daß es dann gar nicht notwendig ist,überhaupt etwas zu bejahen oder zu verneinen. Wennes wahr sein soll, daß einer Mensch und zugleichNicht-Mensch ist, so gilt offenbar auch dies, daß erweder Mensch noch Nicht-Mensch ist; denn von jenenbeiden Sätzen gibt es zwei Verneinungen. Macht manaber aus beiden Verneinungen eine einzige, so wird

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4220 140Aristoteles: Metaphysik

auch diese als eine einige sich kontradiktorisch zujener verhalten.

Aber weiter: es verhält sich so entweder mit allem,und jegliches was weiß ist, ist auch nicht weiß, undwas ein Seiendes ist, ist auch ein Nichtseiendes, undganz ebenso bei den anderen Bejahungen und Vernei-nungen, oder es verhält sich nicht so, und es gilt nurvon einigen und von anderen nicht. Gilt es nicht vonallen, so wird über diese, die ausgenommen sind, einefeste, übereinstimmende Ansicht gelten. Gilt es dage-gen von allen, so liegt es so: entweder kann man wie-derum von allem, von dem man etwas bejaht, dassel-be auch verneinen, und von allem, wovon man etwasverneint, dasselbe auch bejahen, oder man kann zwar,wovon man etwas bejaht, dasselbe auch verneinen,aber man kann nicht von allem, wovon man etwasverneint, dasselbe auch wieder bejahen. Wäre dasletztere der Fall, so hätte man wenigstens am Nicht-seienden ein Festes und damit eine gesicherte Ansicht;ist aber das Nicht-sein etwas Gesichertes und Erkenn-bares, so würde doch wohl die kontradiktorisch entge-gengesetzte Bejahung in noch höherem Grade erkenn-bar sein. Oder aber, es gilt, daß man von eben dem-selben, wovon die Verneinung gilt, auch die Bejahungaussagen kann; dann muß man entweder, um dieWahrheit auszusagen, beides, Position und Negation,auseinanderhalten, z.B. daß etwas weiß, und dann

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4221 141Aristoteles: Metaphysik

wieder daß es nicht weiß ist, oder man braucht beidesnicht zu trennen. Wenn man nun, um die Wahrheitauszusagen, beides nicht zu trennen braucht, so gibtes überhaupt keine Aussage, und es existiert auch garnichts; wie könnte aber, was nicht ist, reden oder spa-zieren gehen? Es wäre überdies, wie oben gesagt,alles eins, und Mensch und Gott und Schiff und diekontradiktorischen Gegenteile von ihnen obendrein,das wäre alles eines und dasselbe.

Gilt von jeglichem jegliches in gleicher Weise, soist damit der Unterschied des einen vom anderen be-seitigt. Denn ist ein Unterschied vorhanden, so hatdas Unterschiedene die Bedeutung eines Wahren undEigentümlichen. Und ebenso im anderen Fall: wennman die Wahrheit aussagen kann, indem man die Ge-gensätze auseinanderhält, so ergibt sich die bezeich-nete Konsequenz gleichfalls, und überdies das Weite-re, daß alle die Wahrheit aussagen und alle die Un-wahrheit reden und jeder von sich selber bekennenwürde, daß er die Unwahrheit rede.

Zugleich aber würde es offenbar unmöglich sein,mit einem solchen Menschen über irgend einen Ge-genstand sich in eine Unterredung einzulassen. Denner sagt ja nichts; er sagt nicht, daß es so ist, und auchnicht, daß es nicht so ist, sondern daß es so und auchnicht so ist, und dann verneint er wieder dieses bei-des, so daß es weder so noch nicht so ist. Redete er

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4222 142Aristoteles: Metaphysik

nicht so, so hätte er bereits etwas Bestimmtes gesetzt.Und ferner, bei der anderen Annahme, daß da, wo dieBejahung wahr ist, die Verneinung falsch wäre, undda wo diese wahr ist, die Bejahung falsch wäre, wärees nicht möglich, mit Wahrheit eines und dasselbe zu-gleich zu bejahen und zu verneinen. Freilich damit,könnte man sagen, sei ja eben das behauptet, was vonAnfang an das zu Erweisende war.

Außerdem: soll derjenige, der der Ansicht ist,etwas verhalte sich entweder so oder es verhalte sichnicht so, im Irrtum sein, derjenige aber, der beides zu-gleich annimmt, die richtige Ansicht haben? Wenn erdas Richtige sagt, was wäre dann mit dem Satze ge-meint, dies sei nun einmal die Natur der Dinge?Wenn er aber nicht das Richtige sagt, sondern viel-mehr der, der die andere Ansicht hat: so würde auchdamit dem Seienden ein bestimmtes Verhalten zuge-schrieben werden, und dies würde dann das Wahre,aber nicht auch zugleich das Nicht-Wahre sein. Wennes aber heißt, daß alle in gleicher Weise sowohl imIrrtum sind als auch die Wahrheit aussagen, so würdeein Mensch, der diese Ansicht hegt, weder einen Lautvon sich geben noch eine Aussage machen dürfen;denn er sagt in einem Atem das eine und das Gegen-teil. Hat er aber überhaupt keine Ansicht, sondernmeint er nur und meint in gleicher Weise auch nicht,welcher Unterschied würde zwischen ihm und einem

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4223 143Aristoteles: Metaphysik

Stock oder Klotz bestehen?Man ersieht daraus ganz augenscheinlich, daß kein

Mensch in Wirklichkeit sich so benimmt, keinersonst, aber auch der nicht, der eben diesen Satz ver-tritt. Denn warum geht er nach Megara und bleibtnicht lieber ruhig daheim und bildet sich ein, er gehe?Oder warum stürzt er sich nicht flugs am frühen Mor-gen in einen Brunnen oder in einen Abgrund, wenn erdaran vorbeikommt, sondern nimmt sich augenschein-lich in acht? Offenbar doch, weil es doch nicht eigent-lich seine Ansicht ist, hineinzustürzen sei ebensowohletwas Gutes wie etwas Nicht-Gutes. Er beweist damitseine Überzeugung, daß das eine das Bessere und dasandere nicht das Bessere sei; dann aber muß er auchzugeben, daß das eine ein Mensch, das andere nichtein Mensch, das eine etwas Angenehmes, das anderenicht etwas Angenehmes sei. Denn daß ihm nichtalles gleich gilt, sieht man ja daraus, daß er etwas be-gehrt und sich darüber eine Meinung bildet, wie z.B.die Meinung, daß es besser sei Wasser zu trinkenoder besser sei jemanden zu sehen, und daß er darauf-hin dieses beides aufsucht. Und doch müßte er allesfür gleich halten, wenn Mensch und Nicht-Menscheines und dasselbe und ganz gleich wäre. Aber wiegesagt, es ist kein Mensch, der sich nicht augen-scheinlich vor dem einen hütete und vor dem anderennicht.

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4224 144Aristoteles: Metaphysik

Daher sind, das sieht man daraus, alle der Ansicht,es gebe etwas, was ohne weiteres feststeht, wenn nichtin allen Dingen, so doch in der Frage nach dem, wasdas Bessere und was das Schlimmere ist. Wenn sieaber angeben, nicht auf Grund eines Wissens sondernbloßen Meinens sich so zu verhalten, so wäre ihnenzu raten, daß sie sich nur um so eifriger um die Wahr-heit bemühen sollten, wie ein Kranker sich ja auchmehr um die Gesundheit bemühen muß als ein Gesun-der. Denn wer bloß Meinungen hat, der hat im Ver-gleich mit dem, der begründetes Wissen hat, zurWahrheit kein gesundes Verhältnis.

Endlich aber: gesetzt auch, es gelte in aller Ent-schiedenheit, daß alles sich so und auch nicht so ver-halte, so liegt doch in der Natur der Dinge auch dasMehr oder Minder. Wir würden nicht in gleicherWeise von der Zwei und auch von der Drei aussagen,daß es eine gerade Zahl ist, und der Irrtum dessen, derdie Vier für fünf, und dessen, der sie für tausend hält,ist nicht ein gleich großer. Ist nun der Irrtum nicht dergleiche, so ist offenbar der eine weniger im Irrtum alsder andere, und mithin ist er in höherem Maße bei derWahrheit. Bedeutet nun dieses höhere Maß größereAnnäherung, so gäbe es mithin ein Wahres, dem dieAnsicht, die in höherem Maße wahr ist, näher käme.Aber gesetzt selbst, dem wäre nicht so, so gibt esdoch immer etwas, was besser begründet und der

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4225 145Aristoteles: Metaphysik

Wahrheit näher ist, und schon damit wären wir befreitvon der abzugslosen Durchführung eines Satzes, deralle feste Denkbestimmung verhindert.

Nun stammt aber aus derselben Ansicht auch derSatz des Protagoras, daß jegliches ist wie es jegli-chem scheint, und beide müssen notwendig mit einan-der stehen oder fallen. Denn einerseits, ist alles wahr,was einem so vorkommt und einleuchtet, so ist not-wendig alles wahr und falsch zugleich. In der Tathaben die einen Menschen entgegengesetzte Ansich-ten als andere Menschen und meinen, diejenigen, dienicht so denken wie sie, seien im Irrtum; mithinmüßte, wenn jener Satz gilt, eines und dasselbe seinund auch nicht sein. Andererseits umgekehrt: wenndieser Satz gilt, so ist notwendig jede Meinung wahr.Denn die Ansichten derjenigen, die im Irrtum sind,und derjenigen, die das Richtige denken, sind einan-der entgegengesetzt. Demnach haben sie alle recht,wenn das Seiende sich in jener Weise verhält. Es liegtalso auf der Hand, daß beide Sätze auf ein und dassel-be hinauslaufen.

Die Art und Weise allerdings, wie man gegen sievorzugehen hat, ist nicht für beide Parteien dieselbe.Die einen muß man überzeugen, die anderen mußman überwältigen. Die Leute, die auf Grund ernsterErwägung von Schwierigkeiten zu solcher Ansicht ge-langt sind, bieten für die Heilung ihres Mißverstandes

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4226 146Aristoteles: Metaphysik

ganz gute Aussicht; denn bei ihnen hat man sich nichtgegen Worte, sondern gegen eine Denkungsart zuwenden. Bei den Leuten dagegen, die nur mit Wortenfechten, würde die Widerlegung auf einen Heilungs-versuch hinauslaufen, der bloßen Wortklang und Re-densarten zu kurieren unternähme.

Entsprungen ist denen, die durch ernste Schwierig-keiten darauf gekommen sind, ihre Ansicht von dersinnlichen Wahrnehmung aus. Daß kontradiktorischeSätze und Widerspräche zugleich wahr seien, ergabsich ihnen daraus, daß sie Entgegengesetztes auseinem und demselben werden sahen. Wenn es nun alsunmöglich gilt, daß das werde, was nicht schon ist, sohat der Gegenstand schon vorher bestanden und waralso beides in gleicher Weise. So sagt denn auch Ana-xagoras, alles sei in allem in der Form der Mischung,und Demokrit sagt dasselbe, wenn er lehrt, das Leereund das Volle sei in jedem beliebigen Teilchen ingleicher Weise vorhanden, und dabei dem einendavon die Bedeutung des Seienden, dem anderen diedes Nichtseienden zuweist.

Gegen diejenigen nun, die sich ihre Ansicht aufsolchem Grunde gebildet haben, werden wir aus-führen, daß sie in gewissem Sinne recht haben, in ge-wissem Sinne allerdings die Sache falsch anfassen.Denn vom Seienden redet man in zweifachem Sinne,in dem einen Sinne kann man wohl sagen, daß etwas

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4227 147Aristoteles: Metaphysik

aus dem Nichtseienden werde, in dem anderen Sinnekann man es nicht, und ebenso, daß dasselbe zugleichein Seiendes und ein Nichtseiendes sei, aber nicht inderselben Bedeutung. Denn der Möglichkeit nachzwar kann etwas das eine und zugleich das Entge-gengesetzte sein, aber nicht in Wirklichkeit. Und fer-ner werden wir den Leuten zumuten, daß sie noch eineandere Art von Wesenheit im Seienden erfassen, fürdie es schlechterdings keine Bewegung und kein Ver-gehen oder Entstehen gibt.

In gleicher Weise ergab sich für manche auch derSatz von der Wahrheit dessen, was erscheint, aus dersinnlichen Wahrnehmung. Sie lehnen es als etwasVerkehrtes ab, über das Wahre nach der großen odergeringen Anzahl der Zeugen zu entscheiden. Nun er-scheine aber eines und dasselbe den einen, wenn siees schmecken, süß, den anderen bitter. Wenn nun allekrank oder alle von Sinnen, dagegen nur zwei oderdrei gesund und bei Sinnen wären, so würden diesefür krank und irrsinnig gelten, nicht die anderen. Au-ßerdem empfingen unter den anderen lebenden Wesenmanche von denselben Gegenständen die entgegenge-setzten Eindrücke als wir; ja, auch ein jeder einzelnerein für sich empfange von einem und demselben Ge-genstande in der sinnlichen Wahrnehmung nichtimmer denselben Eindruck. Welcher von diesen Ein-drücken nun der wahre, welcher der falsche sei, das

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4228 148Aristoteles: Metaphysik

bleibe ungewiß; das eine habe genau denselben An-spruch für wahr zu gelten wie das andere.

Auf diese Weise kommt Demokrit zu dem Aus-spruch, entweder gebe es überhaupt nichts Wahres,oder es sei doch für uns unerkennbar. Überhauptergab sich der Satz, das in der sinnlichen Wahrneh-mung Erscheinende sei wahr, mit Notwendigkeit dar-aus, daß man Erkenntnis mit sinnlicher Wahrneh-mung, diese aber mit Veränderung gleich setzte.Wenn Männer wie Empedokles und Demokrit und imGrunde auch die anderen alle auf jene Ansichten gera-ten sind, so geschah es auf diesem Wege. So sagt Em-pedokles: indem sich die subjektive Beschaffenheitändere, ändere sich auch die Erkenntnis.

»Je nach des Leibes Bestand nimmt zu derMenschen Verständnis.«

Und an anderer Stelle:

»Wie sie sich selbst verändern, so ist's nochimmer geschehen,

Daß sich auch ihre Gedanken veränderten.«

In dem gleichen Sinne äußert sich Parmenides:

»Wie der Verstand auf der Mischung beruht viel

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4229 149Aristoteles: Metaphysik

schweifender Sinne,So stellt er in den Menschen sich dar; denn eins

und dasselbeIst's, was denkt in den Menschen, in sämtlichen

so wie in jedem,Seiner Organe Natur; was hier vorwiegt, ist

Gedanke.«

Ebenso wird ein Ausspruch des Anaxagoras zu ei-nigen seiner Schüler überliefert: »das Seiende sei fürsie von der Beschaffenheit, wie sie es sich vorstell-ten.« Auch von Homer geben die Leute an, er scheinedie gleiche Ansicht zu haben; denn den Hektor, als erinfolge einer Verwundung seiner Besinnung beraubtwar, schildert er wie er dalag »andres bedenkend«;das heiße doch, daß auch diejenigen, die von Sinnenwären, Gedanken hätten, nur nicht dieselben wie ge-sunde Leute. Nun ist offenbar, daß, wenn es so zwei-erlei Denken gibt, auch das Seiende sich zugleich sound auch nicht so verhält.

Daraus ergibt sich allerdings als Folgerung etwashöchst Bedenkliches. Wenn nämlich diejenigen, diedas Wahre, sofern es erfaßt werden kann, in reichstemMaße geschaut haben, – und das sind doch geradedie, die das Wahre mit dem größten Eifer suchen undes lieb haben, – wenn also diese derartige Ansichtenhegen und dergleichen über die Wahrheit aussagen,

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4230 150Aristoteles: Metaphysik

wie könnte es anders sein als daß diejenigen, die sichan die Philosophie heranwagen, dadurch entmutigtwerden? Denn dann hieße ja die Wahrheit suchen soviel als das haschen wollen, was immer davonfliegt.

Der Grund, durch den man zu dieser Meinung ge-langt ist, ist der, daß man zwar nach der Wahrheit desSeienden sich umgetan, aber für das Seiende bloß dasSinnliche angesehen hat. In diesem freilich überwiegtdie Unbestimmtheit und das Sein in dem oben be-zeichneten Sinne der bloßen Potentialität. Unter die-sem Gesichtspunkte klingt wahrscheinlich, was siesagen, aber gleichwohl ist nicht wahr, was sie sagen.Diese Art uns auszudrücken stimmt doch wohl mehrzur Sache als der Ton, den Epicharm sich gegen Xe-nophanes gestattet.

Ein fernerer Grund für ihre Ansicht ist der, daß siesagen, diese gesamte Welt sei in Bewegung, von demaber was stets wechselt, lasse sich keinerlei bleibendeWahrheit aussagen; von dem wenigstens was immer-fort in jedem Sinne sich verändert, sei es nicht mög-lich eine richtige Aussage zu machen. Aus diesem Ge-dankengange ist die zugespitzte Form der bezeichne-ten Lehre erwachsen, wie sie sich bei denen findet, diesich als Anhänger des Heraklit bezeichnen. So beiKratylos, der schließlich gar nichts mehr reden zudürfen glaubte, sondern nur noch den Finger hin undher bewegte und den Heraklit tadelte, weil er es für

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4231 151Aristoteles: Metaphysik

unmöglich erklärt hatte, zweimal in denselben Flußhinabzusteigen; er selber nämlich meinte, es sei auchnicht einmal möglich.

Auch diesem Gedankengange gegenüber werdenwir ausführen, daß das was sich verändert, indem essich verändert, wohl einen Anlaß bietet, es für nichtseiend zu halten; indessen darf man darüber streiten.Denn beim Verlieren einer Eigenschaft hat der Gegen-stand noch etwas von dem was er verliert, und muß erschon etwas von dem haben, wozu er wird. Über-haupt, wenn etwas vergeht, so muß etwas im Seinverharren, und wenn etwas entsteht, so muß notwen-dig etwas sein, woraus es entsteht und wodurch eshervorgebracht wird, und dies kann nicht ins Unendli-che so weitergehen. Aber auch abgesehen davon wol-len wir nur noch die Bemerkung machen, daß es nichteines und dasselbe bedeutet: Veränderung in bezugauf die Quantität, und Veränderung in bezug auf dieQualität. Mag es in bezug auf die Quantität auchnichts Bleibendes geben: woran wir jegliches erken-nen, das ist doch seine Form.

Weiter kann man den Vertretern jener Ansicht auchden Vorwurf nicht ersparen, daß sie in dem Sinnli-chen selber die Beobachtung, die sie an dem derMasse nach geringeren Ausschnitt der Welt machen,gleichmäßig auf das ganze Weltall ausdehnen. Dennder uns umgebende Teil der sinnlichen Welt ist aller-

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dings unausgesetzt im Entstehen und Vergehen be-griffen, aber auch er allein, und er kommt doch ei-gentlich dem Ganzen gegenüber als Teil gar nicht inBetracht. Es wäre also ein gerechterer Spruch gewe-sen, wenn sie um des Ganzen willen das Irdische vonder Schuld losgesprochen hätten, statt daß sie um desletzteren willen jenes für mitschuldig erklären.

Ferner aber werden wir offenbar auch gegen diesedasselbe einwenden, was wir früher vorgebrachthaben. Man muß ihnen nachweisen, daß es eine Weltdes Nichtbewegten gibt, und sie davon überzeugen.Übrigens müßte sich ihnen schon aus dem Satze, daßetwas zugleich sei und nicht sei, eher die Folgerungergeben, daß alles in Ruhe, als daß alles in Bewegungsei. Denn gilt der Satz, so gibt es nichts, worin sichetwas umwandeln könnte, da jegliches ja schon injeglichem vorkommt.

Was nun den Satz von der Wahrheit des Wahrge-nommenen anbetrifft, so werden wir die Ansicht, daßdoch nicht alles wahr ist, was wahrgenommen wird,damit begründen, daß zwar die Wahrnehmung keines-wegs trügerisch ist, wo sie auf ihrem eigentümlichenGebiete bleibt, daß aber das Vorstellungsbild keines-wegs mit der Wahrnehmung zusammenfällt. Sodanndarf man sich billig wundern, wenn jene Leute sichden Kopf darüber zerbrechen, ob die Gestalten unddie Farben wirklich so sind, wie sie den Beobachtern

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4233 153Aristoteles: Metaphysik

aus der Ferne, oder so wie sie aus der Nähe sich dar-stellen, ob so wie sie den Kranken, oder so wie sieden Gesunden erscheinen, ob das was den Schwachenschwerer dünkt als den Starken, auch wirklich schwe-rer ist, und ob das, was den Schlafenden erscheint,wahr ist, oder das was den Wachenden erscheint.Denn offenbar ist solche Bedenklichkeit von ihnengar nicht ernstgemeint. Wenigstens macht sich keinMensch, wenn er sich nachts einbildet, er sei inAthen, während er in Libyen ist, auf den Weg, um insOdeum zu gehen. Und weiter was die Zukunft betrifft,so steht doch wohl, wie auch Plato bemerkt, die An-sicht des Arztes an Gültigkeit nicht in gleicher Reihemit der des Laien, z.B. darüber ob einer wieder ge-sund werden wird oder nicht. Ebenso was die Wahr-nehmung selber anbetrifft, so hat die Wahrnehmungeines Sinnesorgans über einen ihm fremden Gegen-stand nicht denselben Wert wie die über den ihm ei-genen Gegenstand, und diejenige des verwandtennicht denselben wie die des spezifischen Sinnesor-gans; sondern über die Färben entscheidet der Ge-sichtssinn, nicht der Geschmackssinn, und über denGeschmack der Geschmacks- und nicht der Gesichts-sinn. Jeder dieser Sinne aber sagt zu einer und dersel-ben Zeit von demselben Gegenstande niemals aus,daß dasselbe so und auch nicht so beschaffen sei, undauch zu verschiedenen Zeiten ist noch niemals der

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Empfindungsinhalt selbst in Frage gekommen, son-dern das Objekt, dem er zukam. So z.B. kann wohldieser selbige Wein das eine Mal süß scheinen, dasandere Mal nicht, weil er sich verändert hat, oder weildie Leibesbeschaffenheit des Tränkenden eine anderegeworden ist; aber die Süßigkeit, wie sie ist, wenn sievorhanden ist, diese hat sich in keinem Falle verän-dert, sondern über diese sagt man immer richtig aus,und das was süß sein soll, hat notwendig jedesmaleben diese Beschaffenheit. Gleichwohl wollen die be-zeichneten Gedankengänge sämtlich eben dies aufhe-ben; so wie es von nichts ein bleibendes Wesen gebe,so gebe es auch nichts, was notwendig sei. Denn wasnotwendig ist, das kann sich nicht anders und immerwieder anders verhalten, und wenn es daher etwasNotwendiges gibt, so ist ausgeschlossen, daß es sichso und auch nicht so verhalte.

Überhaupt, wenn es nur Sinnliches gäbe, so wäregar nichts, da das Beseelte nicht wäre; denn es fieledamit ja auch die Wahrnehmung hinweg, die selbernichts Sinnliches ist. Daß nun weder Wahrgenomme-nes noch Wahrnehmungen wären, das ließe sich viel-leicht annehmen; denn sie sind ja nur als Affektionenwahrnehmender Wesen. Daß aber die Gegenstände,die die Wahrnehmung verursachen, nicht auch unab-hängig von der Wahrnehmung existieren sollten, dasist undenkbar. Denn die Wahrnehmung nimmt nicht

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4235 155Aristoteles: Metaphysik

sich selbst wahr, sondern es gibt noch etwas zweitesaußer der Wahrnehmung, was notwendig das Voraus-gegebene für die Wahrnehmung bildet. Denn das wasBewegung hervorruft, ist seiner Natur nach das Vor-ausgegebene für das was bewegt wird. Und auchwenn man sagt, sie ständen in Wechselbeziehung, soändert das an der Sache gar nichts.

Nun finden sich sowohl unter denen, die ganzernsthaft an dem Satze hangen, wie unter denen, diebloß in Worten so reden, Leute, die ein Bedenken er-heben mit der Frage: wer weiß denn eigentlich denherauszuerkennen, der gesund ist, und überhaupt derjedesmal über den Gegenstand ein richtiges Urteilhat? Derartige Bedenken sind ganz ähnlich wie dieFrage, ob wir eigentlich jetzt schlafen oder wachen.Solche Bedenken laufen alle auf dasselbe hinaus,nämlich auf die Forderung, daß für jedes ein begriffli-cher Grund angegeben werden müsse. Man sucht nacheinem Ausgangspunkt und will diesen auf dem Wegedes Beweises gewinnen, während doch aus ihrem ei-genen praktischen Verhalten klar hervorgeht, daß daseigentlich gar nicht ihre Überzeugung ist. Aber wiegesagt, das gerade ist ihr absonderliches Verhalten:sie suchen einen begrifflichen Grund für das, wofür eseinen begrifflichen Grund nicht gibt. Denn der Aus-gangspunkt für das Beweisen ist nicht wieder ein Be-weis.

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4236 156Aristoteles: Metaphysik

Die bezeichneten Leute nun würden sich davonleicht überzeugen lassen; denn die Sache ist gar nichtso schwer zu begreifen. Dagegen die anderen, dieimmer nur dem Zwang durch Gründe nachjagen, diesejagen dem Unmöglichen nach. Sie fordern, man solleihnen Widersprüche nachweisen, und sie selber bewe-gen sich von vornherein in lauter Widersprüchen.

Ist nicht alles ein Relatives, und gibt es vielmehrauch solches was an und für sich ist, dann kann nichtalles was erscheint auch wahr sein. Denn was er-scheint, das erscheint einem Subjekt. Daher, wer sagt,alles was erscheint sei wahr, der setzt alles Seiende zuRelativem herab. Darum müssen diejenigen, die nurdem Zwang durch Gründe weichen wollen und zu-gleich ihre Sache durch begriffliche Begründung zurechtfertigen sich anheischig machen, ernstlich diesbeachten, daß das was erscheint nicht so schlechthinist, sondern daß es ist für den, dem es erscheint, zurZeit wo, in der Weise wie und insofern es erscheint.Wenn sie ihren Satz vertreten, ihn aber nicht in dieserWeise vertreten, so geschieht es ihnen, daß sie imHandumdrehen sich in Widersprüche verwickeln.Denn es kann vorkommen, daß einem und demselbenetwas vermittelst des Gesichtssinnes als Honig er-scheint, vermittelst des Geschmackssinnes aber nicht,und daß, da der Mensch zwei Augen hat, der Gegen-stand sich den beiden Sehwerkzeugen, falls sie nicht

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4237 157Aristoteles: Metaphysik

ganz gleich sind, nicht als derselbe darstellt. Gegendiejenigen Leute, die aus den oben genannten Grün-den behaupten, das was erscheine sei wahr, und des-halb sei alles in gleicher Weise wahr und falsch; dennnicht allen erscheine der Gegenstand als derselbe undauch einem und demselben Subjekt erscheine er nichtimmer als derselbe, sondern es komme vor, daß das-selbe sich zu einer und derselben Zeit mit entgegenge-setzten Bestimmungen darstelle, – so nimmt bekannt-lich der Tastsinn, wenn man die Finger über einanderschlägt, eben das als zwei Gegenstände wahr, was derGesichtssinn als einen wahrnimmt: – gegen diejeni-gen also, die so reden, läßt sich bemerken, daß es sichdabei doch nicht um eine und dieselbe Empfindung,nicht um Empfindung in derselben Weise und zuderselben Zeit handle und deshalb die Sache trotzdemihre Richtigkeit behalte.

Diejenigen dagegen, die nicht auf Grund ernsthafterÜberlegungen, sondern um des Wortgefechts willenihren Satz vertreten, diese dürfen allerdings ebendarum nicht sagen, daß etwas an sich wahr sei, son-dern nur daß es für dieses Subjekt wahr sei. Sie sind,wie schon oben bemerkt worden, gezwungen, alleszum Relativen herabzusetzen, zu bloßer Vorstellungund Empfindung, so daß wo keiner sich zuvor eineVorstellung gebildet hätte, es auch nichts gebenwürde, was einmal gewesen ist oder künftig sein wird.

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4238 158Aristoteles: Metaphysik

Gibt es aber solches, was einmal gewesen ist oderwas künftig sein wird, dann hat offenbar nicht allesein Sein bloß in bezug auf die Vorstellung. Weiteraber, ist es ein Relatives, so steht es in Relation zueinem oder doch in bestimmter Relation zu Bestimm-tem, und wenn eines und dasselbe zugleich ein halb-sogroßes und ein ebensogroßes ist, so ist es doch des-halb nicht auch ein ebensogroßes in Beziehung aufdas doppeltsogroße. Und was endlich die Beziehungauf das vorstellende Subjekt anbetrifft: wenn einesund dasselbe Mensch und vorgestelltes Objekt ist, soist dann nicht das vorstellende Subjekt, sondern dasvorgestellte Objekt ein Mensch. Soll nun aber jegli-ches sein Sein nur für das vorstellende Subjekt haben,so wird auch das vorstellende Subjekt nur für ein vor-stellendes Subjekt existieren und so fort ins Unendli-che. Darüber also, daß der Satz, wonach kontradikto-risch entgegengesetzte Urteile nicht beide wahr seinkönnen, unter allen der am meisten grundlegende ist,und über die Folgerungen, die sich für die ergeben,die den Satz leugnen, wie über die Gründe, weshalbsie ihn leugnen, mag so viel bemerkt sein. Ist es aberunmöglich, daß zwei kontradiktorische Aussagenvon demselben Subjekt zugleich wahr seien, so kön-nen offenbar auch konträre Prädikate nicht demselbenGegenstande zugleich zukommen. Denn von zweikonträren Prädikaten ist jedes ein Aufheben und Ver-

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4239 159Aristoteles: Metaphysik

neinen des anderen ganz ebensosehr, wie das Kontra-diktorische, nur daß es hier ein Aufheben von sol-chem ist, was zum Wesen gehört und als Privation dieNegation einer begrifflich bestimmten Gattung bedeu-tet. Ist es nun unmöglich, in einer wahren Aussagedasselbe zu bejahen und zu verneinen, so ist es auchunmöglich, daß die konträren Prädikate zugleich demGegenstande zukommen; oder es ist doch nur so mög-lich, daß entweder beide in gewisser Hinsicht, oderdas eine nur in gewisser Hinsicht, das andere dagegenschlechthin vom Gegenstande ausgesagt wird.

Weiter aber kann es auch zwischen den beidenGliedern des kontradiktorischen Gegensatzes keinMittleres geben; es ist vielmehr von jedem Gegen-stande jegliches Prädikat notwendig entweder zu be-jahen oder zu verneinen.

Das wird klar, sobald man nur zunächst genau be-stimmt, was unter wahr und falsch zu verstehen ist.Eine falsche Aussage ist die Aussage, daß das was istnicht sei, oder daß das was nicht ist sei; eine wahreAussage dagegen ist die Aussage, daß das was ist sei,und daß das was nicht ist nicht sei. Es müsste alsoder, der von etwas aussagt, es sei ja oder nein, damitentweder etwas Wahres oder etwas Falsches aussa-gen. Aber weder von dem was ist noch von dem wasnicht ist gilt die Aussage, daß es ja oder nein sei.

Außerdem, das was zwischen den Gliedern des

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kontradiktorischen Gegensatzes liegt, könnte etwavon der Art sein wie grau zwischen schwarz undweiß, oder wie zwischen Mensch und Pferd das, waskeines von beiden ist. Ist es wie das letztere, so würdevon Veränderung des einen in das andere nicht dieRede sein können; denn Veränderung findet so statt,daß aus Nicht-Gutem Gutes oder aus Gutem Nicht-Gutes wird. Die Veränderung aber, wie sie uns unaus-gesetzt entgegentritt, ist gerade eine solche; denn esgibt keine Veränderung als die in das konträr Entge-gengesetzte und die zwischen einem mittleren unddem äußersten Glied der Reihe. Gibt es aber ein wirk-lich Mittleres zwischen den Gliedern der Kontradikti-on, so würde es auch so eine Entstehung des Weißengeben, die nicht aus dem Nicht-Weißen geschähe.Eine solche aber ist wider die Erfahrung. Überdies,alles was Gegenstand der Überlegung und des Den-kens ist, das wird vom Denken bejaht oder verneint.Das ergibt sich klar aus der Begriffsbestimmung dar-über, wann eine Aussage wahr oder falsch ist. Ge-schieht die Verknüpfung der Begriffe in Form der Be-jahung oder Verneinung in dieser bestimmten Weise,so ist die Aussage wahr; geschieht sie in andererWeise, so ist die Aussage falsch.

Es müßte ferner jenes Mittlere, wenn nicht bloß umdes Redens willen geredet wird, sich bei allen kontra-diktorischen Aussagen einfinden, und es würde keiner

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4241 161Aristoteles: Metaphysik

eine Aussage machen, die wahr, noch eine, die nichtwahr wäre. Es würde ein Mittleres auch zwischendem Seienden und dem Nichtseienden geben und eineVeränderung der Wesenheit selber, die nicht ein Ent-stehen oder ein Vergehen wäre. Und auch in den Fäl-len, wo die Verneinung schon das Konträre enthält,wird dieselbe Folge eintreten; so wird es bei den Zah-len eine Zahl geben, die weder ungerade noch nichtungerade ist. Und das hat doch alles keinen Sinn; dassieht man schon aus der Definition. Überdies gerieteman in den Fortgang ins Unendliche, und das Seiendewürde nicht bloß zu einem anderthalbigen, sondern eswürde immer so weiter gehen. Denn man würdeimmer wieder dieses Mittlere verneinen und zwischenBejahung und Verneinung immer wieder ein Mittleressetzen können, das dann wieder ein Etwas sein undeine andere eigene Wesenheit ausmachen würde. End-lich, wenn jemand auf die Frage, ob etwas weiß ist,mit nein antwortet, so hat er nichts anderes verneintals bloß das Sein, und dessen Verneinung ist dasNichtsein.

Entstanden ist diese Ansicht manchen ihrer Vertre-ter, wie auch andere absonderliche Ansichten zu ent-stehen pflegen. Wenn man sich gewissen Trugschlüs-sen gegenüber nicht zu helfen weiß, so gibt man sichder Folgerung gefangen und stimmt zu, daß das damitErschlossene richtig sei. Wenn die einen auf diesem

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4242 162Aristoteles: Metaphysik

Wege zu solcher Ansicht gekommen sind, so die an-deren dadurch, daß sie für alles einen begrifflichenGrund suchen. Der Punkt, von dem die Widerlegungaller dieser Leute auszugeben hat, liegt in genauer Be-griffsbestimmung. Diese aber ergibt sich schon dar-aus, daß sie notwendig irgend etwas Bestimmtes aus-sagen müssen. Der Begriff, dessen Bezeichnung dasWort ist, enthält eine Bestimmtheit. Wenn Heraklitsagt, alles sei und sei auch nicht, so macht das denEindruck, als ob damit alles als richtig bezeichnetwerden sollte, und wenn Anaxagoras sagt, daß eszwischen kontradiktorischen Sätzen ein Mittleresgebe, so scheint die Folge, daß alles falsch ist. Dennwo es sich um Mischung handelt, da ist das Gemisch-te weder ein Gutes noch ein Nicht-Gutes, und mankann also dann überhaupt darüber keine Aussage ma-chen, die zuträfe.

Ist nun dieses ausgemacht, so leuchtet auch die Un-denkbarkeit ein, daß ganz gleichförmig von allen Sät-zen dasselbe gelten könnte. So wenn die einen be-haupten, kein Satz sei richtig; denn es hindere nichts,daß es mit allen Sätzen stehe wie mit dem Satze, daßdie Diagonale der Seite des Quadrats kommensurabelsei; oder wenn die anderen behaupten, alle Sätzeseien richtig. Im Grunde liegt in diesen Sätzen diesel-be Ansicht vor, wie in dem des Heraklit. Denn in derAussage: alles ist wahr und falsch, liegen auch die

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4243 163Aristoteles: Metaphysik

beiden gesonderten Aussagen: alles ist wahr, undalles ist falsch, mit enthalten, und wenn daher jenesundenkbar ist, so ist auch dieses undenkbar.

Überdies ergeben sich dabei augenscheinlich kon-tradiktorische Sätze, bei denen es unmöglich ist, daßsie beide richtig seien, und also auch, daß sie beidefalsch seien, obgleich es nach dem oben Ausgeführtenden Anschein haben könnte, als sei dieses letztereimmer noch eher möglich.

Aber um allen derartigen Ansichten zu begegnen,muß man von denen, die sie vertreten, wie wir schonoben ausgeführt haben, nicht das Zugeständnis ver-langen, daß etwas sei oder nicht sei, sondern nur, daßsie irgend etwas bezeichnen, und dann muß man aufGrund solcher Bestimmtheit des Begriffes sie bestrei-ten, indem man sich auf die Bedeutung der Begriffewahr und falsch stützt. Heißt Richtiges aussagennichts anderes als das Gegenteil von dem Falschenaussagen, und Falsches aussagen nichts anderes alsdas Gegenteil vom Richtigen aussagen, so kann un-möglich alles falsch sein; denn notwendig ist das eineGlied eines kontradiktorischen Gegensatzes richtig.Und wenn man ferner in jedem Falle gezwungen ist,etwas zu bejahen oder zu verneinen, so ist es unmög-lich, daß beides falsch sei; denn von den Gliederndes kontradiktorischen Gegensatzes ist nur das einefalsch.

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4244 164Aristoteles: Metaphysik

Es ergibt sich eben für alle derartige Ansichtenauch die vielbelachte Folge: man hebt den Satz auf,indem man ihn behauptet. Denn wenn man jeden Satzfür richtig erklärt, erklärt man auch den Satz für rich-tig, der dem Satze, den man selbst aufstellt, entgegen-gesetzt ist, und damit den eigenen Satz für nicht rich-tig; denn der entgegengesetzte Satz erklärt ihn fürnicht richtig. Wenn man aber jeden Satz für falsch er-klärt, so erklärt man auch eben diesen Satz für falsch.Wollte man aber eine Ausnahme machen, so daß dereine von dem Satze der dem eigenen entgegengesetztist behaupten wollte, daß er allein nicht richtig, oderder andere von dem eigenen Satze, daß er allein nichtfalsch sei, so müßte man darum nicht minder unend-lich viele Sätze als richtig und als falsch in Anspruchnehmen. Denn wer einen richtigen Satz als richtig be-zeichnet, der spricht damit wieder einen richtigen Satzaus, und das geht so fort ins Unendliche.

Offenbar also sind ebensowenig diejenigen imRechte, die aussagen, alles befinde sich in Ruhe, wiediejenigen, die aussagen, alles sei in Bewegung. Dennwenn alles in Ruhe ist, dann ist ewig dasselbe rich-tig oder falsch; es ändert sich aber augenscheinlich.Denn eben der, der so spricht, war einmal nicht undwird dereinst wieder nicht vorhanden sein. Anderer-seits, wenn alles in Bewegung ist, so ist nichts wahrund mithin alles falsch. Wir haben aber gezeigt, daß

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4245 165Aristoteles: Metaphysik

das undenkbar ist. Und ferner: wenn Veränderung ist,so muß es das Seiende sein, das sich verändert. Denndie Veränderung vollzieht sich von einem Ausgangs-punkt aus zu einem Ziele hin. Aber allerdings, es giltauch nicht, daß alles nur zeitweise in Ruhe oder zeit-weise in Bewegung wäre und nichts ewig. Denn esgibt solches, was ewig das bewegt, was bewegt wird,und das erste Bewegende ist selbst unbewegt.

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4246 166Aristoteles: Metaphysik

III. TeilEinteilung und Objekt der Wissenschaft

Was wir suchen, das sind die Prinzipien und Grün-de des Seienden und zwar wie wir gezeigt haben desSeienden sofern es ist. Es gibt einen Grund für Ge-sundheit und Wohlbefinden; es gibt auch Prinzipien,Elemente und Gründe für die mathematischen Gebil-de, und überhaupt jede mit denkender Reflexion ver-fahrende Wissenschaft, jede, die an denkender Refle-xion auch nur teil hat, dreht sich um die Frage nachdem Grunde und dem Prinzip entweder in strengeremoder in weniger strengem Sinne. Alle diese Wissen-schaften aber handeln von einem bestimmten Seien-den und einem besonderen Gebiete, auf das sie sichbeschränken, nicht von dem Seienden schlechthin undrein sofern es ist. Sie lassen sich deshalb auch auf dieUntersuchung des begrifflichen Wesens nicht ein;vielmehr gehen die einen von diesem als einem gege-benen aus und erläutern es nur durch sinnliche An-schauung, die anderen nehmen das begriffliche Wesenzur Voraussetzung und zeigen so dasjenige auf, wasauf dem Gebiete, auf dem sie sich bewegen, an undfür sich an Ergebnissen folgt, entweder so, daß sie dieNotwendigkeit darin aufzeigen, oder in lockrerer Re-flexion. Es ist deshalb klar, daß sich auf dem Wege

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4247 167Aristoteles: Metaphysik

eines solchen induktiven Verfahrens eine apodiktischeErkenntnis des Wesens und Begriffes nicht erreichenläßt, daß diese vielmehr auf anderem Wege gewonnenwerden muß. Ebensowenig aber vermögen diese Wis-senschaften auszumachen, ob das Gebiet von Objek-ten, auf dem sie sich bewegen, überhaupt existiertoder nicht; denn die Untersuchung darüber, was dieSache ist, entscheidet auch darüber, ob sie ist. Sofernaber auch die Wissenschaft von der Natur von einembestimmten Gebiete des Seienden handelt – sie han-delt nämlich von derjenigen Art der Wesen, die dasPrinzip für Bewegung und Ruhe in sich selbsthaben –, ist sie offenbar eine Wissenschaft wedervom handelnden Leben noch von der hervorbringen-den Tätigkeit. Denn für die hervorbringenden Tätig-keiten liegt das Prinzip in dem hervorbringenden Sub-jekt als dessen Vernunft, Kunstfertigkeit oder beson-dere Begabung; für das handelnde Leben aber liegt esin dem handelnden Subjekt als dessen bewußte Wahl.Denn Gegenstand des Handelns sein und Gegenstandder Wahl sein Ist eines und dasselbe. Wenn daher alledenkende Reflexion entweder das handelnde Lebenoder die hervorbringende Tätigkeit betrifft oder sichin reiner Theorie bewegt, so gehört die Wissenschaftvon der Natur zu den rein theoretischen Wissenschaf-ten; sie ist aber eine Wissenschaft der reinen Theorievon derjenigen Art des Seienden, die das Vermögen

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4248 168Aristoteles: Metaphysik

der Bewegung besitzt, und auch von der begrifflichenWesenheit, aber von dieser nur, sofern sie im allge-meinen nicht getrennt für sich bestehen kann.

Das reine Wesen und den Begriff oder die Weiseseiner Existenz aber unerörtert zu lassen, ist nicht ge-stattet, weil sonst alles Untersuchen zu nichts führenwürde. Was nun begrifflich bestimmt werden soll undwas das Wesen ausmacht, läßt sich teils dem Begriffstumpfnasig, teils dem Begriff hohl vergleichen. DerUnterschied zwischen diesen beiden Begriffen bestehtdarin, daß stumpfnasig die Form in ihrer Verbindungmit der Materie bezeichnet – denn stumpfnasig bedeu-tet die Höhlung an einer Nase –, bei Hohlheit abervon der sinnlich wahrnehmbaren Materie abgesehenwird. Wenn nun alle Dinge in der Natur in ähnlichemSinne genommen werden wie die Stumpfnasigkeit,also z.B. Nase, Auge, Antlitz, Fleisch, Knochen,überhaupt der tierische Organismus, und so auchBlatt, Wurzel, Rinde, überhaupt die Pflanzen – dennder Begriff keines dieser Objekte wird abgetrennt vonder Bewegung gedacht, und die Materie wird immerdabei mitgedacht –, so ergibt sich daraus, in welcherWeise man in der Wissenschaft von der Natur dasWesen erforschen und bestimmen muß, und warum esSache des Naturforschers ist, auch die Seele wenig-stens teilweise in die Untersuchung hineinzuziehen,nämlich soweit als sie nicht ohne den Zusammenhang

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4249 169Aristoteles: Metaphysik

mit der Materie existiert.Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, daß die Na-

turwissenschaft zu den rein theoretischen Wissen-schaften gehört. Dahin gehört aber auch die Mathe-matik. Die Frage dagegen, ob sie eine Wissenschaftdessen ist, was unbewegt und für sich abgetrennt exi-stiert, mag für jetzt noch unerörtert bleiben; nur soviel ist klar, daß sie die mathematischen Gebilde min-destens teilweise als Unbewegtes und für sich ge-trennt Bestehendes betrachtet. Wenn es aber fernersolches gibt, was einerseits ewig und ohne Bewegungist und andererseits als zugleich für sich Abgetrenntesbesteht, so ist offenbar die Erkenntnis solcher Objektezwar Aufgabe der reinen Theorie, aber doch ohne derNaturwissenschaft anzugehören, – denn diese hat zumGegenstande das, was der Bewegung unterworfenist, – und auch ohne der Mathematik anzugehören,sondern einer Wissenschaft, die beiden vorausliegt.Denn die Naturwissenschaft hat zum Objekte dasnicht von der Materie getrennt Bestehende, aber auchnicht Unbewegte, die Mathematik dagegen in einigenihrer Zweige das Unbewegte, aber doch wohl nicht fürsich, sondern irgendwie in der Materie existierende;das Objekt der Grundwissenschaft, des ersten, ober-sten Zweiges der Philosophie, dagegen ist das für sichgetrennt Bestehende und zugleich Unbewegte. Nunsind sämtliche Arten des Grundes notwendig ewig,

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4250 170Aristoteles: Metaphysik

aber vor allem sind es doch die zuletzt genannten.Denn sie sind die Gründe für die göttlichen Wesen,die in sichtbarer Erscheinung existieren, für diehimmlischen Körper.

Es gibt daher drei Zweige der theoretischen Wis-senschaft: Mathematik, Naturwissenschaft und Got-teslehre. Denn das ist unzweifelhaft, daß, wenn ir-gendwo ein Göttliches vorhanden ist, ihm die zuletztbezeichnete Natur eignen muß, und daß die Wissen-schaft vom höchsten Range auch die Gegenständevom höchsten Range zu behandeln hat. Die theoreti-schen Wissenschaften haben den höheren Rang vorden anderen, und unter den theoretischen Wissen-schaften wieder steht diese am höchsten.

Nun könnte wohl jemandem ein Zweifel aufsteigen,ob jene Grundwissenschaft, der oberste Zweig derPhilosophie, von dem Allerallgemeinsten oder selbstwieder von einem bestimmten Gebiete des Seiendenund einer bestimmten Klasse von Gegenständen han-delt. Herrscht doch nicht einmal in den mathemati-schen Wissenschaften allen ein und dasselbe Verhält-nis. Die Geometrie sowohl wie die Astronomie han-deln von einer besonderen Klasse von Gegenständen,während die reine Mathematik das allen Zweigen dermathematischen Wissenschaft Gemeinsame behan-delt. Gäbe es nun keinerlei Wesen außer den in derNatur vorkommenden Gebilden, so würde die Natur-

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4251 171Aristoteles: Metaphysik

wissenschaft die oberste und die Grundwissenschaftheißen dürfen. Gibt es dagegen eine Wesenheit ohneBewegung, so ist sie das Vorgehende, und die Wis-senschaft von ihr die am höchsten stehende, und zwarist sie eben aus dem Grunde, weil sie die oberste ist,auch die allgemeinste, und als die Aufgabe dieserWissenschaft wird zu bezeichnen sein die Betrach-tung des Seienden rein sofern es ist, die Betrachtungseines Wesens und der ihm rein sofern es ist zukom-menden Bestimmungen.

Nun wird allerdings das Sein, welches als das Seinschlechthin bezeichnet wird, in verschiedenen Bedeu-tungen ausgesagt. Die eine dieser Bedeutungen wardie des zufälligen, eine andere die des Seins als desWahren und dem gegenüber des Nichtseins als desFalschen; daneben ferner steht das Sein im Sinne derFormen der Prädizierung, wie der Substanz, der Qua-lität, der Quantität, des Wo und des Wann, und wasetwa noch sonst in dieser Weise als Prädikat dient. Zudem allen kommt dann noch das Sein als potentiellesund als aktuelles Sein.

Wird also das Sein in so vielen Bedeutungen aus-gesagt, so ist zunächst von dem Sein im Sinne desZufälligen zu sagen, daß es von diesem keinerlei wis-senschaftliche Erkenntnis gibt. Man sieht das schondaraus, daß keine Wissenschaft sich damit zu schaf-fen macht, weder die Wissenschaft vom handelnden

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4252 172Aristoteles: Metaphysik

Leben, noch die von der hervorbringenden Tätigkeit,noch die rein theoretische Wissenschaft. Wer einHaus baut, der stellt nicht auch das her, was demHause mit seinem Entstehen alles zufällt; denn dasgeht ins Unendliche. Es hindert nichts, daß das Haus,wenn es einmal hergestellt ist, dem einen erfreulich,dem anderen störend, dem dritten nützlich sei, unddaß es sozusagen ein anderes sei als alle Häuser, diesonst existieren. Mit nichts von alledem hat es dieBaukunst zu tun. Und ganz ebenso macht auch derMathematiker nicht das zum Gegenstande seiner Be-trachtung, was seinen Figuren zufällig zukommt, auchnicht, ob Dreieck und Dreieck mit der Winkelsummegleich 2 Rechten zweierlei ist. Das ist auch wohl be-greiflich. Denn das Zufällige ist gewissermaßen einbloßer Name, eine Scheinexistenz. Plato hat deshalbauch, und in gewissem Sinne gar nicht so übel, derSophistik das Gebiet des Nicht-seienden zugewiesen.Denn die Ausführungen der Sophisten drehen sich imGrunde mehr als um alles andere, um das Zufällige,also um Fragen wie die, ob es zweierlei oder eins unddasselbe sei, ein Kunstkenner und ein Sprachgelehr-ter, der Kunstkenner Koriskos oder Koriskosschlechthin zu sein, ob alles das was ist, aber nichtewig ist, ein Gewordenes sei, ob also, wenn einKunstkenner ein Sprachgelehrter geworden ist, damitauch ein Sprachgelehrter ein Kunstkenner geworden

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4253 173Aristoteles: Metaphysik

ist, und was sonst an Streitfragen von gleichem Tief-sinn von ihnen verhandelt wird. Denn offenbar ist daswas zufällig ist eng verwandt mit dem was nicht ist.Das geht auch aus Erörterungen wie die genanntenhervor. Denn von dem was im anderen Sinne ist gibtes ein Entstehen und Vergehen, aber nicht von demwas zufällig vorkommt. Gleichwohl sind noch einpaar Worte von dem Zufälligen zu sagen, inwiefern esvorkommen kann, was seine Natur und was derGrund seines Vorkommens ist. Daraus wird dannwohl auch das klar werden, warum das Zufällige kei-nen Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis aus-macht.

Unter dem was ist gibt es solches was immer sichin gleicher Weise verhält und was notwendig ist, nichtnotwendig im Sinne des durch äußere Gewalt Er-zwungenen, sondern im Sinne dessen was nicht an-ders sein kann; dann gibt es wieder anderes, was nichtnotwendig und auch nicht immer ist, sondern nur inder Regel vorkommt, in diesem letzteren nun liegt dasPrinzip, in diesem der Grund für das Vorkommen desZufälligen. Eben das nämlich, was weder immer nochin der Regel ist, dieses nennen wir das Zufällige.Wenn z.B. in den Hundstagen Sturm und Frost ein-tritt, so sagen wir, das geschehe zufällig, aber nicht,wenn Glut und Hitze eintritt; denn das letztere ge-schieht immer oder doch in der Regel, das erstere

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4254 174Aristoteles: Metaphysik

nicht. So ist es auch ein Zufall, daß ein Mensch vonbleicher Farbe ist; denn er ist es nicht immer noch inder Regel, aber ein lebendes Wesen ist er nicht durchZufall. Wenn ein Baumeister jemanden gesund macht,so ist das ein Zufall, weil das nicht der Beruf desBaumeisters, sondern des Arztes ist; aber es war einZufall, daß der Baumeister zugleich als Arzt diente.Auch der Koch, dessen Sinnen sonst doch auf denWohlgeschmack der Speisen gerichtet ist, kann wohleinmal auch ein Mittel für die Gesundheit bereiten;dann aber tut er es nicht auf Grund seiner Kochkunst.Darum sagen wir: es hat sich zufällig so getroffen,und es kommt wohl vor, daß er es tut, aber es stammtnicht ohne weiteres aus seiner Kunst.

Für die sonstigen Wirkungen gibt es Ursachen undFähigkeiten, die sie herbeizuführen vermögen; für dasZufällige gibt es keinerlei solche Fertigkeit oder be-stimmtes Vermögen. Was zufällig ist oder geschieht,davon ist auch der Grund ein zufälliger. Da also nichtalles notwendig und immer vorkommt, sowohl daswas ist wie das was geschieht, sondern das meiste nurin der Regel vorkommt, so ist damit notwendig dasZufällige gegeben. So ist ein Mann von bleicherFarbe weder immer noch der Regel nach auch einKunstkenner; kommt es aber einmal vor, so geschiehtes durch Zufall. Wäre dem nicht so, so würde allesnotwendig sein. Und so wird es denn wohl die Mate-

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rie sein, die, indem sie die Möglichkeit der Abwei-chung von der Regel enthält, den Grund des Zufälli-gen bildet. Als den entscheidenden Punkt aber mußman dies ins Auge fassen, ob es nichts gibt, wasweder immer noch regelmäßig ist, oder ob dies ausge-schlossen ist. Nun gibt es in der Tat etwas außer die-sem, nämlich das was sich so oder anders trifft, unddas ist dann durch Zufall.

Aber nun die andere Frage: gibt es zwar solches,was in der Regel vorkommt, aber nichts, dem es zu-käme immer zu sein? Oder gibt es auch Gegenstände,die ewig sind? Davon wird später zu handeln sein.Dagegen ist so viel schon jetzt klar, daß es vom Zu-fälligen eine wissenschaftliche Erkenntnis nicht gibt.Denn alle Wissenschaft ist Wissenschaft von demwas immer oder was in der Regel ist. Wie sollte mansonst etwas lernen, wie einen anderen etwas lehren?Es muß eine feste Bestimmung sein, die gelernt odergelehrt wird, entweder als das was immer, oder alsdas was in der Regel geschieht; z.B. als Regel dies,daß ein Getränk aus Honig und Milch demjenigen,der Fieber hat, heilsam ist. Was gegen die Regel ist,davon wird sich nicht sagen lassen, wann es nicht zu-trifft. Sagt man z.B. bei Neumond trifft es nicht zu,dann bedeutet auch dies »bei Neumond« wieder einimmer oder ein In-der-Regel. Das Zufällige aberdurchbricht jede Regel und läuft nebenher.

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Damit mag die Frage nach dem Zufall und demGrunde seines Vorkommens erledigt und erwiesensein, daß es vom Zufall keine wissenschaftliche Er-kenntnis gibt.

Daß es Ursachen und Gründe gibt, die eintretenund wieder verschwinden, ohne daß ihnen ein eigent-liches Entstehen oder Vergehen zukommt, liegt aufder Hand. Denn wäre dem nicht so, so wäre alles not-wendig, wenn es doch für das, was entsteht und ver-geht, notwendig einen Grund geben muß von nichtbloß zufälliger Art. Fragen wir: wird dieses bestimm-te Ereignis eintreten oder nicht? so ist die Antwortdoch wohl: es wird eintreten, falls ein bestimmtes an-deres eintreten sollte, und nicht, wenn dieses aus-bleibt. Das aber hängt wieder von anderem ab. Sowird es klar, daß man jedesmal, wenn man von einemeingetretenen Ereignis die Zeit nach rückwärts ver-folgt, auf die gegenwärtige Zeit zurückkommen wird.Also dieser Mensch wird sterben, an einer Krankheitoder durch äußere Gewalt, falls er ausgeht; ausgehenaber wird er, wenn er Durst hat; er wird Durst haben,wenn etwas anderes der Fall ist; und so kommt manzuletzt auf die gegenwärtigen Umstände oder aufetwas schon Vergangenes. Z.B. wenn er Durst be-kommt; Durst aber bekommt er, wenn er Gesalzeneszu sich nimmt; dies aber geschieht oder geschiehtnicht, und dementsprechend wird er notwendig ster-

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ben oder er wird nicht sterben. Ganz ebenso, wennman einen Sprung macht nach rückwärts in die Ver-gangenheit; auch so ergibt sich das gleiche Verhält-nis. Nur liegt die Sache, nämlich das vergangene Er-eignis, dann schon als in etwas Gegenwärtigem ent-halten vor. So würde denn alles Zukünftige ein Not-wendiges sein, z.B. daß der jetzt Lebende stirbt; dennes liegt schon ein Vergangenes vor, etwa der Zwie-spalt der Gegensätze in dem einheitlichen Leibe. Ober aber an einer Krankheit oder durch äußere Gewaltsterben wird, ist noch unentschieden; das hängt davonab, daß dieses Bestimmte geschieht.

Offenbar also, daß die Reihe bis auf ein erstesGlied zurückgeht, das nicht wieder auf ein anderes zu-rückgeführt werden kann. Dieses wird also der Aus-gangspunkt sein dafür, daß zufällig das eine und nichtdas andere geschieht, und es wird sich für diese Ursa-che nicht wieder eine andere Ursache angeben lassen.Aber was für ein Anfangsglied und was für eine Ursa-che das ist, bei der die Zurückführung endet, ob manzuletzt auf etwas wie die Materie oder wie der Zweckoder wie die bewegende Ursache kommt, das ist dieentscheidende Frage.

Die Frage nach dem Zufälligen mag damit als hin-länglich erörtert erledigt sein. Was nun weiter dasSeiende als das Wahre und das Nichtseiende als dasFalsche anbetrifft, so handelt es sich hier um Ver-

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knüpfung und Trennung, überhaupt um die Scheidungund das Auseinanderhalten der Glieder des kontradik-torischen Gegensatzes. Denn wahr ist die bejahendeAussage von dem was in Wirklichkeit verbunden istund die verneinende Aussage von dem was in Wirk-lichkeit getrennt ist; das Falsche aber bedeutet den ge-raden Gegensatz zu dieser Unterscheidung. Wie aberdieser Akt des Verbindens und Trennens im Denkensich vollzieht, das ist eine Untersuchung für sich; dasVerbinden und Trennen aber meine ich in dem Sinne,daß nicht eines bloß nach dem andern vorgestellt,sondern eine wirkliche Einheit hergestellt wird. Denndas Falsche und das Wahre liegt nicht in den Dingen,etwa in dem Sinne, daß das Gute von vornherein auchwahr, und das Schlechte von vornherein auch falschwäre, sondern es liegt in der Reflexion, und bei deneinfachen Begriffen und denen, die das Wesen desGegenstandes bezeichnen, kommt es auch in der Re-flexion nicht vor.

Was man also in betreff des in diesem Sinne Seien-den oder Nichtseienden ins Auge zu fassen hat, davonsoll später gehandelt werden. Wir haben gesehen, daßdas Verknüpfen und Trennen der Begriffe der Reflexi-on und nicht den Dingen angehört; das Seiende in die-sem Sinne aber ist ein anderes als das im eigentlichenSinne Seiende, das Reale. Was das reflektierendeDenken einem Begriffe beilegt oder abspricht, das ist

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entweder der Begriff der Substanz oder der der Quali-tät oder der Quantität oder sonst ein anderer. Wirsehen daher hier wie von dem Seienden im Sinne desZufälligen so auch von dem Seienden im Sinne desWahren ab. Denn der Grund von jenem ist ein Unbe-stimmtes, der Grund von diesem ein Vorgang in derReflexion; beide gelten von dem Seienden, wie mandas Seiende auch sonst versteht, und bezeichnennichts, was nicht in der Natur des Seienden auch sonstschon enthalten wäre.

Darum also sehen wir davon ab und treten nunmehran die Frage nach den Gründen und Prinzipien desSeienden selbst heran rein sofern es ist. Aus demaber, was wir in der Abhandlung über die verschiede-nen Bedeutungen einzelner Begriffe ausgeführt haben,ergibt sich, daß man vom Seienden in verschiedenenBedeutungen spricht.

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IV. TeilDas begriffliche Wesen

1. Die Substanz

Unter dem Seienden versteht man, wie wir vorherin unseren Auseinandersetzungen über Vielheit derBedeutungen dargelegt haben, vielerlei. Das Seiendebedeutet nämlich das eine Mal die selbständige Exi-stenz und das bestimmte Einzeldasein, das andereMal die Qualität oder die Quantität oder eine andereder dahin gehörigen Bestimmungen. Unter diesen vie-len Bedeutungen des Seinsbegriffes ist offenbar dieerste und grundlegende die des Was, d.h. des substan-tiellen Wesens. Denn wenn wir aussagen wollen, wel-che Qualität das bestimmte Einzelwesen habe, so nen-nen wir es etwa gut oder schlecht, aber wir bezeich-nen es nicht als drei Fuß hoch und auch nicht alseinen Menschen; wollen wir dagegen das substantielleWesen angeben, so bezeichnen wir es nicht als weißoder als warm oder als drei Fuß hoch, sondern etwaals einen Menschen oder einen Gott. Was sonst alsSein bezeichnet wird, das bedeutet dann, daß es andem in diesem Sinne Seienden als Quantität, als Qua-lität, als Affektion oder sonst etwas dergleichen vor-kommt.

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Darum könnte jemand sich wohl Bedenken darübermachen, ob gehen, gesund sein, sitzen als Aussageüber einen Gegenstand ein Sein oder ein Nichtsein be-deutet, und ebenso bei jeder anderen ähnlichen Be-stimmung. Denn keine einzige dieser Bestimmungenbedeutet ihrer Natur nach ein an sich Seiendes, nochläßt sie sich als etwas von dem substantiellen Wesenabtrennbares Selbständiges aussagen. Vielmehr be-deutet die Aussage jedesmal, daß, wenn irgend etwas,dann jedenfalls dasjenige welches geht, welches sitzt,welches gesund ist, zu den seienden Gegenständen ge-höre; diesen letzteren scheint das Sein in eigentlichemSinne zuzukommen, weil in ihnen ein Substrat vonbestimmter Art gegeben ist. Dies aber ist das substan-tielle Wesen und zwar als Einzelwesen, das in einerderartigen Aussage mitgedacht wird. Denn gut odersitzend sagt man nicht, ohne dieses Substrat mit zubezeichnen, und so hat denn offenbar jede dieser Be-stimmungen ein Sein nur vermittelst jenes Substrates.Dieses ursprünglich Seiende, das nicht als Bestim-mung an einem anderen, sondern schlechthin ist, diesist das substantielle Wesen.

Nun wird ja freilich das Erste und Ursprünglicheselber in verschiedener Bedeutung ausgesagt; indes-sen, das substantielle Wesen ist in jedem Sinne einErstes und Ursprüngliches: dem Begriffe nach, derErkenntnis nach und der Zeit nach. Von dem Ande-

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ren, was ausgesagt wird, ist keines als für sich selbstbestehend aussagbar; beim substantiellen Wesen al-lein und ausschließlich gilt solche Aussage. Sie gilterstens dem Begriffe nach; denn notwendigerweisemuß in jedem einzelnen Begriffe der des substantiel-len Wesens mit enthalten sein. Wir meinen zweitensjegliches dann am besten zu erkennen, wenn wir wis-sen, was es ist, ein Mensch, oder Feuer, viel mehr, alswenn wir nur die Qualität oder die Quantität oder dieOrtsbestimmung kennen; denn auch eine jegliche vondiesen Bestimmungen erkennen wir erst dann, wennwir wissen, was das ist, dem die quantitative oderqualitative Bestimmung zukommt. Und drittens, wasman von je gesucht hat, was man jetzt sucht undimmer suchen wird, das drückt sich in der Frage aus:was ist das Seiende? d.h. was ist das substantielleWesen? Von diesem sagen die einen, es sei eines, dieanderen, es sei eine Vielheit; von den letzteren be-zeichnen es die einen als von begrenzter, die anderenals von unbegrenzter Zahl. Und so wird auch unsereBetrachtung sich am meisten, am ursprünglichstenund eigentlich ganz ausschließlich auf eben dieses zurichten haben, auf das in diesem Sinne Seiende, undauf die Frage, was es ist.

Die Bestimmung als substantielles Wesen kommtnach der gewöhnlichen Vorstellung am augenschein-lichsten dem Körperlichen zu. Man sagt deshalb,

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Tiere, Pflanzen und Glieder seien Substanzen undebenso die körperlichen Elemente in der Natur, wieFeuer, Wasser, Erde und jegliches derartige, sowiealles was Teil dieser Dinge oder aus ihnen zusammen-gesetzt ist, aus einigen von ihnen oder aus allen zu-sammen, wie der Himmel und seine Teile, Sonne,Mond und Sterne. Ob diese nun die einzigen Substan-zen sind oder ob es außerdem noch andere gibt, oderob keines von diesen, dagegen manches andere Sub-stanz ist, das ist die Frage.

Manche halten dafür, das was die Körper begrenzt,wie Fläche, Linie, Punkt, Einheit, das seien Substan-zen, und sie seien es in eigentlicherem Sinne als diekörperlichen und ausgedehnten Dinge. Manche wie-der meinen, es gebe nichts Substantielles außer demsinnlich Wahrnehmbaren; andere dagegen, es gebenoch weitere Arten von Seiendem, Seiendes in höhe-rem Sinne, das ewig sei. So bezeichnet Plato dieIdeen und die mathematischen Objekte als zwei Artenvon Substanzen und erst als eine dritte Art die sinn-lich wahrnehmbaren körperlichen Dinge. Auch Speu-sippos kennt mehrere Arten von Substanzen; er gehtvon der Einheit aus und weist einer jeden Art vonSubstanzen ihr besonderes Prinzip zu, ein Prinzip fürdie Zahlen, ein anderes für die ausgedehnten Größen,sodann eines für die Seele; auf diese Weise erweiterter den Begriff der Substanz. Manche wieder lehren,

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die Ideen und die Zahlen hätten die gleiche Natur, unddaran schließe sich das übrige, Linien und Flächen,bis zu der Substanz des Himmels und zu den sinnli-chen Dingen. Da gilt es nun zu untersuchen, welchedieser Ansichten zutreffend ist, welche nicht. DieFrage ist: was ist Substanz? gibt es Substanzen außerden sinnlich wahrnehmbaren Dingen oder nicht? wieverhalten sich diese Substanzen? gibt es eine für sichabgetrennt bestehende Substanz? und aus welchemGrunde, in welchem Sinne? oder gibt es keine selb-ständige Existenz außer den sinnlich wahrnehmbarenDingen? Dazu aber muß zuvörderst in einigen Grund-zügen dargelegt werden, was den Begriff der Sub-stanz ausmacht.

Das Wort Substanz wird, wenn nicht in noch mehr,so doch jedenfalls in vier verschiedenen Bedeutungengebraucht. Als das, was die Substanz eines jeglichenObjekts ausmacht, gilt das begriffliche Wesen, dasAllgemeine und die Gattung; dazu kommt als vierteBedeutung die des Substrats hinzu. Substrat aber istdas, wovon das andere ausgesagt wird, während esselbst nicht wieder von einem anderen ausgesagtwird. Wir müssen deshalb über dieses Letztere zu-nächst zu festen Bestimmungen zu gelangen suchen.Denn am geläufigsten schwebt den Menschen als dasUrsprüngliche mit der Bedeutung der Substanz dasSubstrat vor.

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Als solches Substrat bezeichnet man in dem einenSinne die Materie, in anderem Sinne die Form, unddrittens wieder das, wozu sich diese beiden vereini-gen. Was ich mit der Materie meine ist etwa das Erz;die Form ist dann der Umriß, die Gestalt; und dieBildsäule als ein Ganzes ist das, wozu beide sich ver-einigen. Falls also die Form der Materie gegenüberdas ursprünglicher und eigentlicher Seiende ist, sowird sie aus demselben Grunde auch ursprünglichersein als das, wozu sich beide verbinden.

Wir haben damit angedeutet, was Substanz ist,nämlich das, was nicht an einem Substrat haftet, son-dern woran anderes haftet. Indessen damit kann mansich doch keineswegs begnügen; die Bestimmung er-schöpft die Sache nicht. Abgesehen von der Unbe-stimmtheit darin, würde damit auch die Materie zurSubstanz erhoben. Denn ist sie nicht Substanz, soläßt sich nicht sagen, was sonst Substanz sein soll.Wird das andere ausgeschlossen, so sieht man nicht,was dann noch übrig bleibt. Dieses andere sind dieZustände, die Tätigkeiten und Vermögen der Körper;ebenso sind Länge, Breite, Tiefe quantitative Bestim-mungen an ihnen; dies alles aber sind keine Substan-zen. Das Quantitative ist keine Substanz; sondern dasUrsprüngliche, an dem es als Bestimmung ist, das istdie Substanz. Nehmen wir aber Länge, Breite, Tiefehinweg, so sehen wir nichts was übrig bliebe, es sei

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denn das, was durch jene begrenzt wird, wenn es der-gleichen gibt. Und so ergibt sich, daß bei solcher Be-trachtungsweise notwendig die Materie als alleinigeSubstanz erscheinen muß.

Wenn ich aber von Materie rede, meine ich das,was weder an sich ein Bestimmtes, noch mit einerQuantität oder mit sonst einem derjenigen Prädikateausgestattet ist, die dem Seienden seine Bestimmtheitverleihen. Denn es existiert etwas, wovon jede dieserBestimmungen ausgesagt wird, aber dessen Sein vondem Sein jeder dieser Aussageformen verschieden ist.Das übrige wird von der Substanz, diese wird von derMaterie ausgesagt; mithin wäre das letzte an sich Sei-ende weder etwas Bestimmtes noch mit bestimmterQuantität noch mit sonst irgend einer Bestimmtheitund ebensowenig mit der Negation dieser Bestimmun-gen ausgestattet; denn auch diese ist dem Substrat ge-genüber nur etwas an ihm Vorkommendes.

Betrachtet man die Sache unter diesem Gesichts-punkt, so ergibt sich der Satz, daß die Materie Sub-stanz ist. Das aber ist unmöglich. Denn bei demWorte Substanz denkt man vor allem an ein für sichselbständiges Sein und an bestimmte Einzelexistenz.Es liegt deshalb viel näher anzunehmen, daß die Formund daß das, wozu beides, Form und Materie, sichvereinigen, in höherem Sinne Substanz sei als dieMaterie.

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Von der Substanz nun im Sinne dessen, was beidesin sich vereinigt, also von dem was aus Materie undForm besteht, dürfen wir hier absehen. Dies ist dasAbgeleitete und Allbekannte. Leicht verständlich istandererseits in gewissem Maße auch der Begriff derMaterie. Dagegen den dritten Begriff müssen wir un-tersuchen; denn dieser bietet die größten Schwierig-keiten.

Daß es Substanzen von sinnlich wahrnehmbarerArt gibt, darüber herrscht allgemeine Übereinstim-mung; unter diesen also müssen wir uns zuerst umse-hen. Denn es ist zweckdienlich, von hier auszugeben,um zu dem zu gelangen, was in höherem Grade er-kennbar ist. So vollzieht sich ja überall der Fortschrittin der Erkenntnis, daß man von dem was seiner Naturnach weniger erkennbar ist weitergeht zu dem in hö-herem Grade Erkennbaren. Und wie es in Fragen despraktischen Lebens die Aufgabe ist, von dem, wasdem einzelnen als das Gute gilt, auszugeben und sodas schlechthin Gute jedem einzelnen als das für ihnGute ans Herz zu legen, so ist hier die Aufgabe, vondem was jedem das leichter Erkennbare ist auszuge-hen und so das von Natur Erkennbare zu dem für ihnErkennbaren zu machen. Freilich, das, was jedem ein-zelnen das für ihn Erkennbare und Nächstliegende ist,das ist oftmals das was an sich wenig erkennbar ist,was nur geringen oder gar keinen Seinsinhalt hat.

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Gleichwohl muß man versuchen, von dem was nurdunkel bekannt, für den einzelnen aber das ihm Ge-läufige ist, auszugehen und so das schlechthin Er-kennbare erkennbar zu machen, indem man so, wiewir es bezeichnet haben, von jenem zu diesem fort-schreitet.

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2. Der Wesensbegriff der Substanz und desAkzidentellen

Als wir im Eingang die verschiedenen Bedeutungender Substanz unterschieden, stellte sich uns als dieeine dieser Bedeutungen das begriffliche Wesen dar.Dieses müssen wir nun näher ins Auge fassen. Zuerstalso wollen wir davon eine ganz allgemeine Bestim-mung geben, nämlich die, daß das begriffliche Wesenfür jeden Gegenstand das ist, was als das Ansich des-selben bezeichnet wird. So bedeutet der Wesensbe-griff einer Person nicht das Kunstverständig-sein;denn kunstversändig ist man nicht seinem an sich sei-enden Wesen nach. Das was einer an sich ist, das alsoist sein begriffliches Wesen. Indessen doch nichtalles, was »an sich« heißt. Nicht das Ansich von derArt, wie es bei der Fläche vorkommt, die »an sich«etwas Weißes ist, während der Körper weiß nur durchdie Fläche ist; denn Fläche-sein ist nicht Weiß-sein.Aber auch die Vereinigung beider Bestimmungen, derBegriff »weiße Fläche«, ist nicht der Wesensbegriffder Fläche. Und weshalb nicht? Weil hier in der Be-stimmung das zu Bestimmende selbst enthalten ist.Ein begrifflicher Ausdruck für das Objekt also, indem das zu bestimmende Objekt nicht selbst enthaltenist, das ist für jedes Objekt der Ausdruck seines We-

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sensbegriffes. Und auch wenn der Begriff der weißenFläche so erklärt wird: sie sei die ebene Fläche, sowürde das nur das eine bedeuten, daß Weiß-sein undEben-sein ein und derselbe Begriff ist.

Nun gibt es solche Verbindung von Subjekt undPrädikat auch im Sinne der anderen Kategorien; denneine jede derselben, Qualität und Quantität, Zeit, Ortund Bewegung, erfordert ein Substrat. Da ist nun dieFrage, ob es für jede solche Verbindung einen Aus-druck des Wesensbegriffes gibt, und ob auch ihnenein begriffliches Wesen zugrunde liegt, z.B. für denblassen Menschen ein Wesensbegriff des Blasser-Mensch-seins. Gesetzt, es gäbe für »blasser Mensch«einen einfachen Ausdruck, etwa das Wort »Gewand«.Was bedeutet dann das »Gewand-sein«? Zu dem, wasals An-sich-seiendes ausgesagt wird, gehört dochgewiß auch dies nicht. Indessen man versteht aller-dings unter dem Nicht-an-sich-Sein ein Zweifaches:erstens ist etwas nicht an sich, weil es an einem Sub-strat Akzidens ist, zweitens aber auch, ohne daß diesder Fall ist. Das eine Mal nämlich heißt etwas nichtan sich seiend, sofern es einem andern anhaftet, wasdadurch näher bestimmt wird; das wäre z.B. der Fall,wo jemand den Begriff des Blaß-seins als »blasserMensch« definieren wollte. Das andere Mal heißtetwas ein nicht an sich Seiendes, sofern im Gegenteilein anderes ihm anhaftet; so wäre es z.B., wenn je-

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mand »Gewand«, das statt »blasser Mensch« gesetztist, als das Blasse definieren wollte. Ein blasserMensch ist freilich etwas Blasses; aber er ist dochnicht das begriffliche Wesen des Blaß-seins selber.

So bleibt die Frage: bedeutet das »Gewand-sein«ein begriffliches Wesen? bedeutet es dies schlechthin?Doch wohl nicht. Denn das begriffliche Wesen erfor-dert bestimmtes einzelnes Sein; wo aber das eine vondem anderen ausgesagt wird, da haben wir es nichtmit bestimmtem einzelnem Sein zu tun. So ist derblasse Mensch nicht bestimmtes einzelnes Sein, wenndoch solche bestimmte Einzelheit nur dem zukommt,was selbständig für sich besteht. Mithin ist das be-griffliche Wesen jedesmal nur für das gegeben, wofürder Ausdruck die Bedeutung einer Definition hat.

Eine Definition aber ist nicht schon jedesmal gege-ben, wo die Bezeichnung und der Begriff zusammen-fällt; sonst müßten alle Bezeichnungen auch Defini-tionen sein. Denn einen Ausdruck gibt es für jedenBegriff, und so würde denn auch das Wort »Ilias«eine Definition bedeuten. Sondern eine Definition isterst da gegeben, wo ein Ursprünglichstes bezeichnetwird; das aber findet nur da statt, wo die Aussagenicht so geschieht, daß bloß eines als Bestimmung aneinem anderen ausgesagt wird.

Demnach ist das begriffliche Wesen für keinen Ge-genstand in anderer Weise vorhanden als so, daß eine

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Art der betreffenden Gattung untergeordnet wird.Denn da liegt offenbar ein ganz anderes Verhältnisvor als das des bloßen Teilhabens an dem anderenoder des Zustandes eines anderen, und es wird dabeiauch nicht eines als bloße Bestimmung von einem an-deren ausgesagt. Allerdings gibt es von jedem Gegen-stande, wie von allem anderen, sofern es dafür über-haupt einen Ausdruck gibt, auch eine Aussage überdas Wesen: daß dieses Prädikat diesem Subjekt zu-kommt, oder auch statt der einfachen Bezeichnungeine eingehendere Beschreibung. Aber das ist nochkeine Definition und bezeichnet auch nicht das be-griffliche Wesen.

Nun spricht man freilich auch von der Definitionebenso wie von dem Wesen eines Gegenstandes inmehrfacher Bedeutung. Das Wesen bedeutet in demeinen Sinne die Substanz und das Einzeldasein, imanderen Sinne jede andere Art von Aussage: Qualitätund Quantität und was es sonst dergleichen gibt.Denn wie das Sein allem zukommt, aber nicht allemin gleichem Sinne, sondern dem einen in ursprüngli-cher, dem anderen in abgeleiteter Weise, so kommtauch das Wesen der Substanz schlechthin zu, unddem anderen nur in bedingtem Sinne. Denn auch vonder Qualität läßt sich das Wesen angeben; also istauch die Qualität eine Wesensart, wenn auch nichtschlechthin. Es ist damit gerade wie mit dem Nicht-

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seienden. Wie in bezug auf das Nichtseiende manchedem Wortausdruck sich anschließend sagen, auch dasNichtseiende »sei«, wenn auch nicht schlechthin, son-dern es sei als Nichtseiendes, so ist es auch mit derQualität. Gewiß nun muß man auch das wohl imAuge behalten, wie man sich über jedes auszudrückenhat, aber sicherlich mindestens ebenso sehr, wie sichdie Sache wirklich verhält.

Soweit wird die Sache durch unsere Erörterung klargelegt worden sein. Wir können nun das Ergebnis soausdrücken: auch das begriffliche Wesen kommt ur-sprünglich und schlechthin nur der Substanz zu, wei-ter aber auch dem was nicht Substanz ist, und dasgleiche gilt von der Wesensbestimmtheit, die nichtdas begriffliche Wesen schlechthin, sondern das be-griffliche Wesen der Qualität oder der Quantität be-deutet. Denn ein Sein muß man diesen Wesensbestim-mungen jedenfalls zuschreiben, entweder so, daß bloßdas Wort Sein dabei dasselbe bleibt und seine Bedeu-tung wechselt, oder so, daß noch ein Prädikat für dasSein hinzugefügt oder abgelehnt wird, etwa in demSinne, wie auch das Nicht-Erkennbare ein Erkennba-res ist. Das Richtige allerdings ist weder, daß bloßdas Wort das gleiche ist, noch die Bedeutung völligdie gleiche ist, sondern ein Verhältnis, wie es etwa imSprachgebrauche beim Worte »medizinisch« vorliegt.Das Wort wird zwar immer in bezug auf eines und

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dasselbe verwandt, ohne doch immer eines und das-selbe zu bedeuten, aber keineswegs so, als wäre bloßdas Wort dasselbe. So gebraucht man das Wort »me-dizinisch« vom Körper, von der Operation und vomGeräte; dabei ist doch nicht bloß das Wort das glei-che, auch die Bedeutung nicht eine völlig überein-stimmende, sondern nur die Beziehung auf eines unddasselbe bleibt die gleiche.

Indessen, ob einer vorzieht sich darüber so oder soauszudrücken, darauf kommt nichts an. So viel ist of-fenbar, daß die Definition im ursprünglichen Sinne,die Definition schlechthin und das begriffliche Wesennur dem selbständig Bestehenden gilt, und sofern esauch dem andern gilt, dann doch nicht in ursprüngli-chem Sinne. Denn es ist keine Notwendigkeit, wennwir dies zugeben, daß eine Definition jedesmal davorliege, wo die Bezeichnung mit dem Begriffe zu-sammenfällt; es kommt auf die bestimmte Art der Be-zeichnung an. Sie liegt nur dann vor, wenn die Be-zeichnung eine innere Einheit und nicht bloß einenäußeren Zusammenhang, wie er etwa in der Ilias vor-handen ist, oder eine äußere Verbindung betrifft, son-dern die Einheit in einer der Bedeutungen, die diesesWort da hat, wo man es in strengem Sinne nimmt.Das Wort Eins aber wird gebraucht wie das Wort Sei-endes. Das Seiende bezeichnet einmal das konkreteEinzelwesen, das andere Mal die Quantität und dann

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wieder die Qualität. Insofern gibt es denn auch einenBegriff und eine Definition vom blassen Menschenund vom Blassen, aber in anderem Sinne als von demselbständig bestehenden Gegenstand.

Wenn man nun aber die Erklärung eines Akzidens,das der Substanz beigelegt wird, nicht will als Defini-tion gelten lassen, so erhebt sich in bezug auf die Ge-genstände, die überhaupt nicht einfach, sondern un-trennbar mit anderen verbunden sind, die Frage, fürwelche von diesen es wohl eine Definition gibt. Dennhier kann die Begriffsbestimmung gar nicht anders alsdurch solche Beilegung vollzogen werden. Als Bei-spiel diene eine Nase und die Nasenhöhle, und dieStumpfnase als das, worin beides mitgesetzt ist. Hierist das eine an dem anderen, und zwar ist die Hohlheitoder die Stumpfheit eine Eigenschaft der Nase nichtals ein äußerlich Hinzukommendes, sondern sie ist esan und für sich, ihrem Begriffe nach, also nicht so wiedas Prädikat »blaß« dem Kallias oder wie es »einemMenschen« deshalb zukommt, weil Kallias, dem dasMenschsein zugefallen ist, blaß ist, sondern wie»männlich« sich zu Tier, »gleichgroß« sich zu Quan-tität verhält, überhaupt wie alles das, was man als anund für sich einem anderen zukommend bezeichnet.Dahin gehört alles, was den Begriff oder die Wortbe-zeichnung für den Begriff schon in sich schließt, des-sen Bestimmung es ist, und was sich gar nicht ge-

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trennt von diesem verstehen läßt. So kann das Blaß-sein wohl ohne das Mensch-sein verstanden werden,nicht aber das Weiblich-sein ohne das. Tier-sein. Vonderartigem nun gibt es entweder überhaupt keinenWesensbegriff und keine Definition, oder wenn doch,dann gibt es sie wie oben auseinandergesetzt, in ande-rem Sinne.

Nun erhebt sich aber über denselben Gegenstandeine weitere Frage. Gesetzt nämlich, eine stumpfeNase und eine hohle Nase sei ein und dasselbe, dannist auch Stumpfsein und Hohlsein dasselbe. Ist diesaber nicht der Fall, dann darf man, weil es unmöglichist, das Stumpfnasige zu bezeichnen, dessen Bestim-mung es an und für sich ist – denn stumpfnasig heißteine Art des Hohlseins an der Nase –, die Nase nichtstumpfnasig nennen, oder wenn man sie doch sonennt, so verdoppelt man nur die Bezeichnung: einehohlnasige Nase; denn die stumpfe Nase bedeutetdann eine Nase, welche hohlnasig ist. Daraus ergibtsich, daß es zum Widersinn führt, wenn man derglei-chen Dingen einen Wesensbegriff zuschreibt; dennman verfiele damit in den Fortgang ins Unendliche,weil der stumpfnasigen Nase wieder die Nase miteinem anderen Zusatze als Prädikat beigelegt werdenmüßte.

Man sieht also: es gibt eine Definition nur von demwas selbständiges Wesen ist. Denn gibt es eine Defi-

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nition auch von dem anderen, was von dem selbstän-digen Wesen ausgesagt wird, so muß es notwendigauf Grund dessen geschehen, daß dieses andere demselbständig Bestehenden beigelegt wird. So ist es derFall, wenn man das Gerade und Ungerade definierenwollte. Denn das ist nicht ohne den Zahlbegriff mög-lich, und gerade so wie das Weibliche nicht ohne denBegriff des Tiers. Daß man etwas definiert als zueinem anderen als Prädikat Gehörendes, darunter sinddie Fälle zu verstehen, wo es einem geschieht, daßman dasselbe zweimal setzt, wie in den obigen Bei-spielen. Ist das aber ausgemacht, so gibt es auchkeine Definition von Begriffen, die notwendig mit an-deren verbunden sind, z.B. von der ungeraden Zahl.Versucht man sie dennoch, so kommt es bloß nichtzum Bewußtsein, daß solche Erklärungen keine strengbegrifflichen sind. Gibt es also Definitionen auch fürdiese Gegenstände, so gibt es sie in anderem Sinne alssonst, oder es gibt sie so, wie wir oben dargelegthaben, daß Definition und Wesensbegriff in engeremund in weiterem Sinne gebraucht werden. Es kannalso außer für die Substanzen für nichts eine Definiti-on in strengem Sinne geben und für nichts ein We-sensbegriff vorhanden sein; gibt es Definition undWesensbegriff auch für anderes, was nicht selbständi-ges Wesen ist, so hat es hier einen anderen Sinn.

Unser Ergebnis ist also dies, daß die Definition die

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Bezeichnung des begrifflichen Wesens ist, und daßdas begriffliche Wesen entweder allein dem zukommt,was selbständiges Wesen ist, oder daß es doch nurdiesem in eigentlichem Sinne, ursprünglich undschlechthin zukommt.

Weiter gilt es nun zu untersuchen, ob begrifflichesWesen und reale Einzelexistenz dasselbe oder zweier-lei bedeutet, ein Punkt, der für die Frage nach demwahrem Wesen von entscheidender Bedeutung ist.Denn gemeinhin meint man, Einzelexistenz sei nichtsanderes als das ihr eigene substantielle Wesen, unddas begriffliche Wesen wird mit der Substanz desEinzelwesens identifiziert.

Bei dem nun, was als bloß zufallende Bestimmungausgesagt wird, wird man es doch wohl gelten lassen,daß der Wesensbegriff etwas anderes sei als das Dingselber. Ein blasser Mensch z.B. ist etwas anderes alsder Begriff »blasser Mensch«. Denn gesetzt, beideswäre identisch, so würde auch der Begriff »Mensch«und der Begriff »blasser Mensch« Identisch sein. Daßein Mensch von blasser Farbe jedenfalls ein Menschist, das erkennen alle an. Fällt nun Mensch und Be-griff des Menschen zusammen, so fällt auch blasserMensch und Begriff des Menschen zusammen; undwenn nun blasser Mensch und Begriff des blassenMenschen auch eines und dasselbe wäre, so wäreauch der Begriff des Menschen identisch mit dem Be-

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griff des blassen Menschen.Hier könnte man einwenden: der Schluß, daß das,

was zufallende Bestimmtheit ist, mit dem Wesensbe-griffe zusammenfalle, ist nicht bündig; denn die Ter-mini des Schlusses werden aus dem Grunde nichtidentisch, weil der eine als Substanz, der andere alsAkzidens gemeint ist. Danach aber könnte es dannden Anschein gewinnen, als ergäbe sich die Identitätfür die Termini des Schlusses eher dann, wenn siebeide bloß akzidentielle Bestimmungen wären, wiez.B. blaß sein und kunstverständig sein. Aber auchfür diese wird niemand den Schluß gelten lassen.

Ist nun aber die Identität des Realen mit seinemBegriff notwendig bei dem vorhanden, was als an sichseiend bezeichnet wird? So wenn wir annehmen, daßes Wesenheiten gibt, die allen anderen Wesenheitenund natürlichen Gebilden vorausgehen, Wesenheitenalso wie die, die von manchen Denkern unter demNamen Ideen gesetzt werden. Danach wäre das Gutean sich verschieden von dem existierenden Guten, dasTier an sich verschieden von dem existierenden Tier,das Seiende überhaupt verschieden von der realenExistenz, und es müßten also außer den gegebenenandere Wesenheiten, Gebilde und Ideen angenommenwerden, die als die ursprünglichen Substanzen zu gel-ten hätten, wenn doch der Wesensbegriff eine Sub-stanz sein soll. Setzt man nun diese Ideen als von dem

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4280 200Aristoteles: Metaphysik

Realen getrennt – und ich verstehe unter diesem Ab-trennen eben dies, daß dem Guten an sich nicht dasexistierende Gute und dem existierenden Guten nichtdas Gute an sich innewohnt –, so gibt es von demeinen, dem Realen, keine Erkenntnis, und das andere,die Ideen, zählt nicht zu dem Seienden. Denn eine Er-kenntnis des Realen haben wir dann, wenn wir seinenWesensbegriff gefunden haben, und das gilt für dasGute und ebenso für alles andere in gleicher Weise.Wenn daher der Wesensbegriff des Guten nicht einGutes ist, dann ist auch der Wesensbegriff des Seien-den nicht ein Seiendes und der Wesensbegriff desEins nicht ein Eines, und ebenso wird das Sein jedemWesensbegriff oder keinem zukommen. Wenn abernicht einmal der Wesensbegriff des Seienden ein Sei-endes ist, so ist auch kein anderer Wesensbegriff einSeiendes.

Außerdem, was nicht den Begriff des Guten in sichträgt, das ist auch kein Gutes. Es muß also notwendigdas Gute und der Begriff des Guten, das Schöne undder Begriff des Schönen eine Einheit bilden, über-haupt alles was nicht von einem anderen ausgesagtwird, sondern an sich seiend und ursprünglich heißt.Es reicht auch völlig aus, wenn nur solches an sichSeiendes vorhanden ist, auch ohne daß man Ideen an-zunehmen braucht, und gibt es Ideen, so gilt dasselbevielleicht in noch höherem Grade.

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4281 201Aristoteles: Metaphysik

Zugleich aber leuchtet es ein, daß, wenn die Ideen,wie manche sie setzen, wirklich existieren, das Sub-strat des Realen nichts Substantielles sein kann. Denndie Ideen sind notwendig Substanzen, also nicht aneinem Substrat; wäre aber das Substrat des RealenSubstanz, dann müßten die Ideen durch Teilnahme andem Substrat existieren.

Aus allen diesen Erwägungen ergibt sich, daß daseinzelne an sich mit seinem Wesensbegriff eines unddasselbe ist, wo es sich nicht um Akzidentielles han-delt, schon weil das Einzelwesen erkennen eben diesheißt, seinen Wesensbegriff erkennen, daß mithinbeide notwendig ein Einiges sind, auch wenn man sieim Gedanken auseinanderhält. Was dagegen das alsakzidentelle Bestimmung Ausgesagte betrifft, wie»kunstverständig« oder »blaß«, so trifft hier die Aus-sage, daß Wesensbegriff und Gegenstand identischsei, wegen der Doppelsinnigkeit nicht zu. Blaß näm-lich ist erstens der Gegenstand, dem diese Bestim-mung zukommt; »blaß« ist aber auch die akzidentelleBestimmung selbst; und darum ist Wesensbegriff undGegenstand wohl in der einen Hinsicht Identisch, aberin der anderen Hinsicht sind sie es nicht. Denn derBegriff des Menschen und der Begriff des Menschenvon blasser Farbe ist nicht identisch, aber wohl sindsie darin identisch, daß der Mensch die Bestimmung»von blasser Farbe« erhält. Die Absurdität, die darin

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4282 202Aristoteles: Metaphysik

liegt, daß man Begriff und an sich Seiendes trennt,würde auch so zur Erscheinung kommen, wenn manfür jeden Wesensbegriff einen besonderen Ausdruckeinsetzen wollte. Denn das würde außer und nebendemselben wieder einen anderen Wesensbegriff undeinen anderen Ausdruck erfordern; z.B. für den We-sensbegriff des Pferdes wieder einen anderen Wesens-begriff. Und dem gegenüber, was hindert denn eigent-lich, jetzt auf der Stelle und von vornherein den We-sensbegriff als identisch mit dem Gegenstande zu fas-sen, wenn doch der Wesensbegriff etwas Substantiel-les ist? Aber in Wahrheit, nicht bloß eines ist der We-sensbegriff und der Gegenstand, sondern auch der Ge-danke derselben ist identisch, wie aus unseren Aus-führungen hervorgeht. Denn nicht bloß in akzidentel-ler Weise ist es eins, der Begriff des Eins-seins unddas Eins. Außerdem, wären sie verschieden, so gerieteman in den Fortgang ins Unendliche. Denn das einewäre der Wesensbegriff des Eins, das andere wäre dasEins selber, und von diesem würde wieder dieselbeAussage gelten und so fort. Daß also bei den ur-sprünglichen, den als an sich seiend geltenden Gegen-ständen der Begriff des Gegenstandes und der Gegen-stand eines und dasselbe ist, ist damit ein ausgemach-ter Satz. Die sophistischen Widerlegungen dieses Sat-zes lassen offenbar dieselbe Lösung zu, wie dieFrage, ob Sokrates und der Begriff des Sokrates das-

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selbe ist. Denn an welche Beispiele die Frage, oder anwelche die Lösung zufällig anknüpft, das macht fürdie Sache gar keinen Unterschied.

Die Frage, in welchem Sinne Einzelgegenstand undWesensbegriff identisch, in welchem Sinne sie nichtidentisch sind, ist damit beantwortet.

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4284 204Aristoteles: Metaphysik

3. Das Werden

Wir kommen nunmehr zum Begriff des Werdens.Alles Geschehen wird gewirkt teils von Natur, teilsdurch Kunst, teils von Ohngefähr. Was aber wird, daswird alles durch etwas, aus etwas und zu etwas. Zuetwas meine ich im Sinne jeder Kategorie: Substanz,Quantität, Qualität, Ort. Natürlich heißt dasjenigeGeschehen, wo sich ein Entstehen aus der Natur her-aus vollzieht. Dabei ist das, woraus etwas wird, daswas wir Materie nennen; das, wodurch etwas wird, istirgend ein von Natur Gegebenes; das, wozu etwaswird, ist ein Mensch, eine Pflanze oder sonst etwasderartiges, was man vorzugsweise als selbständigeWesen bezeichnet.

Alles was wird, sei es durch Natur oder durchKunst, hat eine Materie. Denn jegliches hat die Mög-lichkeit zu sein und nicht zu sein, und das ist für jegli-ches seine Materie. Allgemein aber gehört das, wor-aus, und das, wozu etwas wird, der Natur an. Dennwas wird, das hat seine bestimmte Natur, wie einePflanze oder ein Tier, und das wodurch etwas wird,ist das gattungsmäßige, dem Werdenden gleichartigeNaturgebilde, das in einem anderen Exemplar voraus-gegeben ist. So ist es ein Mensch, der einen Men-schen erzeugt.

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4285 205Aristoteles: Metaphysik

Auf diese Weise entsteht, was durch die Natur ent-steht; die anderen Entstehungsweisen nennen wirkünstliche Hervorbringungen. Alles Hervorbringenaber geschieht durch instinktive Geschicklichkeit oderdurch innere Anlage oder durch Überlegung. Mitunterfreilich geschieht es auch durch das Ohngefähr undden Zufall, und dann geht es ganz ähnlich zu, wie beidem was die Natur erzeugt. Denn auch hier entstehtzuweilen ebendasselbe, was sonst aus einem Samenwird, ein anderes Mal ohne Samen. Davon soll späterdie Rede sein. Durch Kunst aber entsteht alles das,wovon die Form zuvor im Geiste ist. Unter der Formaber verstehe ich das begriffliche Wesen und die ur-sprüngliche Substanz. In diesem Sinne hat das eineund auch sein Gegenteil gewissermaßen eine und die-selbe Form. Das Wesen des Positiven macht auch dasWesen dessen aus, was dem Positiven als die Privati-on gegenübersteht. So ist in Gesundheit und Krank-heit das Wesen dasselbe; denn darin, daß die Gesund-heit nicht da ist, zeigt sich die Krankheit. Die Ge-sundheit aber ist der Begriff, der im Geiste und in derErkenntnis vorhanden ist.

Die Gesundheit also wird hergestellt durch dasNachdenken des Arztes in folgender Weise: Da diesesBestimmte Gesundheit ist, so muß, wenn jemand ge-sund werden soll, dieses Bestimmte, etwa das rechteEbenmaß, und behufs dessen die nötige Wärme vor-

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4286 206Aristoteles: Metaphysik

handen sein, und so geht der Gedanke immer weiter,bis man zu einer letzten Bedingung gelangt, die manselber herzustellen vermag. Die von diesem Punkteausgehende Bewegung, die zur Gesundheit hinführt,wird dann ein Hervorbringen genannt. So ergibt sich,daß in gewissem Sinne die Gesundheit aus der Ge-sundheit wird, das Haus aus einem Hause, das materi-elle Haus aus einem immateriellen. Denn die Kunstdes Arztes und die Kunst des Baumeisters ist dieForm der Gesundheit dort, des Hauses hier.

Das immaterielle Wesen nenne ich den Wesensbe-griff. Das Geschehen und die Bewegung heißt daseine Mal Denken, das andere Mal Hervorbringen, undzwar Denken, wenn es von dem Prinzip und von derForm ausgeht. Hervorbringen, wenn es von dem aus-geht, was im Denken den Abschluß bildet. Ebensovollzieht sich auch jedes der Mittelglieder. Z.B. solljemand gesund werden, so muß das rechte Ebenmaßhergestellt werden; was heißt nun Ebenmaß? Diesesbestimmte. Dies wird eintreten durch Erwärmung.Was ist dies? Dieses andere bestimmte. Dieses herzu-stellen ist das Vermögen vorhanden, und es ist in un-serer Macht. Dasjenige also, welches das bewirkt,was für die Bewegung zur Gesundheit hin den Aus-gangspunkt bildet, ist, wenn es die Kunst macht, dieim Geiste vorhandene Form; wenn es das Ohngefährmacht, so geht es von dem aus, was auch für das

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4287 207Aristoteles: Metaphysik

kunstmäßige Verfahren den Ausgangspunkt bildet. Soist der Ausgangspunkt für den Heilungsprozeß etwadie Erwärmung, und diese wird durch Reibung herge-stellt. Die Eigenwärme des Leibes ist demnach selbstein Element der Gesundung, oder sie hat etwas zurunmittelbaren Folge, was ein Element der Gesundungbildet, oder auch es geht noch durch mehr Zwischen-glieder hindurch. Dieses letzte Glied ist das, was dasElement der Gesundung bewirkt, und das, was in die-sem Sinne Element der Gesundung ist, ist die Materieder Gesundheit. Ebenso sind die Steine die Materiedes Hauses, und ähnlich ist es in anderen Fällen. Des-halb ist es, wie man zu sagen pflegt, unmöglich, daßetwas werde, wo nicht schon etwas vorhanden ist.

Offenbar also muß ein Element der Sache notwen-dig bereits vorhanden sein; solches Element ist dieMaterie. Sie ist in dem Entstehenden, und sie ist es,an der das Werden sich vollzieht. Und so ist es auchbei den Objekten von begrifflicher Art. Denn wirreden in zweifacher Bedeutung davon, was ein eher-ner Kreis ist. Wir sagen, die Materie sei das Erz, undwir sagen ferner, die Form sei diese bestimmte Ge-stalt; diese aber ist die Gattung als das Ursprüngliche,worunter das Objekt gestellt wird. Und so hat dennder eherne Kreis seine Materie andererseits an seinemBegriffe.

Dasjenige nun, woraus etwas als aus seiner Materie

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4288 208Aristoteles: Metaphysik

wird, das bezeichnet man, wenn der Gegenstand ge-worden ist, nicht so, daß man sagt, der Gegenstandsei der Stoff, sondern er sei von dem Stoff. So heißtdie Bildsäule nicht Stein, sondern von Stein oder stei-nern. Dagegen wird ein Mensch, wenn er gesundwird, nicht nach dem Zustande benannt, aus dem erherkommt. Der Grund dafür ist der, daß das, wovoner herkommt, ein Zustand, der Privation und außer-dem das Substrat ist, eben das, was wir Materie nen-nen. Was gesund wird, ist ein Mensch, und es wirdzugleich ein Kranker gesund; im eigentlicheren Sinneallerdings heißt es, es werde etwas aus dem Zustandeder Privation, z.B. gesund aus dem Zustande derKrankheit, als es werde etwas Gesundes aus einemMenschen. Daher kommt es, daß man den gesund Ge-wordenen nicht einen Kranken nennt; wohl aber nenntman ihn einen Menschen und einen gesund geworde-nen Menschen. In den Fällen aber, wo die Privation inihrer Beziehung im Ungewissen bleibt und es kein ei-genes Wort für sie gibt, wie beim Erze das Fehlen ir-gend welcher Gestaltung oder bei Ziegeln und Höl-zern das Fehlen der Form des Hauses, da herrscht dieAuffassung, daß das Werden so aus diesem Stoffe ge-schieht, wie dort das Gesundwerden aus dem Krank-sein. Wie deshalb dort das Gewordene nicht benanntwird nach dem, woraus es geworden ist, so heißt auchhier die Bildsäule nicht Holz, sondern hölzern, und

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4289 209Aristoteles: Metaphysik

ehern, aber nicht Erz, und steinern, aber nicht Stein,und ein Haus heißt ein Ziegelbau, aber nicht Ziegel.Und in der Tat, wenn man genauer zusieht, kann mannicht so schlechthin sagen, daß eine Bildsäule ausHolz oder ein Haus aus Ziegeln wird; denn das, wor-aus es wird, muß sich erst verändern und bleibt nicht,wie es ist. Dadurch erklärt sich denn auch die be-zeichnete Ausdrucksweise.

Was wird, das wird also durch etwas – darunterverstehe ich das, wovon das Werden seinen Anstoßempfängt –, und aus etwas – damit soll aber nicht diePrivation, sondern die Materie gemeint sein; wie wirdas verstehen, haben wir eben dargelegt –, und zuetwas – z.B. zu einer Kugel, zu einem Kreise oder zueinem beliebigen anderen Dinge. Wie nun der, deretwas hervorbringt, nicht das Substrat, etwa das Erz,hervorbringt, so bringt er auch nicht die Kugel hervor,oder doch nur beiläufig, sofern die eherne Kugel ebeneine Kugel ist und er jene herstellt. Denn etwas Be-stimmtes herstellen heißt, dieses Bestimmte herstellenaus dem, was als Allgemeines das Substrat ist. Ichmeine das so: Erz in Kugelgestalt herstellen heißtnicht das Kugelrunde und auch nicht das Erz hervor-bringen, sondern etwas anderes, nämlich diese Forman einem anderen hervorbringen. Denn wenn man eshervorbringt, so bringt man es doch wohl hervor ausetwas anderem; und dieses hat das Substrat gebildet.

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4290 210Aristoteles: Metaphysik

So erzeugt man eine eherne Kugel, diese aber in derWeise, daß man aus diesem bestimmten, welches Erzist, dieses bestimmte erzeugt, das eine Kugel ist.Wenn man nun auch dieses selbst machte, so würdeman es offenbar wieder auf dieselbe Weise aus einemanderen hervorbringen müssen, und das Hervorbrin-gen würde damit zu einem Fortgang ins Unendlichewerden.

Es leuchtet also ein, daß, was entsteht, auch nichtdie Form ist, oder irgend etwas, was an dem sinnli-chen Gegenstande als seine Gestalt bezeichnet werdendarf, und daß es auch davon keine Entstehung gibt;daß es also auch keine Entstehung gibt vom begriffli-chen Wesen. Denn dieses ist es, was in einem anderenhervorgebracht wird, sei es durch Kunst oder vonNatur oder aus innerer Anlage. Was man bewirkt, istdies, daß etwas eine eherne Kugel wird, und diesestellt man her aus Erz und aus der Kugelform. Manüberträgt die Form in diese bestimmte Materie, unddas ergibt dann eine eherne Kugel. Gibt es aber eineEntstehung auch für den Begriff der Kugel, so wirdauch diese wieder aus etwas entstehen müssen. Denndas, was entsteht, wird notwendig immer eine Schei-dung zulassen, und das eine Moment dieses, das an-dere jenes sein, nämlich das eine Materie, das andereForm. Ist um eine Kugel eine Gestalt, die überall glei-che Entfernung vom Mittelpunkte hat, so wird daran

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4291 211Aristoteles: Metaphysik

das eine Moment dasjenige ausmachen, woran mansie hervorbringt, das andere Moment das, was anjenem hervorgebracht wird, und das Ganze ist danndas Entstandene, nämlich die eherne Kugel.

Aus dem Erörterten geht also hervor, daß das eineMoment, das man als Form oder Substanz bezeichnet,nicht entsteht, daß dagegen was entsteht die Verbin-dung ist, die nach jener genannt wird; ferner, daß inallem was entsteht Materie ist, und jenes das eine,diese das andere Moment ausmacht. Gibt es nun eineKugel neben den realen Kugeln oder ein Haus nebenden Häusern von Ziegel? Doch wohl nicht. Wäre esso, dann könnte niemals ein bestimmtes Einzelnesentstehen. Vielmehr jenes Moment, die Form, be-zeichnet wohl einen Gegenstand von einer gewissenBeschaffenheit, aber kein einzelnes Dieses, kein Be-grenztes. Aus diesem bestimmten Material bringt eshervor und erzeugt einen Gegenstand von bestimmterBeschaffenheit und wenn dieses erzeugt worden ist,so ist dieses Bestimmte ein derartiges geworden. Die-ses bestimmte Ganze aber ist ein Kallias oder ein So-krates, wie diese bestimmte eherne Kugel; Menschaber und Tier ist wie die eherne Kugel ein Allgemei-nes.

Es leuchtet also ein, daß jene Ursache der Formen,wie manche gewohnt sind die Ideen zu benennen,wenn es irgend solches neben den einzelnen Dingen

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4292 212Aristoteles: Metaphysik

gibt, für die Prozesse der Entstehung wie für die selb-ständig bestehenden Wesen völlig bedeutungsloswäre, und daß wenigstens aus diesem Grunde keinAnlaß wäre, sie als für sich bestehende Substanzen zusetzen. Bei manchen Gegenständen ist es augen-scheinlich, daß das Erzeugende von gleicher Art istwie das Erzeugte, daß es aber nicht mit ihm identischoder numerisch eines, sondern nur der Form nach mitihm eines ist. So ist es in den Erzeugnissen der Natur.Denn ein Mensch zeugt einen anderen Menschen.Eine Ausnahme vom regelmäßigen Naturlauf ist es,wenn das Pferd ein Maultier zeugt, und doch liegtauch hier ein analoges Geschehen vor. Es gibt bloßfür das, was dem Pferde und dem Esel als die nächst-höhere Gattung gemeinsam ist, keinen eigenenNamen; eigentlich aber gehören beide zu einer sol-chen Gattung, die Pferd und Esel umfaßt, und aus die-ser entspringt der Maulesel. Offenbar also bedarf esgar nicht der Konstruktion einer Form mit der Bestim-mung des Musterbildes. Für diese Naturgebildemöchte man sie noch am ehesten heranziehen, weil sieam ehesten noch die Bedeutung von Substanzenhaben. Aber man kommt völlig damit aus, daß dasHervorbringende und die Ursache der Form an derMaterie das ist was zeugt. Das Ganze schließlich,diese so beschaffne Form in diesem bestimmten Mate-rial von Fleisch und Knochen, ist etwa ein Kallias

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4293 213Aristoteles: Metaphysik

und ein Sokrates, verschieden der Materie wegen, dieverschieden ist, identisch aber der Form nach. Denndie Form läßt keine weiteren Unterschiede zu.

Man könnte nun eine Schwierigkeit in der Fragefinden, woher es eigentlich kommt, daß manchesebensogut wie durch die Kunst auch von Ohngefährentsteht, wie z.B. die Gesundheit, anderes aber nicht,z.B. ein Haus. Der Grund ist der, daß die Materie, diedie Entstehung bei dem bedingt, was durch Kunst her-zustellen und hervorzubringen ist, und die den einenGrund der Sache bildet, teils die Art hat durch sichselbst in Bewegung gesetzt zu werden, teils diese Artnicht hat, und daß sie in jenem Fall teils sich in einerbestimmten Weise zu bewegen vermag, teils es nichtvermag. Denn manches vermag sich zwar überhauptvon selbst zu bewegen, aber nicht in einer bestimmtenWeise; es vermag z.B. nicht zu tanzen. Die Dingenun, deren Materie von dieser Beschaffenheit ist, z.B.Steine, haben zwar nicht das Vermögen zu der einenArt von Bewegung, es sei denn durch äußeren An-stoß, aber wohl zu einer anderen bestimmten Art derBewegung; so auch das Feuer. Daher kommt es, daßdas eine nur durch das künstlerische Vermögen je-mandes ins Sein gelangen kann, das andere auch ohnedas. Es kann nämlich in Bewegung gesetzt werdenvon solchem, was zwar künstlerisches Vermögenauch nicht besitzt, was aber selbst in Bewegung ge-

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4294 214Aristoteles: Metaphysik

setzt werden kann, sei es durch anderes, was auchjenes Vermögen nicht besitzt, sei es durch eines sei-ner eigenen Elemente.

Aus dem was wir ausgeführt haben geht hervor,daß in gewissem Sinne alles aus einem Wesen glei-cher Art entsteht gleich wie die Naturgebilde, oderaus einem Elemente von gleicher Art – so das Hausaus einem Hause, einem im Geiste gedachten, wo dieKunst die Form ist, oder aus einem gleichartigen Ele-mente, oder aus etwas, was ein Element der Sache insich enthält, falls die Entstehung nicht eine bloß zu-fällige ist. Denn die hervorbringende Ursache ist dasursprüngliche an sich seiende Element. Die Wärmewie sie durch Bewegung entsteht, ist es, die dieWärme im Leibe erzeugt, und diese ist die Gesundheitoder ein Element der Gesundheit, oder es ergibt sichaus ihr als Folge sei es ein Element der Gesundheit,sei es die Gesundheit selber. Darum sagt man, sie er-zeuge die Gesundheit, weil dasjenige die Gesundheiterzeugt, was die Erwärmung zur Folge oder zur Be-gleiterscheinung hat. Es ist hier wie bei den Schlüs-sen: das Prinzip von allem ist das selbständigeWesen. Dort ergibt sich aus dem Wesensbegriff derSchluß, und hier ebenso die Entstehung der Objekte.

Ganz ähnlich nun verhält es sich auch mit dem,was durch Natur gebildet wird. Der Same bringt dasLebendige hervor, wie die Kunst das Kunstwerk. Er

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4295 215Aristoteles: Metaphysik

hat die Form dem Vermögen nach in sich, und das,wovon der Same stammt, ist meist etwas dem was er-zeugt wird Gleichartiges; allerdings darf man nichtalles gerade so auffassen wie die Erzeugung einesMenschen durch einen anderen Menschen. VomManne wird auch das Weib gezeugt; und anderseitsder Maulesel nicht von einem Maulesel. Das Gesetzgilt eben, sofern keine Abweichung von der Normstattfindet. Wo wir aber etwas von ungefähr ebensoentstehen sehen wie dort durch den Samen, da ist eseben das Vermögen der Materie, auch durch sichselbst in derselben Weise in Bewegung gesetzt zuwerden, wie sonst durch den Samen. Wo aber die Ma-terie dies Vermögen nicht hat, da ist ein Entstehen aufkeine andere Weise möglich als vermittelst eines an-deren Hervorbringenden.

Was wir ausgeführt haben, liefert den Beweis, daßdie Form nicht entsteht: der Beweis gilt aber nichtbloß für die Substanz, sondern ganz allgemein für alleobersten Begriffe, wie für die Quantität, die Qualitätund die anderen Kategorien. Denn wie zwar die eher-ne Kugel entsteht, aber nicht die Kugel noch das Erz,und wie für das Erz das gleiche gilt, indem Form undMaterie beide immer schon vorhergehen müssen, sogilt es auch für das Entstehen des selbständigen We-sens, der Qualität, der Quantität und der anderen Ka-tegorien. Nicht die Beschaffenheit entsteht, sondern

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4296 216Aristoteles: Metaphysik

das Holz von dieser Beschaffenheit, und nicht dieGröße, sondern das Holz oder Tier von dieser Größe.Dagegen läßt sich für die Substanz daraus der unter-scheidende Zug entnehmen, daß bei ihr eine andereSubstanz im Zustande der Aktualität als die hervor-bringende vorausgegeben sein muß, z.B. ein Tier, wodas was entsteht ein Tier ist, während für die Qualitätoder die Quantität diese Notwendigkeit nicht bestehtHier braucht nur ein Zustand der Potentialität voraus-gegeben zu sein.

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4297 217Aristoteles: Metaphysik

4. Die Definition

Eine Definition ist eine Aussage, und jede Aussagehat ihre Teile. Wie die Aussage sich zum Gegenstan-de verhält, ebenso verhält sich auch der Teil der Aus-sage zum Teil des Gegenstandes. Daraus ergibt sichdie Frage, ob nun auch der Begriff der Bestandteile indem Begriff des Ganzen enthalten sein muß odernicht. In manchen Fällen nun sind die Teile augen-scheinlich im Begriff des Ganzen mit enthalten, in an-deren Fällen sind sie es wieder nicht. So enthält derBegriff des Kreises nicht den der Kreisabschnitte,wohl aber enthält der Begriff der Silbe den ihrer ein-zelnen Laute. Und doch wird der Kreis gerade so inAbschnitte geteilt, wie die Silbe in Laute.

Eine weitere Frage ist folgende. Wenn die Teilefrüher sind als das Ganze, der spitze Winkel aber einTeil des rechten Winkels und der Finger ein Teil desOrganismus ist, so würde folgen, daß der spitze Win-kel früher ist als der rechte Winkel, und der Fingerfrüher ist als der ganze Mensch. Und doch möchteman eher meinen, daß vielmehr der rechte Winkel undder Mensch das Frühere ist. Denn erstens dem Begrif-fe nach wird jenes von diesem abgeleitet, und zwei-tens auch der Existenz nach sind diese das Ursprüng-lichere, weil sie auch ohne jene bestehen können.

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4298 218Aristoteles: Metaphysik

Indessen das Wort Teil hat mehrere Bedeutungen.Teil heißt in der einen Bedeutung, das was zum Mes-sen in quantitativem Sinne dient. Davon sehen wirhier ab; wir fassen die andere Bedeutung ins Auge,wonach Teil oder Moment das ist, was zum Bestandedes selbständigen Wesens gehört. Nun haben wirdreierlei: die Materie, und die Form, und drittens dieVereinigung beider, und alles dreies, Materie, Formund die Vereinigung beider ist selbständiges Wesen.So kann in gewissem Sinne auch die Materie als Teil,Moment, von etwas gelten, in anderem Sinne freilichnicht, und zwar sofern als Teil nur das angesehenwerden kann, was Element der begrifflichen Form ist.So ist Fleisch kein Teil der Höhlung; es ist nur dieMaterie, an der eine Höhlung sich bildet; wohl abermacht es ein Element der Stumpfnasigkeit aus. Undso ist das Erz wohl ein Teil der Bildsäule als desGanzen aus Form und Materie, aber nicht ein Teil derBildsäule, sofern sie als bloße Form betrachtet wird.Denn die Form gilt es zu bestimmen, und ebenso istjeder Gegenstand nach der Form, die er hat, zu be-stimmen; das Materielle dagegen läßt sich niemals anund für sich bestimmen. So erklärt es sich, daß derBegriff des Kreises nicht den der Kreisabschnitte, da-gegen wohl der Begriff der Silbe den ihrer Laute ent-hält. Denn die Laute sind Bestandteile der Form desWortes und nicht von materieller Art; dagegen sind

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4299 219Aristoteles: Metaphysik

die Kreisabschnitte Teile gerade in diesem Sinne alsMaterielles, und aus ihnen setzt sich der Kreis zusam-men. Indessen stehen sie der Form immerhin nochnäher als das Erz der Form steht, wo in dem Erze dieKugelform hervorgebracht wird. In einer Bedeutungfreilich sind auch die Laute nicht ohne weiteres indem Begriff der Silbe enthalten, z.B. nicht diese be-stimmten in Wachs gebildeten oder in der Luft tönen-den. Diese sind dann wohl ein Bestandteil der Silbe,aber sie sind es nur als sinnlich Wahrnehmbares, Ma-terielles.

So verschwindet auch die Linie, wenn man sie inihre Hälften teilt, und der Mensch, wenn man ihn inKnochen, Nerven und Muskeln zerlegt. Aber deswe-gen bestehen sie doch nicht aus diesen in dem Sinnevon Teilen der Substanz, sondern es sind nur materi-elle Teile, Teile des aus Form und Materie Zusam-mengesetzten, nicht Teile der Form und dessen, wasden Begriff ausmacht. Darum sind sie auch nicht Be-standteile des Begriffes. So kommt es denn wohl vor,daß im Begriff des Objekts der Begriff solcher Teilemit enthalten ist; in anderen Fällen aber braucht darinder Begriff solcher Teile nicht enthalten zu sein, undzwar dann, wenn sie nicht Teile der Verbindung vonMaterie und Form sind.

Daher kommt es denn auch, daß manche Dinge ausdem, worin sie sich auflösen, als aus ihren Prinzipien

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4300 220Aristoteles: Metaphysik

bestehen, und andere nicht. Alles was aus Form undMaterie als deren Vereinigung besteht, wie dasStumpfnasige oder der eherne Kreis, das löst sich indiese Bestandteile auch wieder auf, und zu solchemverhält sich die Materie als ein Bestandteil. Was abernicht mit Materie verbunden, sondern rein immateriellist, dasjenige, dessen Begriff nur Begriff der Form ist,das läßt sich nicht auflösen, entweder überhauptnicht, oder doch nicht in der oben bezeichnetenWeise. Von jenen Dingen also ist das Materielle Prin-zip und Bestandteil; von der Form aber macht esweder das Prinzip noch einen Bestandteil aus. Ausdiesem Grunde zersetzt sich eine Statue aus Ton undwird Ton; es zersetzt sich eine eherne Kugel und wirdErz; es zersetzt sich Kallias und wird zu Fleisch undKnochen, und der Kreis zerfällt in die Kreisabschnit-te. Da haben wir es mit etwas zu tun, was mit Materieverbunden ist. Denn der begriffliche Kreis und derreale Kreis werden mit demselben Worte bezeichnet,weil es nicht für alle einzelnen realen Dinge jedesmaleinen besonderen Ausdruck gibt.

Damit wäre das Verhältnis nach seinem wahrenWesen dargelegt. Dennoch wollen wir die Sache nochdeutlicher machen, indem wir die obige zweite Fragewieder aufnehmen. Das was Moment des Begriffes istund worin sich der Begriff zerlegen läßt, das ist ihmgegenüber das Frühere, Allgemeinere, entweder alles

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4301 221Aristoteles: Metaphysik

oder doch manches davon. Aber der Begriff des rech-ten Winkels wird nicht auf den Begriff des spitzenWinkels zurückgeführt, sondern der Begriff des spit-zen Winkels auf den des rechten. Wer den spitzenWinkel definieren will, der zieht den rechten Winkelheran: der spitze Winkel ist der Winkel, der kleinerist als ein rechter. Ähnlich verhält sich zu einanderKreis und Halbkreis: der Halbkreis wird durch denKreis definiert; ebenso der Finger durch den ganzenOrganismus; der Finger ist dieses bestimmte Glied aneinem Menschenleibe. Also das was Moment ist imSinne von Materie und worin sich das Ganze als inseine Materie zerlegen läßt, ist das Spätere; dagegenwas Moment ist im Sinne eines Elementes des Begrif-fes und der begrifflichen Substanz, das ist das Frü-here, entweder alles oder doch manches davon. Daaber die Seele des Tieres, die doch die Substanz desOrganismus ist, die begriffliche Wesenheit, die Formund der Wesensbegriff ist für einen Leib von dieserArt, und da jedes Glied, wenn es zutreffend bestimmtwerden soll, nicht ohne seine Funktion bestimmt wer-den kann, die wieder nicht ohne Empfindung stattfin-den kann: so sind die Bestandteile der Seele, alle odermanche, dem Organismus als Ganzen gegenüber dasUrsprünglichere, und ebenso gegenüber jedem einzel-nen Organ. Der Leib aber und seine Bestandteile sindspäter als diese Substanz, und was in diese Bestand-

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4302 222Aristoteles: Metaphysik

teile als in seine Bestandteile zerfällt, das ist nicht dasbegriffliche Wesen, sondern das aus Form und Mate-rie bestehende Verbundene.

Die Bestandteile des Leibes sind also in der einenWeise gegenüber dieser Verbindung das Frühere, inder anderen Weise sind sie es nicht. Denn sie vermö-gen nicht getrennt für sich zu existieren. Der Fingerist nicht in jedem Zustande der Finger eines lebendenWesens; wenn der Finger abgestorben ist, ist er einFinger nur noch dem Namen nach. Manches aber istmit der Verbindung von Form und Materie zugleichgegeben, nämlich das, was ein Grundwesentlichesund ein Ursprüngliches ist, in dem der Begriff unddas substantielle Wesen wohnt, wie etwa das Herzund das Gehirn; hier ist es gleichgültig, welches vonbeiden dafür angesehen wird. Mensch dagegen, Pferd,überhaupt das, was in diesem Sinne ein Einzelwesenbezeichnet, aber als allgemeine Bezeichnung, das istkein rein begriffliches Wesen, sondern eine Verbin-dung von diesem bestimmten Begriff mit dieser be-stimmten Materie als Allgemeines. Ein Individuumdagegen aus der singulär bestimmten letzten Materieist etwa Sokrates, und ebenso verhält es sich auch mitden anderen Dingen.

Bestandteile also gibt es von der Form – und unterForm verstehe ich das begriffliche Wesen – und vonder Vereinigung von Form und Materie, ebenso wie

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4303 223Aristoteles: Metaphysik

von der Materie selber. Aber Teile des Begriffes sindnur die Teile der Form; der Begriff aber bezeichnetdas Allgemeine. Kreis und Begriff des Kreises, Seeleund Begriff der Seele fallen zusammen. Von dem mitMaterie Verbundenen aber, z.B. von diesem bestimm-ten Kreise, von einem einzelnen sinnlichen oder intel-ligiblen – beim intelligiblen denke ich z.B. an die ma-thematischen, beim sinnlichen an die Kreise aus Erzoder aus Holz –, von diesen gibt es keine Definition;sie werden erkannt je nach ihrer Art, das Intelligiblevermittelst des Denkens, das Sinnliche vermittelst derWahrnehmung. Sind sie aber aus der realen Welt ent-rückt, so bleibt es ungewiß, ob sie überhaupt nochsind oder nicht sind; erkannt und bezeichnet werdensie jedenfalls immer durch den allgemeinen Begriff.Die Materie aber als solche ist unerkennbar. Mate-rie gibt es von sinnlicher und von intelligibler Art.Sinnlich z.B. ist Erz, Holz und die bewegte Materieüberhaupt, intelligibel aber ist die in dem sinnlichenKörper gegenwärtige, aber nicht als sinnliche gegen-wärtige, z.B. das Mathematische.

Wie es sich mit dem Ganzen und dem Teile, mitdem Ursprünglichen und Abgeleiteten dabei verhält,haben wir damit dargelegt. Nun müssen wir noch dieFrage beantworten, die jemand aufwerten könnte, obder rechte Winkel, der Kreis, der Organismus dasFrühere ist, oder die Teile, in welche jene Gegenstän-

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4304 224Aristoteles: Metaphysik

de zerlegt werden und aus denen sie bestehen. DieAntwort kann nur lauten, daß sich das so schlechthinnicht sagen läßt. Ist die Seele das Lebewesen selberals beseeltes, ist die Seele des einzelnen das einzelnelebende Wesen selber, fällt Kreis und Kreisbegriff,rechter Winkel und Begriff des rechten Winkels undsein begriffliches Wesen zusammen: so muß man dasreale Einzelne bestimmtem Einzelnen gegenüber,nämlich gegenüber den Bestandteilen des Begriffs,also auch gegenüber den Bestandteilen des realen ein-zelnen rechten Winkels als das Spätere bezeichnen.Denn auch der materielle Winkel, der Winkel aus Erz,ist ein rechter Winkel, und ebenso der von zwei be-stimmten einzelnen Schenkeln eingeschlossene. Dage-gen ist der immaterielle Winkel den Bestandteilen desWinkelbegriffs gegenüber das Spätere, den Teilen amrealen einzelnen Winkel gegenüber das Frühere.Schlechthin aber läßt sich die Frage nicht entscheiden.Im anderen Falle aber, wenn die Seele etwas anderesals das Lebewesen und nicht dieses selbst ist, auchdann muß man die Frage das eine Mal bejahen, dasandere Mal verneinen, und zwar in der Weise wie wires oben dargelegt haben.

Eine weitere mit Fug und Recht aufzuwerfendeFrage ist die, welche Elemente der Form zuzurechnensind, welche nicht der Form, sondern vielmehr derVerbindung von Form und Materie angehören, eine

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4305 225Aristoteles: Metaphysik

Frage, die um so bedeutsamer ist, als, solange sienicht entschieden ist, eine Definition irgend eines Ob-jekts überhaupt nicht gegeben werden kann. Denn dieDefinition gibt das Allgemeine und die Form an. So-lange nun nicht klargestellt ist, welche Elemente derMaterie zugehören, welche nicht, läßt sich auch derBegriff des Gegenstandes nicht klarstellen.

Wo nun offenbar das eine als Form an immer wie-der Verschiedenes herantritt, wie die Kreisform anErz, an Stein und an Holz, da leuchtet es von selberein, daß weder Erz noch Stein irgendwie dem Begriffdes Kreises angehört, weil dieser ihnen selbständiggegenübersteht. Wo aber solche Selbständigkeit nichtwahrgenommen wird, da hindert zwar nichts, daß dasVerhältnis gleichwohl dasselbe sei, wie denn, wennalle Kreise, die man wahrnähme, aus Erz gebildetwären, doch das Erz nichtsdestoweniger mit derKreisform nichts zu tun hätte; aber es würde in die-sem Falle schwer sein, beides in Gedanken auseinan-der zu halten. So erscheint die menschliche Gestaltz.B. jedesmal in Fleisch und Knochen und sonstigenähnlichen Materialien verwirklicht. Sind nun diesedarum auch Bestandteile der Form und des Begriffs?Doch wohl nicht, sondern sie haben nur die Bedeu-tung der Materie; aber weil die Form in diesem Fallenicht auch an anderes herantritt, wird es uns nichtleicht gemacht, sie getrennt aufzufassen.

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4306 226Aristoteles: Metaphysik

Da nun zwar, daß ein solches Verhältnis vor-kommt, anzunehmen ist, aber wann es vorkommt, un-gewiß bleibt, so finden manche auch beim Kreise undbeim Dreieck eine Schwierigkeit dieser Art, als sei esnicht angemessen, ihre begriffliche Bestimmung inden Linien und der kontinuierlichen Ausdehnung zufinden, sondern als müsse man diesem allen hier ganzdie gleiche Bedeutung zuschreiben wie dem Fleischoder den Knochen beim Menschen oder wie dem Erzund Stein bei der Bildsäule. So führen sie denn allesauf die Zahlen zurück und bestimmen den Begriff derLinie als den der Zweizahl. Ähnlich machen es dieAnhänger der Ideenlehre. Von diesen bezeichnen dieeinen die Zweiheit, die anderen die Form der Linie alsdas begriffliche Wesen der Linie. Jene meinen, esgebe wohl Fälle, wo Form und Geformtes, als ohneMaterie, identisch sei; so sei es bei der Zweiheit undder Form der Zweiheit; aber bei der Linie verhalte essich doch nicht so. Daraus folgt dann der bedenklicheSatz, daß eins und dasselbe als die Form vieler Ob-jekte zu gelten habe, deren Form doch augenschein-lich verschieden ist, ein Ergebnis, zu dem die Pytha-goreer denn auch wirklich gelangt sind, und weiterzugleich ergibt sich daraus die Möglichkeit, eines unddasselbe als die Form von allem zu setzen und allemaußer diesem einen die Bedeutung der Form abzu-sprechen! Und so würde denn schließlich alles eins

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werden.Wir haben gezeigt, daß, was mit der Aufgabe der

Definition zusammenhängt, ernste Schwierigkeitenbereitet, und auch dargelegt, was der Grund dieserSchwierigkeiten ist. Darum ist es auch ein überkünst-liches Verfahren, alles so auf eines zurückführen unddie Materie ausschalten zu wollen. Denn es gibt Fälle,wo doch wohl augenscheinlich diese bestimmte Forman dieser bestimmten Materie vorkommt, oder diesebestimmte Materie sich in dieser bestimmten Fassungbefindet. Der Vergleich, den der jüngere Sokratesmit den Organismen anzustellen pflegte, stimmt dochnicht recht; er führt eher von der Wahrheit ab und legtdie Annahme nahe, als könne einer ebenso Menschsein ohne seine Glieder, wie ein Kreis sein kann ohneErz. Die Analogie trifft aber nicht zu. Denn der Orga-nismus ist ein sinnlich Wahrnehmbares und läßt sichnicht definieren, ohne daß man seine sinnliche Natur,das was an ihm in Bewegung ist, heranzieht, alsoauch nicht ohne daß man die von der Seele regiertenbestimmten Funktionen der Glieder in Rechnungstellt. Nicht in jedem Sinne ist die Hand ein Glied desMenschen, sondern sie ist es nur, sofern sie als be-seelt ihr Werk zu verrichten vermag; ist sie unbeseelt,so ist sie auch kein Glied mehr.

Was aber die mathematischen Gegenstände be-trifft – weshalb gehören die Begriffe der Teile hier

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nicht dem Begriffe des Ganzen an? z.B. warum ist derBegriff des Halbkreises kein Bestandteil im Begriffdes Kreises? Hier handelt es sich doch nicht um sinn-lich wahrnehmbare Dinge. Indessen darauf kommt esnicht an. Es gibt ja eine Materie auch bei manchem,was kein Sinnliches ist. Ja, es gibt überhaupt eineMaterie von jeglichem, was kein Wesensbegriff undkeine reine Form an sich, sondern bestimmtes Einzel-wesen ist. Also vom Kreis als Allgemeinem sind dieHalbkreise keine Teile, aber wohl sind sie es von denrealen einzelnen Kreisen, wie wir vorher dargelegthaben. Denn wie es sinnliche Materie gibt, so gibt esauch intelligible Materie.

Nun ist aber auch das klar, daß die Seele die ober-ste Wesenheit, der Leib dagegen Materie ist und derMensch oder das lebende Wesen überhaupt eine Ver-bindung von Form und Materie als Allgemeinem ist.Sokrates aber und Koriskos, wenn nicht erst dieseVerbindung, sondern schon die Seele ihre Wesenheitausmacht, wären damit ein Zwiefaches; die einen fas-sen dabei die Seele, die anderen die Verbindung vonLeib und Seele ins Auge. Nimmt man sie aber einfachals diese bestimmte Seele und diesen bestimmten Leibaußerhalb ihrer Verbundenheit, so verhalten sich indiesen realen Individuen Seele und Leib ebenso wiebeim Menschen im allgemeinen.

Ob es nun neben der Materie solcher Substanzen

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4309 229Aristoteles: Metaphysik

wie die besprochenen noch eine andere gibt und obman sich noch nach einer anderen Art von selbständi-gen Wesen umtun muß, wie etwa die Zahlen odersonst etwas dergleichen, das soll später untersuchtwerden. Denn gerade zu diesem Behuf suchen wir inbetreff der sinnlichen Substanzen ins klare zu kom-men, während diese Lehre von den sinnlichen Sub-stanzen in gewissem Sinne eigentlich die Aufgabe derNaturphilosophie als der zweiten, der angewandtenPhilosophie ausmacht. Denn der Naturphilosoph hates nicht bloß mit der Erforschung der Materie zu tun,sondern auch mit der Erforschung des begrifflichenWesens, und mit letzterem vorzugsweise. Die Frageaber, die sich betreffs der Begriffsbestimmung erhebt,in welcher Weise es zu verstehen ist, daß die begriffli-chen Merkmale Bestandteile des Begriffes sind undder Begriff doch ein einheitlicher ist; – der Gegen-stand nämlich ist offenbar einheitlich; es ist also dieFrage auch hier die, wodurch der Gegenstand, derdoch Teile hat, einheitlich ist – diese Frage soll spätererörtert werden.

So hätten wir denn die Frage nach der Bedeutungdes Wesensbegriffs und dem Sinne seines An-und-für-sich-Seins allgemein für jeden Gegenstand erör-tert. Wir haben dargelegt, weshalb bei manchen Ge-genständen der Wesensbegriff die Bestandteile desdefinierten Gegenstandes mitenthält, bei anderen

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nicht, und nachgewiesen, daß die Bestandteile vonmaterieller Art in dem Ausdruck für die begrifflicheWesenheit keinen Platz haben, weil sie nicht Bestand-teile jener substantiellen Wesenheit sind, sondern derVerbindung von Materie und Form angehören. Fürdiese aber gibt es in gewissem Sinne einen begriffli-chen Ausdruck, und auch wieder nicht. Von der Ver-bindung mit der Materie nämlich gibt es keinen, denndas ist ein begrifflich Unbestimmtes; dagegen wohlim Sinne der ersten substantiellen Wesenheit; so z.B.gibt es für den Menschen den begrifflichen Ausdruckder Seele. Denn die substantielle Wesenheit ist dieimmanente Form; aus ihr und der Materie wird diekonkrete Wesenheit gebildet. So ist es z.B. bei derHöhlung der Fall. Diese in Verbindung mit Nasemacht die Stumpfnase und die Stumpfnasigkeit –darin, sahen wir oben, kommt die Nase zweimalvor; – in der konkreten Wesenheit, z.B. in derStumpfnase oder in Kallias, ist eben auch die Materiemit einbegriffen. Auch das ist bemerkt worden, daßdie substantielle Wesenheit und die reale Einzelheitbei manchen Objekten Identisch ist, so bei den ober-sten Wesenheiten, z.B. bei dem Krummen und demBegriff der Krümmung, wenn diese ein Oberstes undUrsprüngliches ist. Ursprünglich aber nenne ich dasWesen, sofern es nicht benannt wird, danach, daß daseine am anderen, daß es an einem Substrat als seiner

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Materie ist. Was aber als Materie oder als mit Materieverbunden bezeichnet wird, bei dem fällt der Begriffnicht mit der realen Einzelheit zusammen, und eben-sowenig bei dem, was nur durch eine zufallende Be-stimmung eine Einheit bildet, wie Sokrates und kunst-verständig. Denn dieses ist nur im akzidentellen Sinneidentisch.

Zunächst wollen wir nunmehr, was wir in der Ana-lytik über die Definition nicht ausgeführt haben, hiernachtragen; denn das dort bezeichnete Problem istvon hoher Bedeutung für die Erörterung des Begriffsder Wesenheit. Ich meine damit das Problem: wie eskommt, daß dasjenige, dessen Begriffsbezeichnungwir als eine Definition betrachten, eine Einheit bildet.So wenn wir den Menschen als das lebende Wesenmit zwei Beinen bezeichnen; wenn wir das hier ein-mal als Definition für den Menschen gelten lassendürfen. In welchem Sinne ist dies nun eines und nichteine Vielheit: »lebendes Wesen« und »mit zwei Bei-nen«? Mensch und blaß ist eine Vielheit, solangenicht das eine als Bestimmung am anderen vorkommt;dagegen wird es eines, wenn das eine Prädikat des an-deren wird und das Substrat, der Mensch, dadurcheine Bestimmung empfängt. Denn auf diese Weisewird es zu einem, und was sich ergibt, ist der blasseMensch. Im obigen Falle aber befaßt der eine Begriffden anderen nicht in sich. Denn der Begriff der Gat-

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tung, so scheint es, hat die begrifflichen Unterschiededer Arten nicht in sich; sonst würde eines und dassel-be das Entgegengesetzte zugleich in sich enthalten, daja die Unterschiede, durch die die Gattung in Artenzerfällt, Gegensätze bilden. Aber auch dann, wenn dieGattung die Unterschiede in sich trägt, bleibt dieFrage dieselbe, falls eine Mehrheit von Unterschiedenzusammenkommt, wie Landtier, zweibeinig, ungefie-dert. In welchem Sinne gehen diese Unterschiede ineine Einheit zusammen und bilden sie nicht eine Viel-heit? Sicher nicht dadurch, daß sie alle an einem unddemselben sind; denn so würde zuletzt aus allemeines werden. Und dennoch muß mindestens alles,was in der Definition enthalten ist, notwendig eineEinheit ausmachen. Denn die Definition ist eine ein-heitliche Aussage und zwar eine Bezeichnung derWesenheit und muß schon deshalb die Bezeichnungeines Einheitlichen sein. Denn die Wesenheit, das istunser Satz, bedeutet ein Einheitliches, Bestimmtes.

Wir müssen zuerst die auf Klassifikation beruhen-de Definition ins Auge fassen. In der Definition findetsich nichts weiter als die Gattung, die als die oberstebezeichnet wird, und die unterscheidenden Merkmale.Die anderen Gattungen sind wieder die oberste, abermit ihr zugleich die darunter begriffenen Gattungenmit ihren unterscheidenden Merkmalen. So ist eineoberste Gattung »lebendes Wesen«; daran schließt

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sich an »lebendes Wesen mit zwei Beinen« und daranwieder »ungefiedertes lebendes Wesen mit zwei Bei-nen«, und so weiter, wenn noch immer mehr Bestim-mungen hinzutreten. Dabei macht es überhaupt kei-nen Unterschied, ob der Bestimmungen viele oder we-nige sind, also auch keinen Unterschied, ob es wenigeoder bloß zwei sind. Sind es zwei, so bezeichnet dieeine das unterscheidende Merkmal, die andere dienächst höhere Gattung. So ist in dem Ausdruck: »le-bendes Wesen mit zwei Beinen« Lebewesen die Gat-tung und das andere das unterscheidende Merkmal.Wenn nun die Gattung durchaus nicht neben denArten als den Arten der Gattung steht, oder wenn siezwar neben ihnen steht, aber als Materie, – so z.B. istder Laut beides, Gattung und Materie, die unterschei-denden Merkmale aber bilden daraus die Arten als diebesonderen Laute, – so ist offenbar die Definition dieBezeichnung auf Grund der unterscheidenden Merk-male. Aber nun muß auch weiter der Unterschied wie-der in seine Unterschiede zerlegt werden. Z.B. eineArt der lebenden Wesen ist das mit Füßen versehene;dann muß man, wenn man sachgemäß verfahren will,wieder den Unterschied des mit Füßen versehenen Le-bewesens mit Rücksicht auf das Mit-Füßen-versehen-sein weiter einteilen; man darf also nicht die eine Artdes mit Füßen Versehenen als gefiedert, die andere alsungefiedert bestimmen. Wenn man in letzterer Weise

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verfährt, so geschieht es nur aus Unvermögen. Viel-mehr wird man unterscheiden: mit gespaltenem oderungespaltenem Fuß; denn das sind Unterschiede desFußes, und gespaltene Füße haben ist eine Art desFüße-habens. Und so wird man immer weiter gehen,bis man bei dem ankommt, was keine Unterscheidungmehr zuläßt: dann erhält man so viel Arten, wie es un-terscheidende Merkmale des Fußes gibt, und die mitFüßen versehenen Lebewesen werden ebensovieleArten bilden, wie es unterscheidende Merkmale gibt.

Verhält sich das nun so, so wird offenbar der letzteUnterschied, weil er alle oberen Unterschiede in sichenthält, die Wesenheit des Gegenstandes und seineDefinition bilden, wenn man doch beim Definierennicht eins und dasselbe mehrmals sagen will, was eineAbundanz ergäbe. Eine solche aber käme sonst her-aus. Wenn einer sagt: ein mit Füßen versehenes zwei-füßiges Lebewesen, so hat er nichts anderes gesagt alsein mit Füßen versehenes Lebewesen, welches mitzwei Füßen versehen ist. Und wenn er so weiter dasFüße-haben nach den dafür eigentümlichen Unter-scheidungen einteilt, so wird er noch mehrmals das-selbe sagen und ebensoviele Male, als sich Unter-scheidungen anbringen lassen. Wird also der Artun-terschied wieder in seinen Artunterschied zerlegt, sowird einer der letzte Unterschied sein, und dieser istdie Form und die Wesenheit. Teilt man dagegen nach

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4315 235Aristoteles: Metaphysik

zufälligen Merkmalen ein – z.B. es teilt jemand dasmit Füßen Versehene in das Weiße und in dasSchwärze –, dann allerdings wird die Zahl der anzu-gebenden Unterschiede eben so groß wie die Zahl dervorgenommenen Einteilungen.

Die Definition, das geht daraus hervor, ist also dieBezeichnung auf Grund der unterscheidenden Merk-male, und zwar, wenn richtig vorgegangen wird, aufGrund des letzten dieser unterscheidenden Merkmale.Das würde augenscheinlich hervortreten, wenn je-mand derartige begriffliche Bestimmungen in andereReihenfolge brächte, z.B. der Definition des Men-schen die Fassung gäbe: Lebewesen mit zwei Füßen,das mit Füßen versehen ist. Hier ist »mit Füßen ver-sehen« offenbar überflüssig, wenn schon gesagt ist»mit zwei Füßen«. Eine bestimmte Ordnung der Un-terschiede aber ist in dem Wesensbegriff nicht mitge-setzt; denn worauf wollte man sich stützen, um hierdas eine als das frühere, das andere als das spätere an-zusetzen?

Über die Definitionen, sofern sie auf Klassifikationberuhen, und ihre Beschaffenheit mag fürs erste dasVorgetragene ausreichen.

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4316 236Aristoteles: Metaphysik

5. Ergebnisse für den Begriff des Wesens

Da den eigentlichen Gegenstand unserer Untersu-chung die Wesenheit bildet, so wollen wir uns nunwieder dieser zuwenden. Als Wesenheit bezeichnetman wie das Substrat, den Wesensbegriff und dieVereinigung beider, auch das Allgemeine. Von jenenbeiden, dem Wesensbegriff und dem Substrat, undvon ihrer Vereinigung haben wir bereits gehandelt;von dem Substrat haben wir ausgemacht, daß es einedoppelte Bedeutung hat, entweder die des bestimmtenEinzelwesens, wie ein Lebendiges das Substrat ist fürseine Affektionen; oder die der Materie, die das Sub-strat für die vollendete Wirklichkeit abgibt. Nun er-kennen aber manche dem Allgemeinen vorzugsweisedie Bedeutung zu, Ursache und Prinzip zu sein. Wirwerden auch darauf näher eingehen müssen.

Die Annahme, daß irgend etwas, was als Allgemei-nes ausgesagt wird, ein selbständig Bestehendes sei,erscheint unmöglich. Denn das ursprüngliche Sein,der Wesensbegriff, ist bei jeglichem Gegenstande dasihm eigentümlich Zukommende, was bei keinem an-deren so vorkommt; das Allgemeine dagegen ist einmehreren Gemeinsames. Denn »allgemein« heißt, wasseiner Natur nach einer Vielheit zukommt. Welchesalso ist der Gegenstand, dessen Wesen es ausmacht?

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4317 237Aristoteles: Metaphysik

Entweder bedeutet es das Wesen aller unter ihm be-faßten Gegenstande oder das Wesen keines einzigen.Daß es das Wesen aller bilde, ist undenkbar. Bildet esaber das Wesen auch nur eines einzelnen, dann wirdauch das übrige eben dasselbe sein. Denn dasjenige,dessen Wesen eines, und dessen Wesensbegriff einerist, ist auch selber eines.

Überdies, selbständiges Sein, Substanz, heißt das,was nicht von einem Substrat ausgesagt wird; dasAllgemeine aber wird immer von einem Substrat aus-gesagt. Aber wenn nun freilich das Allgemeine un-möglich in der Weise Substanz sein kann, wie derWesensbegriff die Substanz des Gegenstandes aus-macht: sollte das Allgemeine etwa dem Gegenstandeimmanent sein, wie der Begriff lebendes Wesen imMenschen und im Pferde gegenwärtig ist? Nun, dannwird es offenbar einen begrifflichen Ausdruck geben.Dabei macht es nichts aus, ob es von jeder einzelnenBestimmung, die in dem Wesensbegriff enthalten ist,eine Definition gibt oder nicht. Denn das Allgemeinewird deshalb nicht minder die Substanz eines Gegen-standes sein, wie der Mensch als Allgemeines dieSubstanz des einzelnen Menschen bildet, dem er im-manent ist. Das Ergebnis wird also immer wieder das-selbe sein. Denn, ist das Allgemeine Substanz, sowird es, wie z.B. lebendes Wesen, die Substanz desGegenstandes bilden, in dem es als für den Gegen-

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4318 238Aristoteles: Metaphysik

stand Charakteristisches enthalten ist.Aber weiter: es ist undenkbar und ungereimt, daß

das Einzelwesen und die Substanz, wenn sie aus Teil-begriffen zusammengesetzt ist, nicht aus Substanzenbestehen soll und auch nicht aus bestimmtem Einzel-sein, sondern aus einer bloßen Qualität der Substanz.Denn dann würde etwas, was nicht Substanz, was nurdie Qualität an einer Substanz und einem bestimmtenEinzelwesen ist, die Bedeutung eines Prius für dieSubstanz erlangen, und das ist undenkbar. Dennweder dem Begriff nach noch der Zeit oder Abkunftnach können die Affektionen der Substanz das Priusfür die Substanz bilden; sie müßten dann der Sub-stanz selbständig gegenüberstehen. Es würde fernerdem Sokrates, der eine Substanz ist, wieder eine Sub-stanz innewohnen, so daß diese Substanz aus zweiSubstanzen bestehen würde. Und so ergibt sich dennüberhaupt, daß, wenn der Mensch als Allgemeinesund alles was auf ähnliche Weise ausgesagt wird,Substanz ist, nichts von dem, was als Teilbegriff imBegriff enthalten ist, Substanz von irgend etwas seinnoch selbständig dem anderen gegenüber bestehen,noch an einem anderen haften kann. Mit anderenWorten: es gibt dann nicht ein Lebendiges neben denlebenden Einzelwesen, und ebenso besteht nichts vonallem, was im Begriffe enthalten ist, selbständig fürsich.

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4319 239Aristoteles: Metaphysik

Wer alles dies sorgsam erwägt, dem wird es gewißwerden, daß nichts von dem, was als Allgemeines be-steht, die Bedeutung einer Substanz hat, und daßnichts von dem, was von vielen gemeinsam ausgesagtwird, ein für sich bestehendes Einzelwesen, sondernnur eine Qualität an anderem bezeichnet. Gilt dasnicht, so ergibt sich neben anderen bedenklichen Kon-sequenzen auch die, welche als »der dritte Mensch«bekannt ist. Man kann es aber auch in folgenderWeise deutlich machen. Es ist ganz unmöglich, daßeine Substanz wieder aus Substanzen besteht, die ihrals Aktuelles einwohnen. Denn was in dieser Weise inWirklichkeit zwei ist, kann niemals in Wirklichkeiteins werden; nur wenn sie potentiell zwei sind, kön-nen sie eines werden, wie das Doppelte der Möglich-keit nach aus zwei Halben besteht. Denn Aktualitätsetzt Sonderung. Ist also die Substanz eines, so kannsie nicht aus ihr innewohnenden Substanzen bestehen,und darin hat Demokrit ganz Recht, der es für un-möglich erklärt, daß aus einem zweierlei oder auszweien eines werde. Er freilich setzt als Substanzendas ausgedehnte Unteilbare. Und ähnlich wird es sichoffenbar mit den Zahlen verhalten, wenn doch dieZahl, wie manche annehmen, eine Verbindung vonEinheiten ist. Die Zweiheit ist entweder nicht eins,oder die Einheit ist in ihr nicht der Wirklichkeit nachenthalten.

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4320 240Aristoteles: Metaphysik

Unser Ergebnis bietet indessen eine ernste Schwie-rigkeit. Wenn eine Substanz nicht aus Allgemeinembestehen kann, weil dieses ein Qualitatives, aber nichtein selbständiges Einzelwesen bezeichnet, und wenneine zusammengesetzte Substanz nicht der Wirklich-keit nach aus Substanzen bestehen kann, so würdefolgen, daß jede Substanz ohne Zusammensetzung ist,und es würde also von keiner Substanz eine Definiti-on geben. Nun ist es aber die allgemeine Ansicht, undwir selber haben es längst oben dargelegt, daß es eineBegriffsbestimmung entweder nur von der Substanzgibt oder doch nur von dieser im eigentlichen Sinne.Nach dem eben Gesagten würde es aber auch von ihrkeine Definition geben und also überhaupt von garnichts. Vielleicht aber löst sich die Schwierigkeit so,daß es wohl in gewissem Sinne eine Definition gibt,in anderem Sinne nicht. Was wir damit meinen, wirdaus späteren Ausführungen klarer hervortreten.

Aus dem eben Erörterten wird ersichtlich, was fürKonsequenzen sich daraus ergeben, daß man dieIdeen als Substanzen, als für sich selbständig beste-hende Wesen bezeichnet, und doch zugleich die Formaus der Gattung und den unterscheidenden Merkma-len bestehen läßt. Wenn nämlich die Ideen selbstän-dig existieren und der Begriff »lebendes Wesen« in»Mensch« und in »Pferd« vorhanden ist, so ist dieserBegriff entweder der Zahl nach eines und identisch,

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4321 241Aristoteles: Metaphysik

oder er ist in beiden als Verschiedenes, im Sinne derDefinition ist er offenbar als einer gemeint. Denn derDefinierende gibt den Begriff als einen und denselbenfür beides an. Wenn nun Mensch ein an und für sichbestimmtes und selbständiges Einzelwesen bedeutet,so müssen notwendig auch die Teilbegriffe, worausder Begriff als aus seinen Momenten besteht, z.B. le-bendes Wesen und zweibeinig, bestimmtes Einzelseinbedeuten; alles dies muß selbständig für sich undSubstanz sein; also muß auch »lebendes Wesen« Sub-stanz sein. Wenn es nun ein Identisches und Eines ist,was in Pferd und in Mensch enthalten ist, wie jemandmit sich selbst identisch ist: wie vermag das Eine inden vielen, die jedes vom andern getrennt und selb-ständig existieren, als eines zu existieren? Müßtedann nicht auch dieser Begriff »lebendes Wesen« wie-der von sich selbst getrennt und sich selbst gegenüberselbständig existieren können? Wenn aber ein unddasselbe wie lebendes Wesen an dem Begriffe »zwei-beinig« und auch an dem »vielbeinig« teilhaben soll,so ergibt sich wieder eine undenkbare Konsequenz:entgegengesetzte Bestimmungen müßten ihm zugleichzukommen, während es doch eines und bestimmtesEinzelwesen sein soll. Aber wenn das nicht der Fallist, was hat es für einen Sinn, wenn jemand sagt, daslebende Wesen sei zweibeinig oder es sei ein Land-tier? Soll etwa damit gemeint sein, daß beides ver-

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4322 242Aristoteles: Metaphysik

bunden ist und sich berührt, oder daß es durch einan-der gemischt ist? Das alles ist ohne Sinn.

Nun die andere Annahme: die Form sei in jedemEinzelwesen immer wieder als ein anderes. Dannwäre das, was lebendes Wesen zu sein zu seinem We-sensbegriff hat, der Anzahl nach geradezu unendlichvieles. Denn es ist doch keine bloß zufällige Bestim-mung, durch die aus dem Begriff lebendes Wesen derBegriff Mensch wird. Und damit würde dann auch derBegriff des lebenden Wesens selber als solcher zueiner Vielheit. Denn in jedem Einzelwesen ist der Be-griff lebendes Wesen als Wesensbegriff einwohnend;ist doch dies und nichts anderes der Sinn, in dem erausgesagt wird. Im anderen Falle, wäre also lebendesWesen nicht der Wesensbegriff, so müßte der Menschetwas anderes zu seinem Wesensbegriff haben, unddieses andere würde dann seine Gattung bilden. Undweiter: alle die Bestimmungen, die der BegriffMensch in sich enthält, müßten selbst wieder Ideensein, und sie würden nicht etwa die Idee des einen undder Wesensgriff eines anderen sein; denn das ist aus-geschlossen. Also müßte jede einzelne Bestimmung,die der Begriff lebendes Wesen enthielte, mit dem Be-griff lebendes Wesen zusammenfallen. Woher aberkäme dann der Begriff des lebenden Wesens, und wiekönnte aus ihm das einzelne lebende Wesen werden?Oder wie wäre es möglich, daß das lebende Wesen

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4323 243Aristoteles: Metaphysik

sei, das Substanz ist, und zwar als an sich bestehend,neben dem Begriff des lebenden Wesens, welcherauch an sich besteht? Ferner, was die sinnlich wahr-nehmbaren Gegenstände anbetrifft, so ergeben sichmit Bezug auf sie dieselben Konsequenzen und nochwidersinnigere als diese. Ist es also unmöglich, daß essich so verhalte, so ergibt sich offenbar, daß es Ideender Dinge in dem Sinne, wie manche davon sprechen,nicht gibt.

Substanz ist in dem einen Sinne die Verbindungvon Form und Materie, in anderem Sinne ist sie derBegriff. Das heißt: die Substanz in der einen Bedeu-tung ist der mit der Materie vereinigte Begriff, in deranderen Bedeutung ist sie der Begriff schlechthin. DerSubstanz, sofern das erstere darunter gedacht wird,kommt die Vergänglichkeit zu, wie ihr auch das Ent-stehen zukommt, während für den Begriff als solchendie Vergänglichkeit ebensowenig gilt wie das Entste-hen. Denn was entsteht, ist nicht der Begriff des Hau-ses, sondern dieses einzelne Haus. Begriffe sind undsind nicht, ohne daß sie entstehen oder vergehen. Wirhaben gezeigt, daß es für sie keinen Urheber gibt, dersie erzeugte oder herstellte. Eben deshalb nun gibt esauch von den sinnlich wahrnehmbaren Substanzen alsvon den einzelnen Dingen weder eine Definition nocheinen Beweis, weil sie mit Materie verbunden sind,deren Natur es ist, sein und auch nicht sein zu kön-

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4324 244Aristoteles: Metaphysik

nen. Infolgedessen sind sie auch sämtlich als sinnlicheinzelne vergänglich.

Gibt es nun einen Beweis nur für das, was notwen-dig ist, und ist die Definition der Ausdruck für die Er-kenntnis des Gegenstandes, so gibt es von dem sinn-lich Einzelnen weder Definition noch Beweis. Wie dieErkenntnis unmöglich bald Erkenntnis des Gegen-standes, bald Unwissenheit über ihn sein kann, son-dern dies nur vom bloßen Meinen gilt, so kann es un-möglich von dem, was sich auch anders verhaltenkann, einen Beweis oder eine Definition, sondern nureine Meinung geben. Denn was vergänglich ist, daswird für denjenigen, der eine Erkenntnis davon hat,etwas Ungewisses, sobald es aufhört, ein Gegenstandsinnlicher Wahrnehmung zu sein, und während dieBegriffe im Geiste als identisch erhalten bleiben, las-sen sich jene Dinge weder definieren noch beweisen.Darum darf man beim Definieren, wenn man eine Be-griffsbestimmung für irgend ein Einzelwesen gibt,niemals außer Acht lassen, daß die Definition auchwieder aufgehoben werden kann. Denn ein eigentli-ches Definieren ist hier unmöglich. Und so ist es dennauch unmöglich, eine Idee zu definieren. Denn dieIdee, wie man sie gewöhnlich auffaßt, gehört in dieKlasse der Einzelexistenzen und ist etwas Abgetrenn-tes für sich.

Eine Begriffsbestimmung muß durch Wörter ge-

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4325 245Aristoteles: Metaphysik

schehen; wer aber definiert, wird sich die Wörternicht selbst bilden; damit würde er unverständlichbleiben. Die vorhandenen Wörter aber drücken etwasaus, was mehreren Gegenständen gemeinsam ist, unddeshalb müssen sie auch für andere Gegenstände gel-ten. So würde, wer eine bestimmte Person definierenwollte, sagen, sie sei ein lebendes Wesen, das mageroder von blasser Farbe oder sonst von einer Beschaf-fenheit sei, die auch anderem zukommt. Wenn aberjemand sagen sollte, es hindere nichts, daß alle dieseBestimmungen jede für sich vielen, ihre Gesamtheitaber nur diesem einen zukomme, so ist darauf zu-nächst dies zu erwidern, daß sie vielmehr mindestenszweien zukommen; so ist »lebendes Wesen mit zweiBeinen« Prädikat des Lebewesens und auch Prädikatdes Zweibeinigen. Und dies muß bei den Ideen alsDingen, die ewig sind, auch notwendigerweise erstrecht der Fall sein, da sie das Prius und die Elementeder Zusammensetzung bedeuten, aber weiter auch fürsich getrennt Bestehendes sind, wenn doch »Menschan sich« ein für sich getrennt Bestehendes bedeutet.Denn entweder gilt dies für keines von beiden, oder esgilt für beide. Ist keines von beiden ein Selbständiges,so hat die Gattung keinen Bestand neben den Arten;ist dagegen die Gattung ein selbständig Bestehendes,so gilt dasselbe auch für den artbildenden Unter-schied. Denn beide, Gattung und Artunterschied, sind

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4326 246Aristoteles: Metaphysik

dem Sein nach der Art gegenüber das Prius und wer-den daher nicht mit aufgehoben, wenn die Art aufge-hoben wird.

Weiter aber, wenn die Ideen wieder Ideen zu Be-standteilen haben, so werden die Ideen, die Bestand-teile von Ideen sind, als das minder Zusammengesetz-te, notwendig auch wieder von vielen Gegenständenausgesagt werden, wie z.B. lebendig und zweibeinig.Wäre es nicht der Fall, woran sollte man sie erken-nen? Dann gäbe es ja eine Idee, die sich nicht voneiner Vielheit, sondern nur von einem aussagen ließe.Das aber wäre gegen die Voraussetzung; denn Ideeheißt doch immer nur solches, woran eine Vielheitteilhaben kann. Es kommt also, wie gesagt, nur nichtzum Bewußtsein, daß die Möglichkeit des Definierensbei den Ideen als Dingen, die ewig sind, ausgeschlos-sen ist, eine Folge, die besonders bei den Gegenstän-den hervortritt, die nur einmal vorkommen, wie Sonneoder Mond. Da begehen sie nicht bloß den Fehler,daß sie dem Gegenstande Bestimmungen beilegen,die man weglassen kann, ohne daß doch deshalb dieSonne aufhörte die Sonne zu sein, wie z.B. daß siesich um die Erde bewegt, oder daß sie sich bei Nachtverbirgt. Denn gesetzt, sie stände stille oder sie schie-ne immer, so würde sie danach nicht mehr die Sonnesein, was doch widersinnig wäre; denn Sonne bedeu-tet einen Wesensbegriff. Andererseits legen sie ihr

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4327 247Aristoteles: Metaphysik

Merkmale bei, die auch anderen Gegenständen zu-kommen können. Hätte z.B. ein anderer Gegenstanddiese Beschaffenheiten, so würde er offenbar eineSonne sein; mithin ist diese Bestimmung eine vielemgemeinsame, und doch sollte die Sonne ein Individu-elles sein, wie Kleon oder Sokrates. Weshalb stelltdenn eigentlich niemand von jenen Leuten eine Defi-nition von einer Idee auf? Wenn sie einmal die Probemachten, so würde daraus schon offenbar werden, daßes mit dem, was wir eben dargelegt haben, seineRichtigkeit hat.

Offenbar ferner sind die meisten Gegenstände, dieman für Substanzen ausgibt, bloß potentiell existie-rende Wesen; so z.B. die Glieder der lebendenWesen. Denn kein Glied ist etwas für sich Bestehen-des, und werden Glieder losgetrennt, so haben siesämtlich auch bloß die Bedeutung von Materie, ganzebenso wie Erde, Feuer und Luft, von denen auch kei-nes ein in sich einheitliches Wesen ist, sondern jedesnur einer lockeren Masse gleicht, bevor sie noch ver-schmolzen und dadurch in ein Einheitliches umge-wandelt ist. Am ehesten noch möchte man die Gliederder beseelten Wesen und die Teile der Seele dafür an-sehen, daß sie beidem nahe stehen und ein aktuellesund potentielles Sein zugleich haben, dieses als Teiledes Ganzen, jenes, sofern sie innere Ursachen ihrerBewegung in der Einrichtung ihrer Gelenke besitzen,

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4328 248Aristoteles: Metaphysik

Ursachen, durch die es auch geschieht, daß mancheTiere noch weiter leben, wenn man sie zerschneidet.Indessen bedeutet alles das doch nur ein potentiellesSein, sofern das Ganze, dem sie angehören, Einheit-lichkeit und Zusammenhang von Natur besitzt, nichtbloß durch äußere Gewalt oder auch durch bloßesMiteinanderverwachsensein; kommt dergleichen vor,so bedeutet es eine Abnormität.

Man schreibt einem Gegenstande Einheit zu, wieman ihm das Sein zuschreibt. Der Wesensbegriff des-sen, was eines ist, ist selber einheitlich, und nume-risch eines ist das, dessen Wesensbegriff numerischeiner ist. Daraus geht hervor, daß weder Einheit nochSein die Substanz der Gegenstände auszumachen ver-mag, ebensowenig wie es die Bestimmtheit als Ele-ment oder als Prinzip vermag. Wir fragen vielmehr,was denn nun das Wesen des Prinzips sei, um es aufetwas Bekannteres zurückzuführen. Jedenfalls hatunter diesen Bestimmungen Einheit und Sein nocheher die Bedeutung der Substanz als Prinzip, Elementund Ursache; indessen auch jenes kann nicht dafürgelten, wenn der Satz gilt, daß auch sonst nichts waseiner Vielheit gemeinsam ist, selbständig bestehendesWesen, Substanz, ist. Denn Substanz zu sein kommtkeinem zu als der Substanz selbst und dem, worin dieSubstanz enthalten ist, also dem, dessen Substanz sieausmacht. Außerdem, was eines ist, das kann nicht zu

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4329 249Aristoteles: Metaphysik

vielen Malen zugleich sein; das einer Mehrheit Ge-meinsame aber ist zu vielen Malen zugleich vorhan-den. Offenbar also, daß nichts Allgemeines als einGetrenntes für sich neben den einzelnen Gegenstän-den existiert.

Andererseits haben die Anhänger der Ideenlehre in-sofern Recht, wenn sie die Ideen, vorausgesetzt daßsie Substanzen sind, als selbständig für sich Seiendesbezeichnen; ihr Unrecht besteht nur darin, daß sie alsIdee bezeichnen, was in einer Vielheit von Gegenstän-den das Einheitliche ist. Der Grund ihres Irrtums liegtdarin, daß sie nicht anzugeben vermögen, was das fürSubstanzen sind, die unvergänglich neben den einzel-nen und sinnlich wahrnehmbaren Dingen bestehensollen. Sie stellen sie deshalb dar als der Gestalt nachmit den vergänglichen Dingen, wie sie uns geläufigsind, identisch; sie bezeichnen sie als Menschen ansich und Pferde an sich, indem sie zu der Bezeichnungfür die sinnlichen Dinge bloß das Wörtlein »an sich«hinzufügen. Und doch würde es meines Erachtens,auch wenn wir nie ein Gestirn gesehen hätten, deshalbnicht minder ewige Substanzen geben neben den Din-gen, von denen wir durch die Erfahrung Kenntnis hät-ten. Und so wäre doch wohl auch hier, gesetzt auch,wir könnten nicht sagen, was sie sind, die Notwendig-keit anzuerkennen, daß sie sind. – Damit wird klargeworden sein, daß nichts, was als Allgemeines aus-

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gesagt wird, eine Substanz sein, und daß nichts, wasSubstanz ist, aus Substanzen bestehen kann.

Indessen, um die Frage zu entscheiden, wie mandie Substanz auffassen und welche Bestimmungenman ihr zuschreiben muß, wollen wir noch von einemanderen Ausgangspunkte aus vorgehen. Daraus dür-fen wir hoffen auch über diejenige Substanz, die vonden sinnlich wahrnehmbaren Substanzen getrennt fürsich besteht, den rechten Aufschluß zu erhalten.

Da die Substanz die Bedeutung des Prinzips unddes Grundes hat, so soll dies für uns den Ausgangs-punkt bilden. Man sucht das Warum zu ermittelnimmer in dem Sinne, weshalb einem Subjekt ein ge-wisses Prädikat zukomme. So hat die Frage, weshalbein kunstverständiger Mann denn eigentlich ein kunst-verständiger Mann ist, entweder den Sinn, daß ebennach dem Grunde für das Ausgesagte gefragt wird,also dafür, daß dieser kunstverständige Mann einkunstverständiger Mann ist, oder sie hat einen ande-ren Sinn. Nun aber heißt nach dem Grunde fragen,aus dem etwas das ist, was es ist, soviel wie nach garnichts fragen; denn das Daß und die Tatsache, z.B.daß es eine Mondfinsternis gibt, muß schon festste-hen, ehe nach dem Grunde dafür gefragt wird. Daßaber etwas ist was es ist, das gilt für alles in gleicherWeise und aus gleichem Grunde, wie weshalb derMensch ein Mensch und der Kunstverständige kunst-

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verständig ist; man könnte nur sagen: jegliches ist inbezug auf sich selbst ein von sich selbst Untrennba-res, und das würde heißen: es ist ein mit sich Einiges,Identisches. Das aber ist für alles gemeinsam undselbstverständlich. Eine ganz andere Frage wäre die,aus welchem Grunde der Mensch ein lebendes Wesenvon dieser bestimmten Art ist. Also soviel ist klar,daß man nicht fragt, aus welchem Grunde derjenigeein Mensch ist, der ein Mensch ist, sondern daß manvielmehr fragt, aus welchem Grunde einem Gegen-stande ein von ihm verschiedenes Prädikat zukommt,und daß ihm dieses Prädikat zukommt, muß zuvorfeststehen. Stände das nicht fest, so hätte die Fragekeinen Sinn. Weshalb z.B. donnert es? das heißt:woher kommt das Getöse in den Wolken? Also, wes-halb einem Gegenstande ein von ihm Verschiedeneszukommt, das ist der Sinn der Frage. Aus welchemGrunde bilden diese bestimmten Dinge, wie Ziegelund Quadern, ein Haus? Da fragt man offenbar nach-dem Grunde, und Grund bedeutet, das Wort ganz all-gemein genommen, dasselbe wie Wesensbegriff. Inmanchen Fällen ist der Grund der Zweck, wie etwawo von einem Hause oder einem Bette die Rede ist; inanderen Fällen wieder ist es der Anstoß der Bewe-gung; denn auch dieser gehört zu den Arten des Grun-des. Einen Grund von letzterer Art sucht man für dasEntstehen und Vergehen, jene andere Art des Grundes

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dagegen auch für das Sein. Wonach gefragt wird, dasverbirgt sich am ehesten da, wo nicht eines von einemanderen ausgesagt wird, also z.B. wo gefragt wird,weshalb ein Mensch ist, weil hier der Gegenstand ein-fach gesetzt, aber nicht dieses Subjekt durch diesesPrädikat bestimmt wird. Also man muß die Frage sobehandeln, daß man zergliedert und das Verschiedeneauseinanderhält; sonst gerät man in Gefahr, eineFrage zu stellen, die keine Frage ist.

Da nun die Tatsache gegeben sein und feststehenmuß, so ist die Frage offenbar die nach der Materie,aus welchem Grunde sie etwas Bestimmtes ist. Z.B.aus welchem Grunde bilden diese Stoffe ein Haus?Doch deshalb, weil der Begriff des Hauses darin ge-geben ist. Und aus demselben Grunde ist dieses einMensch und ist der Leib dieses, weil er diese be-stimmte Beschaffenheit hat. Man fragt also nach demGrunde dafür, daß die Materie dieses Bestimmte ist,und dieser Grund nun ist die Form oder die Substanz.Offenbar also findet solche Frage und solche Beschei-dung nicht statt bei dem, was einfach ist; das Einfachemuß vielmehr auf andere Weise untersucht werden.

Das was aus Bestandteilen so zusammengesetzt ist,daß es ein einheitliches Ganzes bildet, nicht nach Arteines Haufens, sondern wie eine Silbe, das ist offen-bar mehr als bloß die Summe seiner Bestandteile.Eine Silbe ist nicht die Summe ihrer Laute; ba ist

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4333 253Aristoteles: Metaphysik

nicht dasselbe wie b plus a, und Fleisch ist nicht das-selbe wie Feuer plus Erde. Denn zerlegt man sie, soist das eine, das Fleisch und die Silbe, nicht mehr vor-handen, aber wohl das andere, die Laute, oder Feuerund Erde. Die Silbe ist also etwas für sich; sie istnicht bloß ihre Laute, Vokal plus Konsonant, sondernnoch etwas Weiteres, und das Fleisch ist nicht bloßFeuer und Erde oder das Warme und das Kalte, son-dern noch etwas Weiteres. Wäre dieses Weitere, washinzukommt, notwendig auch wieder ein Element wiedie anderen, oder bestände es aus anderem, so würde,falls es selbst ein Element wäre, dasselbe gelten wievorher; das Fleisch würde aus diesem Element undaus Feuer und Erde bestehen und noch aus Weiterem,was hinzukommt, und so würde es weiter gehen insUnendliche. Im anderen Falle, wenn das Weitere, washinzukommt, selbst wieder aus anderem bestände, sowürde es offenbar nicht aus einem, sondern aus meh-reren Elementen bestehen müssen, weil es sonst mitdem, woraus es besteht, zusammenfiele, so daß davoneben wieder dasselbe zu sagen sein würde wie vondem Fleisch oder der Silbe. Und so wird man zu derAnsicht gelangen, daß dieses weitere Hinzukommen-de ein Neues und nicht ein Element des Ganzen ist,und daß dies der Grund dafür ist, daß dieser Gegen-stand Fleisch und dieses eine Silbe ist, und ebenso inallen anderen Fällen.

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Dieses nun ist die Substanz und der Wesensbe-griff jedes Gegenstandes, dieses der oberste Grundfür das Dasein des Gegenstandes. Da es aber Dingegibt, die nicht Substanzen sind, sondern dazu nur die-jenigen gehören, die Substanzen sind durch eine in-nerlich gestaltende Macht, und durch eine solche ge-bildet sind, so ergibt sich, daß diese innerlicheMacht, die nicht ein Element, sondern ein Prinzipbedeutet, die eigentliche Substanz ist. Ein Elementdagegen heißt das, worin der Gegenstand als in seinemateriellen Bestandteile sich zerlegen läßt, wie beider Silbe die Laute a und b.

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4335 255Aristoteles: Metaphysik

6. Zusammenfassung und Abschluß

Auf Grund unserer bisherigen Erörterungen dürfenwir nunmehr zum Abschluß kommen und die Unter-suchung, indem wir die Hauptsumme ziehen, zu Endebringen.

Wir haben also ausgeführt, daß den Gegenstandder Untersuchung die Grunde, Prinzipien und Ele-mente der selbständigen Wesen bilden. Die selbstän-digen Wesen nun werden als solche teils von allenübereinstimmend anerkannt, teils gelten sie als selb-ständig existierend nur nach der besonderen Ansichteinzelner Denker. Übereinstimmung herrscht über diein der Natur gegebenen Substanzen, wie Feuer, Erde,Wasser, Luft und die übrigen unorganischen Körper,sodann über die Pflanzen und ihre Teile, die Tiere unddie Glieder der Tiere, und endlich über den Himmelund die Himmelskörper. Dagegen sind nur nach derbesonderen Ansicht einiger Forscher selbständigeWesen die Ideen und die mathematischen Gebilde.Für die denkende Überlegung ergeben sich als weitereselbständige Objekte das begriffliche Wesen und dasSubstrat; und wieder auf anderem Wege zeigt sich,daß in eigentlicherem Sinne selbständiges Wesen dieGattung ist als die Arten, und das Allgemeine als dasEinzelne. Dem Allgemeinen und der Gattung nahe

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verwandt sind aber auch die Ideen, und sie gelten alsselbständige Wesen auch aus demselben Grunde.

Da nun der Wesensbegriff ein selbständig Existie-rendes, der Ausdruck für denselben aber die Definiti-on ist, so haben wir aus diesem Grunde über die Defi-nition und über das Ansichseiende zu festen Bestim-mungen zu gelangen gesucht. Und da ferner die Defi-nition eine Aussage ist, eine Aussage aber aus Teilenbesteht, so waren wir genötigt, auch betreffs der Teilezuzusehen, welche Beschaffenheit den Teilen zu-kommt, die Teile der Substanz sind, welche denen,die es nicht sind, und inwiefern dann die Teile derSubstanz auch Teile der Definition bilden.

Wir haben dann ferner gesehen, daß weder demAllgemeinen noch der Gattung selbständige Existenzzukommt; betreffs der Ideen und der mathematischenGebilde aber müssen wir die Frage noch im weiterenFortgange untersuchen. Manche nämlich nehmen an,daß diese als selbständige Wesen neben den sinnli-chen Substanzen zu gelten hätten.

Für jetzt wollen wir an die Substanzen herantreten,die es nach übereinstimmender Ansicht sind; diesaber sind die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstande.Die sinnlichen Substanzen nun sind sämtlich mit Ma-terie behaftet. Substanz ist in dem einen Sinne dasSubstrat und die Materie, – unter Materie aber verste-he ich das, was nicht der Wirklichkeit nach, sondern

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nur der Möglichkeit nach eine Bestimmtheit an sichträgt; – im anderen Sinne ist Substanz der Begriff unddie Form, das was als ein Bestimmtes im Denken fürsich abgetrennt aufgefaßt werden kann. Das Dritte istdann die Verbindung von beiden, das, dem allein einEntstehen und Vergehen zukommt, und was schlecht-hin ein für sich Bestehendes ist, während die begriffli-chen Gegenstände teils für sich bestehende sind, teilsnicht.

Daß nun auch die Materie ein Wesen für sich ist,leuchtet von selbst ein. Wo sich nämlich eine Verän-derung vollzieht, sei es in der einen, sei es in der ent-gegengesetzten Richtung, da gibt es immer etwas,was der Veränderung als Substrat dient; z.B. bei derräumlichen Veränderung etwas was jetzt hier undnachher dort ist, oder bei der Größenveränderungetwas was jetzt so groß und nachher größer oder klei-ner ist, oder bei der Veränderung der Beschaffenheitetwas was jetzt gesund und nachher krank ist. Ebensoaber ist auch bei der Veränderung der Substanz nochetwas vorhanden, was jetzt im Entstehen und nachherim Vergehen begriffen ist, und was jetzt als diesesBestimmte oder auch im Sinne der Privation als dasder Bestimmung noch Entbehrende das Substrat bil-det. Diese letztere Veränderung ist diejenige, die allenanderen Veränderungen zugrunde liegt, während sievon den anderen, sei es bloß von einer, oder auch von

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zweien derselben zusammen, unabhängig ist. Denn esist nicht nötig, daß da wo etwa Materie für die Orts-veränderung gegeben ist, auch Materie für das Entste-hen und Vergehen vorhanden sei.

Über den Unterschied zwischem dem Werden imabsoluten und dem Werden im relativen Sinne habenwir in unseren Schriften zur Physik gehandelt. Daüber die Substanz im Sinne des Substrats und derMaterie Übereinstimmung herrscht, und zwar als überdie Substanz, die es bloß der Potentialität nach ist, sobleibt uns noch über die Substanz der sinnlichenDinge als die Substanz, die es der Aktualität nach ist,zu handeln und ihr Wesen zu bestimmen.

Bei Demokrit hat es den Anschein, als ob er einendreifachen Unterschied setze. Das körperliche Sub-strat, die Materie, ist nach ihm immer dasselbe; eswird aber modifiziert teils durch Maßverhältnisse,d.h. die Gestalt, teils durch Richtungsverhältnisse,d.h. die Lage, teils durch Zusammenhang mit ande-rem, d.h. die Anordnung. Indessen, derartige Unter-schiede gibt es offenbar noch sonst in Menge. So wirddas eine nach dem Durcheinander der Materie be-zeichnet, z.B. alles was durch Mischung entsteht, wieein Trank aus Milch und Honig, anderes nach demlosen Aneinander, wie ein Bündel, wieder anderesnach dem Zusammengeheftetsein wie ein Buch, odernach dem Zusammengenageltsein wie ein Kasten,

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4339 259Aristoteles: Metaphysik

oder nach einer Mehrheit solcher Arten des Verbun-denseins zugleich. Dann wieder ist der Unterschiedder des räumlichen Verhältnisses wie bei Schwelleund Türsturz – denn hier ist der Unterschied der derräumlichen Lage –, oder es ist ein Unterschied derZeit wie bei Frühstück und Mittagbrot, oder derräumlichen Richtung, wie bei den Winden, oder derBesonderheiten der sinnlichen Wahrnehmung wieHärte und Weichheit, Dichtigkeit und Lockerheit,Trockenheit und Feuchtigkeit. Manches zeigt nur ein-zelne dieser Unterschiede, anderes zeigt sie alle; über-haupt aber können säe auf einem besonders hohenoder auf einem besonders niederen Grade des Vorhan-denseins beruhen.

Daher wird denn auch das Wörtlein »ist« offenbarin ebenso vielen Bedeutungen gebraucht. Schwelle istetwas, weil es diese Lage hat, und ihr Sein bedeutetdas So-gelegen-sein; Eis sein aber heißt diesen Gradvon Dichtigkeit haben. Weiter wird es auch Dingegeben, bei denen das Sein sich nach allen diesen Un-terschieden zugleich bestimmt, indem sie zum Teilvermengt, zum Teil gemischt, zum Teil aneinandergeheftet, zum Teil verdichtet sind, und noch weiterandere Unterschiede zeigen, wie z.B. eine Hand undein Fuß.

Es gilt darum die allgemeinen Arten der Unter-schiede ins Auge zu fassen; denn diese bilden die

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4340 260Aristoteles: Metaphysik

Prinzipien für das Sein. So der Unterschied des Mehrund Minder, des Dichten und Lockeren, und so wei-ter; alles dies ist auf Höhe oder Niedrigkeit des Gra-des zurückzuführen. Wo dagegen Gestalt, Glätte oderRauheit in Betracht kommt, da handelt es sich jedes-mal um das Gerade und das Krumme. Bei anderemwieder wird das Sein durch das Gemengtsein, dasNichtsein durch das Gegenteil davon bestimmt sein.

Aus alledem geht hervor, daß, wenn die Substanzfür jegliches den Grund davon bildet, daß es ist, wases ist, in diesen Unterschieden der Grund davon ge-sucht werden muß, daß ein jegliches ist, was es ist.Die Substanz freilich macht keiner dieser Unterschie-de aus und tut es auch nicht in seiner Verbindung mitdem Substrat; aber es findet sich doch in jeglichemderselben etwas, was der Substanz verwandt ist. Undwie in den Substanzen die Form, die von der Materieausgesagt wird, eben die Aktualität ist, so wird diesauch sonst bei den begrifflichen Bestimmungen dasEntscheidende sein. Wenn es z.B. gilt, die Schwellezu definieren, so werden wir etwa sagen, sie sei Holzoder Stein in dieser bestimmten Lage; ebenso vomHause, es sei Ziegel und Balken in dieser bestimmtenAnordnung, sofern nicht bei manchen Gegenständenauch den Zweck anzugeben erforderlich ist. Sollen wiraber das Eis definieren, so werden wir es als festge-wordenes oder in dieser bestimmten Weise verdichte-

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4341 261Aristoteles: Metaphysik

tes Wasser bezeichnen, und ein Zusammenklang istdiese bestimmte Mischung von hohen und tiefenTönen. Ebenso ist es in anderen Fällen.

Aus dem Gesagten geht hervor, daß die Aktualitäteine andere und der Begriff ein anderer wird, je nachder Verschiedenheit der Materie. In dem einen Falleist die Anlagerung, im anderen die Mischung, im drit-ten wieder ein anderes unter den oben genannten Ver-hältnissen das Entscheidende. Wenn also jemand inder Definition, um zu sagen, was ein Haus ist, angibt,es sei Steine, Ziegel, Balken, so gibt er nur an, wasder Möglichkeit nach ein Haus ist; denn jene Dingebilden die Materie des Hauses. Wer aber angibt, einHaus sei ein geschlossener Raum als schützenderAufenthaltsort für Personen und Sachen, etwa nochunter Hinzufügung sonstiger ähnlicher Bestimmun-gen, der bezeichnet, was das Haus der Wirklichkeitnach ist. Wer aber beide Bestimmungen mit einandervereinigt, der gibt die Substanz im dritten Sinne desWortes an, die Verbindung jener beiden. Denn dieBezeichnung vermittelst der charakteristischen Unter-schiede darf dafür gelten, die Form und die Aktualitätzu bezeichnen, während die Bezeichnung vermittelstder Bestandteile eher die Materie betrifft. Ganz ähn-lich ist es mit den Definitionen, wie sie dem Archytasgenehm waren; denn sie enthalten eben die beidenElemente der Zusammensetzung. Was bedeutet z.B.

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4342 262Aristoteles: Metaphysik

Windstille? Die Ruhe im Luftraum. Hier ist die Mate-rie die Luft, die Aktualität aber und die Substanz dieRuhe. Was ist Meeresstille? Die Ebenheit der Mee-resoberfläche. Das Substrat als Materie ist hier dasMeer, die Aktualität und die Substanz die Ebenheit.

Aus unserer Darlegung ist zu ersehen, was die Sub-stanz als sinnlich wahrnehmbare ist und in welchemSinne sie Substanz ist. Sie ist es teils als Materie,teils als Gestalt und Aktualität; sie ist es drittens alsdie Einheit von beiden.

Dabei ist nun wohl zu beachten, daß es bisweilenunsicher bleibt, ob ein Wortausdruck die Substanz alsEinheit von Form und Materie oder bloß das Momentder Aktualität darin und die Form bezeichnet. »Haus«z.B., ist das die Bezeichnung für die Verbindung derbeiden Momente, also für den aus Ziegeln und Steinin dieser bestimmten Anordnung hergestellten schüt-zenden Raum, oder bloß für das Moment der Aktuali-tät und die Form, also für den schützenden Raum?Oder »Linie«, ist das die Bezeichnung für die Zwei-heit in der Längendimension, oder einfach für dieZweiheit? Oder »lebendes Wesen«, heißt das eineSeele mit ihrem Leibe oder die Seele allein? Denndiese ist doch die Substanz und Aktualität eines Lei-bes. Der Ausdruck »lebendes Wesen« könnte ganzwohl von beidem gebraucht werden, nicht als würdebeide Male derselbe Begriff bezeichnet, aber beide

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4343 263Aristoteles: Metaphysik

Male wird doch die Beziehung auf eines, auf dieForm, gemeint. Indessen mag das in anderen Fälleneinen Unterschied machen: für die Frage, was dieSubstanz als sinnlich wahrnehmbare ist, macht es kei-nen. Denn der Wesensbegriff ist der Begriff der Formund der Aktualität. Seele und Begriff der Seele istganz dasselbe; Mensch dagegen und Begriff des Men-schen ist nicht dasselbe, es sei denn, daß man dasWort »Seele« auch im Sinne von »Mensch« ge-braucht. Und so wäre es denn in dem einen Falle das-selbe, in dem anderen Falle nicht.

Genauere Überlegung zeigt sodann, daß eine Silbenicht in den einzelnen Lauten und deren Zusammenfü-gung und ein Haus nicht in den Ziegeln und ihrer Zu-sammenfügung besteht; und solches Urteil erweistsich als ganz richtig. Zusammenfügung und Gemengeist nicht mit dem, dessen Zusammenfügung und Ge-menge es ist, abgemacht, und ganz ebenso liegt dieSache in den anderen Fällen. Ist etwas z.B. Schwelledurch seine räumliche Lage, so kommt die Lage nichtvon der Schwelle her, sondern diese vielmehr vonjener. Und so ist denn auch ein Mensch nicht erstensein lebendes Wesen und zweitens zweibeinig; sondernes muß, wenn das eine die Materie ist, noch etwas au-ßerdem hinzukommen, ein solches, was weder einElement des Ganzen ausmacht noch aus den Elemen-ten besteht, sondern die Substanz selbst bedeutet, so

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4344 264Aristoteles: Metaphysik

daß, wenn man es fortläßt, nur noch die Materie desGegenstandes bezeichnet wird.

Ist nun eben dieses der Grund für das Sein und dieSubstanz, so liegt es nahe, eben dieses auch für dieSubstanz selber anzusehen. Diese muß ewig sein,oder wenn sie vergänglich ist, vergänglich sein ohnedoch unterzugehen und entstanden sein ohne doch zuentstehen. Nun haben wir an anderem Orte gezeigtund klar gestellt, daß was einer hervorbringt oder er-zeugt, niemals die Form ist, sondern daß das, washervorgebracht wird, immer dieser bestimmte Gegen-stand, und das was entsteht, die Verbindung der bei-den Momente ist. Ob aber die Substanzen der ver-gänglichen Dinge ein abtrennbares Sein für Sichhaben, darüber ist damit noch nichts ausgemacht. Nurdas ist klar, daß dies bei einigen Gegenständenschlechterdings ausgeschlossen ist, nämlich bei allendenen, die nicht noch neben den einzelnen Dingen fürsich bestehen können, wie z.B. ein Haus oder ein Ge-räte. Also werden diese auch keine Substanzen sein,und eben dies gilt auch von allem anderen, was nichtein Gebilde der Natur ist. Denn die Natur allein darfman für die in den vergänglichen Dingen wirksameSubstanz ansehen.

Darum hat denn auch die Schwierigkeit, die dieAnhänger des Antisthenes und andere in gleichemSinne minder einsichtige Männer hervorgehoben

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4345 265Aristoteles: Metaphysik

haben, immerhin einen gewissen ernsten Anlaß. Eshandelt sich um den Satz, daß sich das Was eines Ge-genstandes nicht definieren lasse und die Begriffsbe-stimmung nur eine leere Umständlichkeit bedeute; nurdie Beschaffenheit eines Gegenstandes lasse sichwirklich angeben. So könne man nicht sagen, was Sil-ber ist, aber wohl, daß es von ähnlicher Beschaffen-heit ist wie das Zinn. Danach gibt es wohl eine Artvon Substanz, von der sich ein Begriff und eine Defi-nition angeben läßt, nämlich die zusammengesetzte,ganz gleich, ob sie Gegenstand des sinnlichen Wahr-nehmens oder nur des Denkens ist; aber die ursprüng-lichen Elemente, aus denen sie besteht, lassen sichnicht definieren, wenn die Definition doch besagt, daßeinem Gegenstande etwas als seine Bestimmung zu-kommt, und daß dabei das eine die Bedeutung derMaterie, das andere die Bedeutung der Form besitzt.

Ferner aber geht daraus auch dies hervor, daß,wenn die Substanzen irgendwie die Natur von Zahlenhaben, dies in der gleichen Weise zu nehmen ist, undnicht wie manche wollen so, daß sie aus Einheiten be-stehen. Denn die Definition ist freilich wie eine Zahl;sie ist teilbar wie diese und in Unteilbares zerlegbar;kann doch die Teilung nicht ins Unendliche gehen.Von eben dieser Beschaffenheit aber ist ja auch dieZahl. Und wie eine Zahl, wenn man von ihr einenihrer Bestandteile hinwegnimmt oder etwas hinzufügt,

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4346 266Aristoteles: Metaphysik

nicht mehr dieselbe Zahl bleibt, sondern eine anderewird, das Weggenommene oder Hinzugefügte seiauch noch so gering, so wird auch die Definition undder Wesensbegriff nicht mehr dasselbe sein, wennman etwas fortnimmt oder hinzufügt. Wenn aber dochdie Zahl etwas haben muß, wodurch sie eine Einheitbildet, so sind jene Leute nicht imstande das anzuge-ben, wodurch sie eine Einheit ist, während sie docheine Einheit bilden soll. Entweder ist die Zahl nichtsweiter als ein bloßer Haufen, oder wenn sie doch nochein weiteres ist, so muß man auch angeben können,was denn das ist, was aus der Vielheit eine Einheitmacht. Die Definition nun ist in derselben Weise eineEinheit, und nun sind sie auch von dieser in derselbenWeise nicht imstande zu sagen, was sie ist. Und dasist auch ganz natürlich; denn mit der Definition stehtes ganz ebenso wie mit der Zahl. Beides ist eine Ein-heit, aber nicht, womit sich manche behelfen, als wäredie Einheit die Einzahl oder ein Punkt, sondern sie istjedesmal eine Entelechie, innere gestaltende Formund Anlage. So wenig ferner die bestimmte Zahl einMehr oder Minder an sich hat, so wenig hat es dieSubstanz im Sinne der Form; sondern, sofern dasMehr oder Minder vorkommt, gilt es vielmehr von dermit der Materie verbundenen Form.

Dies möge genügen, um die Frage nach dem Ent-stehen und Vergehen dessen, was in dem bezeichneten

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4347 267Aristoteles: Metaphysik

Sinn Substanz ist, zu entscheiden, und zu feigen, inwelchem Sinne es möglich, in welchem unmöglich ist,sowie welche Geltung der Zurückführung der Sub-stanz auf die Zahl zukommt.

Was nun die materielle Substanz betrifft, so gilt essich auch das klar zu machen, daß, wenn auch allesaus demselben ursprünglichen Substrat oder aus einerMehrzahl solcher ursprünglichen Substrate besteht,und es eine und dieselbe Materie ist, die das Prinzipfür alles bildet was wird, doch auch wieder jeglichesseine eigene Materie hat; so der Schleim das Süßeund das Fette, die Galle das Bittere oder irgend etwasanderes. Anzunehmen aber ist, daß dieses beides wie-der aus einem und demselben stammt. Eine Mehrheitvon Materien ergibt sich für einen und denselben Ge-genstand in der Weise, daß die eine Materie wiederein anderes zu ihrer Materie hat; so besteht derSchleim aus dem Fetten und dem Süßen, wenn dasFette seinerseits aus dem Süßen stammt, und als ausder Galle bestehend kann der Schleim dann bezeich-net werden, wenn man die Galle wieder auf ihre ur-sprünglichste Materie zurückführt. Denn daß das eineaus dem anderen kommt, kann zweierlei bedeuten:entweder daß es sich im geraden Fortgang der Ent-wicklung aus dem anderen bildet, oder daß es dannherauskommt, wenn das andere sich in seine ur-sprünglichen Elemente auflöst.

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4348 268Aristoteles: Metaphysik

Die Möglichkeit aber, daß während die Materieselber einheitlich ist, dennoch anderes und immerwieder anderes aus ihr werde, ist durch die bewegendeUrsache gegeben. So wird aus Holz ein Kasten, aberauch eine Bettstelle. Dagegen gibt es Fälle, wo derGegenstand, eben weil er selbst ein anderes ist, auchnotwendig eine andere Materie verlangt. Eine Sägez.B. läßt sich nicht aus Holz herstellen. Hier liegt esnicht an der bewegenden Ursache; denn eine Säge ausWolle oder aus Holz herzustellen wäre jeder Ursachegleich unmöglich. Wo dagegen aus verschiedener Ma-terie eines und dasselbe herzustellen die Möglichkeitbesteht, da ist offenbar die Voraussetzung ein Identi-sches in der Kunstfertigkeit und in dem Prinzip, dasals bewegende Kraft wirkt. Denn wenn beides ver-schieden ist, die Materie sowohl wie das, was sie inBewegung setzt, so muß auch das Ergebnis ein ver-schiedenes sein.

Fragt man nun nach der Ursache, so muß man, davon Ursache in vielfacher Bedeutung gesprochenwird, alle Ursachen ins Auge fassen, die möglicher-weise in Betracht kommen können. Z.B. was ist dieUrsache des Menschen im Sinne der materiellen Ursa-che? Doch wohl das Menstrualblut. Was aber imSinne der bewegenden Ursache? Doch wohl derSame. Was aber im Sinne der Form? Der Wesensbe-griff. Und was im Sinne der Zweckursache? Die

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4349 269Aristoteles: Metaphysik

Zweckbestimmung. Letzteres beides aber fällt viel-fach zusammen. Es gilt ferner jedesmal die nächstenUrsachen anzugeben. Auf die Frage: was ist die Mate-rie des Gegenstandes? ist die Antwort nicht: Feueroder Erde, sondern die jedesmalige eigentümlicheMaterie dieses bestimmten Dinges.

Auf diese Weise muß man also, wenn man richtigverfahren will, bei den in der Natur gegebenen Din-gen vorgehen, die dem Werden unterliegen, wenndoch dies die Ursachen und ihrer Arten soviele sind,und wenn doch die Aufgabe die ist, die Ursachen zuerkennen. Bei denjenigen in der Natur gegebenenSubstanzen dagegen, die ewig sind, ist die Aufgabeeine andere. Denn da gibt es einige, von denen anzu-nehmen ist, daß sie überhaupt keine Materie habenoder doch keine von der bezeichneten Art, sondernnur eine Materie für die räumliche Bewegung. Undebenso gilt von alledem, was zwar in der Natur gege-ben, aber nicht Substanz ist, daß es keine Materie hat;sondern hier ist der selbständig bestehende Gegen-stand selber das Substrat. Z.B. was ist die materielleUrsache der Mondfinsternis? Gar nichts; sondern dadarf der Mond dafür gelten, an dem der Zustand auf-tritt. Was aber ist die Ursache als bewegende, die dasLicht abschneidet? Die Erde. Von einer Zweckursacheläßt sich hier überhaupt nicht wohl reden. Die Form-ursache aber ist der Begriff, und dieser bleibt unklar,

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4350 270Aristoteles: Metaphysik

solange der Begriff nicht in Verbindung mit der Ursa-che angegeben wird. Z.B. was ist die Verfinsterung?Eine Beraubung des Lichtes. Wird aber hinzugefügt,daß diese daher kommt, daß die Erde zwischen Sonneund Mond tritt, so ist das eine begriffliche Erklärung,die zugleich die Ursache angibt. Beim Schlafe ist esnicht klar, welcher Gegenstand eigentlich der nächsteist, der von diesem Zustande befallen wird. Mankönnte sagen: das lebende Wesen. Gewiß; aber diesesin Beziehung auf welchen seiner Teile und auf wel-chen am nächsten? etwa in Beziehung auf das Herzoder ein anderes Glied? Dann ist die Frage weiter:woher kommt's? und weiter: welches ist die Affektion,die der Teil erfährt und die der Organismus als Gan-zes nicht erfährt? Ist es vielleicht diese bestimmte Artvon Zustand der Bewegungslosigkeit? Gewiß; aberdurch welche Affektion des zunächst Affizierten wirddieser Zustand herbeigeführt?

Wir haben gesehen, daß es auch solches gibt, wasist, ohne daß ihm ein Entstehen, und solches, wasnicht ist, ohne daß ihm ein Vergehen zukäme; z.B.der mathematische Punkt, falls man diesem nämlichein Sein zuschreiben darf, und im allgemeinen dieFormen und Gestalten. Denn was entsteht, ist nichtdie weiße Farbe, sondern das Holz von weißer Farbe;wird doch alles was wird, aus etwas und zu etwas. Esist daher nicht so, daß alles, was zu einander im Ver-

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4351 271Aristoteles: Metaphysik

hältnis des Gegensatzes steht, immer eines aus demanderen werde. Vielmehr, daß aus einem Menschenvon schwarzer Farbe ein Mensch von weißer Farbewird, das bedeutet etwas ganz anderes, als daß ausSchwarzem Weißes würde. So gilt es auch nicht vonallem, daß es eine Materie hat: sondern nur von dem-jenigen, welchem ein Werden und ein Übergang voneinem Zustande in den anderen zukommt. Dagegenwas ist oder nicht ist, ohne solche Veränderung zu er-leiden, das hat keine Materie.

Eine schwierige Frage ist die, wie sich die Materieeines jeden Gegenstandes zu den konträren Gegensät-zen verhält. Z.B. wenn der Leib der Möglichkeit nachgesund ist, die Krankheit aber den Gegensatz zur Ge-sundheit bildet, ist dann der Leib der Möglichkeitnach sowohl das eine wie das andere? Oder ist dasWasser der Möglichkeit nach ebensowohl Wein wieEssig? Ist nicht vielmehr die Materie Materie deseinen im Sinne der rechtmäßigen Natur und Form derSache, Materie des anderen nur im Sinne der Privati-on und der Entartung, die wider die Natur ist?

Eine andere Schwierigkeit ist die, aus welchemGrunde, während doch tatsächlich aus Wein Essigwird, es gleichwohl nicht heißen darf, der Wein seiMaterie des Essigs und sei Essig dem Vermögennach, und ebenso, weshalb der lebende Organismusnicht ein Leichnam der Möglichkeit nach sein soll. In-

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4352 272Aristoteles: Metaphysik

dessen, die Verderbnis tritt als bloße Begleiterschei-nung ein; das was die Materie des Lebendigen bildet,das ist es, was die Möglichkeit und Materie auch desLeichnams darstellt, und zwar darstellt im Sinne derVerderbnis; und ebenso ist es mit dem Wasser inbezug auf den Essig. Leichnam und Essig wird ausjenen beiden so, wie aus dem Tage die Nacht wird.Wo sich das eine so in das andere umwandelt, da mußdie Umwandlung sich jedesmal erst vermittelst desRückganges auf die Materie vollziehen. So wenn ausdem Leichnam ein Lebendiges werden soll, so muß ererst in seine Materie zerfallen, und aus dieser bautsich dann wieder das Lebendige auf. Ebenso muß sichder Essig erst in Wasser auflösen, und auf diesemWege kann sich dann wieder der Wein bilden.

Um nun auf die oben aufgeworfene Frage betreffsder Definition und der Zahlen zurückzukommen: wasist der Grund, durch den eine Mehrheit von Bestim-mungen eine Einheit bildet? Für alles, was eine Mehr-heit von Teilen enthält, aber nicht eine Menge nachArt eines bloßen Haufens, sondern ein Ganzes fürsich neben seinen Teilen bedeutet, gibt es für solcheEinheit einen bildenden Grund. So ist es auch bei denKörpern. Bei einigen macht die äußere Berührung denGrund der Einheit aus, bei anderen ist es das Anein-anderkleben oder sonst eine Art der Kohäsion. EineDefinition dagegen ist eine einheitliche Aussage nicht

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durch äußeren Zusammenhang wie ihn etwa die Iliaszeigt, sondern durch die innere Einheitlichkeit des Ge-genstandes, den sie bezeichnet.

Was ist es also, was den Menschen zu einem ein-heitlichen Wesen macht, und warum ist er eines undnicht eine Vielheit, also nicht erstens lebendes Wesenund zweitens auch noch zweibeinig? Zumal wenn,wie manche Denker lehren, das lebende Wesen ansich und das Zweibeinige an sich Existenz hat?Warum ziehen sie dann nicht auch die Konsequenz,daß eben dieses beides selbst den Menschen aus-macht, und einer also Mensch wäre nicht durch dieTeilnahme an der Idee des Menschen als an demeinen, sondern durch die Teilnahme an jenen beiden,an dem lebenden Wesen und am Zweibeinigen?Damit wäre denn freilich der Mensch nicht eines, son-dern eine Mehrheit; er wäre ein lebendes Wesen unddann noch ein Zweibeiniges. Offenbar also, daß dieje-nigen, die so verfahren, wie die bezeichneten Denkerzu definieren und sich auszudrücken gewohnt sind,gar nicht die Möglichkeit haben, die Frage zu beant-worten und die Schwierigkeit zu lösen.

Ist es dagegen so, wie wir sagen; ist die Materiedas eine Moment und die Form das andere, das einepotentiell, das andere aktuell: dann scheint die Sachegar keine Schwierigkeit mehr zu bieten. Denn dieSchwierigkeit ist ganz dieselbe, wie wenn die Defini-

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tion z.B. für ein Gewand lautete: ein Gewand ist run-des Erz. Dann wäre eben jener Name der Ausdruckfür diesen Begriff, und die Frage wäre wieder die: wasist der Grund, daß rund und Erz eine Einheit bilden?Das aber bietet keine Schwierigkeit, weil das eine dieMaterie, das andere die Form bedeutet. Was aber istnun der Grund dafür, daß das, was potentiell ist, aktu-ell wird? Was könnte es sonst sein, als dasjenige, wasda, wo es ein Entstehen gibt, sich als das Wirkendeerweist? Denn dafür, daß das, was potentiell eineKugel ist, aktuell eine Kugel wird, braucht es keinenweiteren Grund; diesen liefert für beides, für Formund Materie, ihr Wesensbegriff. Es gibt aber nichtbloß sinnliche, es gibt auch intelligible Materie, unddas eine Moment des Begriffs ist so immer die Mate-rie, die durch die Gattung, das andere die Aktualität,die durch den artbildenden Unterschied vertreten ist.So ist es zu verstehen, wenn der Kreis eine Figur undeine ebene Figur heißt. Was aber keine Materie hat,weder eine sinnliche noch eine intelligible, also unterkeiner höheren Gattung steht, das ist jegliches unmit-telbar und von vornherein im strengsten Sinn eins,wie es auch ein für sich Seiendes ist. So die substanti-elle Existenz, die Qualität, die Quantität.

Das ist denn auch der Grund, weshalb man in derDefinition nicht das Sein noch das Einssein noch be-sonders angibt; der Wesensbegriff ist eben unmittel-

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bar ebenso ein Eines wie er ein Seiendes ist. Und des-halb gibt es denn auch keinen weiteren Grund dafür,daß jedes von diesen eines ist, wie es keinen Grunddafür gibt, daß es ein Seiendes ist. Denn jedes ist vonvornherein unmittelbar ein Seiendes und Eines, unddas nicht so, als wäre es in der Gattung des Seiendenund des Einen enthalten, und auch nicht so, als bedeu-teten diese Begriffe, Seiendes und Eines, abtrennbareWesenheiten neben den Einzelwesen, die für sich exi-stierten.

Diese Schwierigkeit bietet den Anlaß, weshalb dieeinen von »Teilnahme« reden, ohne daß sie doch an-zugeben wüßten, was der Grund des Teilnehmens istund was das Teilnehmen selbst bedeutet, die anderenden Begriff des »Zusammenseins« einführen, wie Ly-kophron, der die Erkenntnis als »Zusammensein« desErkennens und der Seele bezeichnet: oder wieder an-dere, die das Leben als eine »Verbindung« oder »Ver-einigung« von Seele und Leib auffassen. Aber einesolche Formel ließe sich überall gleich gut verwen-den. Gesundheit würde dann das »Zusammensein«oder die »Verbindung« oder die »Vereinigung« derSeele mit der Gesundheit bedeuten, und daß das Erzdreieckig ist, würde auf einer »Verbindung« des Erzesund des Dreieckigen, daß aber etwas weiß ist, aufeiner »Verbindung« von Oberfläche mit weißer Farbeberuhen. Der Grund, durch den man auf solche Einfäl-

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le geriet, ist der, daß man noch erst nach einem dieEinheit bewirkenden Begriff für die Potentialität unddie Aktualität und nach dem Unterschiede zwischenihnen suchen zu müssen glaubte.

Dagegen haben wir gesehen, daß die letzte Materieund die Form eines und dasselbe ist; nur daß das einebloß potentiell, das andere aber aktuell ist. Es istdarum gerade so, wie wenn man noch erst fragenwollte, aus welchem Grunde denn was eins ist eins seiund woher es sein Einssein beziehe. Denn ein Einesist jegliche Einzelexistenz, und Eines ist im Grundeauch das Aktuelle und das Potentielle. Mithin gibt esfür das Einssein keinen weiteren Grund außer dem,was als bewegende Ursache den Gegenstand aus derPotentialität in die Aktualität hinüberführt. Was aberüberhaupt keine Materie hat, das ist alles schlecht-hin und im eigentlichsten Sinne ein Eines.

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V. TeilPotentialität und Aktualität

1. Die Potentialität als Vermögen der Bewegung

Wir haben bisher von dem schlechthin Seiendengehandelt, von dem, worauf alle anderen Kategoriendes Seienden bezogen werden, von der Substanz.Denn das Übrige, dem ein Sein zukommt, wird nachseinem Verhältnis zur Substanz bestimmt: Qualitätund Quantität und was sonst die Geltung der Katego-rie besitzt; alles dies muß, wie wir früher ausgeführthaben, den Begriff der Substanz mit einschließen. Danun aber das Seiende, wie nach seinem Wesen, seinerQualität oder Quantität, so auch andererseits nachdem Gesichtspunkte von Potentialität, von Entelechieals innerer Anlage und von Verwirklichung betrachtetwird, so wollen wir nunmehr dazu schreiten, auchüber diese, über Potentialität und Entelechie, zu ge-naueren Bestimmungen zu gelangen.

Zuerst also von der Potentialität in ihrer ursprüng-lichen und nächsten Bedeutung, die freilich für das,was wir hier im Auge haben, nicht eigentlich in Be-tracht kommt. Denn Potentialität und Aktualität reichtweit hinaus über das, was bloß als das Gebiet der Be-wegung aufgefaßt wird. Aber wenn wir zunächst über

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jene Bedeutung des Wortes gehandelt haben, werdenwir bei der genaueren Erörterung des Begriffes derAktualität auch auf die anderen Bedeutungen desWortes zu sprechen kommen.

Daß von Potentialität und Vermögen in mehrfa-chem Sinne gesprochen wird, haben wir an andererStelle erörtert. Alle diejenigen Bedeutungen des Wor-tes Potentialität nun, bei denen bloße Gleichheit desWortes vorliegt, können wir außer dem Spiele lassen.Zuweilen beruhen sie auf einer bloßen Ähnlichkeit; so»Potenz« in der Geometrie; so reden wir von »mög-lich« und »unmöglich« und meinen damit, etwas seiirgendwie der Fall oder nicht der Fall. Überall aber,wo dem Gebrauche des Wortes Potentialität einewirklich Gemeinsamkeit des Begriffes zugrunde liegt,wird etwas bezeichnet, was die Bedeutung eines Prin-zips hat, und zwar wird es in Beziehung gesetzt zueinem einheitlichen ursprünglichen Prinzip, welcheseine Veränderung bewirkt, sei es in einem anderenoder auch in dem Wirkenden selbst, sofern man indiesem das Leidende vom Wirkenden unterscheidet,wie z.B. wenn der Arzt sein eigener Patient ist. Sogibt es eine Potentialität des passiven Verhaltens, diein dem leidenden Gegenstande selbst liegt, und sie be-deutet dann das Prinzip dafür, daß der Gegenstanddurch die Einwirkung eines anderen oder doch einessolchen, was als ein anderes wirkt, verändert werden

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kann, oder auch einen Habitus der Unempfänglichkeitfür die Veränderung zum Schlechteren und für dieVerderbnis durch ein die Veränderung bewirkendesPrinzip, das in einem anderen oder einem als anderesWirkenden vorhanden ist. In allen diesen Bestimmun-gen findet sich der Begriff der Potentialität in ihremursprünglichen Sinne wieder. Andererseits wird vonPotentialität gesprochen entweder so, daß ein Tun undLeiden überhaupt, oder so, daß ein richtiges und an-gemessenes Tun und Leiden gemeint wird. Also auchin den hierher gehörigen Aussagen bleiben die obenbezeichneten Bedeutungen der Potentialität im Grun-de bewahrt.

Es leuchtet ein, daß die Potentialität in ihrer Bezie-hung auf das aktive und auf das passive Verhalten ineinem Betracht nur eine ist; denn potentiell ist etwas,sowohl sofern es von anderem eine Einwirkung zuempfangen, als auch sofern es auf anderes eine Ein-wirkung zu üben vermag; in anderem Betracht verhältes sich mit ihr in der einen Beziehung doch anders alsin der anderen. Das eine Mal ist sie in dem Leiden-den; denn vermöge eines gewissen Prinzipes, das esin sich enthält, und auch vermöge seiner Materie, dieein solches Prinzip ist, empfängt das Leidende dieEinwirkung und empfängt sie als ein Gegenstand voneinem anderen Gegenstande. Das Fett ist brennbar,und das in bestimmter Weise Widerstandsunfähige ist

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zerbrechlich, und das gleiche Verhältnis herrscht auchsonst in anderen Fällen. Das andere Mal ist die Poten-tialität in dem Wirkenden. So ist das Warme in demErwärmenden, und die Baukunst in dem Baukünstlervorhanden. Darum, sofern in einem Gegenstande bei-des ungeschieden ist, wirkt der Gegenstand nicht aufsich selbst; denn da ist nur eines und gibt es kein an-deres.

Dem gegenüber bedeutet nun das Unvermögen unddas Unvermögende die Privation, die zu dem Vermö-gen von solcher Art im Gegensatze steht; es steht alsojedesmal das Vermögen dem Unvermögen gegenübermit identischem Inhalt und in identischer Beziehung.Der Begriff der Privation aber hat verschiedene Be-deutungen. Privation heißt das Nichthaben, und ins-besondere das Nichthaben da, wo dem Gegenstandedas, was er eigentlich haben sollte, fehlt, entwederüberhaupt oder zu der Zeit, wo er es haben sollte, undentweder in bestimmter Weise, wie beim völligenFehlen, oder in beliebiger Weise. Mitunter reden wirauch von Privation da, wo das Mangeln dessen, wasman haben sollte, durch äußere Gewalt herbeigeführtist.

Prinzipien von der bezeichneten Art kommen nunteils in dem Unbeseelten, teils in dem Beseelten vor,und zwar in der Seele, und hier in demjenigen Bezirkeder Seele, der der Vernunft teilhaftig ist. Daraus er-

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gibt sich, daß auch von den Vermögen die einen ver-nunftlos sind, die anderen an der Vernunft teilhaben.Nun ist alle Kunst und alle auf das Hervorbringen ge-richtete Fertigkeit zu den Vermögen zu rechnen; dennsie sind Prinzipien für eine in einem anderen oder imGegenstande selbst, sofern er ein anderes ist, hervor-zubringende Veränderung. Die Vermögen nun, diemit der Vernunft zusammenhangen, sind, während siedieselben bleiben, Prinzipien für Wirkungen von ent-gegengesetzter Art; diejenigen Vermögen dagegen,die nicht von der Vernunft begleitet sind, sind jedeseinzelne Prinzip nur für eine Art von Wirkung; so istdas Warme nur für die Erwärmung wirksam, währenddie ärztliche Kunst für beides, für Krankheit und fürGesundheit, wirksam ist. Der Grund dafür ist der, daßdie Einsicht begrifflicher Natur ist, der Begriff aberals einer und derselbe die Sache und ihre Privationumfaßt, wenn auch nicht in ganz gleichem Sinne;denn der Begriff umfaßt wohl in gewissem Sinne bei-des, aber eigentlicher gilt er doch für das positiveGlied des Gegensatzes. Deshalb umfassen notwendigauch die betreffenden Fertigkeiten beide Glieder desGegensatzes, das eine aber als solche durch ihrWesen, das andere mittelbar. Bezeichnet doch auchder Begriff das eine als solcher unmittelbar, das ande-re gewissermaßen in vermittelter Weise; denn dasdem Positiven Entgegengesetzte bezeichnet er in der

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Form der Negation und der Ablehnung; wie die Priva-tion von vornherein das dem Positiven Entgegenge-setzte, so bezeichnet die Negation ihn durch Ableh-nung des Positiven. Da nun das Entgegengesetztenicht an dem Identischen vorhanden ist, die Fertigkeitaber ein Vermögen vermittelst begrifflichen Erfassensbedeutet, und die Seele das Prinzip der Bewegung insich enthält, so versteht der kundige Mann, währenddas Heilsame nur Heilung, das Wärmende Wärmeund das Abkühlende Kälte bewirkt, wie das eine soauch das Gegenteil davon zu bewirken. Denn der Be-griff umfaßt beides, wenn auch nicht mit ganz glei-chem Range, und er wohnt der Seele inne, die dasPrinzip der Bewegung enthält; dadurch vermag sievon demselben Prinzip aus, an ein Identisches an-knüpfend, beide Glieder des Gegensatzes herbeizu-führen. Das mit Vernunft ausgestattete Potentiellewirkt also in entgegengesetzter Weise als das nichtmit Vernunft begabte Potentielle, weil in dem Begriffals dem einheitlichen Prinzip das Entgegengesetzte ineinem umfaßt wird. Zugleich aber erhellt, daß dasVermögen, richtig und angemessen zu wirken, dasVermögen überhaupt zu wirken oder zu erleidenselbstverständlich mit einschließt, aber dieses letztereVermögen nicht ebenso immer das erstere. Denn es istzwar notwendig, daß, wer in der rechten Weise wirkt,überhaupt wirkt; aber es ist nicht notwendig, daß, wer

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überhaupt wirkt, in der rechten Weise wirkt.Manche nun, wie die Megariker, behaupten, ein

Vermögen habe etwas nur, sofern es wirklich tätigsei, und wenn es nicht tätig sei, habe es auch das Ver-mögen nicht. Wer nicht baue, der habe auch nicht dasVermögen zu bauen; nur der Bauende, solange erbaue, habe es, und ebenso in anderen Fällen. Es istnicht schwer einzusehen, in welche Ungereimtheitensie sich damit verwickeln. Denn offenbar ist danneiner auch nicht Baumeister, wenn er nicht baut; dennBaumeister sein heißt die Fähigkeit zum Bauen besit-zen. Und ebenso ist es bei den anderen technischenFertigkeiten auch. Wenn es nun unmöglich ist, derar-tige Fertigkeiten zu besitzen, ohne daß man sie erlerntoder erworben hat, und sie nicht zu besitzen, wennman sie nicht zuvor verloren hat, sei es durch Verges-sen oder durch eine Veränderung der Person oderdurch die Länge der Zeit, – denn daß mittlerweile dieKunst selbst untergegangen wäre, kann doch nichtwohl der Grund sein, da diese ewig ist –, so wirdeiner die Fertigkeit nicht besitzen, solange er untätigist; woher bekommt er sie dann aber, wenn er nun aufeinmal wieder zu bauen anfängt? Bei dem Unbeseel-ten aber verhält es sich ganz ebenso. Es würde nichtskalt, noch warm, noch süß sein, es würde überhauptnichts eine sinnliche Qualität haben, als in dem Au-genblick, wo es wirklich so empfunden wird. Und so

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kommt denn schließlich heraus, daß es einfach derSatz des Protagoras ist, den sie nachsprechen.

Aber weiter. Es wird auch nichts die Fähigkeit derWahrnehmung besitzen, so lange es nicht tatsächlichwahrnimmt. Wenn nun blind heißt, was kein Sehver-mögen hat, während es seiner Natur nach zu dieserZeit und in dieser Weise das Vermögen haben sollte,so wird einer und derselbe vielmals an einem Tageblind und taub sein. Ferner, wenn unvermögend heißt,was des Vermögens entbehrt, so wird das, was nochnicht eingetreten ist, auch nicht die Möglichkeit habenzu geschehen; wenn aber einer behauptet, das, wasnicht die Möglichkeit hat zu geschehen, das gescheheoder werde geschehen, so sagt er etwas Falsches aus.Denn gerade dies bedeutet doch der Ausdruck »nichtdie Möglichkeit haben«. Damit heben also solcheAusführungen auch alle Bewegung und alles Entste-hen auf. Was einmal steht, wird immer stehen, undwas einmal sitzt, wird immer sitzen, und wenn essitzt, niemals wieder aufstehen. Denn es ist unmög-lich, daß dasjenige aufstehe, was nicht das Vermögenhat, aufzustehen.

Das ganze Gerede hat also gar keinen Sinn. DaßVermögen und Wirklichkeit zweierlei ist, liegt klaram Tage. Die Ansicht dagegen, von der wir reden,macht aus Vermögen und Wirklichkeit eines und das-selbe; man beeifert sich, einen Unterschied aufzuhe-

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ben, der doch wahrhaftig nicht unerheblich ist. Kannes doch vorkommen, daß etwas zwar das Vermögenhat zu sein und doch nicht ist, und daß etwas das Ver-mögen hat nicht zu sein und doch ist; ebenso ist esbei anderen Aussagen der Fall, so daß etwas das Ver-mögen hat zu gehen und doch nicht geht, und daßetwas, was nicht geht, doch das Vermögen hat zugehen.

Man sagt, etwas habe ein Vermögen, wo es nicht indas Bereich des Unmöglichen gehört, daß das, wasden Inhalt des Vermögens bildet, wirklich werde. Soz.B., wo das Vermögen zum Sitzen vorhanden ist unddie Umstände das Sitzen möglich machen, da ergibtsich nichts Unmögliches, wenn einer wirklich sitzt.Ganz ebenso ist es mit dem Vermögen bewegt zuwerden oder anderes zu bewegen, zu stehen oder an-deres zu stellen, zu sein oder zu werden, nicht zu seinoder nicht zu werden.

Das Wort Energie, das »Verwirklichung« zur En-telechie, der Wesensvollendung hin bedeutet, ist vonder Bewegung, wovon es vorzugsweise gilt, auf dasübrige übertragen worden. Denn als Energie wird vorallem die Bewegung aufgefaßt. Daher kommt es, daßman von dem was nicht ist, nicht aussagt, daß es be-wegt wird. Andere Aussagen, z.B. daß es Objekt desGedankens und des Begehrens sei, macht man wohlvon dem was nicht ist, aber nicht die Aussage, daß es

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bewegt sei, und dies deshalb, weil damit das wasnicht in Wirklichkeit ist, als in Wirklichkeit seiendbezeichnet würde. Denn unter dem, was nicht ist, gibtes solches, was ein potentielles Sein hat; aber es istnicht, weil der Prozeß der Verwirklichung nicht ein-getreten ist.

Hat nun der Ausdruck »ein Vermögen haben« diebezeichnete Bedeutung, was die nachfolgende Ver-wirklichung betrifft, so folgt offenbar, daß die Aussa-ge nicht richtig sein kann: dieses bestimmte ist zwarein Mögliches, es wird aber niemals wirklich sein.Damit wäre der Begriff der Unmöglichkeit außerAugen gelassen. Man nehme ein Beispiel. Wenn je-mand sagt, es sei zwar ganz wohl möglich, die Diago-nale und die Seite des Quadrats mit demselben Maßezu messen, nur würden sie gleichwohl nie so gemes-sen werden, dann erwägt er nicht den Begriff der Un-möglichkeit. Allerdings, nichts hindert, daß etwas,was die Möglichkeit hat zu sein oder zu werden, dochnicht sei und nicht werde. Dagegen ergibt sich ausdem Begriff des Möglichen mit Notwendigkeit dies,daß, wenn wir annehmen, es sei etwas oder sei gewor-den, was nicht ist, was aber doch möglich ist, solcheAnnahme nichts Unmögliches enthalten darf. Siewürde aber in jenem Falle ein Unmögliches sein;denn daß die Diagonale kommensurabel sei, ist etwasUnmögliches.

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4367 287Aristoteles: Metaphysik

Es heißt eben nicht dasselbe: etwas ist falsch, undetwas ist unmöglich. Daß du jetzt stehst, ist falsch;aber unmöglich ist es nicht. Zugleich aber ist offen-bar, daß, wenn aus dem Sein von A das Sein von Bnotwendig folgt, mit der Möglichkeit, daß A ist, not-wendig auch die Möglichkeit von B gegeben ist.Denn wenn die Möglichkeit von B nicht notwendigfolgte, so hinderte nichts die Möglichkeit, daß B nichtsei; B wäre also unmöglich. Gesetzt nun, A sei mög-lich. Hat A die Möglichkeit zu sein, so ergibt sich,daß es nichts Unmögliches ist, wenn A als seiend ge-setzt wird. Dann müßte notwendig auch B sein; Baber hieß ja vorher unmöglich. Gesetzt nun, B sei un-möglich. Ist das Sein von B unmöglich, so wird auchdas Sein von A unmöglich. A aber war doch als mög-lich gesetzt; also ist auch B möglich. Also wenn A einMögliches, so ist auch B ein Mögliches, vorausge-setzt, daß das Verhältnis zwischen ihnen das ist, daßmit dem Sein von A auch das Sein von B notwendiggegeben ist. Wäre also bei diesem Verhältnis von Aund B die Möglichkeit von B nicht in jener Weise ge-geben, so würde auch das Verhältnis von A und Bnicht das sein können, wie es doch gesetzt wurde.Und ist umgekehrt mit der Möglichkeit, daß A sei,auch die Möglichkeit, daß B sei, gegeben, so muß,wenn A ist, notwendig auch B sein. Denn daß dieNotwendigkeit zu sein für B notwendig mit der Mög-

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lichkeit von A gegeben ist, bedeutet eben dies, daßnotwendig, falls A und zurzeit wo A und in der Weisewie A zu sein das Vermögen hatte, auch B das Ver-mögen hat zu sein und gleichfalls zu dieser Zeit undin dieser Weise.

Vermögen sind teils angeboren wie die Sinnesver-mögen, teils eingeübt wie das Spielen eines Instru-ments, teils erlernt wie die künstlerischen Fertigkei-ten. Die einen, die man durch Gewöhnung und Ver-stand erwirbt, besitzt man nicht anders als nachdemman sich zuvor darin geübt hat; für die anderen, dieden bezeichneten Charakter nicht tragen, und für diepassiven Vermögen gilt dieses Erfordernis nicht. Das,was ein Vermögen hat, vermag aber immer Bestimm-tes, zu bestimmter Zeit, in bestimmter Weise, undwas sonst noch an Bestimmungen begrifflich dazu ge-hört. Nun eignet das Vermögen anderes in Bewegungzu setzen das eine Mal solchen Wesen, die mit Ver-nunft begabt sind, und deren Vermögen haben dannan der Vernunft ihren Halt; andere Wesen sind nichtmit Vernunft begabt, und so sind denn auch ihre Ver-mögen nicht durch Vernunft geleitet. Das erstere wirdnur bei beseelten Wesen, das letztere bei beiden Artenvon Wesen gefunden. Bei den vernunftlosen Vermö-gen erfolgt, sobald das was die Wirkung übt und daswas die Wirkung erleidet in der ihrem Vermögen ent-sprechenden Weise zusammentreffen, das Tun und

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das Leiden mit Notwendigkeit; bei den durch Ver-nunft geleiteten ist solche Notwendigkeit nicht vor-handen. Denn während die Vermögen der ersteren Artsämtlich eine Verwirklichung, jegliches nur in einemSinne gestatten, lassen die von der letzteren Art zweientgegengesetzte Richtungen der Verwirklichung zu.Sie würden also, falls die Wirkung mit Notwendigkeiteinträte, das Eine und zugleich das Entgegengesetztewirken, und dies ist unmöglich. Es muß also ein ande-res vorhanden sein, was darüber entscheidet, in wel-chem Sinne die Wirksamkeit erfolgt, und darunterverstehe ich den Trieb oder den Vorsatz. Das Wesenwird, wenn es mit dem für die Einwirkung Empfängli-chen in die seinem Vermögen entsprechende Berüh-rung tritt, dasjenige tun, was dem Antriebe gemäß ist,dem die Entscheidung zufällt. Alles also, was Trägervon Vermögen ist, die mit Vernunft verbunden sind,tut, wenn der innere Antrieb dazu drängt, notwendigdas, wozu es das Vermögen hat, und in der Weise,wie es das Vermögen hat. Es hat aber das Vermögen,wenn das der Einwirkung Empfängliche vorhandenund in dieser bestimmten Verfassung ist; ist das nichtder Fall, so hat es auch das Vermögen des Wirkensnicht Die Einschränkung: falls kein äußerer Umstandhindert, braucht nicht erst ausdrücklich hinzugefügtzu werden. Denn jegliches hat das Vermögen zu wir-ken eben nur in dem Sinne, wie man von Vermögen

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überhaupt sprechen kann; ein Vermögen aber ist nichtschlechthin vorhanden, sondern nur unter gegebenenBedingungen, und dazu gehört auch der Ausschlußäußerer Hindernisse. Denn durch diese würden auchsolche Bestimmungen aufgehoben werden, die zumBegriff der Sache gehören.

Deshalb würde jemand, gesetzt auch er wollte oderer begehrte zweierlei verschiedene oder entgegenge-setzte Wirkungen zugleich zu üben, es doch nichtvollbringen können. Denn das Vermögen, was er hat,hat er doch nicht in dieser Form, und ein Vermögen,Entgegengesetztes zugleich zu tun, gibt es überhauptnicht; man wirkt aber immer nur das, wozu man dasVermögen hat.

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2. Die Aktualität

Die Potentialität, sofern sie zur Bewegung in Be-ziehung steht, hätten wir über ihr Wesen und ihre Be-schaffenheit, genauere Bestimmungen geben. Dabeiwird dann auch der Begriff des Potentiellen klar wer-den, indem wir seine verschiedenen Bedeutungen aus-einanderhalten. Denn von Potentialität spricht mannicht nur da, wo etwas seiner Natur nach anderes be-wegt oder von anderem bewegt wird, sei es überhauptund irgendwie, sei es mit bestimmter Richtung, son-dern auch in anderer Beziehung, und deshalb sind wirbei unseren Untersuchungen auch darauf eingegangen.

Aktualität nun bedeutet ein Vorhandensein des Ge-genstandes in anderem Sinne, als wir vom Sein imSinne der Potentialität sprechen. Potentialität meinenwir, wenn wir z.B. sagen, daß im Holze die Hermesfi-gur und in der ganzen Linie die halbe stecke, nämlichweil man sie daraus hervorholen kann, oder wie wirjemand einen wissenschaftlichen Mann nennen, auchwenn er gerade nicht wissenschaftlich beschäftigt ist,falls er nur zu solcher Beschäftigung befähigt ist. An-ders die Aktualität. Was wir damit sagen wollen, magaus den einzelnen Fällen durch Induktion deutlich ge-macht werden. Es ist durchaus nicht immer geboten,für alles die streng begriffliche Form zu suchen; es

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4372 292Aristoteles: Metaphysik

genügt schon eine Reihe von analogen Fällen zu über-blicken. Dazu dient hier das Verhältnis des Bauendenzum Bauverständigen, des Aufgewachten zum Schla-fenden, des Sehenden zu dem, der die Augen ge-schlossen hält, aber Sehkraft besitzt, des aus demStoffe Gestalteten zum Stoffe, des Fertiggestelltenzum Unfertigen. Durch das eine Glied dieser Gegen-sätze soll jedesmal die Aktualität, durch das anderedie Potentialität bezeichnet sein.

Indessen, Aktualität hat nicht alles in gleicherWeise, oder es ist doch nur das analoge Verhältnisimmer das gleiche; wie dieses an diesem oder auf die-ses bezogen ist, so ist jenes an jenem oder auf jenesbezogen. Aktualität will das eine Mal besagen, wiesich die Bewegung zum Vermögen, das andere Mal,wie sich das Gebilde zum Stoff verhält. Wo vom Un-endlichen, vom Leeren und von anderen derartigenBegriffen als Potentiellem und Aktuellem die Redeist, da geschieht es in anderem Sinne als bei den ge-wöhnlichen Gegenständen, wie z.B. bei dem Sehen-den, beim Gehenden oder auch beim Gesehenen. Hierkann die Aussage einmal ohne weiteres wahr werden;denn das Gesehene heißt so das eine Mal, weil es ge-sehen wird, ein anderes Mal, weil es gesehen werdenkann. Das Unendliche dagegen ist nicht in dem Sinneein Potentielles, als könnte es jemals in Wirklichkeitein für sich Bestehendes werden; das wird es nur im

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4373 293Aristoteles: Metaphysik

Denken. Denn daraus, daß die Teilbarkeit nie zu Endekommt, ergibt sich, daß wohl diese Aktualität ein po-tentielles Sein hat, aber nicht auch das Gelangen zumFürsichsein.

Was nun die Handlungen anbetrifft, so ist eineHandlung, die ein Ende nimmt, nicht selbst Zweck,sondern Mittel zum Zweck. So ist der Zweck der Ent-fettungskur die Abmagerung; wenn aber der zu Ent-fettende noch in der Kur begriffen ist, so ist, da dasZiel der Bewegung nicht in der Bewegung selbst ent-halten ist, solche Bewegung nicht eigentlich eine in-nerlich bildende Tätigkeit zu nennen oder doch keinevollendete; denn sie ist ja nicht selbst das Ziel, underst die Bewegung, in der das Ziel enthalten ist, darfeine innerlich bildende Tätigkeit heißen. So z.B. läßtsich wohl dieses aussagen: es sieht einer auch weiter,wie er bisher gesehen hat; er überlegt, wie er Überlegthat, und denkt, wie er gedacht hat. Aber nicht ebensogilt es: er lernt immer weiter, was er schon gelernthat, oder er genest immer weiter, wie er genesen ist.Dagegen lebt einer immer weiter glücklich, der glück-lich gelebt hat, und ist der weiter selig, der bisherselig gewesen ist. Wäre das nicht richtig, so hätte dieBewegung aufs Ziel hin einmal aufhören müssen, wiees bei einer Entfettungskur der Fall ist. So aber ist eshier nicht; sondern es lebt einer weiter, wie er gelebthat. Die einen dieser Vorgänge also muß man als

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4374 294Aristoteles: Metaphysik

bloße Bewegungen bezeichnen, die zu dem Ziele hin-führen, die anderen als innere Prozesse der Verwirkli-chung. Die Bewegung als Bewegung ist noch unvoll-endet: so die Entfettung, das Erlernen, das Gehen, dasBauen; alles das sind Bewegungen, und zwar unvoll-endete. Denn daß jemand den Weg immer weiter geht,den er gegangen ist, immer weiter baut, was er schongebaut hat, immer weiter wird, was er geworden ist,oder immer weiter bewegt, was er bewegt hat, dasstimmt nicht; sondern »er bewegt«, das ist das eine,und »er hat bewegt«, das ist etwas anderes. Dagegen»er hat gesehen« und »er sieht noch immer«, er»denkt und er hat gedacht«: das kann ganz wohl zu-gleich und als dasselbe statthaben. Einen Vorgangvon der letzteren Art bezeichne ich als inneren Prozeßder Verwirklichung, einen von jener Art aber alsbloße Bewegung.

Was es also heißt, aktuell sein, und welche Be-schaffenheit dem Aktuellen zukommt, das mag unsauf Grund des Beigebrachten und verwandter Erwä-gungen klar geworden sein. Nun gilt es aber weiter,genauer zu bestimmen, zu welcher Zeit jedes einzelnepotentiell ist, und zu welcher Zeit noch nicht. Dennnicht zu jeder beliebigen Zeit ist etwas potentiell.Zum Beispiel: ist etwa Erde schon potentiell einMensch? Doch wohl nicht, sondern vielmehr erstdann, wenn sie bereits zum Samen geworden ist, und

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eigentlich auch dann noch nicht. Es ist damit geradeso, wie nicht alles und jedes gesund gemacht wird,nicht durch die ärztliche Kunst, und auch nicht durchdie Naturheilkraft; sondern es gibt solches, was dasVermögen hat, wieder hergestellt zu werden, und die-ses ist das potentiell Gesunde. Für das, was durchverständige Absicht aus dem Zustande der Potentiali-tät in den der Aktualität hinübergeführt wird, ist diegenauere Bestimmung die: es ist potentiell, wenn ein-mal die Absicht vorhanden ist, und zweitens kein äu-ßerer Zustand hindernd dazwischen tritt; dort aber,bei dem Gegenstande, der gesund gemacht wird, istdie Potentialität vorhanden, wenn nur kein inneresHindernis in dem Gegenstande selbst vorhanden ist.Ähnlich ist es mit einem Hause. Wenn kein innererUmstand in der Sache und keiner in dem Baumaterialdas Werden des Hauses verhindert, und nichts hinzu-zutreten, nichts beseitigt oder geändert zu werdenbraucht, dann ist dies potentiell ein Haus. Ganz so istes auch bei den übrigen Dingen, die das Prinzip ihrerEntstehung in einem Äußeren haben. Was dagegendas Prinzip seiner Entstehung in sich selbst hat, dafürgilt die Bestimmung, daß es potentiell ist, sofern esdurch sich selbst wird, und kein Äußeres hindernd da-zwischen tritt. So ist der Same noch nicht potentiellein Mensch, denn er bedarf noch eines anderen Orga-nismus und muß hier erst eine Reihe von Umwand-

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lungen durchmachen. Wenn aber etwas schon durchsein eigenes inneres Prinzip von der Beschaffenheitist, daß es sich zu verwirklichen vermag, dann ist esschon als solches potentiell. Jenes dagegen, der Same,bedarf noch eines zweiten Prinzips. So ist auch Erdenoch nicht potentiell eine Bildsäule; sie muß sich erstumwandeln und zu Erz werden.

Was wir nun so als potentiell bezeichnen, das stelltsich, wenn es aktuell wird, dar nicht als dieser be-stimmte Stoff selbst, sondern als aus dem Stoff beste-hend. So ist der Kasten nicht Holz, sondern von Holz,und das Holz wieder nicht Erde, sondern von Erde,und Erde wieder ist, falls es sich mit ihr ebenso ver-hält, nicht irgend ein drittes, sondern von einem drit-ten. Jedesmal aber ist dieses andere in der Reihenfol-ge Spätere im eigentlichen Sinne potentiell. So ist derKasten nicht von Erde, auch nicht Erde, sondern vonHolz. Das Holz ist potentiell ein Kasten, und so ist esdes Kastens Materie; das Holz ist die Materie einesKastens schlechthin, und dieses bestimmte StückHolz die Materie dieses bestimmten Kastens. Gibt esnun in dieser Reihe ein erstes Glied, was nicht mehrmit Bezug auf ein anderes als aus diesem bestehendbezeichnet wird, so ist dies die Urmaterie. So wäre,wenn Erde aus Luft bestände, Luft aber zwar nichtFeuer wäre, aber aus Feuer bestände, Feuer die Urma-terie, und wenn es dann eine bestimmte Beschaffen-

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heit annähme, so würde es damit zur Substanz. Denndas macht den Unterschied des Allgemeinen und desSubstrats, daß dieses bestimmtes Einzelwesen ist,jenes nicht. Es ist damit ganz ähnlich, wie das Sub-strat für die Attribute ein Mensch nach Leib und Seelebildet, und literarisch gebildet oder von bleicherFarbe zu sein seine Eigenschaften sind. Tritt an dasSubstrat das Gebildetsein heran, so wird dies Substratnicht etwa Bildung genannt, sondern gebildet, und soheißt auch der Mensch nicht die bleiche Farbe, son-dern bleich, und nicht Gang oder Bewegung, sonderngehend oder bewegt, gerade wie dort etwas nacheinem Stoffe bezeichnet wurde. Wo nun in dieserWeise an ein Substrat eine Bestimmung herantritt, daist das letzte Ergebnis ein substantiell Seiendes; woes sich nicht so verhält, sondern das Ausgesagte eineForm und nähere Bestimmtheit ist, da ist das letzte,bei dem man anlangt, eine Materie und ein materiellSeiendes. Es ergibt sich also, daß es seinen gutenSinn hat, wenn der Gegenstand bezeichnet wird nachseiner Materie wie nach seinen Attributen in der abge-leiteten Wortform. Denn beides, die Materie wie dieAttribute, ist noch ein Unbestimmtes.

So viel über die Frage, wann etwas potentiell ge-nannt werden darf, wann nicht.

Aus den Bestimmungen, die wir früher über dieverschiedenen Bedeutungen des Begriffes »vorange-

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hen« gegeben haben, ergibt sich, daß die Aktualitätder Potentialität vorangeht, und zwar der Potentialitätnicht nur ihrem strengen Begriffe nach, wonach siedas Prinzip der Veränderung in einem anderen odersofern es als anderes genommen wird bedeutet, son-dern daß sie ganz allgemein jedem Prinzip der Bewe-gung wie der Ruhe vorangeht. Denn auch die innereAnlage fällt unter den Begriff der Potentialität. Sie istein Prinzip der Bewegung, freilich der Bewegungnicht in einem anderen, sondern in dem Wesen selbst,insofern es dieses Wesen ist. Jeder solchen Potentiali-tät also geht die Aktualität dem Begriffe nach unddem Wesen nach voran; auch der Zeit nach, wenig-stens in gewissem Sinne; in anderem Sinne freilichwieder nicht.

Zunächst, daß sie dem Begriffe nach vorangeht,leuchtet von selber ein. Denn das ursprünglich mitPotentialität Ausgestattete hat Potentialität insofern,als es zur Aktualität zu gelangen vermag, wie z.B.Baumeister ist, wer zu bauen vermag, Sehkraft hat,wer zu sehen vermag, und sichtbar ist, was gesehenwerden kann. Das gleiche begriffliche Verhältnisherrscht auch in allem anderen. Mithin ist der Begriffdes Aktuellen notwendig der ursprünglichere, und werden Begriff des Potentiellen erfassen will, der mußzuvor den Begriff des Aktuellen erfaßt haben.

Aber auch der Zeit nach geht das Aktuelle voran.

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Damit hat es folgende Bewandtnis. Es geht zeitlichvoran das Aktuelle, das generisch, nicht numerischmit dem Potentiellen identisch ist. Was damit bedeu-tet werden soll, ist folgendes: Der Zeit nach früher alsdieser jetzt aktuell existierende Mensch, oder als dasKorn, oder als das Sehende, ist die Materie, der Same,das Sehfähige, also das, was Mensch, Korn, sehendpotentiell, aber noch nicht aktuell ist. Der Zeit nachfrüher als dieses aber ist dann wieder anderes Aktuel-les, woraus jenes erst geworden ist. Denn das Werdenvollzieht sich jedesmal so, daß aus dem potentiellSeienden das aktuell Seiende wird vermittels einesaktuell Seienden; so wird der Mensch durch einenMenschen, der literarisch Gebildete durch einen lite-rarisch Gebildeten, indem immer ein Ursprünglichesvorhanden ist, das die Bewegung anregt; was aber dieBewegung anregt, ist bereits aktuell.

In unseren Ausführungen über die Substanz habenwir dargelegt, daß jegliches was wird, zu etwas wirdaus etwas und durch etwas, und zwar durch solches,was der Form nach mit ihm identisch ist. Darausleuchtet die Unmöglichkeit ein, daß einer ein Bauver-ständiger sei, ohne je etwas gebaut, oder ein Zither-spieler, ohne je Zither gespielt zu haben. Denn werZither spielen lernt, der lernt Zither spielen dadurch,daß er Zither spielt, und so ist es auch sonst überallbeim Erlernen von etwas. Das nun bietet den Anlaß

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für den sophistischen Trugschluß, wonach einer das-jenige, was einen Gegenstand der Kenntnis bildet,macht, noch ehe er die Kenntnis der Sache besitzt;denn so lange einer noch lernt, besitzt er diese Kennt-nis noch nicht. Indessen, darauf ist zu erwidern, daßvon dem, was werden soll, immer schon etwas gewor-den sein, und überhaupt von dem, was in Bewegunggesetzt werden soll, schon etwas zur Bewegung ge-langt sein muß; – wie das zu verstehen ist, haben wirin der Abhandlung über die Bewegung klargelegt. –So muß denn auch der Lernende doch wohl schonetwas von der zu erwerbenden Kenntnis besitzen.Auch in diesem Sinne also leuchtet es ein, daß dieAktualität auch hier der Potentialität dem Entstehennach und der Zeit nach vorangeht.

Dasselbe gilt nun auch von der Priorität demWesen nach. Zuerst deshalb, weil das was der Entste-hung nach das Spätere ist, der Form und dem Wesennach vielmehr das Frühere ist. So ist der Mann früherals das Kind und der Mensch früher als der Same;denn jenes hat schon die Form, dieses hat sie nochnicht. Sodann, weil alles was wird, die Richtung aufdas hin innehält, was sein Prinzip und Zweck ist.Denn Prinzip ist eben das, um dessen willen etwasgeschieht, und das Werden vollzieht sich um desZweckes willen; der Zweck aber ist die Aktualität,und um seinetwillen erlangt etwas Potentialität. Nicht

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um Sehkraft zu haben, sehen die lebenden Wesen,sondern um zu sehen besitzen sie Sehkraft. Baukundehat man, um zu bauen, und Verstand um zu verstehen,aber nicht umgekehrt. Man versteht auch nicht, umVerstand zu haben, es sei denn, daß man das Verste-hen bloß zur Übung betreibt. Wer sich aber bloß imVerstehen übt, der ist nicht auf die Sache gerichtet;dem gilt es nur erst um die Übung, und es ist nicht derGegenstand, der den Antrieb zum Verstehen liefert.

Die Materie ferner ist potentiell, weil sie zur Formnoch erst gelangen soll; ist sie aktuell, so ist sie schongeformt. Und so ist es auch bei allem übrigen, auchda, wo der Zweck in der Bewegung selbst liegt DieNatur macht es daher ebenso, wie die Lehrer, dieihren Zweck erreicht zu haben glauben, wenn sie denSchüler in wirklicher Ausübung der Tätigkeit darstel-len. Wäre es anders, so würde die Sache auf einGleichnis zum Hermes des Pauson hinauslaufen [derin durchsichtigem Gestein eingeschlossen war]; dennes würde auch bei der erlangten Kenntnis ebenso wiees beim Hermes der Fall ist, unerkennbar bleiben, obsie drinnen steckt oder draußen ist. Das fertiggestellteWerk ist der Zweck, und die Aktualität ist eben dasfertige Werk. Deshalb nennt man die Aktualität nachdem Akte, und worauf der Prozeß hinausläuft, das istdie Entelechie, die Vollendung des Seins nach seinerBestimmung.

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In manchen Fällen nun ist dem Vermögen gegen-über das letzte bloß der wirkliche Gebrauch, so demSehvermögen gegenüber das wirkliche Sehen, und esgibt kein anderes Werk, das von dem Sehvermögenhervorgebracht würde außer dem Sehen. In anderenFällen dagegen wird noch etwas hervorgebracht außerder Tätigkeit; so von der Baukunst neben der Tätig-keit des Bauens das Gebäude, in jenem Falle istgleichwohl der Gebrauch des Vermögens deshalbnicht weniger Zweck, weil er mit der Tätigkeit zusam-menfällt; in diesem ist er wenigstens in höheremGrade Zweck als das Vermögen. Denn die Tätigkeitdes Bauens ist gleichsam aufbewahrt in dem was ge-baut wird; sie vollzieht sich und existiert zugleich mitdem Gebäude. In allen den Fällen nun, wo neben demGebrauche des Vermögens noch ein anderes da ist,das hervorgebracht wird, liegt die Aktualität in demHervorgebrachten: so hat das Bauen seine Aktualitätin dem Gebauten, das Weben in dem Gewebten, undebenso ist es in den übrigen Fällen; überhaupt hat dieBewegung ihre Aktualität in dem bewegten Gegen-stand, in den Fällen dagegen, wo es nicht neben derTätigkeit noch ein fertiges Werk gibt, liegt die Aktua-lität in dem Träger des Vermögens selbst; so dasSehen in dem Sehenden, das Verstehen in dem Ver-stehenden, das Leben in der Seele, und so gilt es auchvon der Glückseligkeit, die nur ein Leben von beson-

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derer Beschaffenheit ist.Es wird dadurch klar geworden sein, daß das

Wesen und die Form Aktualität sind. Demnach ist esauch unter diesem Gesichtspunkte klar, daß die Ak-tualität dem Wesen nach der Potentialität vorangeht,und wie wir gesagt haben: jeder Aktualität geht derZeit nach eine andere Aktualität vorher, bis man zudem gelangt, was ewig das ursprüngliche Prinzipaller Bewegung ist.

Aber das gilt nun auch in einem noch höherenSinne. Das Ewige ist dem Wesen nach früher als dasVergängliche, und nichts was ewig ist, hat bloß po-tentielles Sein. Der Grund ist dieser: Jedes Vermögenist das Vermögen des einen und des Gegenteils zu-gleich. Was nun überhaupt keine Möglichkeit derExistenz hat, das würde in keinem Falle existieren;was aber diese Möglichkeit hat, das hat auch dieMöglichkeit, nicht wirklich zu werden. Also hat das,was bloß potentiell ist, ebensowohl die Möglichkeitnicht zu sein wie die zu sein, und es ist eines und das-selbe, was die Möglichkeit hat zu sein und nicht zusein. Von dem aber, was die Möglichkeit hat nicht zusein, gilt es, daß es möglicherweise nicht ist. Wasaber möglicherweise nicht ist, das ist vergänglich, seies schlechthin vergänglich, sei es in der bestimmtenBeziehung vergänglich, in welcher für dasselbe dieMöglichkeit offen bleibt, daß es nicht sei, also z.B. in

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Beziehung auf den Ort oder auf die Quantität oder aufdie Qualität. Vergänglich schlechthin aber heißt das,was seinem ganzen Dasein nach vergänglich ist. Wasalso schlechthin unvergänglich ist, das kann nichtsschlechthin Potentielles sein; aber allerdings nichtshindert, daß es in bestimmter Beziehung potentiellsei, z.B. nach bestimmter Qualität oder nach be-stimmter Örtlichkeit in jeder anderen Beziehung alsoist es aktuell.

Ebensowenig nun wie das was ewig ist kann daswas notwendig ist potentiell sein. Das Notwendigeaber ist doch das Ursprüngliche; denn wäre diesesnicht, so wäre überhaupt nichts. Also kann auch dieBewegung, falls es ewige Bewegung gibt, nicht po-tentiell sein, und ebensowenig kann ein Bewegtes,wenn es ewig ist, nur der Potentialität nach ein Be-wegtes sein; es sei denn in bezug auf das Woher undWohin. Daß es eine Materie dafür gebe in bezug aufdie Richtung der Bewegung, das ist allerdings nichtausgeschlossen. Deshalb kommt der Sonne und denGestirnen und kommt dem Universum überhauptewige Aktualität zu, und man braucht sich nichtbange machen zu lassen, daß der Himmel einmal zumStillstand kommen möchte, wie die Naturgelehrtenbesorgen. Es kostet diesen Wesen auch keine Mühe,was sie leisten. Denn ihre Bewegung beruht nicht dar-auf, daß das eine ebensowohl wie sein Gegenteil

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möglich ist, wie bei den vergänglichen Dingen, sodaß ihnen die Kontinuität der Bewegung zu erhalteneine Anstrengung verursachte. Daß solche Anstren-gung sonst für die Dinge erforderlich ist, das liegtdaran, daß ihr Wesen Potentialität und Materie, nichtAktualität ist.

Ein Abbild des Unvergänglichen nun bietet auchdas, was in steter Veränderung begriffen ist wie Erdeund Feuer; denn auch dieses ist in beständiger Tätig-keit und hat die Bewegung an sich und in sich. Dieanderen Vermögen aber sind sämtlich, wie frühernachgewiesen worden ist, Vermögen zu dem einenwie zum Gegenteil, und was sich in dieser Weise zubewegen vermag, das hat auch das Vermögen, sichnicht in dieser Weise zu bewegen. Gilt dies von demVermögen, das mit Vernunft verbunden ist, so werdendagegen die Vermögen, die nicht mit Vernunft ver-bunden sind, sich immer gleich verhalten, je nachdemdie entgegengesetzten Bedingungen, das was die Wir-kung übt und das was sie erleidet, eintreten odernicht.

Wenn demnach Wesen als selbständige Existenzenvon der Art bestehen wie die Verselbständiger der Be-griffe sie als Ideen aufstellen, so wäre die Folge, daßes etwas gibt, was viel mehr wissenschaftliche Er-kenntnis besäße als die Idee der Erkenntnis selber,und etwas, was viel mehr bewegt wäre als die Idee der

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Bewegung selber. Denn jene konkreten Dinge hätteneinen höheren Grad von Aktualität, die Ideen aberstellten die bloße Potentialität zu ihnen dar.

Daß die Aktualität der Potentialität und jedemPrinzip der Veränderung vorangeht, ist so unser gesi-chertes Ergebnis. Daß aber auch der Potentialität alsdem Vermögen zum Guten gegenüber die Aktualitätdas Höhere und Wertvollere ist, geht aus folgenderErwägung hervor. Was nach dem ihm innewohnendenVermögen bezeichnet wird, hat als eines und dasselbedas Vermögen zu dem Einen und zum Entgegenge-setzten; so hat eben dasselbe, von dem das Vermögengesund zu sein ausgesagt wird, auch die Möglichkeitkrank zu sein, und beide Möglichkeiten hat es zu-gleich. Denn eigentlich ist es eine und dieselbe Mög-lichkeit, die Möglichkeit gesund und die krank zusein, zu ruhen und sich zu bewegen, zu bauen undeinzureißen, aufgebaut zu werden und einzustürzen.Während also das Vermögen zu Entgegengesetztemzu gleicher Zeit besteht, ist es ausgeschlossen, daßdas Entgegengesetzte zugleich wirklich sei; ausge-schlossen also ist auch das Zugleichsein von wirkli-chen Zuständen wie Gesundsein und Kranksein. Nunkann das Gute notwendig nur das eine der beiden ent-gegengesetzten sein, schließt also das Schlechte aus,während das Vermögen ebenso das Vermögen zumGuten wie zum Schlechten oder zu keinem von beiden

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ist. Mithin ist die Aktualität das Bessere. Und ebensoist denn auch notwendigerweise, wo das Schlechte inBetracht kommt, die Vollendung und die Aktualitätder Potentialität gegenüber das Schlechtere. Denn so-lange etwas bloß potentiell ist, sind bei demselbenbeide Gegensätze, das Gute wie das Schlechte, mög-lich. Es ergibt sich daraus auch dies, daß das Schlech-te nicht etwas Selbständiges neben den Dingen ist.Denn das Schlechte ist von Natur später als das Ver-mögen, das ebenso das Vermögen zum Guten wiezum Schlechten ist. In den obersten Prinzipien undin dem Ewigen ist mithin kein Platz für das Schlech-te, kein Verfehlen noch Verderbnis. Denn auch dieVerderbnis gehört zu dem Schlechten.

Der Weg durch die Aktualität ist es auch, auf demman die Eigenschaften der geometrischen Gebilde fin-det. Man findet sie nämlich durch Linienziehen.Wären die Linien schon gezogen, so läge der Satzschon offen zu Tage; aber die Linien sind zunächstbloß potentiell vorhanden. Warum z.B. beträgt dieWinkelsumme im Dreieck 2 Rechte? Weil die Winkelum einen Punkt gleich 2 Rechten sind. Wäre nun dieParallele zu der einen Seite schon gezogen, so wäredie Sache auf den ersten Blick klar. Oder warum istganz allgemein der Winkel im Halbkreis ein rechter?Weil, wenn wir drei gleiche Linien haben, von denenzwei die Basis bilden und die dritte von dem Mittel-

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punkt zum Scheitel des Winkels gezogen ist, einBlick auf die Figur dem, der Bescheid weiß, die Sacheklar macht. Es wird also offenbar der Satz gefunden,indem das potentiell Vorhandene zur Aktualität ge-bracht wird. Der Grund ist der, daß die Aktualität Ge-danke ist. Die Potentialität stammt also aus der Ak-tualität, und deshalb gelangt man zur Erkenntnisdurch ein Wirklichmachen. Denn die Aktualität alsdie zahlenmäßige Bestimmung ist im Vorgang des Er-kennens das Spätere.

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VI. TeilDas Wahre und das Falsche

Der Begriff des Seienden und des Nichtseiendenbestimmt sich nach den Formen der Kategorien; eineweitere Modifikation des Begriffs führt der Unter-schied von Potentialität und Aktualität herbei, der anden einzelnen Kategorien oder ihrem Gegenteile auf-tritt. Die höchste und entscheidendste Bestimmungdes Seinsbegriffs aber beruht auf dem Unterschiededes Wahren und des Falschen.

Dieser letztere Unterschied gilt von den Gegenstän-den, je nachdem in ihnen eine Verbindung oder Tren-nung vollzogen ist. Das Wahre hat der, der das Ge-trennte als getrennt und das Verbundene als verbun-den denkt; das Falsche ergreift, wer eben dieses Ver-hältnis anders auffaßt als es in Wirklichkeit ist. Soentsteht denn die Frage: wann findet sich das vor, waswir wahr oder falsch nennen, wann nicht? Diese Fragegilt es noch zu beantworten.

Zunächst also gilt offenbar dies: es ist jemand nichtdeshalb in Wahrheit bleich, weil wir meinen, er seibleich, sondern umgekehrt: weil er bleich ist, ist unse-re Aussage wahr, wenn wir das von ihm aussagen.Nun gibt es Gegenstände und Bestimmungen dersel-ben, die immer verbunden sind, so daß ihr Getrennt-

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sein ausgeschlossen ist, und andere, die immer ge-trennt bleiben, und deren Verbundensein ausgeschlos-sen ist; anderes wieder läßt beide entgegengesetzteVerhältnisse zu. Wenn nun Sein so viel heißt wie ver-bunden sein und eins sein, Nichtsein so viel wie nichtverbunden sein, vielmehr in eine Mehrheit auseinan-dergehen, so kann in bezug auf dasjenige, was beides,das Verbundensein und das Getrenntsein, zuläßt, eineund dieselbe Ansicht und eine und dieselbe Aussageje nachdem wahr oder falsch sein, und so kann in ihrdas eine Mal Wahrheit, das andere Mal ein Irrtumvorliegen. Bei den Gegenständen dagegen, bei denennur das eine Verhalten möglich, das entgegengesetzteausgeschlossen ist, da tritt der Fall nicht ein, daßeines und dasselbe bald wahr, bald falsch wäre, son-dern da bleibt ewig eines und dasselbe wahr oderfalsch.

Was heißt dann aber Sein oder Nichtsein, Wahr-oder Falschsein bei denjenigen Objekten, bei denenvon Verbindung und Trennung überhaupt nicht dieRede ist? Da wird doch nicht das eine von dem ande-ren ausgesagt, so daß das Sein gälte, wenn Verbin-dung, das Nichtsein, wenn Trennung gegeben wäre,wie beim Holz, das weiß, oder bei der Diagonale, dieinkommensurabel ist. Da wird also auch das Wahreund Falsche nicht in gleichem Sinne vorhanden seinwie bei jenen Dingen, und wie das Wahre hier nicht

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dieselbe Bedeutung hat, so auch nicht das Sein. Son-dern hier gibt es Wahres und Falsches nur als ein blo-ßes Treffen und Benennen des Wahren – benennenund aussagen ist nicht dasselbe – und ein Nichtwissenund Nichttreffen desselben. Denn über das Was, denGegenstand der Aussage, täuscht man sich nicht oderdoch nur in uneigentlichem Sinne. Das gleiche giltauch von den Objekten, die keinen Inbegriff von Be-stimmungen bilden; auch über sie täuscht man sichnicht. Sie sind ganz und gar aktuell und nicht potenti-ell; denn sonst würden sie entstehen und vergehen.Das Seiende selbst aber entsteht und vergeht nicht; esmüßte doch immer etwas sein, woraus es entstünde.Also, was schlechthinniges und aktuelles Sein ist,darüber täuscht man sich nicht; man kann es nurentweder im Gedanken erfassen oder nicht erfassen.Was man in Betracht dieser Dinge fragt, ist ihrWesen, nicht ob sie von dieser Beschaffenheit sindoder nicht. Das Sein aber als das Wahrsein und dasNichtsein als das Falschsein ist in einem Falle, woGegenstand und Bestimmung in der Aussage verbun-den sind wie in der Wirklichkeit, wahr, und wenn diein der Wirklichkeit vorhandene Verbindung verneintwird, falsch. Wahrheit und Falschheit in diesem Sinneist also da vorhanden, wo die Wirklichkeit in der Ver-bindung oder Trennung von Gegenstand und Bestim-mung besteht. Besteht die Wirklichkeit nicht in dieser

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Verbindung und Trennung, so hat Wahrheit undFalschheit eine andere Bedeutung. Wahrheit bestehtdann darin, daß man die Objekte als solche einfachdenkt, und da gibt es nicht Irrtum noch Täuschung,sondern nur ein bloßes Nichtkennen. Dieses Nicht-kennen darf man indessen nicht so auffassen, wie manvon Blindheit spricht; der Blindheit würde es erstdann entsprechen, wenn einer überhaupt kein Denk-vermögen besäße.

Es leuchtet ferner ein, daß bei dem, was unbewegtist, sofern man es als solches erfaßt, auch über dasWann eine Täuschung ausgeschlossen ist. So z.B.wird man, wenn man davon ausgeht, daß das Dreiecksich nicht verändert, nicht auf die Meinung kommen,daß es die Winkelsumme gleich 2 Rechten das eineMal habe, das andere Mal nicht habe; denn das hieße,es verändere sich. Dagegen kann man von dem Unbe-wegten wohl die Meinung haben, daß eine Bestim-mung dem einen Gegenstande zukomme, dem andereninnerhalb derselben Gattung nicht, z.B., daß eine ge-rade Zahl niemals eine Primzahl sei, oder auch, daß eseine gerade Zahl gebe, die eine Primzahl sei, andere,die es nicht seien. In bezug auf das aber, was der Zahlnach einzig ist, ist auch nicht einmal dies möglich.Denn da ist die Annahme ausgeschlossen, daß daseine die Bestimmung habe, die das andere nicht habe;da wird man also das Wahre oder das Falsche erfas-

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sen als das ewig sich gleichbleibende Verhalten des-selben Objekts.

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VII. TeilDas Absolute

1. Die Prinzipien der sinnlichen Substanzen

Den Gegenstand unserer Betrachtung bildet der Be-griff der Substanz als des selbständigen Seins. DiePrinzipien und Gründe der Substanzen sind es, diewir erforschen wollen. Ist das All als geschlossenesGanzes zu fassen, so ist das substantiell Existierendesein wichtigster Bestandteil; sehen wir auf die Rei-henfolge der einzelnen Bestimmungen am Seienden,so käme auch so die Substanz zuerst, und erst nachihr die Qualität und weiter die Quantität usw. Denndiese alle machen nicht das Seiende in strengem Sinneaus; sie sind nur Beschaffenheiten und Bewegungenam Seienden, fast wie das Nicht-Weiße und dasNicht-Gerade auch. Ein Sein schreiben wir wenig-stens irgendwie auch diesem zu; wir sagen z.B.: etwasist nicht weiß. Keine der anderen Bestimmungen hatein selbständiges Sein. Dafür zeugen denn tatsächlichauch die Ansichten der alten Denker. Auch sie such-ten die Prinzipien, die Elemente und Gründe der Sub-stanz zu erforschen. Und was die Heutigen anbetrifft,so sehen sie als die eigentlichen Substanzen das All-gemeine an; denn die Gattungen, die sie, weil sie alles

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auf Begriffe zurückführen, als die eigentlichen Sub-stanzen bezeichnen, tragen den Charakter des Allge-meinen, während die Früheren sich an einzelnen Ge-bilden, wie Feuer und Erde, genügen ließen, ohne zurKörperlichkeit als dem Allgemeinen vorzudringen.

Das substantiell Seiende nun ist dreifacher Art. Er-stens ist es das Sinnliche, was alle anerkennen, undzwar dieses teils als Vergängliches, wie Pflanzen undTiere, teils als Ewiges. Das Sinnliche gilt es auf seineElemente, sei es auf eines oder auf mehrere, zurückzu-führen. Sodann das Unbewegte. Dieses bezeichnenmanche als für sich bestehend, die einen, indem sie esin zwei Arten unterscheiden, in Ideen und mathemati-sche Objekte, die anderen, indem sie diese beiden alseine Wesenheit fassen, noch andere, indem sie darun-ter ausschließlich die mathematischen Objekte fest-halten. Die sinnlichen Substanzen gehören der Natur-wissenschaft an, denn ihnen kommt Bewegung zu; dieunbewegte Substanz dagegen ist Gegenstand einer an-deren Wissenschaft, sofern es für beide keinerlei ge-meinsames Prinzip gibt.

Die sinnliche Substanz ist der Veränderung unter-worfen. Nun vollzieht sich die Veränderung so, daßetwas aus seinem Gegenteil oder aus einem Mittlerenwird; wird es aber aus dem Gegenteil, so wird es dochnicht aus jedem beliebigen anderen – denn dem Wei-ßen steht als ein anderes auch der Ton gegenüber –,

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4396 316Aristoteles: Metaphysik

sondern aus dem gerade ihm Entgegengesetzten. Danun die Gegensätze doch nicht selbst in einanderübergehen, so muß es notwendig noch etwas Weiteresgeben, was der Veränderung in das Entgegengesetzteals Substrat dient. Dieses eine beharrt, während dieGegensätze nicht beharren, und es gibt somit ein drit-tes zu den Gegensätzen: das ist die Materie.

Die Veränderung nun ist vierfach: sie ist Verände-rung des Wesens, oder der Beschaffenheit, oder derQuantität, oder des Ortes; sie heißt Entstehen undVergehen in bezug auf das Wesen, Zunahme und Ab-nahme in bezug auf die Quantität, Veränderung inbezug auf die Qualität, Bewegung in bezug auf denOrt. Die Veränderung also findet statt in das jedesma-lige bestimmte Gegenteil, und die Materie, die dieMöglichkeit des einen wie seines Gegenteils enthält,muß sich in dieser bestimmten Richtung verändern.Wie nun das Seiende selbst ein zwiefaches ist, ein po-tentielles und ein aktuelles, so wandelt sich alles ausdem der Möglichkeit nach Seienden in das der Wirk-lichkeit nach Seiende; z.B. aus dem der Möglichkeitnach Weißen in das der Wirklichkeit nach Weiße.Ebenso ist es mit der Zu- und Abnahme. Man darfalso sagen, daß jegliches aus einem Nicht-Seiendenwird, das nur tatsächlich noch nicht das ist, was eswird, aber auch, daß alles wird aus einem Seienden,und zwar aus einem der Möglichkeit nach Seienden,

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der Wirklichkeit nach nicht Seienden. Dies Potentielleist es offenbar, was Anaxagoras mit seinem »Einen«gemeint hat, zutreffender so statt »chaotisches Durch-einander« benannt, oder was Empedokles als »Mi-schung«, und ebenso was Anaximander bezeichnet,und was Demokrit meint. »Es war alles durcheinan-der«, das heißt doch: es war der Möglichkeit nach,nicht der Wirklichkeit nach, und damit haben sie, darfman wohl sagen, den Gedanken der Materie wenig-stens gestreift.

Alles dasjenige, dem Veränderung zukommt, istmit Materie behaftet; aber die eine Art der Verände-rung hat diese, die andere eine andere Materie.

Die ewigen Körper, sofern sie nicht entstanden,aber räumlich bewegt sind, haben auch eine Materie,aber eine Materie nicht für das Entstehen, sondern nurfür das Woher und Wohin. Daher ist jedesmal dieFrage, was denn das nun für ein Nichtseiendes ist, ausdem etwas wird; denn von Nichtseiendem spricht manin dreifacher Bedeutung: [es ist das Nicht-seiendeschlechthin, sodann der falsche Schein und endlichdie bloße Möglichkeit, das Noch-nicht-sein.] Wenndies Nichtseiende, aus dem offenbar alles Werdenkommt, etwas nur der Möglichkeit nach Seiendes ist,so wird gleichwohl jegliches nicht aus einem beliebi-gen, sondern aus dem gerade ihm zugehörigen Nicht-seienden. Und es genügt nicht, als Ausgangspunkt ein

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chaotisches Durcheinander anzunehmen und außer-dem eine Ursache der Sonderung zu setzen. Denn wasverschieden ist, fordert auch eine verschiedene Mate-rie. Wie wäre es sonst zu erklären, daß unendlich vie-les geworden ist, und nicht bloß eines? Die Vernunftist eine; wäre also auch die Materie nur eine, sowürde das wirklich geworden sein, was die Materieder Möglichkeit nach war, und das wäre wieder eines.Drei also an Zahl sind die Gründe und drei die Prinzi-pien; zwei bilden den Gegensatz, dessen eines GliedBegriff und Form, dessen anderes Glied die Privation,die Begriffs- und Formlosigkeit, ausmacht: das dritteist dann die Materie.

Daran ist anzuknüpfen der Satz, daß dasjenige waswird weder die Materie noch die Form ist, beides inseinem strengen Sinne genommen. Denn wo Verände-rung ist, da ist ein Substrat, an dem, eine Ursache,durch die, und ein Ziel, zu dem hin sie geschieht. DieUrsache, durch die sie geschieht, ist das erste Bewe-gende; das Substrat ist die Materie, das Ziel ist dieForm. Der Prozeß nun würde ins Unendliche verlau-fen, wenn das Werden nicht bloß ein Werden derehernen Kugel wäre, sondern auch ein Werden desRunden und ein Werden des Erzes. Es ist darum ge-boten, einen Halt zu setzen, bei dem der Fortgang auf-hört.

Und weiter: jedes Wesen entsteht aus einem ande-

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ren von gleicher Art. Solche Wesen sind zunächst dieNaturgebilde, aber auch die anderen. Ein Wesen ent-steht durch Natur oder durch Kunst, durch Zufall odervon Ungefähr. Kunst ist die Ursache da, wo das Prin-zip außer der Sache, Natur, wo es in der Sache selbstliegt, – was den Menschen zeugt, ist wieder einMensch; – die anderen beiden Ursachen verhaltensich zu diesen als ihre Privationen. Die Wesenheitenaber sind drei an der Zahl: erstens die Materie, die al-lerdings, sowie sie zur Erscheinung kommt, schonetwas Bestimmtes ist; denn Materie und Substratheißt etwas schon sofern es durch bloßes Nebeneinan-der und nicht durch innere Vereinigung eines ist;zweitens die innere Anlage und die Bestimmtheit, dasZiel der Veränderung, und die stehende Beschaffen-heit; sodann drittens die Verbindung beider in einemEinzelwesen wie Sokrates oder Kallias.

Nun gibt es solches, wo die bestimmte Form nichtneben dieser zusammengesetzten Substanz noch fürsich existiert, etwa als eine Form des Hauses nebendem Hause selbst; man müßte denn die Kunst selberfür solche Form nehmen wollen. Für derlei Formengibt es weder ein Entstehen noch ein Vergehen; aberin anderem Sinne hat ein Haus, ohne Materie gedacht,und die Gesundheit, wie alles, was dem Gebiete derKunst angehört, doch auch sein Sein oder Nichtsein,nämlich als rein Ideelles. Wenn irgendwo die Form

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4400 320Aristoteles: Metaphysik

für sich besteht, dann ist es im Gebiete der Natur derFall. So ist denn auch die Ansicht Platos an sich garnicht so unbegründet, wenn er annimmt, daß es Ideengibt, soweit es Naturgebilde gibt, vorausgesetzt aller-dings, daß man überhaupt Ideen annehmen darf. Fürsolche Dinge wie Feuer, Fleisch oder Kopf darf manes in keinem Fall; denn alles dies ist Materie, undzwar letzte Materie von dem was Substanz im höch-sten Sinne ist.

Die bewegenden Ursachen nun sind dies als dem zuBewegenden vorausgehend, während die begrifflichenUrsachen mit demselben gleichzeitig sind. Denn wennein Mensch gesund ist, dann ist auch die Gesundheitda, und die Gestalt der ehernen Kugel ist mit der eher-nen Kugel gleichzeitig. Fraglich ist nur, ob diese For-men nachher fortdauern. Es gibt Gegenstände, wonichts eine solche Annahme hindert, wie z.B. wenn essich um die Seele handelt; freilich ist es nicht dieganze Seele, aber doch der denkende Geist, was dabeiin Betracht kommt. Denn daß die Seele ganz und garfortdauern sollte, ist doch wohl undenkbar. Sicher istjedenfalls dies, daß nichts dazu zwingt, bloß deshalbIdeen anzunehmen, weil etwas wird und entsteht.Denn was den Menschen zeugt, ist ein Mensch, einIndividuum einen einzelnen. Und auf dem Gebiete derKunst ist es gerade so; die Kunst des Arztes ist die er-zeugende Form der Gesundheit.

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4401 321Aristoteles: Metaphysik

Die Ursachen und Prinzipien sind nun in der einenBedeutung für verschiedene Gegenstände verschieden;in der anderen Bedeutung, nämlich wenn man dasAllgemeine und die Gleichheit des Verhältnisses insAuge faßt, sind sie für alle Gegenstände dieselben. Eskann fraglich erscheinen, ob die Prinzipien und Ele-mente für die selbständigen Wesen und für die Relati-on und ebenso für die anderen Kategorien verschiedenoder identisch sind. Aber sie für alles als identisch an-zunehmen, würde zum Widersinn führen. DieselbenElemente also sollen der Relation und der Wesenheitzu Grunde liegen. Welche sollten es sein? Ein Allge-meines, was nicht entweder unter den Begriff der Sub-stanz oder unter den einer der anderen Kategorienfiele, die von der Substanz ausgesagt werden, gibt esnicht. Da das Element das Prius dessen ist, worin eseingeht, so ist ebensowenig, wie die Substanz Ele-ment der Relation ist, irgend etwas Relatives Elementder Substanz. Überdies, was soll man sich dabei den-ken, daß die Elemente von allem dieselben seien?Kann doch das Element nicht identisch sein mit dem,was aus den Elementen besteht, und die Silbe ba istdoch nicht identisch mit den Lauten b oder a. Neben-bei bemerkt: dies ist auch der Grund, weshalb es keingemeinsames Element des begrifflich Seienden, etwadas Eins oder das Seiende, gibt; denn was aus demEins oder dem Seienden gebildet wird, ist selbst wie-

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der ein Eins und ein Seiendes. Hätten also, um daraufzurückzukommen, alle Kategorien dieselben Elemen-te, so würde weder die Substanz noch die Relation zudiesen Elementen gehören; und doch müßten sie dazugehören. Mithin können unmöglich die Elemente vonallem dieselben sein; oder, wie wir uns ausdrücken:sie können es wohl sein in dem einen Sinne, in demanderen Sinne können sie es nicht.

So darf man sagen, daß in gewissem Sinne dieWärme den sinnlichen Gegenständen als Form und inanderer Weise die Kälte ihnen als Privation zugehört:die Materie ist dann die Möglichkeit, beides zu seinursprünglich und an und für sich selbst; Substanzenaber sind diese beiden und das aus ihnen Bestehende,dessen Prinzipien jene beiden sind, oder was etwa ausWarmem und Kaltem zu Einem wird, wie Fleischoder Knochen. Denn was aus ihnen geworden ist, dasmuß notwendig ein von ihnen Verschiedenes sein.Von diesem also sind die Elemente und Prinzipiendiese, von anderen sind es andere. Es sind nicht vonallem dieselben, wenn man es in diesem Sinne nimmt;dagegen sind es wohl dieselben, wenn man Elementim Sinne der Gleichheit des Verhältnisses zu dem dar-aus Gebildeten nimmt. So, wenn jemand sagen wollte,daß die Prinzipien drei an der Zahl sind, Form, Priva-tion und Materie. Jedes dieser Prinzipien ist dann jenach dem besonderen Gebiete der Dinge verschieden;

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so ist es für die Farbe das Weiße, das Schwarze unddie erscheinende Außenseite, das Licht, das Dunkelund die Luft: und aus diesen entsteht Tag und Nacht.

Nun liegen aber die Ursachen nicht immer bloß inder Sache selbst, sondern sie können auch etwasaußer der Sache sein; so die bewegende Ursache. Of-fenbar also ist Prinzip und Element zu unterscheiden.Ursachen freilich sind beide, und das ergibt eine Ein-teilung der Ursachen. Das was Bewegung oder Ruhesetzt, ist Prinzip und Ursache. So gibt es denn derElemente, wenn man den Begriff auf die Gleichheitdes Verhältnisses zurückführt, drei; dagegen der Ur-sachen und Prinzipien vier. Für verschiedene Gegen-stände sind sie verschieden; auch die nächste Ursache,die bewegende, ist verschieden für verschiedenes. IstGesundheit, Krankheit, der Leib gegeben, so tritt alsbewegende Ursache die Heilkunst, ist Form, verhält-nismäßige Ordnungslosigkeit und Baumaterialien ge-geben, als bewegende Ursache die Baukunst hinzu.Das sind die Arten, in die das Prinzip eingeteilt wird.Da nun in dem Gebiete der natürlichen Dinge die be-wegende Ursache das konkrete Ding von gleicherForm, z.B. für den Menschen der Mensch ist, dagegenin den Erzeugnissen des gedanklichen Tuns die Formoder der Gegensatz der Form, so kann man in gewis-sem Sinne drei Ursachen aufzählen; zählt man frei-lich, wie wir es eben getan haben, so sind es vier.

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Denn die Heilkunst ist in gewissem Sinne die Ge-sundheit selbst, die Baukunst die Form des Hausesselbst, und der Mensch zeugt den Menschen. Überdiesem steht dann noch das, was als das Oberste vonallem alles bewegt.

Die Objekte zerfallen in für sich bestehende undnicht für sich bestehende; die ersteren heißen Sub-stanzen und sind aus demselben Grunde die Ursachenvon allem. Denn nimmt man die Substanzen weg, sofallen auch die Zustände und die Bewegungen fort.Dahin wird denn wohl die Seele und der Leib gehö-ren, oder der denkende und begehrende Geist und derLeib.

Auch noch in anderem Sinne gibt es unter dem Ge-sichtspunkte der Gleichheit des Verhältnisses identi-sche Prinzipien für alle Dinge, nämlich Wirklichkeitund Möglichkeit. Indessen sind doch auch diese fürverschiedenes verschieden und von verschiedener Be-deutung. In manchen Fällen ist es eines und dasselbe,was das eine Mal der Wirklichkeit, das andere Malder Möglichkeit nach ist, z.B. Wein, Fleisch oder einMensch. Indessen fällt diese Unterscheidung mit deroben erwähnten Unterscheidung der Ursachen auchwieder zusammen. Denn der Wirklichkeit nach ist dieForm, sofern sie etwas für sich Bestehendes ist, istaber auch das aus Form und Stoff Zusammengesetzteund weiter auch die Privation; z.B. Dunkel oder

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Krankheit. Der Möglichkeit nach aber ist die Materie;denn sie ist dasjenige, was beides zu werden vermag.

Der Unterschied des der Wirklichkeit und des derMöglichkeit nach Seienden ist ein anderer bei dem,was nicht eine und dieselbe Materie hat, ein andererbei dem, was nicht eine und dieselbe Form hat. Sosind Ursachen des Menschen die Elemente, Feuer undErde als Materie, sodann die für ihn charakteristischeForm, und weiter anderes außer ihm, wie der Vater,dazu noch die Sonne und die Schiefe ihrer Bahn, alsosolches, was weder als Materie noch als Form, wederals Privation noch als mit ihm zur gleichen Gattunggehöriges Einzelnes gelten kann, was aber als bewe-gende Ursache wirksam wird.

Man muß sich dann weiter klar machen, daß manwohl das eine als Allgemeines fassen darf, andereswieder nicht. Die eigentlichen Prinzipien von jegli-chem sind jedesmal erstens etwas Bestimmtes, derWirklichkeit nach Seiendes, und zweitens ein anderes,der Möglichkeit nach Seiendes. Jenes nun ist nicht alsAllgemeines zu fassen; denn Prinzip des Einzelnen istimmer wieder ein Einzelnes. So ist wohl allgemeinder Mensch Prinzip des Menschen; das heißt abernicht etwa, daß es nicht ein einzelner bestimmterMensch wäre. Vielmehr wie Peleus für Achill, so istes für dich dein Vater. Dieses bestimmte B ist Prinzipfür dieses bestimmte BA; das B als allgemeines aber

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ist Prinzip für BA, wenn dieses schlechthin allgemeingenommen wird.

Sodann sind die Gattungen der Substanzen zu un-terscheiden. Für Verschiedenes sind wie gesagt dieUrsachen und Elemente verschieden, nämlich für das,was nicht derselben Gattung angehört, für Farben,Töne, Substanzen, Quantität; sie fallen nur unter die-selbe Analogie. Ja, sie sind auch für dasjenige, was zuderselben Gattung gehört, verschieden, nicht zwar derGattung nach, sondern so, daß sie für das Einzelne je-desmal ein anderes sind; so ist die Materie, die Form,die bewegende Ursache für dich und für mich ver-schieden, während sie als Allgemeines und dem Be-griffe nach dieselben sind.

Faßt man also bei der Untersuchung, welches diePrinzipien oder die Elemente der Substanzen, der Re-lationen und der Qualitäten sind, ob sie dieselbenoder ob sie verschieden sind, die Ursachen aller Dingeunter gemeinsamem Namen zusammen, so erweisensie sich offenbar als identisch; hält man aber die ein-zelnen auseinander, so sind sie nicht dieselben, son-dern verschieden, und nur in bestimmter Weise sindsie dieselben für alles. In bestimmter Weise, das heißtder allgemeinen Bedeutung nach, sind sie identisch;so Materie, Form, Privation, bewegende Ursache; siesind es in bestimmter Weise, sofern die Ursachen derSubstanzen als Ursachen von allem zu gelten haben,

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weil, werden sie aufgehoben, auch das andere mit auf-gehoben wird; sie sind es endlich, sofern die erste ak-tuell bewegende Ursache allen Dingen gemeinsam ist.In bestimmter anderer Weise sind sie dagegen ver-schieden: denn soviel ursprünglich Entgegengesetzteses gibt, so viel verschiedene Form-Ursachen gibt es,die weder als Gattung noch als Allgemeines bezeich-net werden; und dazu kommt dann die Verschieden-heit der Materien.

Die Frage nach den Prinzipien des sinnlich Wahr-nehmbaren, welche und wie viele sie sind, in welchemSinne sie identisch, in welchem sie verschieden sind,hätten wir damit beantwortet.

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2. Das absolute Prinzip

Es hat sich uns eine Dreizahl von Wesen ergeben,zwei, die der Natur angehören, und ein drittes, demalle Bewegung fremd ist. Von dem letzteren gilt dieAussage, daß es notwendig ein Wesen geben muß,das ewig und unbeweglich ist. Denn die selbständigenWesen sind von allen Seienden das Oberste; wärensie sämtlich vergänglich, so wäre alles vergänglich.

Die Bewegung andererseits kann weder entstehennoch vergehen; sie war immer. Und ebenso die Zeit.Denn wo es keine Zeit gibt, kann es auch kein Früheroder Später geben. Nun ist aber die Bewegung ebensostetig wie die Zeit; denn sie ist entweder mit der Zeitidentisch, oder diese ist eine Bestimmung an ihr. Ste-tig aber ist allein die Bewegung, die räumlich, und ge-nauer die, die kreisförmig ist.

Gäbe es nun zwar ein Bewegendes oder Schöpferi-sches, das aber nicht in wirklicher Tätigkeit bestände,so würde es gleichwohl nicht zu einer Bewegungkommen. Denn es bleibt immer denkbar, daß das, wasdas Vermögen hat zu wirken, doch nicht wirkt. Eshilft deshalb auch nichts, Wesen mit dem Prädikateder Ewigkeit zu setzen, wie etwa die Vertreter derIdeenlehre es tun, wenn jenen Wesen nicht auch einPrinzip innewohnt mit dem Vermögen, tätig Verände-

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rung zu wirken. Aber auch dies letztere würde nochnicht genügen, und auch nicht das Setzen einer ande-ren Wesenheit noch neben den Ideen. Denn bestehtdieselbe nicht in wirklicher Tätigkeit, so gibt esimmer noch keine Bewegung; und es gibt auch dannnoch keine, wenn sie zwar in Wirksamkeit tritt, aberihr eigentliches Wesen ein bloßes Vermögen bildet.Buch so ergäbe sich keine ewige Bewegung; denn esbleibt immer denkbar, daß das, was bloß die Mög-lichkeit hat zu sein, nicht sei. Es muß mithin einPrinzip sein von der Art, daß wirklich tätig zu seinsein eigentliches Wesen ausmacht. Wesenheiten sol-cher Art müssen überdies immateriell sein, weil sie,wenn irgend etwas sonst, ewig sind, und mithin müs-sen sie reine Aktualität sein schlechthin.

Indessen, hier erhebt sich eine Schwierigkeit. Esliegt die Überlegung nahe, daß zwar alles, was wirk-sam ist, auch das Vermögen hat wirksam zu sein,aber nicht alles, was dieses Vermögen hat, auch wirk-lich wirksam ist, daß also das Vermögen als das Ur-sprünglichere gesetzt werden müsse. Ist dem aber so,so kommt es wieder schlechterdings zu keinem Sein.Denn es bliebe ja denkbar, daß zwar das Vermögenzu sein, und doch kein wirkliches Sein gegeben wäre.

Andererseits verhielte es sich so, wie die Mythen-dichter sagen, die alles aus der Nacht entspringen las-sen, oder so, wie die Naturphilosophen meinen, die

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das »alles war durcheinander« als uranfänglich set-zen, so ergäbe sich dieselbe Undenkbarkeit. Denn wiesoll es zu einer Bewegung kommen, wenn nichts daist, was sie durch seine Wirksamkeit als Ursache her-vorbringt? Das Baumaterial bewegt sich doch nichtselbst, sondern die Baukunst bewegt es; und ebensoist es mit dem Menstruationsblut oder der Erde einer-seits und dem Samen und dem Saatkorn andererseits.

Das ist der Grund, weshalb die einen eine ewigeWirksamkeit annehmen, wie Leukipp und Plato, diedie Bewegung als ewig setzen; leider sagen sie nurnicht, weshalb sie sei und was sie sei, weder welchesihre Beschaffenheit, noch welches ihr Grund sei. Unddoch bewegt sich nichts in beliebiger Weise; es mußimmer ein Grund da sein, warum etwas sich gerade sobewegt, sei es von Natur in dieser Weise, sei es in deranderen Weise durch äußere Nötigung, etwa seitensder Vernunft oder irgend eines anderen Grundes.

Sodann, welches ist denn nun die UrsprünglicheBewegung? Darauf kommt doch außerordentlich vielan. Plato selber vermag nicht bei dem stehen zu blei-ben, was er bisweilen für das Prinzip erklärt, nämlichbei dem sich selbst Bewegenden, der Seele. Diese istihm nämlich im Vergleich mit dem Universum dasSpätere, und doch auch wieder mit diesem gleichzei-tig.

Hat also die Annahme, daß das Vermögen das Ur-

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sprüngliche, die Wirksamkeit das Abgeleitete sei,etwas für sich, so hat sie doch auch wieder mancherleigegen sich. Wir haben über den Gegenstand bereitsgehandelt. Daß tätige Wirklichkeit das Ursprünglichesei, dafür zeugt die Ansicht des Anaxagoras, denn»Vernunft« besteht in tätiger Wirksamkeit. Ebenso istes die Ansicht des Empedokles, der Liebe und Streit,und derjenigen, die die Bewegung als ewig setzen,wie Leukipp. Ist die tätige Wirksamkeit früher als dasVermögen, dann liegt nicht das Chaos oder die Nachtunendliche Zeit voraus, sondern es ist ewig dasselbe,sei es in periodischer Wiederkehr, sei es auf andereWeise.

Ist immer dasselbe in periodischer Wiederkehr, somuß etwas verharren, was ewig in gleicher Weisetätig wirkt. Soll es dagegen Entstehen und Vergehengeben, so wird noch ein zweites erfordert, was zwarimmer wirksam ist, aber auf immer verschiedeneWeise; dieses muß auf die eine Weise an sich, auf dieandere Weise in bezug auf anderes tätig sein, und die-ses andere kann entweder ein drittes oder eben jeneserste sein. Notwendig ist die letztere Annahme vorzu-ziehen. Denn dieses dritte müßte wiederum den Grundfür das zweite bilden und selbst seinen Grund ineinem anderen haben. Also besser, man läßt es beijenem ersten bewenden. Denn eben dies war derGrund der immer gleichen, ein zweites der Grund der

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wechselnden Bewegung; die Stetigkeit der immerwechselnden Bewegung hat also ihren Grund in bei-dem zusammen. Und so in der Tat vollziehen sich dieBewegungen. Wozu sich also noch nach anderenPrinzipien umtun?

Ist nun einerseits diese Annahme verständlich, istman andererseits gezwungen, im andern Falle allesaus der Nacht, dem Chaos oder dem Nichts abzulei-ten, so darf das Problem als gelöst gelten. Es gibtetwas, was sich ewig bewegt in nimmer rastender Be-wegung; diese aber ist die Kreisbewegung. Das gehtnicht allein aus begrifflicher Untersuchung hervor,sondern das bestätigen auch die beobachteten Tatsa-chen.

Demnach ist erstens ein Ewiges, der Fixsternhim-mel, und zweitens gibt es etwas, was ihn in Bewe-gung setzt. Wie es bloß Bewegtes gibt und als Mittle-res solches, was Bewegtes und Bewegendes zugleichist, so gibt es demnach eines, was selber unbewegtanderes bewegt, ein Ewiges, was ganz und gar rei-nes Sein und reine Wirksamkeit ist.

Die Art aber, wie es bewegt, wird folgende sein.Der Gegenstand des Begehrens und der Gegenstanddes Denkens bewegt anderes gerade auf diese Weise,nämlich ohne selbst bewegt zu werden. Der Grundbe-deutung nach ist beides identisch. Denn Gegenstanddes Begehrens ist, was als wertvoll erscheint, Gegen-

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stand des Wollens aber ist in erster Reihe das, waswertvoll ist. Wenn wir etwas erstreben, so geschiehtes, weil es uns wertvoll scheint, nicht umgekehrtscheint es uns wertvoll, weil wir es erstreben. Denndas Prinzip dafür ist der Gedanke.

Der Gedanke wird vom Gegenstande des Gedan-kens in Bewegung gesetzt; Gegenstand des Denkensaber an und für sich ist die eine der beiden Gruppen,diejenige der die Form angehört; in dieser steht dieselbständige Wesenheit an der Spitze, und zwar vorallen das einfache Wesen, das reine Wirksamkeit ist.Einfach heißt aber nicht dasselbe wie eins. Eins be-deutet ein Maß, einfach eine Beschaffenheit des Ge-genstandes.

Nun gehört aber das Wertvolle, das um seinerselbst willen zu Begehrende, derselben Gruppe an wieder Gegenstand des Denkens. Das jedesmal Besteoder doch ein ihm Verwandtes ist das, was in jenerGruppe das erste ist. Daß aber die Zweckursache zudem gehört, was sich nicht bewegt, haben wir in unse-rer »Scheidung der Gegensätze« gezeigt. Zweck heißtGrund für etwas und Grund von etwas. Das, wofürder Zweck Grund ist, ist ein Bewegtes, z.B. der Kran-ke; das, wovon der Zweck Grund ist, ist ein nicht Be-wegtes, z.B. die Gesundheit Die Zweckursache be-wegt, wie der Gegenstand der Liebe den Liebendenbewegt, und mit dem, was so bewegt wird, bewegt

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sie weiter das andere.Wenn etwas bewegt wird, so liegt darin, daß es die

Möglichkeit der Veränderung an sich trägt. Ist nunOrtsbewegung und die Wirksamkeit, durch die etwasbewegt wird, das Ursprüngliche, so ist damit dieMöglichkeit gesetzt, seinen Ort, wenn auch nichtseine Substanz, zu verändern. Gibt es aber etwas, wasselbst unbewegt anderes bewegt, etwas was wirksamist schlechthin, so gibt es für dieses keine Möglichkeiteiner Veränderung überhaupt Ortsbewegung ist dieursprünglichste Veränderung; in ihr ist es wieder diekreisförmige; diese also stammt aus dem, was wireben bezeichnet haben, aus dem Unbewegten, immerWirksamen.

Dieses hat also sein Sein als ein Notwendiges,und weil als Notwendiges auch als Vernünftiges,und in diesem Sinne ist es Prinzip. Notwendigkeitbedeutet auch wieder Verschiedenes. Etwas ist not-wendig durch äußeren Zwang, weil gegen den innerenTrieb; oder es ist etwas notwendig im Sinne der Be-dingung für die Erreichung eines Zieles; oder es istdrittens etwas notwendig im Sinne dessen, was nichtanders sein kann, was schlechthin ist. Von dieser Artist das Prinzip, und an ihm hängt Himmel und Erde.

Die heitere Klarheit im Dasein dieses obersten derWesen ist gleich dem, was für uns das herrlichste ist,und was uns immer nur für kurze Augenblicke zu teil

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werden kann. Diese Herrlichkeit genießt es immer.Uns bleibt das versagt. Denn bei ihm äst seine Wirk-samkeit zugleich seine Seligkeit. Ist doch auch beiuns das Wachsein, die Wahrnehmung, das Denkendas Köstlichste, und um ihretwillen auch Hoffnungund Erinnerung.

Das Denken aber an sich hat zum Gegenstande das,was an sich das Wertvollste ist, und das reinste Den-ken hat auch den reinsten Gegenstand. Mithin denktdas Denken sich selbst; es nimmt teil an der Gegen-ständlichkeit; es wird sich selber Gegenstand, indemes ergreift und denkt, und so wird das Denken undsein Objekt identisch. Denn das was für den Gegen-stand und das reine Wesen empfänglich ist, ist derdenkende Geist, und er verwirklicht sein Vermögen,indem er den Gegenstand innehat.

Das Göttliche, das man dem denkenden Geiste alssein Eigentum zuschreibt, ist also mehr dieser Besitzals die bloße Empfänglichkeit; das Seligste undHöchste ist die reine Betrachtung. Ist nun Gottes Se-ligkeit ewig eine solche, wie sie uns wohl je einmal zuteil wird, wie wunderbar! Ist sie eine noch höhere, wieviel wunderbarer noch! So aber verhält es sich.

Und auch das Prädikat der Lebendigkeit kommtihm zu. Denn die Wirksamkeit des denkenden Gei-stes ist Leben; Gott aber ist reine Wirksamkeit, undseine Wirksamkeit an und für sich ist ein höchstes,

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ein ewiges Leben. Und so sagen wir denn: Gott istdas ewige, absolut vollkommene Lebendige, und ihmkommt mithin ein zeitloses ewiges Leben und Daseinzu. Das nun ist Gottes Wesen und Begriff.

Nicht zu billigen ist also die Ansicht derjenigen,die wie die Pythagoreer und Speusipp annehmen, dasWertvollste und Höchste sei nicht das Uranfängliche;sie deuten dabei hin auf das Beispiel der Pflanzen undTiere, die zwar aus gewissen Keimen als ihren Ursa-chen sich entwickeln, bei denen aber das Zweckmäßi-ge und Vollkommene erst das daraus abgeleitete sei.Aber es stammt doch der Same selbst wieder von an-deren, schon gebildeten Wesen, die vor ihm waren;also ist nicht der Same das Ursprüngliche, sonderndas vollendete Gebilde. Und so darf man denn sagen:der Mensch ist früher als der Same, nicht der Mensch,der aus dem Samen gezeugt wird, sondern derMensch, von dem der Same stammt.

Durch das, was wir ausgeführt haben, ist der Be-weis geliefert, daß es ein ewiges, unbewegtes Wesengibt, das von aller Sinnlichkeit frei ist. Zugleich abergeht daraus hervor, daß diesem Wesen Ausdehnung inkeinem Sinne zukommen kann, daß es vielmehr unge-teilt und unteilbar ist. Denn es übt bewegende Kraftdie unendliche Zeit hindurch; etwas Endliches aberkann kein unendliches Vermögen besitzen.

Jede Größe ist entweder endlich oder unendlich.

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Endliche Größe kann jenes Wesen nicht haben ausdem angegebenen Grunde; unendliche Größe aberkann es nicht haben, weil es eine unendliche Größeschlechterdings nicht geben kann. Daraus folgt dannweiter, daß diesem Wesen Unveränderlichkeit undUnwandelbarkeit zukommt. Denn alle anderen Artender Veränderung sind aus der räumlichen Bewegungabgeleitet.

Damit hätten wir denn die Gründe aufgezeigt, wes-halb jenem Wesen diese Prädikate zukommen müs-sen.

Nun dürfen wir aber weiter auch die Frage nichtunerörtert lassen, ob man das so gekennzeichneteWesen als eines oder als mehrere, und in letzteremFalle wie viele man setzen muß, und dabei müssenwir auch der Ansichten der anderen gedenken, die al-lerdings über diese Frage der Zahl nichts zu sagen ge-wußt haben, was strengeren Forderungen gerechtwürde. Die Ideenlehre wenigstens hat den Gegenstandgar keiner besonderen Untersuchung gewürdigt. IhreAnhänger bezeichnen die Ideen als Zahlen; die Zah-lenreihe aber betrachten sie das eine Mal als unend-lich, das andere Mal als durch die Zehnzahl begrenzt,und aus welchem Gründe die Anzahl der Zahlen gera-de diese oder jene sein soll, darüber haben sie in be-weiskräftiger Strenge nicht gehandelt.

Wir hier müssen von dem bisher Erörterten und

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Ausgemachten aus weiter schließen. Das Prinzip, derUrsprung dessen was ist, sahen wir, ist unbewegt er-stens an sich und zweitens seinen Bestimmungennach; aber es bewegt anderes und setzt die ursprüngli-che, die ewige und einheitliche Bewegung. Wirdetwas bewegt, so muß es notwendig eine Ursache sei-ner Bewegung haben: diese erste Ursache der Bewe-gung muß an sich unbewegt, die Ursache der ewigenBewegung muß selbst ewig, und die Ursache der ein-heitlichen Bewegung muß selbst einheitlich sein.

Nun sehen wir aber, daß es neben der einfachenräumlichen Bewegung des Alls, als deren Ursache wirdas erste, das unbewegliche Wesen bezeichnen, nochandere räumliche Bewegungen gibt, die gleichfallsewigen Bewegungen der Planeten. Denn ewig undrastlos bewegt ist der Körper, der sich im Kreisedreht, wie wir in unseren Schriften zur Naturphiloso-phie nachgewiesen haben. Es muß also auch eine jededieser Bewegungen eine an sich unbewegte ewigeWesenheit zur Ursache haben. Denn die Natur derGestirne ist eine ewige Wesenheit; also ist die Ursa-che ihrer Bewegung gleichfalls ewig und geht demwas bewegt wird voraus. Was aber der selbständigenWesenheit vorausgeht, muß gleichfalls selbständigeWesenheit sein. Es muß also offenbar ebensovieleWesen geben, die von Natur ewig, selber unbewegtund ohne Ausdehnung sind, wie es Bewegungen gibt,

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aus dem oben angegebenen Grunde.Danach ist es ausgemacht, daß es eine Mehrheit

von Wesen gibt, und welche darunter den ersten, wel-che den zweiten Rang einnimmt, der Ordnung ent-sprechend, wie sie in den Bewegungen der Gestirnesich darstellt. Die Anzahl der Bewegungsformen abermuß man sich von dem Zweige der mathematischenWissenschaften angeben lassen, der der Philosophieam nächsten verwandt ist, von der Astronomie. Denndiese hat zum Gegenstande ihrer Betrachtung dieSubstanz, die sinnlich und ewig zugleich ist, währenddie anderen, Arithmetik und Geometrie, es überhauptnicht mit Substanzen zu tun haben.1

Wenn indessen eine Bewegung anzunehmen, dienicht zu der Bewegung eines Gestirns erfordert wird,unzulässig ist; wenn außerdem die Annahme gilt, daßalles was Natur und alles was Substanz heißt, sofernes unwandelbar ist, und an und für sich die größteVollkommenheit besitzt, die Bedeutung des Zweckeshabe: so ergibt sich, daß es außer den genannten Ge-bilden in der Natur ein weiteres nicht geben kann, daßalso die Zahl der Wesenheiten die oben bezeichnetesein muß. Denn gäbe es wirklich noch weitere, sowürden sie zum Zwecke des Umlaufs, also als Ursa-che von Bewegungen gesetzt sein müssen; es ist aberunmöglich, daß es außer den bezeichneten Bewegun-gen noch andere gebe. Das darf man mit großer

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Wahrscheinlichkeit auf Grund der beobachteten Be-wegungen vermuten. Denn wenn alles, was Bewegungsetzt, um dessen willen da ist, was von ihm bewegtwird, und jede Bewegung einem bewegten Gegenstan-de zukommt, so ist es undenkbar, daß eine Bewegungihrer selbst willen, undenkbar, daß sie um einer ande-ren Bewegung willen da sei; so muß vielmehr jede umeines Gestirns willen sein. Denn wäre eine Bewegungum einer anderen Bewegung willen, so müßte auchdiese wieder um einer dritten Bewegung willen ge-setzt sein. Also muß es, da der Fortgang ins Unendli-che ausgeschlossen ist, für jede Bewegung einenZweck geben, nämlich einen der am Himmel sich um-schwingenden göttlichen Körper.

Offenbar ferner gibt es nur eine einheitliche Welt.Denn wären es der Welten mehrere, etwa wie es derMenschen viele gibt, so würde doch das Prinzip füreine jede dieser vielen Welten der Idee nach eines unddasselbe, und nur der Zahl nach würden es viele sein.Alles aber, was eine Vielheit der Zahl nach ist, ist mitMaterie behaftet. In einer Vielheit, z.B. von Men-schen, ist der Begriff ein und derselbe; Sokrates dage-gen ist von anderen verschieden durch seine Materie.Das begriffliche Wesen aber, welches der Ursprungist, hat nichts von Materie an sich; es ist vielmehr En-telechie, tätiger immanenter Zweck. Und wie mithindie oberste Ursache der Bewegung, welche unbewegt

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ist, der Zahl wie dem Begriffe nach eins ist, ebenso istauch das stetig und ewig Bewegte nur eins, und alsoist auch die Welt nur eine.

Von den Vorfahren aus den ältesten Zeiten ist inmythischer Form die Überlieferung auf die Nachweltgekommen, daß diese Wesenheiten Götter seien unddie Gottheit die ganze Natur durchwalte. Das ist dannweiter in der Weise des Mythus ausgesponnen wor-den, um im Interesse der gesetzlichen Ordnung unddes öffentlichen Wohles Eindruck auf den großenHäufen zu machen. Man legt ihnen menschliche Ge-stalt oder auch Ähnlichkeit mit anderen lebendenWesen bei, und anderes, was sich daran anschließtund mit dem Bezeichneten zusammenhängt. Nimmtman darin nun eine Auswahl vor, und hält man nurdas als das eigentliche Wesen fest, daß sie die ober-sten Wesenheiten für Götter hielten, so darf man darinwohl eine göttliche Offenbarung finden und anneh-men, daß diese Vorstellungen sich wie in Überrestenbis auf den heutigen Tag erhalten haben. Ist doch allerWahrscheinlichkeit nach jede Art von Kunstfertigkeitund wissenschaftlicher Einsicht, soweit es jedesmalmöglich war, wiederholt entdeckt worden und wiederverloren gegangen. Infolgedessen ist denn auch deruns von den Vätern und von den ältesten Menschen-geschlechtern her überkommene Glaube uns nur so-weit recht verständlich.

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Schwierigkeiten bietet weiter die Frage, die dasDenken als Tätigkeit des Absoluten betrifft. Unterdem, was uns an Gott entgegentritt, nimmt man alsdas eigentlich Göttliche die denkende Vernunft; in-dessen hat es seine Dunkelheiten, wie die Vernunftsich verhält, um diesen Rang zu behaupten. Denndenkt sie nicht wirklich, was wäre dann an ihr so Ver-ehrungswürdiges? Es wäre ebensogut, als ob sieschliefe. Denn dann wäre das, was ihre Substanz aus-macht, nicht wirkliches Denken, sondern ein bloßesVermögen. Denkt sie aber wirklich, doch so, daß einanderes, ein Fremdes, Macht über sie hätte, so wäresie nicht das Höchste, das Absolute; denn das Denkenist es, durch welches ihr dieser Rang zukommt. Aberweiter; mag das bloße Vernunftvermögen oder diewirkliche Tätigkeit des Denkens ihre Substanz bilden:welches ist das Objekt, das sie denkt? Das Objektihres Denkens kann entweder sie selbst oder etwas an-deres sein, und wenn etwas anderes, entweder immerdasselbe oder abwechselnd bald dieses, bald jenes.Macht es nun einen Unterschied oder nicht, ob daswas sie denkt etwas Wertvolles oder etwas Beliebigesist? Oder wäre es nicht geradezu widersinnig, gewisseGegenstände als Objekte ihres Denkens sich auch nurvorzustellen? Offenbar ist doch so viel, daß das Ob-jekt ihres Denkens das Göttlichste und Herrlichstesein muß, und ferner, daß dies Objekt keinem Wech-

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sel unterliegen darf. Denn jeder Wechsel müßte denÜbergang zu etwas Geringwertigerem bedeuten, undes wäre damit überdies in das Absolute eine Bewe-gung gesetzt.

Wir haben also Folgendes. Zunächst, wenn die ab-solute Vernunft nicht wirkliches Denken, sondern einbloßes Vermögen des Denkens wäre, so würde dieAnnahme nahe liegen, daß ein unausgesetztes Denkenfür sie etwa allzu beschwerlich wäre. Zweitens aber,ist sie wirkliches Denken und ihr Objekt von ihr ver-schieden, so könnte es offenbar ein anderes geben,was an Wert über der Vernunft stände, nämlich dasObjekt des Denkens. Denn ein Gedanke und eineDenktätigkeit kommt auch da vor, wo das Objekt dasallergeringwertigste ist. Ist es nun Pflicht, gewisseObjekte lieber nicht zu denken, – wie es ja von somanchen Dingen gilt, daß sie nicht zu sehen besser istals sie zu sehen, – so ergibt sich, daß nicht das Den-ken als solches schon, sondern erst das Denken alsDenken des Besten das Höchste ist. Daraus folgt: DieVernunft, wenn sie doch das Herrlichste ist, denktsich selbst, und ihr Denken ist ein Denken des Den-kens.

Nun fordert das Erkennen, das Wahrnehmen, dasVorstellen, das Reflektieren tatsächlich ein von diesenTätigkeiten unterschiedenes Objekt, und so könntensie nur gelegentlich und ausnahmsweise sich selber

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Objekt werden. Ist dann das Denken das eine und dasGedachtwerden das andere: in welchem von beidenVerhältnissen kommt dann dem Absoluten die Selig-keit zu? Ist doch das Sein als Denkendes und das Seinals Gedachtes keineswegs dasselbe. Oder wäre den-noch in gewissen Fällen die Erkenntnis selber dasObjekt? Im künstlerischen Gestalten ist, wo die Mate-rie nicht ins Spiel kommt, das Objekt die Substanzund das begriffliche Wesen; im rein theoretischenVerhalten ist es der Begriff und der Gedanke. Ist nundas Objekt nichts anderes als die Vernunft selber, sowird beides als solches, was mit Materie nicht behaf-tet ist, identisch, und das Denken wird mit seinemObjekt eines und dasselbe sein.

Noch ein Bedenken bleibt zu lösen. Ist das Objektetwa ein Zusammengesetztes? Dann nämlich könnteVeränderung in der Weise vorkommen, daß voneinem Teile zu einem anderen übergegangen würde.Ist aber nicht vielmehr alles Immaterielle ohne Teile?Wie die menschliche Vernunft, die es mit solchem zutun hat, was aus Teilen besteht, sich zu Zeiten verhält,wie sie ihre volle Befriedigung nicht in diesem oderjenem einzelnen findet, sondern den Gipfelpunkt ihresDaseins nur in der Anschauung eines Ganzen erreicht,das doch immer noch von ihr selber verschiedenbleibt, – so verhält sich das göttliche Denken alleEwigkeit hindurch, aber als ein Denken seiner selbst.

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4425 345Aristoteles: Metaphysik

Wir müssen noch einen Punkt ins Auge fassen. Aufwelche Weise enthält denn nun das Weltgebäude dasGute und zwar das absolut Gute? Etwa als ein demGanzen selbständig Gegenüberstehendes und an undfür sich Seiendes? oder als die ihm immanente Ord-nung? und nicht vielmehr in beiderlei Weise, wie esin einem Heere der Fall ist? Denn hier liegt das Heilin der Ordnung, und zugleich ist der Feldherr das Heildes Ganzen, und zwar ist es dieser in höherem Grade;denn nicht er besteht durch die Ordnung, sondern dieOrdnung besteht durch ihn. In der Welt nun ist zuletztalles auf einander angelegt, wenn auch nicht alles ingleicher Würdigkeit: Fische, Vögel, Pflanzen. Unddabei ist es nicht so, daß eines ohne Beziehung zumanderen da wäre: ganz im Gegenteil; alles ist zueinem Ziele geordnet. Es ist wie in einem Hauswesen,wo auch den Freien am wenigsten Spielraum vergönntist nach Belieben zu handeln, sondern ihnen alles oderdoch das meiste vorgezeichnet ist, den Sklaven dage-gen und den Haustieren nur weniges für den Dienstder Gemeinschaft auferlegt, das meiste in ihr Beliebengestellt ist; den bestimmenden Grund dafür bildet dienatürliche Eigentümlichkeit eines jeden. So, meineich, besteht gleichsam für jegliches die Notwendig-keit, seine besondere Stellung einzunehmen, undebenso gibt es wieder anderes, was für alles die ge-meinsame Aufgabe bildet, um dem Ganzen zu dienen.

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Wir dürfen aber nicht unterlassen, uns auch dasklar zu machen, in welche Unmöglichkeiten und Un-gereimtheiten sich diejenigen verstricken, die anderslehren als wir, ferner welches die gebildetere Ansichtist, und auf welcher Seite die Schwierigkeiten am ge-ringsten sind.

Ganz allgemein begegnet man der Annahme, daßalles dualistisch aus Gegensätzen zu erklären sei.Daran ist weder das richtig, daß der Satz für allesgelte, noch daß die Gegensätze die Erklärung leisten,und wo die Gegensätze wirklich vorhanden sind, daerhält man keine Auskunft darüber, wie die Sache ausden Gegensätzen hervorgeht. Denn die Gegensätzewirken doch nicht auf einander. Für uns liegt die ein-fache überzeugende Lösung darin, daß es zu den Ge-gensätzen eben noch ein Drittes gibt.

Manche nun machen aus der Materie das eine Glieddes Gegensatzes; so diejenigen, die das Ungleichedem Gleichen oder dem Einen das Viele gegenüber-stellen. Auch hier löst sich die Schwierigkeit für unsauf dieselbe Weise; denn das Prinzip ist für uns nichtGlied eines Gegensatzes. Nach jener Ansicht müßtealles außer dem Einen einen Mangel an sich tragen;denn da wird das »Ungleiche«, welches doch dasSchlechte ist, selber zum einen der beiden Elementegemacht. Die anderen wieder [wie Speusipp und diePythagoreer] erkennen nicht einmal das Gute und das

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4427 347Aristoteles: Metaphysik

Böse als Prinzipien an; und doch ist überall dasGute Prinzip im höchsten Sinne.

Wieder andere sind zwar darin auf dem rechtenWege, daß sie das Gute als Prinzip bezeichnen, gebenaber dann keine Auskunft darüber, in welcher Weisees Prinzip ist, ob als Zweck oder als bewegende Ursa-che oder als Form. Auch des Empedokles Auskunftist nicht haltbar. Er erklärt die Freundschaft für dasGute; sie ist Prinzip, und zwar als bewegende Ursa-che, – denn sie eint, – und als Materie, – denn siegeht als Teil in die Mischung ein. Wenn nun einemund demselben beide Bestimmungen zukommen, alsMaterie und als bewegende Ursache Prinzip zu sein,so ist doch der Begriff des Verhältnisses nicht beideMale derselbe. In welcher Bedeutung soll nun dieFreundschaft Prinzip sein? Undenkbar ist es ferner,daß der Streit unaufhebbar sein soll; macht doch ebendieser die Natur des Schlechten aus. Anaxagoras wie-derum läßt das Gute Prinzip sein im Sinne der bewe-genden Ursache; denn die Vernunft wirkt nach ihmbewegend, aber sie wirkt zweckmäßig. Damit wärealso ein zweites gesetzt, nämlich der Zweck; es seidenn, daß man es in unserem Sinne versteht, wonachdie Heilkunst im Grunde die Gesundheit selbst ist.Dann aber bleibt es wieder unverständlich, daß zumGuten und zur Vernunft nicht auch ein Gegensatz an-genommen wird.

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4428 348Aristoteles: Metaphysik

Diejenigen, die die Prinzipien nach Gegensätzenscheiden, wissen sämtlich von diesen Gegensätzenkeinen rechten Gebrauch zu machen, falls man ihnennicht ein wenig nachhilft. Auch aus welchem Grundedas eine vergänglich, das andere unvergänglich ist,weiß keiner zu sagen; denn man erklärt alles was istaus denselben Prinzipien.

Manche leiten das Seiende aus dem Nicht-seiendenab; andere lassen, um dieser Nötigung zu entgehen,alles eines sein. Sodann auf die Frage, warum esimmer ein Werden geben wird und was die Ursachedes Werdens ist, gibt keiner eine Antwort. Bei denje-nigen, die zwei Prinzipien annehmen, müßte es dochnoch ein drittes geben, was über denselben steht; undauch die Anhänger der Ideenlehre müßten ein solchesmächtigeres Drittes annehmen. Denn wie ließe sichsonst ein Grund angeben, weshalb das Sinnliche anden Ideen teilgenommen hat oder gegenwärtig teil-nimmt? Für die anderen [die Pythagoreer] ergibt sichdie Notwendigkeit eines Gegensatzes zu der Wissen-schaft und zu der Erkenntnis des Absoluten, für unsnicht. Denn das Absolute hat keinen Gegensatz.Alles in Gegensätze Zerfallende ist mit Materie behaf-tet, und der Möglichkeit nach sind die Gegensätzeidentisch. Wo Gegensatz ist, da ist auch ein Nichtwis-sen vom Entgegengesetzten; im Absoluten aber gibtes kein Nichtwissen.

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4429 349Aristoteles: Metaphysik

Die andere Ansicht ist die, daß es nichts gibt außerdem Sinnlichen. Dann aber gibt es auch nicht Prinzip,noch Ordnung, noch ein Werden, noch die Himmels-erscheinungen, sondern dann gibt es von jeder Ursa-che nur immer wieder eine Ursache. Und in der Tat istdas denn auch bei den in mythischer Form Philoso-phierenden der Fall und durchgehends bei denen, diealles aus natürlichen Ursachen erklären.

Existieren aber außer dem Sinnlichen noch dieIdeen oder Zahlen, so sind sie doch nicht Ursachenvon irgend etwas, und läßt man das nicht gelten, sosind sie wenigstens nicht Ursache einer Bewegung.Überdies, wie soll Ausdehnung und Kontinuität vondem kommen, was keine Ausdehnung hat? Denn dieZahl kann doch keine Kontinuität bewirken, sowenigals bewegende Ursache wie als Formursache. Viel-mehr gäbe es dann kein Glied des Gegensatzes, daszu schaffen oder zu bewegen vermöchte, und es bliebemöglich, daß gar nichts wäre. Denn da wäre das Wir-ken das Spätere und das Vermögen das Frühere. Alsowäre das Seiende nicht ewig; es ist aber ewig. Mithinmuß man von dieser Annahme etwas fallen lassen,und wie, darüber haben wir uns oben erklärt.

Ferner, wodurch die Zahlen eine Einheit bildenoder die Seele und der Leib, und nun gar die Formund die Sache, davon weiß niemand ein Sterbenswört-chen zu sagen; und es wird auch jede Auskunft un-

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möglich, wenn man es nicht wie wir von der bewe-genden Ursache ableitet.

Diejenigen, die [wie Speusipp] die mathematischeZahl als das erste und danach immer weiter eine We-senheit nach der anderen und für jede wieder anderePrinzipien setzen, die fassen den Bestand des Univer-sums als ein lockeres, von Episoden durchsetztes Ge-füge, wo das eine nichts für das andere bedeutet, jedesdem anderen gleichgültig, ob es ist oder nicht ist, undmachen aus den Prinzipien eine Vielheit. Das Seiendeaber weist es zurück, schlecht verwaltet zu werden:

»Heil ist nicht in der Vielherrschaft; nur einersei Herrscher!«

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Zweite AbteilungDie angefügten Stücke

I. Einheit Verschiedenheit Gegensatz

Daß man von »Einheit« in mehreren Bedeutungenspricht, haben wir in unseren Ausführungen überWörter von mehrfacher Bedeutung früher dargelegt.Die Vielheit der Bedeutungen von »Einheit« läßt sichindessen, soweit man von Einheit an und für sich imursprünglichen Sinne und nicht bloß in äußerlicherBeziehung spricht, auf vier hauptsächliche zurückfüh-ren.

So ist Eins zunächst das räumlich Zusammenhan-gende, teils ohne weitere Beschränkung, teils in be-sonderem Grade das, was von Natur und nicht bloßdurch äußere Berührung oder künstliche Verbindungzusammenhängt, und unter dem, was aus diesemGrunde als Eines gilt, ist etwas in um so höheremGrade und um so ursprünglicher Eines, je weniger beider Bewegung des Ganzen unterscheidbare Teile her-vortreten und je einheitlicher deshalb die Bewegungist. Zweitens gehört dahin insbesondere das, was alsein geschlossenes Ganzes eine bestimmte Gestalt undForm besitzt, am meisten dann, wenn es solche Formvon Natur hat und nicht bloß durch äußere Kräfte, wie

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4432 352Aristoteles: Metaphysik

etwa durch Anleimen, Nageln oder Schnüren, wenn esalso den Grund seines Zusammenhanges vielmehr insich selber trägt. Einen solchen Zusammenhang hatetwas, sofern seine Bewegung einheitlich und inRaum und Zeit ungeteilt ist. Daraus ergibt sich, daßdasjenige was das ursprüngliche Prinzip der ur-sprünglichen Bewegung, – und unter dieser versteheich die Kreisbewegung, – von Natur in sich trägt, daßdies das ursprüngliche ausgedehnte Eine ist.

Wie das Bezeichnete eines ist als ein räumlich Zu-sammenhängendes oder als ein geschlossenes Gan-zes, so bildet anderes eine Einheit vielmehr dadurch,daß sein Begriff einheitlich ist. Dahin gehört das, wasin einem einheitlichen Gedanken erfaßt wird, also ineinem Gedanken, der nicht weiter zerlegbar ist; nichtweiter zerlegbar aber ist der Gedanke von dem, wassich der Art nach oder der Zahl nach nicht mehr zerle-gen läßt. Der Zahl nach unteilbar ist das Individuelle,der Art nach unteilbar das, was für begriffliche Er-kenntnis nicht weiter zerlegbar ist. Somit ist ur-sprünglich eines das, was für die selbständigen We-senheiten den Grund ihrer Einheit bildet, ihr Wesens-begriff.

In so vielen Bedeutungen also wird der Begriff derEinheit gebraucht: für das von Natur räumlich Zu-sammenhangende, für das was ein Ganzes ist, für dasIndividuelle und für das Allgemeine. Alles dieses ist

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eines deshalb, weil bei der einen Art die Bewegung,bei der anderen Art die denkende Auffassung und derBegriff keine Teilung zuläßt.

Indessen, man muß sich doch auch dies überlegen,daß es nicht für dasselbe anzusehen ist, ob gefragtwird, was für Dinge unter den Begriff der Eins fallen,oder was das Wesen und der Begriff der Einheit sel-ber ist. Das Wort Eins wird in diesen verschiedenenBedeutungen gebraucht, und jegliches, dem eine die-ser Bedeutungen zukommt, wird als eines zu geltenhaben. Der Begriff der Einheit aber wird zwar wohlauch einem unter diesen bezeichneten, aber noch mehreinem anderen zukommen, was der Bezeichnung alsEins noch näher steht, nämlich dem Maße, währenddie vorher angeführten Arten von Einheit nur dieMöglichkeit ergeben, daß der Gegenstand ein Einigessei. Es ist damit gerade so, wie bei den Begriffen Ele-ment und Grund, wo es das eine Mal gilt, genau anzu-geben, was für Gegenstände unter diese Begriffe fal-len, das andere Mal den Begriff selber zu bezeichnen,der sich mit dem Worte verbindet. Als Element giltetwa das Feuer, – an und für sich könnte man freilichstatt dessen ebensogut auch das »Unbestimmte« oderirgend etwas anderes derartiges nennen, – in anderemSinne ist doch wieder Feuer und Element etwas ande-res. Denn der Begriff des Feuers und der Begriff desElementes fällt doch nicht zusammen. Das Feuer als

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dieser in der Natur vorkommende Gegenstand ist einElement; solche Bezeichnung bedeutet aber nur, daßdieses bestimmte Prädikat ihm deshalb zugefallen ist,weil das Feuer von anderem den ursprünglichen Be-standteil ausmacht. Ebenso nun ist es, wenn vonGrund, von Einheit oder irgend einem derartigen dieRede ist. Der Begriff der Einheit also ist der Begriffder Unteilbarkeit bei einem bestimmten Einzelwesen,das für sich allein abgetrennt besteht dem Ort oder derArt oder der Auffassung im Denken nach, oder auchder Begriff der auf in sich geschlossener Ganzheit be-ruhenden Unteilbarkeit; vor allem aber ist er der Be-griff des ursprünglichen Maßes für jede Gattung vonBestimmungen, und im eigentlichsten Sinne für dasQuantitative. Denn von da aus ist der Begriff erst aufdie anderen Bestimmungen übertragen worden.

Ein Maß ist dasjenige, vermittelst dessen man voneinem Quantitativen eine bestimmte Erkenntnis er-langt. Das Quantum als Quantum wird erkannt ver-mittelst der Einheit oder der Anzahl, und jede Anzahlwieder vermittelst der Einheit; mithin wird jeglichesQuantitative als Quantitatives vermittelst der Einheiterkannt, und dasjenige Ursprüngliche, vermittelst des-sen Quanta erkannt werden, ist eben die Einheit sel-ber. Darum ist die Einheit das Prinzip der Zahl alsZahl. Von da aus wird dann auch auf den anderen Ge-bieten ein Maß dasjenige genannt, vermittelst dessen

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als des Ursprünglichen jegliches erkannt wird, und soist denn die Einheit das Maß für jedes, ob es sich umLänge, Breite oder Tiefe, um Schwere oder Geschwin-digkeit handelt. Denn Schwere und Geschwindigkeitumfaßt als Gemeinsames das eine und sein Gegenteil.Jegliches von ihnen bedeutet ein Gedoppeltes. So giltSchwere von jedem was nur irgend welches Gewicht,wie von dem was ein überaus großes Gewicht hat,und Geschwindigkeit gebraucht man von dem waseine noch so geringe, wie von dem, was eine überausgeschwinde Bewegung hat Denn Geschwindigkeitgibt es auch am Langsamen und Schwere auch amLeichten. In alle dem bedeutet das Maß und Prinzipeine Einheit, die an sich ohne Teile ist, so wie manetwa bei den Linien die Länge eines Fußes als nichtweiter eingeteilte Einheit gebraucht.

Wo man ein Maß sucht, da sieht man sich überallnach etwas um, was die Eigenschaft der Einheit undUngeteiltheit besitzt, und dieses gilt dann als das Ein-fache, sei es in Hinsicht auf die Qualität oder auf dieQuantität. Wo etwas abzuziehen oder hinzuzusetzenals unzulässig empfunden wird, da haben wir es miteinem exakten Maße zu tun; eben darum ist das Maßder Zahl das exakteste. Denn wo man Einheit denkt,da denkt man das in jeder Weise Unteilbare. In denanderen Fällen aber sucht man solcher Exaktheit we-nigstens möglichst nahe zu kommen. Denn bei einem

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Stadium, einem Talent und so jedesmal bei dem waseine beträchtliche Größe hat, wird es weniger merkbarals bei einer geringeren Größe, wenn etwas dazu hin-zugefügt oder etwas davon hinweggenommen wird.Darum setzt man allgemein als Maß für Trocknes undfür Flüssigkeiten, für Schwere und für Ausdehnungsolches, was für die Wahrnehmung die Grenze bildet,bei der ein Wegnehmen oder Hinzusetzen eben nochmerklich ist, und meint die Größe dann zu kennen,wenn man sie vermittelst dieses Maßes bestimmt. Sobestimmt man denn auch die Bewegung vermittelstder einfachen und der schnellsten Bewegung; denndiese nimmt die geringste Zeit in Anspruch. Darumdient auch in der Sternkunde eine Einheit von dieserArt als Prinzip und als Maß. Denn zugrunde legt mandie Bewegung des Himmels als die gleichmäßige undals die schnellste, und bemißt nach ihr die anderen.Ebenso ist es in der Musik mit dem Viertelton alsdem geringsten Intervall, und in der Sprache mit demLaut eines Buchstabens. Alles dies ist ein Eines indiesem Sinne, nicht als handelte es sich um die Ein-heit als allgemeinen Begriff, sondern in der vorherdargelegten Bedeutung.

Nicht immer aber ist das Maß der Zahl nach eineinziges; bisweilen bildet es auch eine Mehrheit, soz.B. die beiden Arten von Vierteltönen, die nicht nachdem Gehör, sondern bloß durch Berechnung unter-

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4437 357Aristoteles: Metaphysik

schieden werden, oder die Mehrheit von Sprachlauten,die als Maß dienen; und so wird auch die Diagonaledes Quadrats und die Seite desselben, ja es werdenalle ausgedehnten Größen durch zwei Maße gemes-sen.

So ist denn also die Einheit das Maß für alles, weilwir erkennen, woraus das Wesen besteht, indem wires, sei es der Quantität nach oder der Art nach zerle-gen. Die Einheit ist darum ein Ungeteiltes, weil über-all das Ursprüngliche ein Ungeteiltes ist. Freilich istnicht alles ohne Teile in gleichem Sinne; eine Längevon einem Fuß ist es nicht in gleichem Sinne wie dieEins; vielmehr das eine nimmt in Anspruch in jedemSinne, das andere nur für die Wahrnehmung ohneTeile zu sein, wie wir bereits dargelegt haben. Dennwas ein Kontinuierliches ist, das ist doch eigentlichalles auch ein Teilbares.

Das Maß ist ferner jedesmal dem zu Messendengleichartig. So dient als Maß der Ausdehnung wiederein Ausgedehntes, und zwar im einzelnen für dieLänge ein in der Länge, für die Breite ein in der Brei-te Ausgedehntes, für den Sprachlaut ein Sprachlaut,für die Schwere ein Schweres und für die Einheiteneine Einheit. Denn so muß man hier die Sache auffas-sen, nicht so, als wäre das Maß der Zahlen wiedereine Zahl. So würde es allerdings sein müssen, wennan der Analogie mit den eben genannten Fällen fest-

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4438 358Aristoteles: Metaphysik

zuhalten wäre. Aber diese Analogie besteht ebennicht; sondern es wäre dann so, wie wenn man alsMaß für eine Anzahl von Einheiten wieder eine An-zahl von Einheiten und nicht vielmehr eine Einheitforderte. Die Zahl aber ist eine Vielheit von Einhei-ten, und mithin ist sie kein Maß.

Nun wird aber das Wort Maß auch so gebraucht,daß man als das Maß für die Objekte einerseits diewissenschaftliche Erkenntnis, andererseits die sinnli-che Wahrnehmung bezeichnet, beides aus demselbenGrunde, nämlich weil wir vermittelst ihrer etwas er-kennen; in der Tat freilich sind sie doch eher das, wasan der Wirklichkeit gemessen wird, als das was siemißt. Aber es geht uns dabei so, wie wenn wir erstauf dem Umwege über den Schneider, der uns Maßnimmt, indem er das Maß so und so oft an uns anlegt,Kenntnis davon erlangten, wie groß wir sind. Prota-goras freilich sagt, der Mensch sei das Maß allerDinge; und wie es klingt, kann er dabei ebensogut anden durch Wissenschaft gebildeten als auch an denbloß wahrnehmenden Menschen gedacht haben, undzwar deshalb, weil sie, der eine im Besitze der sinnli-chen Wahrnehmung, der andere im Besitze der Wis-senschaft sind. Dies beides läßt man ja auch sonst alsdie Maßstäbe für die Objekte gelten; die Frage istaber gerade, welches von beiden der wirkliche Maß-stab ist. In der Tat also hat er gar nichts gesagt, und

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4439 359Aristoteles: Metaphysik

dabei erregt er den Eindruck, als ob er etwas ganz Un-gewöhnliches gesagt hätte.

Das Ergebnis aus alle dem ist dies, daß der Begriffder Einheit, wenn man ihn dem herrschenden Gebrau-che nach genau bestimmen will, ein Maß bedeutet, imeigentlichsten Sinne für das Quantitative, dann aberweiter auch für das Qualitative. Mit dieser Beschaf-fenheit stellt es sich dar, wenn es ein Ungeteiltes ist,das eine Mal der Quantität nach, das andere Mal derQualität nach. Und darum ist Eins, entweder schlecht-hin, oder doch sofern es als Eins genommen wird, einUnteilbares.

Aber wir müssen in bezug auf Wesen und Naturder Einheit noch einen weiteren Punkt untersuchen. Inunseren Ausführungen über die Probleme haben wirdie Frage aufgeworfen, was die Einheit sei und wieman sie aufzufassen habe, ob als an sich selbständi-ges Wesen, wie die Pythagoreer zuerst und nachihnen Plato meinten, oder ob so, daß der Einheit viel-mehr ein anderes selbständig Seiendes zugrunde liege,an dem sie erscheine. Es ist fraglich, ob es nicht gebo-ten ist, im letzteren Sinne davon zu sprechen, der zu-treffender und mehr im Sinne der Naturphilosophenwäre. Diese bezeichnen das Eine bald als die Freund-schaft, der andere als die Luft, ein dritter als das »Un-bestimmte«. Wenn es nun seine Richtigkeit damit hat,daß, wie wir in unseren Ausführungen über das

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4440 360Aristoteles: Metaphysik

Wesen und das Seiende dargelegt haben, kein Allge-meines überhaupt ein selbständiges Wesen darstellenkann, und daß auch dieses, das Wesen selber, ebenweil es ein Allgemeines ist, nicht ein Selbständigesim Sinne einer Einheit, die neben der Vielheit bestän-de, sondern nur ein bloßes Prädikat an einem anderensein kann: so gilt eben dies auch offenbar von derEinheit; denn Sein und Einheit ist eben das, was unterallem am meisten als Allgemeines ausgesagt wird.Mithin sind weder die Gattungen der Dinge selbstän-dige Gebilde und von den anderen gesonderte, fürsich bestehende Wesen, noch kann die Einheit eineGattung bedeuten aus eben denselben Gründen, ausdenen auch das Sein und das Wesen es nicht können.

Weiter aber muß es sich notwendigerweise inbezug auf alle anderen Kategorien ebenso verhalten.Sein wird in ebenso vielen Bedeutungen genommenwie Eines. Mithin, da bei dem, was als Qualität ge-faßt wird, Einheit bestimmtes Qualitatives, und eben-so bei dem, was unter die Kategorie der Quantitätfällt, bestimmtes Quantitatives bedeutet, so ist offen-bar die Aufgabe die, zu bestimmen, was Einheit imumfassendsten Sinne bedeutet, sowie auch was dasSein bedeutet. Denn zu sagen, eben das Genannte seiseine Natur, das genügt der Aufgabe nicht. Sondernvielmehr in der Vielheit der Farben ist die Einheiteine Farbe, etwa die weiße Farbe, falls es nämlich

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4441 361Aristoteles: Metaphysik

einleuchten sollte, daß die anderen Farben aus dieserund der schwärzen Farbe entstehen, das Schwarz aberdem Weiß als Privation gegenübersteht, wie auch dasDunkle dem Lichte gegenübersteht. Wäre mithin dasReale eine Vielheit von Färben, so würde das Realeeine Zahl sein, und zwar wovon? Doch offenbar vonFärben, und die Einheit wäre dann ein bestimmtesEines, etwa die weiße Farbe. Und ebenso, wäre dasReale eine Tonreihe, so würde es eine Zahl sein, undnun vielmehr eine Zahl von Intervallen; aber seinWesen würde nicht in einer Zahl bestehen, und dieEinheit wäre vielmehr dann etwas, das sein Wesennicht an der Einheit, sondern am Intervall hätte. Eben-so ist es mit den Sprachlauten. Das Reale wäre dieZahl der Sprachlaute, und die Einheit etwa ein Vokal.Und wäre das Reale eine Vielheit geradliniger Figu-ren, so wäre es eine Zahl von Figuren, und die Einheitdarin bildete das Dreieck. Dieselbe Betrachtung giltnun auch bei den übrigen Gattungen. Wenn also auchin den Bestimmtheiten der Dinge, in den Qualitäten,in den Quantitäten und in der Bewegung, überall woes Zahlen gibt und bestimmte Einheit, die Zahl eineZahl von bestimmten Dingen und die Einheit ein be-stimmtes Eines ist, aber eben diese Bestimmtheitnicht auch das Wesen der Einheit ausmacht, so mußes sich notwendig auf dem Gebiete der selbständigenWesenheiten ebenso verhalten. Denn das Verhältnis

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4442 362Aristoteles: Metaphysik

ist überall dasselbe. Damit wäre denn also erwiesen,daß die Eins jedesmal eine bestimmte Wesenheit in-nerhalb der Gattung und eben diese Einheit somitnicht das eigentliche Wesen einer dieser Gattungenbedeutet. Sondern wie man unter den Färben sichnach der einen Farbe als nach der Einheit an sich um-sehen muß, so muß man auch in dem, was selbstän-diges Wesen ist, sich nach einem bestimmten Wesenals dem Einen an sich umsehen. Daß aber Einheitund Sein im Grunde dasselbe bedeutet, das ersiehtman daraus, daß beide in gleich vielen Bedeutungensich der Natur der Kategorien anschließen und dochselber unter keine Kategorie fallen, z.B. ebensowenigunter die der Qualität wie unter die der Substanz. DieEinheit verhält sich vielmehr wie das Sein auch inso-fern, als es an der Aussage nichts ändert, wenn manstatt Mensch ein Mensch sagt, wie auch nichts Neuesdabei herauskommt, wenn zum substantiellen Wesen,zur Qualität oder der Quantität noch das Sein als Aus-sage hinzugefügt wird, und endlich insofern, als Einessein und Einzelnes sein ganz dasselbe bedeutet.

Eins und Vieles bildet einen Gegensatz in mehrfa-chem Sinne. Sie stehen sich zunächst gegenüber wiedas Unteilbare und das Teilbare. Was geteilt oder teil-bar ist, heißt eine Vielheit; das was unteilbar oder un-geteilt ist, heißt Eines. Nun gibt es vier Arten des Ge-gensatzes: kontradiktorischen und konträren Gegen-

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4443 363Aristoteles: Metaphysik

satz, Privation und Relation. Da nun hier von demeinen als der Privation des anderen im strengen Sinnegesprochen wird, so handelt es sich um einen konträ-ren Gegensatz, und sie stehen einander weder imSinne des kontradiktorischen Gegensatzes noch imSinne der Relation gegenüber. Dabei wird die Einheitnach ihrem Gegensätze benannt und durch ihn ver-ständlich gemacht, das Unteilbare durch das Teilbare,weil die Vielheit und das Teilbare der sinnlichenWahrnehmung näher liegt als das Unteilbare, undmithin auf Grund der sinnlichen Wahrnehmung dieVielheit für die begriffliche Auffassung gegenüberdem Unteilbaren das Ursprünglichere bildet.

In das Gebiet der Einheit fallen, wie wir in der»Scheidung der Gegensätze« verzeichnet haben, dieBegriffe Identität, Ähnlichkeit und Gleichheit, in dasGebiet der Vielheit die Begriffe Verschiedenheit, Un-ähnlichkeit und Ungleichheit.

Identität bedeutet vielerlei. Zunächst verstehen wirsie, wie es bisweilen geschieht, in bloß numerischemSinne; weiter aber im Sinne der Einheit zugleich demBegriffe und der Zahl nach, so wie ich mit mir selberder Form und der Materie nach eines bin. Identität be-deutet ferner Einheit des das ursprüngliche Wesen be-zeichnenden Begriffs; so sind gleiche gerade Linienund ebenso gleiche und gleichwinklige Vierecke,wenn auch der Zahl nach eine Mehrheit, gleichwohl

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4444 364Aristoteles: Metaphysik

identisch. Bei diesen Gegenständen heißt Gleichheitso viel wie Einheit.

Ähnlich ist, was nicht ohne weiteres identisch, undunter dem Gesichtspunkt des Wesens, das eine Ver-bindung der Form mit der Materie ist, nicht unter-schiedslos, wohl aber der Form nach identisch ist. Soist ein größeres Viereck einem kleineren, so sind un-gleiche gerade Linien einander ähnlich. Denn Ähn-lichkeit bedeutet bei diesen nicht ohne weiteres Identi-tät. Ähnlich ferner heißen Gegenstände, die dieselbeForm haben, falls die Form, die ein Mehr oder Minderzuläßt, bei ihnen weder ein Mehr noch ein Minderzeigt. Endlich nennt man wegen der Einheit der Formähnlich solche Gegenstände, die eine identische undder Art nach übereinstimmende Eigenschaft, wie dieweiße Farbe, in hohem oder in geringerem Gradehaben; oder man nennt sie so, wenn die identischenBestimmungen an ihnen die unterschiedenen überwie-gen, sei es ohne weiteres, sei es dann, wenn es sichum die mehr augenfälligen Eigenschaften handelt. Soist das Zinn dem Silber, das Gold, sofern es gelb undrötlich ist, dem Feuer ähnlich.

Es versteht sich daraus von selbst, daß auch andersund unähnlich in mehreren Bedeutungen gebrauchtwird. Anders bedeutet das eine Mal den Gegensatz zuidentisch; jeder Gegenstand ist daher im Vergleichmit jedem anderen entweder mit ihm identisch oder

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4445 365Aristoteles: Metaphysik

ein anderer. Andererseits ist ein anderes das, wasnicht die gleiche Materie ebenso wie den gleichen Be-griff hat; so bist du ein anderer als dein Nachbar. Einedritte Bedeutung ist die in der Mathematik vorkom-mende. Anderssein oder Identität wird also von jegli-chem im Verhältnis zu jeglichem ausgesagt, soweitman überhaupt von Sein und Einheit spricht. Denndas Anderssein steht zur Identität nicht im Verhältnisdes kontradiktorischen Gegensatzes und wird deshalbnicht gebraucht, wie nicht-identisch, auch von demwas nicht ist, aber wohl von allem was ist. Denn wasein Seiendes und ein Eines ist, das ist von Natur ent-weder Eines oder Nicht-Eines.

Dies also wäre der Gegensatz des Andersseins undder Identität. Dagegen bedeutet Verschiedenheit wie-der etwas ganz anderes als das Anderssein. Denn wasetwas anderes ist, braucht dem gegenüber, dessen an-deres es ist, nicht ein anderes zu sein durch etwas Ei-genes, was es hat; denn alles was nur immer ein Sei-endes ist, ist entweder ein anderes oder ein Identi-sches. Was aber von etwas verschieden ist, das istdurch etwas Bestimmtes verschieden, und es mußdaher notwendig ein Identisches geben, mit Bezugworauf sie verschieden sind. Dies Identische aber istdie Gattung oder die Art. Was verschieden ist, das un-terscheidet sich immer der Gattung oder der Art nach:der Gattung nach, wenn es keine gemeinsame Materie

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4446 366Aristoteles: Metaphysik

hat und keinen Übergang von einem zum anderen zu-läßt, wie dasjenige was verschiedenen Arten der Kate-gorie angehört; der Art nach, wenn es derselben Gat-tung angehört. Von Gattung aber spricht man, wozwei Gegenstände zwar verschieden, aber ihrem be-grifflichen Wesen nach identisch sind. Was aber kon-trär entgegengesetzt ist, das ist auch verschieden, undkonträrer Gegensatz ist eine Art des Unterschiedes.

Die Richtigkeit dieser Ausführungen wird durchdie Beispiele aus der Erfahrung bestätigt. Denn alleswas verschieden ist, das stellt sich auch als identischdar, und nicht bloß als ein anderes überhaupt, sondernals ein der Gattung nach anderes, oder als solches,was, wo zwei Reihen einander gegenüberstehen, inderselben Reihe der Aussage vorkommt und mithinderselben Gattung angehört und der Gattung nachidentisch ist. Darüber aber was der Gattung nach einidentisches oder ein anderes ist, haben wir an andererStelle eingehender gehandelt.

Was verschieden ist, das kann sich mehr oder we-niger unterscheiden. Daher gibt es auch einen größtenUnterschied, und diesen nenne ich Gegensatz. Daß erder größte Unterschied ist, das lehrt die Erfahrung.Denn das zwar, was der Gattung nach verschieden ist,läßt keinen Übergang von einem zum anderen zu,sondern liegt weiter und unvergleichbar auseinander;dagegen bei dem was nur der Art nach verschieden

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4447 367Aristoteles: Metaphysik

ist, findet sich ein Übergehen von einem zum andernund zwar von dem Entgegengesetzten aus als von demwas am äußersten Ende liegt. Der Abstand zwischenden äußersten Enden aber ist der weiteste; also ist esauch der Abstand zwischen den Gegensätzen.

Nun ist aber das was jedesmal in seiner Gattungdas Höchste ist, das Vollendete; denn ein Höchstesheißt das, über das es nicht mehr hinausgeht, undvollendet heißt das, zu dem sich nichts mehr vonaußen hinzufügen läßt. Der vollendete Unterschied istalso der, der das Ende erreicht hat, wie man auchsonst da von Vollendung spricht, wo das Ende er-reicht ist; jenseits des Endes aber liegt nichts mehr; esist überall das Äußerste und Abschließende. Da aberjenseits des Endes nichts mehr liegt, und was vollen-det ist keines weiteren bedarf, so ergibt sich daraus,daß der Gegensatz der vollendete Unterschied ist.

Nun spricht man von Gegensatz in mehreren Be-deutungen. Es wird also die Bestimmung vollendet zusein in demselben Maße damit verbunden sein, wiedie Gegensätzlichkeit vorhanden ist.. Darin ist nunauch dies enthalten, daß nicht einem mehreres entge-gengesetzt sein kann. Denn etwas, was noch mehr einäußerstes wäre als das äußerste, kann es nichts geben,und bei einem Abstande können nicht mehr als zweiPunkte die äußersten sein. Überhaupt, wenn der Ge-gensatz ein Unterschied ist, der Unterschied aber zwi-

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4448 368Aristoteles: Metaphysik

schen zweien stattfindet, so gilt dasselbe auch vomvollendeten Unterschied. Und so müssen auch die an-deren Bestimmungen von den Gegensätzen gelten.Denn der vollkommene Unterschied ist eben der größ-te Unterschied; wie es unmöglich ist, etwas noch wei-ter draußen liegendes zu finden unter dem, was sichder Gattung nach unterscheidet, ebenso unmöglich istes unter dem, was der Art nach verschieden ist, etwaszu finden, was noch entfernter wäre. Denn wie wir ge-zeigt haben, der Begriff des Unterschiedes ist nichtanwendbar auf das, was nicht derselben Gattung an-gehört. Unter dem aber, was derselben Gattung ange-hört, ist dieser Unterschied der größte, und umge-kehrt: dasjenige was innerhalb derselben Gattung ammeisten unterschieden ist, das ist das Entgegengesetz-te. Der größte Unterschied, der zwischen solchemherrschen kann, ist eben der vollendete Unterschied.

Wo ein Substrat gegeben ist, das für Unterschiedeempfänglich ist, da bildet einen Gegensatz dasjenige,was den stärksten Unterschied aufweist; denn die Ma-terie ist für beide Glieder des Gegensatzes dieselbe.Und ebenso bei dem was der Einwirkung eines unddesselben Vermögens, wie etwa der Heilkunst, unter-liegt, da bildet einen Gegensatz, was in diesem Kreiseam weitesten auseinanderliegt, wie Gesundheit undKrankheit. Denn auch die Wissenschaft ist eine alsWissenschaft von einer Gattung von Objekten, und

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4449 369Aristoteles: Metaphysik

zwischen diesen ist wieder der vollendete Unterschiedder größte Unterschied. Der oberste Gegensatz aberist der von Haben und Nichthaben, Habitus und Pri-vation. Freilich ist dabei nicht an alles Nichthaben zudenken, denn Nichthaben wird in mehrfacher Bedeu-tung gebraucht, sondern an vollkommenes Nichtha-ben. Aller sonstige Gegensatz wird mit Bezug auf die-sen betrachtet, das eine Mal weil er ihn an sich hat,das andere Mal, weil er ihn hervorbringt oder dochhervorzubringen vermag, oder weil er ein Annehmenoder Ablegen dieser oder anderer Arten des Gegen-satzes bedeutet Nun stehen einander gegenüber kon-tradiktorischer Gegensatz, Privation, konträrer Ge-gensatz und Relation; und der kontradiktorische Ge-gensatz ist darunter der ursprünglichste. Da nun derkontradiktorische Gegensatz kein Mittleres zuläßt,wohl aber der konträre Gegensatz, so geht schon dar-aus klar hervor, daß kontradiktorischer und konträrerGegensatz nicht dasselbe bedeuten können.

Die Privation ist eine bestimmte Art des kontradik-torischen Verhältnisses. Das Nichthaben gilt entwedervon dem, was überhaupt nicht imstande ist etwas zuhaben, oder von dem, was etwas nicht hat, obgleich esseiner Natur nach es haben sollte, und zwar gilt esentweder schlechthin oder in bestimmter und begrenz-ter Weise. Denn wir brauchen das Wort in mehrerenBedeutungen, die wir an anderer Stelle näher unter-

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4450 370Aristoteles: Metaphysik

schieden haben. Mithin ist das Nichthaben eine Artdes kontradiktorischen Verhältnisses, nämlich eineAbwesenheit des Vermögens, bei der entweder dieNatur des Gegenstandes, der das Vermögen besitzenkann, das Bestimmende ist, oder diese doch mit ge-dacht wird. Der kontradiktorische Gegensatz nun läßtkein Mittleres zu, wohl aber bisweilen die Privation.Alles ist entweder gleich oder nicht-gleich; aber nichtalles ist entweder gleich oder ungleich, sondern soferndies der Fall ist, kommt es nur bei dem vor, was über-haupt für das Prädikat der Gleichheit empfänglich ist.Nun bedeutet alles Werden in der Materie ein Überge-hen von dem einen Entgegengesetzten zum anderen,und zwar ausgehend entweder von der Eigenschaftund dem Ansichhaben der Eigenschaft und der Gestaltoder von dem Fehlen derselben. Man sieht also dar-aus, daß jede konträre Entgegensetzung wohl als eineArt von Privation, aber nicht jede Privation ebensoals konträre Entgegensetzung bezeichnet werdenkann, und zwar deshalb nicht, weil dasjenige, was diePrivation an sich hat, sie in verschiedenem Grade ansich haben kann, konträrer Gegensatz aber nur zwi-schen den äußersten Gliedern der Reihe besteht, in-nerhalb deren die Veränderungen vor sich gehen.

Man kann dies auch auf dem Wege der Induktionklar machen. Jedesmal nämlich, wo konträrer Gegen-satz ist, da ist auch die Negation des einen der beiden

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4451 371Aristoteles: Metaphysik

Glieder des Gegensatzes vorhanden, aber nicht immerin der gleichen Weise. So ist Ungleichheit das Fehlender Gleichheit, Unähnlichkeit das Fehlen der Ähnlich-keit, Schlechtigkeit das Fehlen der guten Beschaffen-heit. Da liegen solche Unterschiede vor, wie wir sieoben bemerkt haben. Denn das eine Mal haben wir esmit einem bloßen Fehlen zu tun, das andere Mal miteinem Fehlen zurzeit oder am bestimmten Gegenstan-de, z.B. in bestimmtem Lebensalter oder an dem we-sentlichen Bestandteil oder ganz und gar. Daher gibtes im einen Fall ein Mittleres, wie es Menschen gibt,die weder gut noch schlecht sind; im anderen Fallegibt es kein Mittleres, wie etwas notwendig entwedergerade oder ungerade sein muß. Das eine Mal liegteben das bestimmte Substrat vor, das darüber ent-scheidet, das andere Mal nicht. Augenscheinlich also,daß jedesmal im konträren Gegensatz das eine Glieddie Negation des anderen Gliedes bedeutet, und es istschon genügend, wenn dies auch nur von den ur-sprünglichen Gegensätzen und von den Gattungenderselben nachgewiesen ist, z.B. von der Einheit undder Vielheit; denn das übrige läßt sich auf dieses zu-rückführen.

Steht aber jedesmal zu einem nur eines im Verhält-nis des konträren Gegensatzes, so erhebt sich dieFrage, wie es kommt, daß die Einheit zwar der Viel-heit, das Gleiche aber dem Großen und dem Kleinen

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4452 372Aristoteles: Metaphysik

entgegengesetzt ist. Wo wir die Doppelfrage gebrau-chen, da handelt es sich immer um einen Gegensatz;so wenn wir fragen, ob etwas weiß oder schwarz, undebenso ob etwas weiß oder nicht weiß ist. Dagegenfragen wir nicht, ob etwas ein Mensch oder ob esweiß sei; dergleichen könnte immer nur unter beson-deren Umständen vorkommen, etwa wenn wir unge-wiß sind über solche Dinge wie darüber ob der, dergekommen ist, Kleon oder Sokrates ist. Eine Notwen-digkeit, daß eines oder das andere sei, liegt hier frei-lich in keinem Sinne vor; dennoch läßt sich auch die-ser Fall auf das obige Verhältnis zurückführen. Dennnur wo kontradiktorischer Gegensatz ist kann dasEntgegengesetzte nicht beides zugleich stattfinden.Davon macht man auch hier Anwendung, wenn manfragt, wer gekommen ist, ob der eine oder der andere;denn wäre es möglich, daß beide zugleich gekommenseien, so wäre es eine lächerliche Art von Fragestel-lung. Indessen auch so hätte man es auf ähnlicheWeise wieder mit dem kontradiktorischer Gegensatzezu tun, nämlich mit der Frage nach Einheit oder Viel-heit, z.B. ob beide zusammen gekommen sind odernur der eine.

Wenn also bei kontradiktorischen Gegensätzenimmer die Frage ist, ob das eine oder das andere, sozeigt sich gegenüber der Frage ob etwas Größeresoder Kleineres oder ob etwas Gleiches vorliege, die

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4453 373Aristoteles: Metaphysik

Schwierigkeit, was denn nun eigentlich von jenen bei-den den Gegensatz zum Gleichen bildet. Denn dasGleiche kann weder bloß dem einen der beiden entge-gengesetzt sein noch beiden zusammen. Weshalb soll-te es eher dem Größeren oder eher dem Kleineren ent-gegengesetzt sein? Zudem, das Gleiche steht im Ge-gensätze auch zum Ungleichen, und so wäre es meh-reren entgegengesetzt und nicht bloß einem. Wennaber das Ungleiche das bedeutet, was in beiden, imGrößeren und im Kleineren, zugleich als dasselbevorhanden ist, so würde das Gleiche dennoch beidenentgegengesetzt sein. Die darin liegende Schwierig-keit bietet eine Stütze für die Ansicht derer, welchedas Ungleiche als eine Zweiheit bezeichnen. Aber dasResultat wäre doch immer dies, daß eines zwei Ge-gensätze sich gegenüber hätte, und das ist unmöglich.

Zudem bildet offenbar das Gleiche ein Mittlereszwischen Großem und Kleinem; aber was dem ande-ren entgegengesetzt ist, ist augenscheinlich kein Mitt-leres; das ist schon auf Grund der Begriffsbestim-mung ausgeschlossen. Der Gegensatz könnte keinvollendeter sein, wenn es sich um ein Mittleres han-delte; sondern das Mittlere ist vielmehr immer sol-ches, was als ein drittes zwischen den Gliedern einesGegensatzes liegt.

Somit bliebe nur übrig, daß das Gleiche dem Grö-ßeren und dem Kleineren als Negation oder als Priva-

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tion gegenübersteht. Daß es die Negation nur deseinen von beiden sei, ist ausgeschlossen; denn warumsollte es eher die Negation des Großen als die desKleinen sein? Es ist also die Negation von beiden,und zwar ist es dies im Sinne der Privation. Darumwird auch die Doppelfrage mit Bezug auf beides zu-gleich und nicht bloß mit Bezug auf eines der beidengestellt. Also die Frage lautet nicht, ob etwas größeroder ob es gleich, auch nicht ob etwas gleich oder obes kleiner sei; sondern sie richtet sich immer auf jenedrei Fälle zusammen. Was aber das andere Glied desGegensatzes bildet, ist keineswegs immer mit Not-wendigkeit die Privation. Denn nicht alles, was nichtgrößer und nicht kleiner ist, ist deshalb ein ebensoGroßes; sondern nur da ist es der Fall, wo die Naturdes Gegenstandes diese Prädikate überhaupt zuläßt.

Das Gleiche ist also das, was weder groß nochklein ist, was aber seiner Natur nach entweder einGroßes oder ein Kleines zu sein vermag; es steht bei-den gegenüber als Negation im Sinne der Privationund bildet deshalb ein Mittleres zwischen ihnen. Sosteht auch das, was weder gut noch böse ist, diesenbeiden gegenüber, nur daß es dafür keinen besonderenAusdruck gibt. Denn hier hat jedes dieser beiden ver-schiedene Bedeutungen, und es ist nicht bloß ein eini-ges Substrat, was diese Prädikate zuließe. Dagegenließe sich eher das zum Vergleiche heranziehen, was

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4455 375Aristoteles: Metaphysik

weder weiß noch schwarz ist. Freilich ist es auch hiernicht ein einziges, was so bezeichnet wird, sondern essind etwa die bestimmten Farben, in bezug auf welchedie Negation die Bedeutung der Privation annimmt.Denn das allerdings ist notwendig, daß damit entwe-der grau oder gelb oder sonst irgend eine andere Farbegemeint sei.

Mithin ist es ein unbegründeter Einwurf, wenn manmeint, das ließe sich in gleicher Weise auf alle Ge-genstände anwenden; zwischen Schuh und Hand liegedas in der Mitte, was weder Schuh noch Hand sei; wiedas was weder gut noch schlecht ist, in der Mitte zwi-schen dem Guten und Schlechten liege, so müsse esein Mittleres zwischen allen Dingen geben. Das läßtsich keineswegs als notwendig ableiten. Denn zweiEntgegengesetzte durch eine gemeinsame Negationaufheben kann man nur da, wo es in der Natur dieserGegensätze liegt, daß zwischen ihnen ein Mittleresund eine Reihe von trennenden Gliedern vorhandenist. Jene Dinge aber, wie Schuh und Hand, sind garnicht in diesem Sinne von einander verschieden. Hiergehören die Gegenstände, die durch solche gemeinsa-me Negation aufgehoben werden sollen, ganz ver-schiedenen Gattungen an, und mithin ist kein Einesvorhanden, das für beide das Substrat bildete.

Ganz ähnlich nun ist die Schwierigkeit, die uns beidem Gegensätze der Einheit und der Vielheit entge-

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4456 376Aristoteles: Metaphysik

gentritt. Denn bildet das Viele zum Einen schlechthineinen Gegensatz, so ergibt sich eine Reihe von wider-sinnigen Folgen. Eins würde dann die Bedeutung vonwenig oder von wenigen Gegenständen haben, weilviel im Gegensätze auch zu wenig steht. Ferner würdezwei eine Vielheit bedeuten, und wenn das Zwiefacheein Vielfaches ist – zwiefach aber hat seine Bezeich-nung von der Zwei - , so hätte Eins die Bedeutungvon wenig. Denn womit müßte die Zwei verglichenwerden, um als vieles zu gelten, wenn nicht mit derEins und mit dem Wenig? Gibt es doch sonst nichts,was man als weniger bezeichnen dürfte. Sodann, wiees unter dem Gesichtspunkte der Länge Langes undKurzes gibt, so gibt es unter dem Gesichtspunkte derVielheit Vieles und Weniges. Was nun vieles ist, dasist eine Vielheit von Gegenständen, und was eineVielheit von Gegenständen ist, das ist ein vieles. Nurbei einem leicht in Grenzen einzuschließenden Konti-nuierlichen, wie z.B. bei Wasser, könnte sich das an-ders verhalten und viel nicht auch dasselbe bedeutenwie eine Vielheit von Dingen; im anderen Falle wirdalso auch das, was wenig ist, eine Vielheit bedeuten.Also würde auch eins, eben indem es wenig ist, eineVielheit sein. Dies alles folgt notwendig, wenn zweiviel ist.

Indes die Sache liegt doch wohl so, daß die vielenGegenstände wohl auch ein vieles genannt werden;

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4457 377Aristoteles: Metaphysik

aber dabei tritt ein Unterschied hervor. So sagt manz.B. viel Wasser, aber nicht viele Wasser in derMehrheit. Viel gebraucht man in der Mehrheit beidem was teilbar ist, das eine Mal im Sinne einer – seies schlechthin, sei es im Vergleiche mit etwas ande-rem – beträchtlichen Menge, wo dann wenig ebensoeine hinter anderem zurückbleibende Menge bezeich-net; das andere Mal im Sinne einer Zahl, und dannbildet es einen Gegensatz allein zur Eins. Denn da ge-brauchen wir die Wörter eins und vieles, wie maneine Eins vielen Einsen oder ein weißes Ding vielenweißen Dingen oder die gemessenen Dinge und dasMeßbare dem Maß gegenüberstellt. In diesem Sinnespricht man nun auch vom Vielfachen. Denn eineVielheit ist jede Zahl, weil sie viele Einsen enthält,und weil jede Zahl durch die Eins meßbar ist, und sosteht sie der Eins, nicht dem Wenig gegenüber, in die-sem Sinne ist denn auch die Zwei ein Vieles; dagegenist sie es nicht im Sinne einer – sei es in Beziehungauf etwas anderes, sei es schlechthin – beträchtlichenMenge, sondern als das erste in der Reihe, was so hei-ßen kann. Wenig aber ist die Zwei schlechthin; dennsie ist eben als dieses erste eine Vielheit, die hinterallen anderen Vielheiten zurückbleibt. Wenn Anaxa-goras davon abweicht, so ist das also nicht zu billi-gen. Er sagt, alle Dinge bildeten ein Durcheinander,unbestimmt der Vielheit nach und der Kleinheit nach.

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4458 378Aristoteles: Metaphysik

Es hätte aber statt »und der Kleinheit nach« vielmehrheißen müssen: »und der Wenigkeit nach«; dennsonst könnte nicht von Unbestimmtheit die Rede sein.Der Begriff Wenig ist eben nicht von der Eins, wiemanche meinen, sondern von der Zwei abzuleiten.

Eines und Vieles in den Zahlen steht einander ge-genüber wie Maß und Gemessenes, und mithin wiedasjenige Relative, das nicht an und für sich schon indie Klasse des Relativen gehört. Wir haben über die-sen Unterschied an anderer Stelle gehandelt. Von Re-lation spricht man nämlich in doppelter Bedeutung,das eine Mal im Sinne der Entgegensetzung, das an-dere Mal in dem Sinne eines Verhältnisses wie dasder Erkenntnis zum Objekt, wo das eine zum andernerst in Beziehung gesetzt wird. Daß Eins weniger istals ein anderes, z.B. als die Zwei, macht dabei nichtsaus; denn es ist darum noch nicht wenig, weil es we-niger ist als ein anderes. Vielheit aber ist sozusagender Gattungsbegriff für die Zahl; denn Zahl bedeuteteine durch die Eins meßbare Vielheit. Mithin ist dasVerhältnis zwischen der Eins und der Zahl nicht dasdes Gegensatzes, sondern das einer Relation, wie sieoben als die zwischen manchen Gegenständen obwal-tende bezeichnet worden ist. Sie stehen in Verhältnis,sofern das eine das Maß, das andere das dadurch Ge-messene bedeutet; also nicht alles ist Zahl, was alsEins gelten könnte, z.B. nicht das, was ein Unteilba-

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4459 379Aristoteles: Metaphysik

res ist. Wenn man aber das Verhältnis der Erkenntniszu ihrem Objekt als das gleiche bezeichnet wie diesVerhältnis, so ist diese Gleichheit doch eigentlichnicht vorhanden. Die Ansicht liegt freilich nahe, alssei die Erkenntnis ein Maß, und das Objekt das da-durch Gemessene; in der Tat aber liegt die Sache so,daß zwar alle Erkenntnis ein Objektives, aber nichtalles Objektive eine Erkenntnis ist, weil in gewissemSinne die Erkenntnis an ihrem Objekte gemessenwird.

Die Vielheit dagegen bildet den Gegensatz wederzum Wenigen – zu diesem vielmehr bildet den Gegen-satz nur das Viele als die beträchtlichere Vielheit zurminder beträchtlichen – noch in jedem Sinne zur Eins,sondern zu dieser einerseits in dem erörterten Sinne,weil das eine teilbar, das andere unteilbar ist, anderer-seits steht sie ihr im Sinne der Relation gegenüber,wie eine solche zwischen der Erkenntnis und ihremObjekt besteht, wenn jene als Zahl, dieses aber alsEins und als Maß genommen wird.

Da Gegensätze ein Mittleres zulassen und bei man-chen ein solches auch wirklich vorhanden ist, so mußsolches Mittlere dann auch notwendig aus den Gegen-sätzen bestehen. Denn alles solches Mittlere gehörtderselben Gattung an wie das, wofür es ein Mittleresbedeutet. Als Mittleres bezeichnen wir dasjenige,worin das, was sich verändert, zunächst übergehen

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4460 380Aristoteles: Metaphysik

muß. So wird beim Übergang von der Oktave zumGrundton durch die kleinsten Intervalle hindurch derTon zunächst bei den mittleren Tönen anlangen; sowird beim Übergang in den Färben von Weiß zuSchwarz die Farbe zunächst beim Rot und Grau unddann erst beim Schwarz anlangen; und ebenso ist esin den anderen Fällen. Dagegen findet kein Übergangstatt von einer Gattung in die andere; das könnteimmer nur als bloße Begleiterscheinung der Fall sein,wie wenn z.B. mit einer Veränderung der Farbe zu-gleich eine Veränderung der Gestalt einträte. DasMittlere muß also in derselben Gattung verbleibenwie unter einander so auch mit dem, wofür es einMittleres bedeutet.

Nun kommt aber ein Mittleres ausschließlich zwi-schen Entgegengesetztem vor; denn nur solches bietetan und für sich die Möglichkeit, daß sich eines in dasandere umwandele. Darum ist es auch ausgeschlos-sen, daß es ein Mittleres gebe zwischen solchem, wasnicht im Verhältnis des Gegensatzes steht; denn damüßte es einen Übergang geben auch zwischen sol-chem, was nicht einander entgegengesetzt ist.

Betrachten wir nun die verschiedenen Arten desGegensatzes, so gibt es zunächst kein Mittleres fürdas kontradiktorische Verhältnis. Denn eben diesheißt kontradiktorischer Gegensatz, nämlich ein Ge-gensatz von der Art, daß von jedem beliebigen Ge-

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4461 381Aristoteles: Metaphysik

genstand immer nur entweder das eine oder das ande-re der beiden Glieder gilt und es ein Mittleres bei ihmnicht gibt. Die übrigen Verhältnisse sind das der Re-lation, das der Privation und das des konträren Ge-gensatzes. Wo das Verhältnis der Relation waltet, dagibt es kein Mittleres, sofern nicht zugleich ein kon-trärer Gegensatz vorliegt, und zwar deshalb, weil dieGlieder der Relation nicht derselben Gattung anzuge-hören brauchen. Welchen Sinn könnte z.B. ein Mittle-res zwischen der Erkenntnis und ihrem Objekt haben?Dagegen gibt es wohl ein Mittleres zwischen Großund Klein.

Gehört aber das Mittlere, wie wir dargelegt haben,derselben Gattung an, wie die Gegensätze, zwischendenen es als Mittleres liegt, so muß es auch aus ebendiesen Gegensätzen bestehen. Denn entweder gehörendie beiden einander Entgegengesetzten einer Gattungan oder nicht. Gehören sie beide einer Gattung an undzwar so, daß etwas da ist, bei dem die Verwandlungdes einen früher anlangt als bei seinem Gegensätze,so werden die Unterschiede, die die beiden entgegen-gesetzten Glieder als Arten der Gattung charakterisie-ren, auch selber entgegengesetzt sein, und dem Ge-gensatze dieser Unterschiede gegenüber wird jenerGegensatz der beiden Extreme selber erst ein Abgelei-tetes bedeuten; denn Arten entstehen erst aus der Gat-tung und den Unterschieden. Z.B. bilden Weiß und

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4462 382Aristoteles: Metaphysik

Schwarz Gegensätze, und bedeutet jenes die die Far-bigkeit setzende, dieses die sie aufhebende Farbe, sobilden diese Unterschiede, das Setzen und das Aufhe-ben, das Ursprünglichere, und mithin ist dieser Ge-gensatz auch das Ursprünglichere gegenüber dem vonWeiß und Schwarz als dem daraus stammenden. Nunist aber der Gegensatz zwischen dem konträr Entge-gengesetzten der strengere, und die Unterschiede desÜbrigen und des Mittleren dazwischen, wie es durchden Gattungsbegriff und die Artunterschiede bezeich-net wird, daraus abgeleitet. So z.B. müssen die Fär-ben, die zwischen Schwarz und Weiß liegen, nach derGattung – und die Gattung bildet hier die Farbe – undnach bestimmten Artunterschieden benannt werden.Diese Artunterschiede aber können nicht in jenen ur-sprünglichen Gegensätzen bestehen, wie sie zwischenWeiß und Schwarz vorhanden sind; denn dann würdejede Farbe entweder weiß oder schwarz sein, es sollendoch aber andere Farben sein. Mithin werden ihre Un-terschiede zwischen jenen, die das Weiß und dasSchwarz bezeichnen, als den ursprünglichen Unter-schieden liegen.

Die ursprünglichen Artunterschiede nun werdendurch das Setzen und das Aufheben der Farbe gebil-det. Die Frage ist also die, woraus das Mittlere be-steht, das zwischen jenen obersten Gegensätzen:Farbe setzend, Farbe aufhebend, in der Mitte liegt, die

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4463 383Aristoteles: Metaphysik

doch nicht der Gattung Farbe selber angehören. Dennwas innerhalb derselben Gattung liegt, das muß ent-weder aus solchem bestehen, was der Gattung nachsich gegenseitig ausschließt, oder es muß selber sichausschließend verhalten. Gegensätze nun schließensich gegenseitig aus; also sind sie erste Ausgangs-punkte für die Veränderung, und das was zwischenihnen in der Mitte liegt, ist entweder alles aus ihnenzusammengesetzt, oder keines davon ist es. Wo aberGegensatz herrscht, da findet ein Übergehen von demeinen Entgegengesetzten aus in der Weise statt, daßdie Veränderung vorher bei einem der Zwischenglie-der und dann erst bei dem anderen Entgegengesetztenanlangt. Denn bei jedem der beiden Glieder des Ge-gensatzes ist ein Mehr oder Minder möglich, undeben dies Mehr und Minder ist auch das gestaltendeMoment für das Mittlere zwischen den Gegensätzen.So wird denn auch alles Übrige, was so in der Mitteliegt, ein Zusammengesetztes sein. Denn was demeinen gegenüber ein Mehr, dem anderen gegenüberein Minder bedeutet, ist eben aus dem zusammenge-setzt, dem gegenüber es ein Mehr oder ein Minderdarstellt. Da es nun nichts anderes geben kann, wasderselben Gattung angehörig und doch früher wäre alsdie Gegensätze, so besteht mithin alles Mittlere zwi-schen den Extremen aus den Extremen selber, undalles was der Gattung subordiniert ist, die Extreme

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4464 384Aristoteles: Metaphysik

selber wie das Mittlere zwischen ihnen, besteht ausden obersten Gegensätzen.

Damit wäre denn der Erweis geliefert, daß allessolches Mittlere einer und derselben Gattung ange-hört, daß es ein Mittleres bildet zwischen Extremen,und daß es insgesamt aus den Gegensätzen besteht.

Der Art nach ein anderes sein heißt einem zweitengegenüber in bestimmter Beziehung ein anderes sein,und dieses letztere muß dann in beiden gemeinsamvorhanden sein. Z.B. wenn dies ein lebendes Wesenund jenem gegenüber ein der Art nach anderes ist, sosind eben beide lebende Wesen. Darum gehört daswas ein der Art nach anderes ist, mit jenem zweitennotwendig einer und derselben Gattung an. Unter Gat-tung nämlich verstehe ich ein solches, was von zwei-en als eines und dasselbe ausgesagt wird, und zwarso, daß es, nehme man nun Gattung im Sinne von erstdurch die Arten zu bestimmender Materie oder sonstin irgend einem anderen Sinne, den Unterschied nichtbloß als einen unwesentlichen an sich hat. Es darfalso nicht bloß bei dem Gemeinsamen bleiben, z.B.dabei, daß beides lebende Wesen sind, sondern esmuß noch das hinzukommen, daß eben jenes, die Gat-tung »lebendes Wesen«, selber differenziert und injedem von beiden als ein anderes da ist, etwa das eineMal als Pferd und das andere Mal als Mensch, so daßalso eben dieses in beiden Gemeinsame bei dem einen

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4465 385Aristoteles: Metaphysik

ein der Art nach anderes ist, als bei dem anderen. Esist dann also an und für sich das eine ein so, das ande-re ein anders bestimmtes Lebewesen, also das eine einPferd, das andere ein Mensch, und dieser Unterschiedmuß demnach eine Differenzierung der Gattung selbstbedeuten. Denn die Differenz innerhalb der Gattungnenne ich ein Anderssein derart, daß durch dasselbeeben diese Gattung selbst zu einem anderen bestimmtwird, und mithin wird das was sich daraus ergibt, einGegensatz sein.

Man kann sich das auch auf induktivem Wege klarmachen. Jede Einteilung geschieht nach einander ge-genüberstehenden Gliedern; daß aber das konträr Ent-gegengesetzte beides einer und derselben Gattung an-gehört, das haben wir oben gezeigt. Konträrer Gegen-satz nämlich erwies sich als der vollendete Unter-schied. Aller Unterschied von Arten aber ist ein Un-terschied des einen vom anderen in bezug auf ein be-stimmtes drittes, und dieses letztere ist das in beidenidentische und die gemeinsame Gattung. Daher liegenzwei konträr Entgegengesetzte immer in einer undderselben Reihe desselben Begriffes, sofern sie wohlder Art nach, aber nicht der Gattung nach verschiedensind; der Abstand zwischen ihnen aber ist der mög-lichst größte. Denn so ist der Unterschied der vollen-dete, und die beiden Entgegengesetzten können niezusammen vorkommen. Es ist also der artbildende

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4466 386Aristoteles: Metaphysik

Unterschied ein konträrer Gegensatz, und das also be-deutet es, der Art nach etwas anderes sein: derselbenGattung angehörig in konträrem Gegensätze stehenals nicht weiter Einzuteilendes. Identisch der Art nachist dagegen das, was nicht weiter einteilbar keinenkonträren Gegensatz bildet Denn der konträre Gegen-satz tritt auf bei der Einteilung und bei den mittlerenGliedern, bevor man bei dem anlangt, was nicht wei-ter einteilbar ist.

Augenscheinlich daher, daß im Verhältnis zu dem,was als Gattung ausgesagt wird, nichts von dem, wasder Gattung als ihre Arten angehört, weder der Artnach identisch noch der Art nach ein anderes ist.Denn was Materie ist, das charakterisiert sich durchdie Negation der Form; die Gattung aber ist die Mate-rie für das was unter ihr befaßt ist, Gattung nicht ineinem Sinne genommen, wie man etwa vom »Ge-schlechte« der Herakliden spricht, sondern in demSinne dessen was als »Geschlecht« oder Gattung inder Natur existiert. Und eben dasselbe gilt nun auchim Verhältnis zu dem, was nicht derselben Gattungangehört. Denn der Unterschied in dem, was der Artnach sich unterscheidet, ist notwendig ein konträrerGegensatz, und dieser Unterschied waltet allein zwi-schen solchem, was die Gattung gemein hat.

Hier könnte nun einer sich Gedanken darüber ma-chen, weshalb denn der Unterschied von Mann und

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4467 387Aristoteles: Metaphysik

Weib keinen Unterschied der Art bildet, währenddoch Männlich und Weiblich einen konträren Gegen-satz bildet und der artbildende Unterschied eben einensolchen Gegensatz bedeutet. Und warum ist dennauch der Unterschied des weiblichen und männlichenGeschlechts bei den Tieren kein Unterschied der Art,wiewohl dieser Unterschied im Organischen doch derUnterschied an und für sich und nicht bloß ein Unter-schied wie der der weißen oder schwärzen Färbungist, sondern der Organismus als solcher den Unter-schied des Männlichen und des Weiblichen an sichträgt? Die Schwierigkeit, die hier vorliegt, ist im we-sentlichen dieselbe wie bei der Frage, aus welchemGründe das eine Mal der konträre Gegensatz einenArtunterschied bedeutet, das andere Mal nicht, wiez.B. wohl Landtier und Vogel einen solchen Unter-schied bedeutet, aber nicht weiße Färbung undschwarze Färbung. Der Grund ist doch wohl der, daßes sich das eine Mal um solche Bestimmungen han-delt, die der Gattung eigentümlich zukommen, das an-dere Mal um solche, von denen dies in geringeremGrade gilt. Und da nun Begriff und Materie einandergegenüberstehen, so sind es die in dem Begriffe ent-haltenen Gegensätze, die einen Unterschied der Artenbewirken, dagegen nicht die Unterschiede, die an demBegriffe in seiner Verbindung mit der Materie hervor-treten. So wird es begreiflich, daß helle oder dunkle

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4468 388Aristoteles: Metaphysik

Hautfarbe beim Menschen keinen Unterschied der Artausmacht, und der Mensch von heiler Hautfarbe kei-neswegs von dem von dunkler Farbe der Art nach ver-schieden ist, selbst dann nicht, wenn es für jeden vonbeiden einen besonderen Namen gäbe. Denn da hatMensch die Bedeutung von Materie, die Materie abergibt niemals den Grund ab für einen Unterschied derArt. Aus eben diesem Grunde bilden die einzelnenMenschen keine Arten der Gattung Mensch, obgleichdoch Fleisch und Bein, wie der eine Mensch sie hat,andere sind als die, wie sie der andere hat. Hier isteben nur das materielle Gebilde ein anderes; es liegtaber kein Anderssein der Art nach vor, weil der Ge-gensatz kein Gegensatz des Begriffes ist; jenes ist nurdie letzte individuelle Bestimmtheit. Kallias bedeutetden mit der Materie verbundenen Begriff, und ebendas bedeutet ein Mensch von heiler Hautfarbe, weilKallias oder ein anderer eine solche Beschaffenheithat. Wenn also ein Mensch von weißer Farbe ist, soist das ein unwesentlicher Nebenumstand. Das Glei-che gilt von einem Kreise aus Erz und einem Dreieckaus Holz, oder von einem Dreieck aus Erz und einemKreise aus Holz. Wenn hier ein Unterschied der Artvorliegt, so ist es nicht auf Grund der Materie, son-dern deshalb, weil der Gegensatz in dem Begriffeliegt.

Bewirkt nun die Materie, wenn sie irgendwie eine

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4469 389Aristoteles: Metaphysik

andere ist, überhaupt keinen Unterschied der Art, oderkann es doch wohl einmal vorkommen, daß sie ihnbewirkt? Was bewirkt denn wohl, daß dieser be-stimmte Mensch von diesem bestimmten Pferde derArt nach verschieden ist? Ist doch beidemal der Be-griff mit Materie verbunden. Der Grund ist doch wohlder, daß ein Gegensatz in dem Begriffe liegt. Dennauch zwischen einem Menschen von weißer undeinem Pferde von schwarzer Farbe besteht ein solcherArtunterschied, sicherlich aber nicht deshalb, weil dereine weiß, das andere schwarz ist; würde doch derUnterschied der Art auch dann bestehen, wenn beideweiß wären. Männlich und weiblich sind nun aller-dings für das Organische wesentliche und eigentümli-che Bestimmungen; aber sie sind es nicht im Sinnedes begrifflichen Wesens, sondern in Hinsicht auf dieMaterie und den Leib, und so wird aus einem unddemselben Samen Männliches oder Weibliches, jenach den Einwirkungen, die er zu erfahren hat.

Damit mag die Frage erledigt sein, was es bedeutetder Art nach ein anderes sein, und welches der Grundist, daß das eine Mal solches Anderssein einen Artun-terschied ausmacht, das andere Mal nicht.

Was einen Gegensatz, bildet, ist auch der Art nachein anderes. Nun bilden das Vergängliche und dasUnvergängliche einen Gegensatz; es handelt sichdabei um Privation im Sinne des Fehlens eines Ver-

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4470 390Aristoteles: Metaphysik

mögens von bestimmter Art; und so ist denn auch dasVergängliche notwendig der Art nach anderes als dasUnvergängliche. Indessen, das haben wir von ihnenals allgemeinen Bezeichnungen ausgemacht; es könn-te daher scheinen, als ob es nicht notwendig folge,daß nun auch jedes Einzelne was unvergänglich undjedes Einzelne was vergänglich ist im Verhältnis derArtverschiedenheit zu einander stehe, ebenso wie diesauch bei dem Einzelnen was weiß und was schwarzist, nicht der Fall ist. Denn ein und derselbe Gegen-stand, als Allgemeines gedacht, kann beides sein undkann es zu gleicher Zeit sein, wie der Mensch, allge-mein genommen, ebensowohl schwarz als weiß seinkann. Und ebenso ist es mit den Individuen; denn einsolches kann als eines und dasselbe weiß und schwarzsein, allerdings nicht zu gleicher Zeit. Und doch sindWeiß und Schwarz Gegensätze. Indessen, man mußunterscheiden. Es gibt Gegensätze, die gewissen Ge-genständen zukommen in unwesentlicher Weise, wiein den eben erwähnten und in vielen anderen Fällen;und es gibt Gegensätze, bei denen dies ausgeschlos-sen ist. Zu der letzteren Klasse nun gehört auch dieBestimmung als Vergängliches und als Unvergängli-ches. Denn die Eigenschaft vergänglich zu sein fälltkeinem Gegenstande von außen, keinem als eine un-wesentliche zu. Was unwesentlich ist, das kann mög-licherweise auch einmal am Gegenstande nicht vor-

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4471 391Aristoteles: Metaphysik

handen sein: die Eigenschaft der Vergänglichkeit abergehört bei den Gegenständen, denen sie anhaftet, zudem was ihnen notwendig zukommt. Sonst müßte einund derselbe Gegenstand zugleich vergänglich undunvergänglich sein, wenn die Vergänglichkeit bei ihmmöglicherweise einmal ausbleiben könnte. Es mußalso entweder das begriffliche Wesen des Gegenstan-des selber die Vergänglichkeit sein, oder es muß imbegrifflichen Wesen bei jedem was vergänglich ist dieVergänglichkeit notwendig mit enthalten sein. Ganzdasselbe gilt von der Unvergänglichkeit; beides be-deutet eine notwendige Bestimmung. Das Prinzipalso, durch welches und nach welchem das eine ver-gänglich, das andere unvergänglich ist, schließt einenGegensatz ein, und mithin besteht hier ein Andersseinnicht bloß der Art nach, sondern der Gattung nach.

Daraus erhellt auch die Unmöglichkeit, daß esIdeen gebe in dem Sinne, wie eine gewisse Richtungsie annimmt. Denn dann gäbe es einen Menschen, dervergänglich, und einen Menschen, der unvergänglichwäre; und doch wird zugleich behauptet, die Ideenseien mit den Einzelgegenständen der Art nach iden-tisch und trügen mit ihnen nicht bloß den gleichenNamen. Was aber der Gattung nach ein anderes ist,ist durch einen noch größeren Abstand von einandergetrennt, als was bloß der Art nach ein anderes ist.

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4472 392Aristoteles: Metaphysik

II. Umriß der vorbereitenden Erörterungen zurMetaphysik

1. Die Probleme

(Vgl. oben S. 39-57)

Aus unseren gleich im Eingang vorgenommenenErörterungen, wo wir eingehend von den Lehren unse-rer Vorgänger über die Prinzipien gehandelt haben,ergab sich uns als Resultat, daß die Philosophie dieWissenschaft von den Prinzipien ist. Dabei erhebtsich nun die Frage, ob man die Philosophie als eineWissenschaft oder als eine Mehrheit von Wissen-schaften zu betrachten habe. Muß man sie als eineWissenschaft betrachten, so fallen in das Gebiet einerWissenschaft immer die Begriffspaare, die einen Ge-gensatz bilden; die Prinzipien aber bilden keine Ge-gensätze. Ist sie aber nicht eine Wissenschaft, welcheBeschaffenheit hat man dann dieser Mehrheit vonWissenschaften beizulegen? Ist es ferner die Aufgabeeiner Wissenschaft oder mehrerer, die Prinzipien desstrengen wissenschaftlichen Verfahrens zu untersu-chen? Wenn es die Aufgabe einer einzigen Wissen-schaft ist, warum fällt diese Aufgabe gerade dieserWissenschaft zu und nicht einer beliebigen anderen?

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4473 393Aristoteles: Metaphysik

Wenn es dagegen die Aufgabe mehrerer Wissenschaf-ten ist, welche Beschaffenheit hat man jeder vonihnen beizulegen? Und weiter: ist es eine Wissen-schaft von allen selbständigen Wesenheiten odernicht? Wenn es nicht die Wissenschaft von allen ist,so würde sich schwer angeben lassen, von welchenbesonderen Wesenheiten sie handelt. Ist sie dagegendie eine Wissenschaft von allen, so bleibt es unklar,wie eine und dieselbe Wissenschaft imstande seinsoll, von einer solchen Vielheit von Gegenständen zuhandeln. Und endlich, hat es diese Wissenschaft nurmit den selbständigen Wesenheiten zu tun oder auchmit den Bestimmungen, die ihnen zufallen? Wäreletzteres der Fall, so würde es ein strenges wissen-schaftliches Verfahren wohl für diese zufallenden Be-stimmungen geben, aber nicht für das eigentlich Sei-ende. Hätte aber eine Wissenschaft diese und eine an-dere jene Aufgabe, welcher Art wäre jede der beidenWissenschaften, und welche von beiden wäre die Phi-losophie? Denn dann wäre die Wissenschaft mitstrenger Beweisführung die Wissenschaft von den zu-fallenden Bestimmungen, und die Wissenschaft vonden obersten Prinzipien wäre die Wissenschaft vonden selbständigen Wesenheiten. Aber auch die An-nahme ist nicht zulässig, daß die Wissenschaft, umderen Bestimmung es sich handelt, die in unserenSchriften zur Naturwissenschaft erörterten Ursachen

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4474 394Aristoteles: Metaphysik

betrachte. Handelt sie doch nicht einmal von derZweckursache, in deren Bereich alles Gute undZweckmäßige gehört; dies aber hat seine Stelle indem Gebiete des menschlichen Handelns wie allesdessen dem Bewegung zukommt. Hier nämlich ist derZweck dasjenige, was ursprünglich die Bewegunghervorruft – denn das eben ist die Wirksamkeit desEndziels - ; dasjenige aber, was ursprünglich die Be-wegung hervorgerufen hat, gehört nicht zu dem wasunbewegt ist.

Überhaupt aber ist es die Frage, ob die Wissen-schaft, deren Wesen wir bestimmen wollen, die Ge-genstände der sinnlichen Wahrnehmung betrachtetoder nicht, und im letzteren Falle, welche anderen siebetrachtet. Sollen es nämlich andere Gegenstände seinals die sinnlichen, so müßten es entweder die Ideenoder die mathematischen Objekte sein. Daß nun Ideennicht existieren, ist ausgemacht. Aber auch dann,wenn man die Wirklichkeit der Ideen annehmen woll-te, würde die Frage bleiben, aus welchem Gründe essich mit den Gegenständen, für die es Ideen gibt,nicht ebenso verhalten soll wie mit den mathemati-schen Objekten. Ich meine damit folgendes. Die ma-thematischen Objekte betrachtet man als ein Mittlereszwischen den Ideen und den sinnlichen Gegenständen,also gewissermaßen als ein Drittes zu den Ideen undden gewöhnlichen Dingen. Es gibt aber nicht zu der

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4475 395Aristoteles: Metaphysik

Idee und den realen Einzelwesen noch einen drittenMenschen und ein drittes Pferd. Andrerseits, wenn esnicht so ist wie sie annehmen, was soll man als dasObjekt bezeichnen, mit dem sich der Mathematikerbeschäftigt? Sicherlich doch nicht die uns geläufigenDinge. Denn unter diesen ist nichts, was dieselbenZüge trüge, wie dasjenige, um was sich die mathema-tischen Wissenschaften bemühen. Aber auch die Wis-senschaft, um deren Wesen es sich jetzt für uns han-delt, hat es nicht mit den mathematischen Objekten zutun; denn keines von diesen hat eine selbständige Exi-stenz. Ebensowenig freilich hat sie mit den sinnlichwahrnehmbaren Dingen zu schaffen; denn diese sindvergänglich.

Überhaupt bleibt es eine schwierige Frage, welcheWissenschaft es ist, die die Erforschung der Materieder mathematischen Objekte zur Aufgabe hat. Eskann nicht die Aufgabe der Naturwissenschaft sein;denn alle naturwissenschaftliche Forschung beschäf-tigt sich mit denjenigen Gegenständen, die das Prin-zip der Bewegung und Ruhe in sich selber haben. Eskann aber auch nicht die Aufgabe der Wissenschaftsein, die von dem Verfahren des Beweises und vonder Erkenntnis handelt; denn das Gebiet ihrer For-schungen bildet gerade die eben genannte Gattungvon Objekten. Es bleibt mithin nur übrig, daß diePhilosophie, als die Wissenschaft, von der wir eben

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jetzt handeln, diese Gegenstände für ihr Gebiet in An-spruch nimmt.

Eine weitere Frage ist die, ob man der Wissen-schaft, deren Wesen und Aufgabe wir bestimmen wol-len, diejenigen Prinzipien als Objekt überweisen soll,die man wohl als »Elemente« bezeichnet, und unterdenen man übereinstimmend die Bestandteile der zu-sammengesetzten Dinge versteht, indessen, manmöchte eher glauben, daß die Wissenschaft, der wirhier nachgehen, zu ihrem Gegenstande das Allgemei-ne haben müsse. Denn jeder Satz und jede Erkenntnishat zum Inhalt das Allgemeine und nicht das Ein-zelne: sie würde also darnach die Wissenschaft vonden obersten Gattungen sein, und das würde bedeutendie Wissenschaft vom Sein und von dem Einen. DennSein und Eines darf man am ersten dafür ansehen, daßsie alles was ist umfassen und am meisten die Naturvon Prinzipien an sich tragen, und zwar deshalb, weilsie ihrer Natur nach das allerursprünglichste sind.Würden sie vernichtet, so würde alles Übrige mit auf-gehoben. Denn die Bestimmung als Sein und Einheithat alles was ist. Nimmt man aber Sein und Eines füroberste Gattungen, so würden die Artunterschiededieser Gattungen, weil sie ja auch die Bestimmung alsSein und als Eins an sich tragen, den Begriff der Gat-tung wiederholen, deren Artunterschiede sie bilden.Es ist aber ausgeschlossen, daß die Artunterschiede

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den Gattungsbegriff wiederholen, den sie einteilensollen. [So gibt es lebende Wesen, die vernunftbegabtsind; aber vernunftbegabt heißt nicht wieder lebendesWesen; dagegen heißt jede Art des Seienden undEinen wieder Seiendes und Eines.] Also würde es in-sofern nicht gestattet sein, Sein und Eines als obersteGattungen und als Prinzipien zu setzen. Und wennferner das Einfachere in höherem Sinne Prinzip ist alsdas weniger Einfache, das Letzte aber, was unter derGattung begriffen ist, einfacher ist als die Gattun-gen, – denn es ist nicht weiter einteilbar, während dieGattungen in eine Mehrheit von verschiedenen Arteneingeteilt werden, – so könnte man auf die Ansichtkommen, daß die Arten in höherem Grade Prinzipiensind als die Gattungen. Sofern dagegen mit den Gat-tungen auch die Arten aufgehoben werden, haben dieGattungen das größere Anrecht darauf, als Prinzipienzu gelten. Denn Prinzip ist das, durch dessen Aufhe-bung auch das andere mit aufgehoben wird. Dies alsoist es, was die Schwierigkeit macht, und dazu kommtnoch manches andere von derselben Art.

Eine weitere Frage ist die: muß man neben denEinzeldingen noch etwas anderes setzen oder nicht,sondern bilden eben jene das Objekt der Wissen-schaft, von der die Rede ist? Indessen, wenn doch dieEinzeldinge eine unendliche Vielheit bilden, und daswas neben den Einzeldingen besteht, die Gattungen

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oder die Arten sind, so ist keines dieser beiden dasObjekt der Wissenschaft, die wir bestimmen wollen;weshalb dies ausgeschlossen ist, haben wir bereitsdargelegt. Überhaupt ist es eine schwierige Frage, obman anzunehmen hat, daß es neben den sinnlichenGegenständen und denen der gewöhnlichen Wahrneh-mung noch eine für sich abgesondert bestehende Artvon Wesen gibt oder nicht, und ob nicht vielmehreben jene das Seiende sind und damit auch das Objektder Philosophie ausmachen. Denn freilich hat es denAnschein, als ob wir auf der Suche wären nach einerweiteren Art von Wesen, und das eben ist die uns vor-liegende Aufgabe, nämlich zuzusehen, ob es etwasgibt, was abgesondert an und für sich besteht und ankeinem der sinnlichen Gegenstände haftet.

Weiter aber, gesetzt, es gäbe neben den sinnlichenDingen noch eine andere Wesenheit: welche sind esdann unter den sinnlichen Dingen, neben denen maneine solche Wesenheit anzunehmen hat? WelcherGrund könnte dazu berechtigen, sie eher neben Men-schen und Pferden als neben den anderen lebendenWesen oder sie ganz allgemein auch neben den unbe-lebten Dingen zu setzen? Daß man nun gar eine Artvon Wesen mit dem Prädikate der Ewigkeit hinstellt,die den sinnlichen und vergänglichen gleichartig unddoch andere sein sollen als diese, das darf man dochwohl als gänzlich außer dem Bereiche der Wahr-

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scheinlichkeit liegend bezeichnen. Ist dagegen dasPrinzip, nach dem wir uns eben umschauen, kein vonden körperlichen Dingen getrenntes, welches anderekönnte man dann eher dafür gelten lassen als die Ma-terie? Allein diese ist gar nicht in Wirklichkeit, son-dern nur der Möglichkeit nach. Man könnte nun viel-leicht im eigentlicheren Sinne als sie die Form und dieGestalt als Prinzip gelten lassen. Diese aber ist einVergängliches, und so würde es denn überhaupt keineewige Wesenheit geben, keine die abgetrennt an undfür sich existierte. Das aber ist widersinnig. Denn ge-rade den feinsinnigsten Geistern schwebt ein derarti-ges Prinzip und Wesen als seiend vor, und sie gebensich alle Mühe es zu erkunden. Wie sollte es auch inder Welt eine Ordnung geben, wenn nicht etwas exi-stierte, was ewig und für sich abgetrennt und dauerndbesteht!

Sodann: angenommen, es gebe ein Wesen undPrinzip, das seiner Natur nach so beschaffen ist, wiewir es eben suchen; es sei eines für alle Dinge undeben dasselbe für die ewigen wie für die vergängli-chen Dinge: dann erhebt sich die schwierige Frage,wie es kommt, daß, während doch das Prinzip dassel-be bleibt, gleichwohl von dem was aus dem Prinzipabgeleitet ist, das eine ewig, das andere nicht ewig ist.Das hat doch keinen rechten Sinn. Soll es aber einPrinzip für die vergänglichen und ein anderes für die

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ewigen Dinge geben, so geraten wir, wenn auch dasPrinzip der vergänglichen Dinge ewig sein soll, in diegleiche Verlegenheit. Denn wie sollte es geschehen,daß, wenn das Prinzip ein ewiges ist, das aus demPrinzip Abgeleitete nicht gleichfalls ewig wäre? Sollaber das Prinzip des Vergänglichen auch vergänglichsein, so wird für dieses irgend ein anderes und für dasletztere wieder ein anderes Prinzip erfordert, und sogeht es fort ins Unendliche.

Man könnte nun als Prinzipien dasjenige setzen,was am ehesten dafür gelten darf unbewegt zu sein,nämlich das Seiende und das Eine. Aber fürs erste:wenn jedes von diesen beiden nicht ein bestimmtesEinzelwesen und ein selbständig Seiendes bezeichnet,wie können sie abgesondert und an und für sich exi-stieren? Diese Beschaffenheit aber müßten doch dieewigen und obersten Prinzipien haben, die wir su-chen. Andererseits, wenn jedes dieser beiden ein be-stimmtes Einzelwesen und ein selbständig Seiendesbedeutet, dann ist alles Seiende selbständig Seiendes.Denn das Sein wird von allem ausgesagt, und vonvielem auch das Eins. Daß aber alles Seiende selb-ständig Seiendes sei, ist augenscheinlich falsch.

Nun nennen ferner manche das oberste Prinzip dasEins und bezeichnen dies als selbständig Seiendes; sielassen aus dem Eins und der Materie zuerst die Zahlhervorgehen und behaupten, diese sei ein selbständig

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Seiendes. Aber wie könnte man einer solchen Annah-me Wahrheit zuerkennen? Daß die Zwei und so derReihe nach jede der übrigen zusammengesetzten Zah-len ein Eines bilden, – was soll man sich dabei den-ken? Über diesen Punkt reden sie nicht, und es wäreauch nicht leicht darüber zu reden. Wenn man aberdie Linien oder was mit ihnen zusammenhängt, – ichmeine die ursprünglichen Flächen, – als Prinzipiensetzen wollte, so würden diese keine abgesonderten,selbständigen Wesen vorstellen, sondern bloße Ab-schnitte und Teilungen, die einen von Flächen, die an-deren von Körpern, und so auch die Punkte von Lini-en, und dann also Begrenzungen von eben diesenDingen; somit ist alles dieses an einem anderen undkeines davon ein für sich abgesondertes. Und endlich,wie soll man sich das vorstellen, daß es ein selbstän-diges Wesen des Eins und des Punktes gebe? Dennvon jedem selbständigen Wesen gibt es eine Entste-hung, vom Punkte gibt es keine; der Punkt ist einebloße Grenze.

Eine Schwierigkeit liegt dann ferner darin, daß alleErkenntnis zum Gegenstande das Allgemeine und diebestimmte Beschaffenheit hat, das selbständig Seien-de aber kein Allgemeines ist, sondern vielmehr be-stimmtes und abgesondertes Einzelwesen. Wie sollman es also verstehen, wenn die Erkenntnis zu ihremGegenstande die Prinzipien hat, daß das Prinzip selb-

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ständig Seiendes sei? Außerdem, gibt es neben demZusammengesetzten – ich meine damit die Materieund das aus Materie Gebildete – noch etwas anderesoder nicht? Wenn nicht, nun, alles was aus Materiebesteht ist vergänglich. Wenn aber ja, so müßte manals dies andere die Form und die Gestalt setzen. Dannaber läßt sich schwer die feste Grenze ziehen, an wel-chen Gegenständen diese als Prinzip gesetzt werdenkann und an welchen nicht. Denn bei manchen Ge-genständen ist die Form offenbar nicht etwas für sichAbtrennbares, so bei einem Hause. Endlich, sind diePrinzipien der Art oder der Zahl nach identisch? Sindsie es nämlich der Zahl nach, so würde alles identischsein.

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2. Wesen und Aufgabe der Grundwissenschaft

(Vgl. oben S. 58-63)

Die Wissenschaft des Philosophen hat zum Objektdas Seiende als solches, dies ganz allgemein und nichtals besonderes genommen. Vom Seienden aberspricht man in mehreren Bedeutungen und nicht bloßin einem Sinne. Wäre nun in der Vielheit der Bedeu-tungen bloß das Wort und sonst nichts gemeinsam, sofiele das Seiende nicht in das Gebiet einer Wissen-schaft; denn das darunter Befaßte würde dann nichteine Gattung bilden. Nur wenn in den verschiedenenBedeutungen etwas gemeinsam wäre, dann gehörtedieses Gemeinsame in das Gebiet einer Wissenschaft.

Man kann nun diese Verschiedenheit der Bedeutun-gen des Seienden vergleichen mit der bei den Wörtern»medizinisch« und »gesund«, die wir beide ebenso inmannigfachem Sinne gebrauchen. Wir gebrauchen sieso, daß wir etwas das eine Mal irgendwie zur medizi-nischen Wissenschaft, das andere Mal zur Gesund-heit, und ein ander Mal wieder zu anderem in Bezie-hung setzen, aber doch so, daß dabei immer ein eini-ges und identisches zugrunde liegt, worauf die Bezie-hung stattfindet. Medizinisch heißt eine Darlegungund ein Instrument davon, daß jene aus der medizini-

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schen Wissenschaft herkommt, dieses für sie brauch-bar ist. Und ebenso ist es mit dem Worte gesund. Daseine Mal bedeutet es ein Kennzeichen, das andere Maleine erzeugende Ursache der Gesundheit. Ebenso istes bei anderen Wörtern. In dieser Weise wird nunauch vom Seienden gesprochen, jedesmal wo man dasWort braucht. Man bezeichnet etwas als Seiendesdeshalb, weil es von einem Seienden als solchen dieAffektion oder die dauernde Beschaffenheit oder denZustand oder die Bewegung oder irgend etwas ande-res derartiges darstellt.

Da aber alles Seiende auf ein Einiges und Gemein-sames zurückgeführt wird, so wird auch jeder Gegen-satz darin auf die ursprünglichen Unterschiede undGegensätze im Seienden zurückgeführt werden, sei esdaß Vielheit und Einheit, oder daß Ähnlichkeit undUnähnlichkeit oder sonst irgend etwas die oberstenUnterschiede im Seienden ausmachen; diese Fragemag durch das an anderer Stelle Erörterte als erledigtgelten. Ob aber die Zurückführung des Seienden aufdas Seiende oder auf das Eine geschieht, das machtkeinen Unterschied; denn selbst wenn es nicht beidesdasselbe, sondern etwas anderes bedeutet, so kanndoch das eine für das andere eintreten, weil das Einsim Grunde auch ein Seiendes, und das Seiende einEines ist.

Wir haben gesehen, daß jedesmal die einander ent-

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gegengesetzten Begriffe das Objekt der Erforschungfür eine und dieselbe Wissenschaft bilden; dabei aberhandelt es sich jedesmal um ein Verhältnis der Priva-tion. Gleichwohl könnte es in manchen Fällen eineSchwierigkeit bereiten, auf welche Weise das Verhält-nis der Privation da zu nehmen ist, wo es zwischenden Gegensätzen ein Mittleres gibt, wie zwischen un-gerecht und gerecht, in allen derartigen Fällen darfman die Privation nicht setzen als Privation des Be-griffes überhaupt, sondern nur als Privation seiner ex-tremsten Bedeutung. So wenn der Gerechte der ist,der vermöge einer gewissen dauernden Beschaffenheitdem Gesetze Gehorsam leistet, so wird der Ungerech-te nicht durchaus durch die völlige Privation des Be-griffes charakterisiert werden, sondern dadurch, daßer es, was den Gehorsam gegen das Gesetz anbetrifft,einigermaßen an sich fehlen läßt, und nur in diesemSinne wird von Privation bei ihm die Rede sein. Undeben dasselbe gilt auch in anderen Fällen.

Wie nun der Mathematiker seine Untersuchungenanstellt an den aus der Abstraktion stammenden Ob-jekten, genau ebenso verhält es sich mit der Erfor-schung des Seienden. Der Mathematiker, bevor er dieUntersuchung beginnt, streift erst alles Sinnliche ab:Schwere und Leichtigkeit, Härte und das Gegenteil,weiter aber auch Wärme und Kälte und die anderenGegensätze, die dem Gebiete der sinnlichen Wahrneh-

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mung angehören; er läßt nur das Quantitative übrigund das Kontinuierliche von einer, von zwei und vondrei Dimensionen, sodann die Bestimmungen dieserGegenstände, sofern sie Quanta und sofern sie konti-nuierlich sind; alles andere kümmert ihn nicht. Beider einen Reihe von Gegenständen untersucht er danndie wechselseitige Lage und was ihnen etwa an Eigen-schaften zukommt, bei der anderen das gemeinsameMaß oder das Fehlen des gemeinsamen Maßes, beider dritten wieder die Proportion. Dennoch finden wirin allem diesem die mathematische Wissenschaft alseine und dieselbe wieder. Ganz ebenso nun geht manin der Wissenschaft vom Seienden vor. Die Bestim-mungen des Seienden, sofern es eben Seiendes ist,und die Gegensätze in ihm als Seiendem zu betrach-ten, das bildet die Aufgabe keiner anderen Wissen-schaft als der Philosophie. Der Naturwissenschaftwird man zur Untersuchung die Objekte zuweisen,nicht als seiende, sondern als solche, denen Bewe-gung zukommt. Dialektik und Sophistik handeln wohlauch von den Bestimmungen, die den seienden Ge-genständen zufallen, aber nicht sofern sie Seiendessind, und sie handeln auch nicht von dem Seiendenselbst, sofern es Seiendes ist. Es bleibt also nur übrig,daß der Philosoph derjenige ist, der die Aufgabe hat,das Bezeichnete zu untersuchen, sofern es Seiendesist. Da aber das Seiende insgesamt in allen seinen

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verschiedenen Bedeutungen immer in Beziehung aufeines und auf ein gemeinsames ausgesagt wird, und inderselben Weise auch die Gegensätze – denn sie wer-den auf die obersten Gegensätze und Unterschiede imSeienden zurückgeführt - , da ferner alles derartigeeben darum die Möglichkeit bietet in das Gebiet einerWissenschaft zu fallen, so möchte damit die gleich imAnfang erhobene Schwierigkeit, ich meine das Pro-blem, wie es eine Wissenschaft von vielen und derGattung nach verschiedenen Objekten geben könne,gelöst sein.

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3. Das oberste Axiom der Grundwissenschaft

(Vgl. oben S. 63-84)

Die allgemeinen Grundsätze verwendet tatsächlichauch der Mathematiker, wenn auch auf ihm eigentüm-liche Weise; aber die Betrachtung der ihnen zugrundeliegenden Prinzipien bildet die Aufgabe der Grund-wissenschaft, der ersten Philosophie. Ein Satz wie:Gleiches von Gleichem abgezogen gibt Gleiches, giltvon allem Quantitativen schlechthin; die Mathematikaber faßt ihn in engerem Sinne und bezieht ihn aufeinen Teil des ihr zugehörigen Materials, z.B. auf Li-nien, Winkel, Zahlen und dergleichen Quanta, nichtals auf Seiendes schlechthin, sondern als auf ein nacheiner, zwei oder drei Dimensionen Ausgedehntes. DiePhilosophie dagegen faßt nicht das Besondere insAuge, nicht die Bestimmung, sofern sie diesem oderjenem Gegenstande zukommt, sondern sie betrachtetjedes einzelne was dahin gehört in Beziehung auf dasSeiende als solches.

Dieselbe Bewandtnis wie mit der Mathematik hates auch mit der Naturwissenschaft. Die Naturwissen-schaft betrachtet die Bestimmungen und die Prinzipi-en der Dinge, sofern diese der Bewegung unterliegen,aber nicht sofern sie Seiendes schlechthin sind. Als

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die Grundwissenschaft haben wir dagegen diejenigebezeichnet, deren Objekt das Seiende schlechthin undnicht irgend etwas anderes bildet. Darum muß mandenn auch die Naturwissenschaft ebenso wie die Ma-thematik als besondere Zweige der Wissenschaft be-zeichnen.

Im Seienden gibt es ein Prinzip, über welches esnicht möglich ist, sich zu irren, und bei dem man dasGegenteil des Irrtums, d.h. die Wahrheit, innezuhaltenausnahmslos genötigt ist. Dies Prinzip lautet: es istnicht möglich, daß eines und dasselbe zu einer undderselben Zeit sei und nicht sei; ein Satz, der ebensovon allem anderen gilt, was in gleichem Sinne sich inkontradiktorischem Gegensatz gegenübersteht. FürPrinzipien dieser Art gibt es an und für sich keinenBeweis; nur eine Widerlegung ist demjenigen gegen-über möglich, der sie bestreitet. Denn daß man diesPrinzip aus einem anderen noch sichreren Prinzip alsdieses ist abzuleiten versuche, ist völlig ausgeschlos-sen, und doch müßte es ein Prinzip von solcher Artgeben, wenn ein Beweis an und für sich geliefert wer-den sollte. Dagegen demjenigen gegenüber, der kon-tradiktorisch sich gegenüberstehende Sätze, beide zu-gleich behauptet, hat man, wenn man die Verkehrtheitdarin aufzeigen will, von solchem auszugehen, waszwar inhaltlich mit der Unmöglichkeit, daß ein unddasselbe zu einer und derselben Zeit sowohl sei als

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nicht sei, identisch ist, aber doch nicht der Form nachden Anschein an sich trägt, damit identisch zu sein.Ein Beweis läßt sich dem gegenüber, der die Mög-lichkeit behauptet, daß widersprechende Aussagenvon demselben Subjekt beide gültig seien, nur aufdiese Weise führen.

Diejenigen, die miteinander gedankliche Erörterun-gen pflegen wollen, müssen doch wohl einer den an-deren verstehen; denn wie sollte da, wo das nicht derFall ist, im Gedankenaustausch eine Gemeinschaft zu-stande kommen? Es muß also zu diesem Behüte dieBedeutung jedes Wortes bekannt sein; jedes Wortmuß etwas bezeichnen, und zwar nicht vielerlei, son-dern eines, und wenn es mehrere Bedeutungen hat, somuß angegeben werden können. In welcher dieser Be-deutungen das Wort jedesmal genommen werden soll.Wer nun aussagt, dieses Bestimmte sei und sei auchnicht, der sagt nicht was er sagt, und sagt also damit,daß das Wort das nicht bedeute, was es bedeutet. Dasaber ist widersinnig. Wenn also der Ausspruch, daßdieses Bestimmte sei, überhaupt etwas bedeutet, so istes unmöglich, daß die widersprechende Aussage vondemselben Subjekt wahr sei.

Zweitens, wenn das Wort etwas bedeutet und dieseBedeutung Wahrheit enthält, so ist dies als ein Not-wendiges gemeint. Was aber notwendig ist, das kannnicht auch einmal nicht sein. Es ist also unmöglich,

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4491 411Aristoteles: Metaphysik

daß widersprechende Aussagen von demselben Sub-jekt beide wahr seien.

Drittens, wenn die Bejahung nicht mehr Wahrheitenthält als die Verneinung, so enthält auch die Aussa-ge, daß einer ein Mensch sei, nicht mehr Wahrheit alsdie Aussage, daß er ein Nicht-Mensch sei. Darauswürde sich ergeben, daß wer den Menschen als Nicht-Pferd bezeichnet, entweder noch mehr oder doch nichtminder die Wahrheit sagt, als wenn er ihn als Nicht-Menschen bezeichnet, und mithin würde er auch dieWahrheit sagen, wenn er eben denselben als ein Roßbezeichnete. Denn die widersprechenden Aussagensollten ja gleich wahr sein. Und daraus ergäbe sichdann, daß einer und derselbe ein Mensch und auch einRoß und ein beliebiges anderes Tier wäre.

Es gibt also freilich keinerlei Beweis gegenüberdem, der sich in dem bezeichneten Sinne ausspricht.Aber auch Heraklit selber würde man, wenn man ihnauf diese Weise befragt hätte, leicht das Zugeständnisabgenötigt haben, daß es schlechterdings nicht mög-lich sei, daß widersprechende Aussagen über dasselbeSubjekt beide wahr seien. So aber hat er sich zu einersolchen Ansicht bekannt, ohne sich recht bewußt zusein, was er eigentlich sagte. Überhaupt aber, gesetztes wäre wahr, was er behauptet, nämlich daß es mög-lich sei, daß ein und dasselbe zu einer und derselbenZeit sei und auch nicht sei, dann würde eben diese

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4492 412Aristoteles: Metaphysik

Behauptung auch nicht wahr sein. Denn wie, wennman die beiden Sätze auseinanderhält, die Bejahungnicht mehr Wahrheit enthält als die Verneinung, sowird auch, wenn man beide Sätze zusammenfaßt undsie in solcher Verbindung festhält, als bildeten sieeine einzige Aussage, die Verneinung nicht mehrWahrheit enthalten als die ganze wie eine Bejahunggenommene Aussage.

Endlich, wenn es nicht möglich ist, etwas in Wahr-heit zu bejahen, so würde auch eben diese Bejahung,daß es keine Bejahung gibt, die wahr wäre, falschsein. Gibt es aber eine Bejahung, die wahr ist, sowürde damit eben das beseitigt sein, was diejenigenvorbringen, die jene Sätze bestreiten und allen ge-danklichen Austausch damit völlig unmöglich ma-chen.

Dem was wir eben verhandelt haben nahe verwandtist auch der Satz des Protagoras: aller Dinge Maß istder Mensch; ein Satz, der doch auf nichts anderes hin-ausläuft als auf die Meinung, jegliches sei wirklichso, wie es jeglichem scheint. Denn ist dem so, so liegtdarin, daß ein und dasselbe ist und nicht ist, daß esschlecht und auch gut ist, und was es sonst an wider-sprechenden Aussagen gibt. Scheint doch oft genugdem einen löblich, was dem anderen als das Gegenteilerscheint, und nun soll, was jedem scheint, als Maßfür die Sache gelten.

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4493 413Aristoteles: Metaphysik

Die Schwierigkeit, die darin liegt, löst sich, wennman die Quelle erwägt, aus welcher diese Ansicht ge-flossen ist. Es scheint nämlich, daß manche durch na-turphilosophische Erwägungen zu solchen Sätzen ge-führt worden sind, andere wieder durch die gemachteErfahrung, daß keineswegs alle von denselben Gegen-ständen den gleichen Eindruck empfangen, sondernzuweilen dem einen angenehm erscheint, was sichdem anderen ganz anders darstellt.

So ziemlich allen nämlich, die sich mit Naturphilo-sophie beschäftigen, ist der Satz geläufig, daß nichtsaus nicht Seiendem, jegliches aus Seiendem wird. Danun Weißes nicht aus solchem wird, was vollkommenweiß und in keiner Weise nicht-weiß ist, dann aber,wenn es ein Nicht-weißes geworden ist, es aus Wei-ßem geworden ist, so würde das, was ein Nicht-wei-ßes wird, aus etwas werden, was nicht weiß ist. Undso würde es denn, meinen jene Leute, aus Nicht-Sei-endem werden, sofern Nicht-Nichtweißes eines unddasselbe wäre wie Weißes. Indessen, es ist nichtschwer, diese Schwierigkeit zu heben. In meinenSchriften zur Naturwissenschaft habe ich dargelegt, inwelchem Sinne das was wird aus solchem wird, wasnicht ist, und in welchem Sinne es aus solchem wird,was ist.

Was nun das weitere betrifft, so wäre es eine Tor-heit, wollte man allen Ansichten und Einbildungen,

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4494 414Aristoteles: Metaphysik

die sich gegenseitig bekämpfen, das gleiche Gewichtbeilegen. Denn so viel ist doch wohl klar, daß die eineder streitenden Parteien notwendig im Unrecht ist.Das leuchtet schon bei dem ein, was sich auf sinnlicheWahrnehmung stützt Denn niemals kommt es vor,daß eines und dasselbe dem einen süß, dem anderenganz anders erscheint, wo nicht bei dem einen dasSinnesvermögen und das Urteil über den Geschmackverderbt und verkümmert ist. Ist dem aber so, so mußman wohl die einen als maßgebend gelten lassen, unddie anderen nicht. Das Gleiche gilt dann auch für dasUrteil über das Gute und Schlechte, das Schöne undHäßliche und alles andere von gleicher Gegensätz-lichkeit. Es ist gar kein Unterschied zwischen diesemUrteil und der Behauptung, wenn man das finge mitdem Finger drückt und nun einen Gegenstand doppeltsieht, dann seien es wirklich zwei Gegenstände, weilsie so erscheinen, und es sei doch wieder nur einer.Denn man braucht nur das finge nicht zu verrücken,um das was eines ist auch als eines zu sehen.

Überhaupt aber ist es widersinnig, die Entschei-dung über die Wahrheit auf dem Umstände begründenzu wollen, daß die irdischen Dinge veränderlich undniemals in derselben Beschaffenheit verharrend er-scheinen. Das Wahre muß man zu erfassen suchen aufGrund dessen, was sich ewig gleich verhält und waskeinerlei Veränderung erleidet. Von dieser Art sind

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4495 415Aristoteles: Metaphysik

die himmlischen Dinge. Diese erscheinen nicht daseine Mal so, das andere Mal anders, sondern ewig alsdieselben und von keinerlei Veränderung berührt.

Zweitens aber, wenn es Bewegung gibt und etwaswas bewegt wird, jede Bewegung aber einen Aus-gangspunkt und einen Endpunkt hat, so muß das, wasbewegt wird, sich zuerst im Ausgangspunkt der Be-wegung, und noch nicht anderswo befinden, und dannerst auf den Endpunkt hin sich bewegen, bis es andemselben anlangt; aber das kontradiktorisch Entge-gengesetzte, das kann nicht, wie jene Leute meinen,beides zugleich wahr sein.

Und gesetzt selbst, in Hinsicht auf die Quantitätfließe das Irdische kontinuierlich und sei in steter Be-wegung, und man wolle dies annehmen, obwohl es inWahrheit nicht so ist: weshalb sollte das Ding nichtin Hinsicht auf seine Qualität verharren? Es hat ganzden Anschein, als ob jene Aussagen über die Wider-sprüche in einem und demselben Objekt nicht zumwenigsten auf Grund dessen gemacht werden, daßman die Ansicht gewonnen hat, daß das Quantitativean den Körpern nicht beharrt, und daß ein und dersel-be Gegenstand vier Ellen mißt und auch nicht mißtaber das Wesen des Gegenstandes liegt doch in derQualität, und diese trägt den Charakter der Bestimmt-heit, wie das Quantitative dem Gebiete des Unbe-stimmbaren angehört.

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4496 416Aristoteles: Metaphysik

Sodann, was ist der Grund, daß man auf Anord-nung des Arztes, der diese bestimmte Speise verord-net, dieselbe auch wirklich zu sich nimmt? Oder wie-fern darf dieser Gegenstand eher als Brot denn als ir-gend etwas anderes gelten? Wenn man es aber zu sichnimmt, so tut man es doch wohl in dem Sinne, daßman glaubt, es verhalte sich mit dem Gegenstande inWahrheit so und nicht anders, und das, was man vor-gesetzt bekommt, sei wirklich eben dieses Nahrungs-mittel. Und doch hätte dies keinen Sinn, wenn keinsinnliches Ding seine Natur in Wirklichkeit behielte,sondern alles sich beständig im Flusse und in der Be-wegung befände.

Und weiter, gesetzt den Fall, daß wir selber uns be-ständig verändern und niemals dieselben bleiben: waswäre dabei zu verwundern, wenn uns niemals dieDinge als dieselben erscheinen wie vorher, wie eswirklich bei den Kranken der Fall ist? Denn weil dieKranken ihrer ganzen Verfassung nach nicht beschaf-fen sind wie sie in den Zeiten der Gesundheit waren,darum erscheinen ihnen auch die Gegenstände sinnli-cher Wahrnehmung nicht wie sonst, was ja gar nichtbedeutet, daß die Gegenstände selber von solcherVeränderung ergriffen würden; nur der Eindruck, densie auf das Empfindungsvermögen des Kranken ma-chen, ist ein anderer geworden. Ganz ebenso wird essich doch wohl auch mit der Veränderung verhalten

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4497 417Aristoteles: Metaphysik

müssen, von der oben die Rede war. Anderenfallsaber, wenn wir selber keiner Veränderung unterliegen,sondern dauernd dieselben bleiben, so wird es wohlauch außer uns etwas geben, was bleibt.

Allerdings, denen gegenüber, die die bezeichnetenEinwendungen um bloßen Wortgefechtes willen erhe-ben, ist es nicht leicht, ihre Einwendungen zu beseiti-gen, da sie nichts zugrunde legen, was feststände undwofür nicht wiederum eine Begründung gefordertwürde. Denn nur unter dieser Bedingung kommt einGedankengang und ein Beweis zustande. Wenn einernichts zugrunde legt, was fest steht, so hebt er allenGedankenaustausch und überhaupt allen vernünftigenZusammenhang auf. Gegen Leute von solcher Art läßtsich nicht mit Gründen streiten. Denjenigen dagegen,die wegen der oben angeführten Bedenken ernsthafteSchwierigkeiten erheben, ist es leicht zu begegnenund das was ihnen Bedenken macht aus dem Wege zuräumen. Das werden unsere Ausführungen gezeigthaben.

Mithin geht soviel daraus mit Sicherheit hervor,daß widersprechende Aussagen von demselben Ge-genstande unmöglich im gleichen Zeitpunkte beidewahr sein können, ebensowenig aber auch die konträrentgegengesetzten. Denn aller konträre Gegensatzschließt eine Privation in sich; das läßt sich zeigen,indem man die Begriffe der konträr Entgegengesetzten

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4498 418Aristoteles: Metaphysik

zergliedert, bis man auf ihr Prinzip kommt. Aberebensowenig läßt sich von einem und demselben Ge-genstande etwas aussagen, was neben dem Extremenein Mittleres darstellte. Denn ist der Gegenstand derAussage weiß, so ist die Aussage, er sei weder weißnoch schwarz, eine falsche Aussage; das hieße ja wie-der nur, daß der Gegenstand weiß und auch nichtweiß wäre. Von den zwei verbundenen Prädikatenwird nur das eine zutreffen, das andere aber bildet zuweiß einen Widerspruch.

So ist es denn gleich unmöglich Wahrheit auszusa-gen, wenn man im Sinne des Heraklit, wie wenn manim Sinne des Anaxagoras spricht; denn in beiden Fäl-len wäre die Folge, daß man von demselben Gegen-stande Entgegengesetztes aussagt. Wenn einer sagt, injeglichem sei ein Teil von jeglichem, so sagt er, es seiebensowohl bitter als süß, oder was es sonst für ent-gegengesetzte Beschaffenheiten gibt; das folgt, sobaldder Sinn des Satzes der ist, daß in jedem jedes nichtbloß der Möglichkeit nach, sondern in Wirklichkeitund als Gesondertes stecken soll. Ebensowenig aberist es möglich, daß alle Aussagen falsch oder allewahr seien. Abgesehen von der Menge von sonstigenSchwierigkeiten, die dieser Satz mit sich bringt, ist erschon deshalb unmöglich, weil, wenn jede Aussagefalsch ist, auch der, der dies aussagt, nicht das Wahresagt, und wenn jede Aussage wahr ist, auch der, der

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alle Aussagen als falsch bezeichnet, damit nichts Fal-sches sagt.

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4. Einteilung und Objekt der Wissenschaft

(Vgl. oben S. 85-92)

Jede Wissenschaft ist auf die Erforschung vonPrinzipien und Gründen für die in ihr Gebiet fallen-den Gegenstände gerichtet; so die Wissenschaft derMedizin und der Gymnastik, so jede andere Wissen-schaft technischer oder rein theoretischer Art. Jedederselben umschreibt für sich ein bestimmtes Reichvon Objekten und erforscht dasselbe als ein wirklichVorhandenes und Seiendes, aber nicht als Seiendesschlechthin; damit beschäftigt sich vielmehr eine an-dere, von jenen verschiedene Wissenschaft. Jede derWissenschaften, die wir genannt haben, faßt dasWesen der Dinge in einem einzelnen unter den Rei-chen von Objekten ins Auge und unternimmt es, dar-aus das Übrige in lockerem oder strengerem Verfah-ren abzuleiten. Die einen ergreifen das Wesen derSache vermittelst der äußeren Wahrnehmung, die an-deren auf Grund innerer Annahmen; schon aus einerderartigen Induktion geht deshalb klar hervor, daß fürdas Wesen und den Begriff der Sache ein Beweisnicht zu führen ist.

Wenn es nun eine Wissenschaft gibt, die sich mitder Natur beschäftigt, so wird sie eine andere sein

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müssen als die Wissenschaft, die es mit den Handlun-gen der Menschen und als diejenige, die es mit ihrerschaffenden Tätigkeit zu tun hat. Für die Wissen-schaft von der schaffenden Tätigkeit ist es charakteri-stisch, daß das Prinzip des Hervorbringens in demHervorbringenden, nicht in dem Hervorgebrachtenliegt; solches Prinzip ist, sei es eine Fertigkeit, sei essonst irgend ein Vermögen. Ebenso liegt auf dem Ge-biete der Wissenschaft von den Handlungen der Men-schen der Ausgangspunkt der Bewegung nicht in demGegenstande, worauf die Tätigkeit sich richtet, son-dern in dem Handelnden. Dagegen beschäftigt sichder Naturforscher mit denjenigen Gegenständen, diedas Prinzip ihrer Bewegung in sich selbst tragen. Dar-aus geht hervor, daß die Wissenschaft von der Naturnotwendig weder eine Wissenschaft vom handelndenLeben noch von der schaffenden Tätigkeit, sonderneine rein theoretische Wissenschaft ist. Denn eine die-ser Klassen ist es, unter die sie notwendig fallen muß.

Da nun jede Wissenschaft das Wesen des Gegen-standes irgendwie kennen und dieses als ihren Aus-gangspunkt verwenden muß, so dürfen wir nicht uner-örtert lassen, wie der Naturforscher das Wesen zu be-stimmen und wie er den Begriff der Sache zu ergreifenhat, also ob etwa in der Weise wie man vom Stumpf-nasigen, oder ob vielmehr in der Weise wie man vomStumpfen handelt. Von diesen beiden Begriffen näm-

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lich wird bei dem einen, dem Begriff des Stumpfnasi-gen, die Verbindung mit der Materie des konkretenGegenstandes ins Auge gefaßt, wogegen beim Begriffdes Stumpfen von der Materie abgesehen wird. ZurStumpfnasigkeit gehört aber eine Nase, und darumwird ihr Begriff in Verbindung mit dieser gedacht;denn Stumpfnasigkeit bedeutet eben die Stumpfheiteiner Nase.

Offenbar nun, daß auch, wo es sich um den Begriffdes Fleisches, des Auges oder überhaupt eines Glie-des handelt, immer die Verbindung mit der Materiemitgedacht werden muß.

Nun gibt es aber auch eine Wissenschaft vom Sei-enden als Seienden und für sich Abgetrennten; es giltalso zu untersuchen, ob man die Wissenschaft von derNatur als eine Wissenschaft von eben dieser Art odervielmehr als eine davon verschiedene anzusehen hat.Das Objekt der Naturwissenschaft bildet dasjenige,was das Prinzip seiner Bewegung in sich selber trägt;die Mathematik aber ist zwar auch eine theoretischeWissenschaft und hat zum Objekte solches, was ver-harrt, aber andererseits doch solches, was nicht abge-trennt für sich besteht. Mithin gibt es eine von diesenbeiden verschiedene Wissenschaft, die zum Objektedas hat, was abgetrennt für sich besteht und unbewegtist, vorausgesetzt, daß es eine Wesenheit von dieserBeschaffenheit, ich meine eine für sich abgetrennt be-

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stehende und unbewegte Wesenheit überhaupt gibt,und das zu zeigen werden wir versuchen. Findet sichalso unter dem was ist eine Wesenheit von dieser Art,so würde damit auch wohl das Göttliche gegebensein, und dies würde dann das oberste und macht-vollste Prinzip sein.

Soviel nun ist offenbar, es gibt drei Arten von theo-retischen Wissenschaften: die Naturwissenschaft, dieMathematik und die Wissenschaft von Gott. Wie nundie theoretischen Wissenschaften den höchsten Rangunter den Wissenschaften einnehmen, so steht unterihnen wieder am höchsten die zuletzt genannte. Dennihr Objekt bildet das Herrlichste unter allem was ist;jede Wissenschaft aber empfängt ihren höheren odergeringeren Rang jedesmal von dem Objekt, das ihrzugehört.

Es läßt sich die Frage aufwerten, ob man die Wis-senschaft vom Seienden als solchen als die allgemeineGrundlage aller Wissenschaften bezeichnen darf odernicht. Unter den mathematischen Wissenschaften be-handelt eine jede ein bestimmt abgegrenztes Objekt;allen aber gemeinsam zugrunde liegt eine allgemeineWissenschaft. Wären nun die in der Natur gegebenenWesenheiten die obersten unter dem was ist, so würdeauch die Naturwissenschaft die oberste unter denWissenschaften sein. Gibt es dagegen ein davon ver-schiedenes Wesen von selbständiger Existenz, das für

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sich abgetrennt besteht und unbeweglich ist, so mußnotwendig auch die Wissenschaft von ihm eine anderesein; sie muß den Rang vor der Naturwissenschaft be-haupten und die allgemeine Grundwissenschaft seindeshalb, weil sie die an Rang höhere ist.

Vom Seienden schlechthin spricht man in mehrerenBedeutungen, und 8 die eine davon ist die des akzi-dentiell Seienden. Es ist darum zunächst das Seiendein diesem Sinne näher zu betrachten. Sicher nun ist,daß keine der Wissenschaften, die wir überkommenhaben, sich mit dem akzidentiell Seienden beschäftigt.So macht die Wissenschaft von der Baukunst nichtzum Gegenstande ihrer Untersuchung, was den dasGebäude Bewohnenden dereinst etwa zustoßen könn-te, z.B. ob ihnen, während sie es bewohnen, ein trau-riges Schicksal oder das Gegenteil zuteil werden wird,und ebensowenig bekümmert sich um dergleichen dieWissenschaft von der Webekunst oder von der Schuh-macherei oder von der Kochkunst. Vielmehr jede die-ser Wissenschaften hat es allein mit dem zu tun, wasjedesmal ihre besondere Aufgabe ist, und das ist dieihr eigentümliche Bestimmung ihres Gegenstandes.Auch nicht ob ein Kunstkenner auch zugleich einSprachgelehrter ist; oder ob derjenige, der ein Kunst-kenner ist, deshalb weil er ein Sprachgelehrter gewor-den ist, nachdem er es vorher nicht gewesen war, nun-mehr beides zugleich ist; ob was ein nicht immer Sei-

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endes ist, geworden sein muß, so daß jener also zu-gleich ein Kunstkenner und ein Sprachgelehrter ge-worden wäre: mit Fragen von dieser hohen Bedeutunggibt sich keine der Wissenschaften ab, die es zuge-standenermaßen sind; das tut vielmehr nur die Sophi-stik. Denn diese allein beschäftigt sich mit dem Akzi-dentiellen, und deshalb ist Platos Bemerkung garnicht so übel, wenn er sagt, der Sophist tummle sichin dem herum, was nicht ist.

Daß es aber auch ganz ausgeschlossen ist, daß eseine Wissenschaft vom Akzidentiellen gebe, wird klarwerden, wenn man versucht sich zu vergewissern, wasdenn nun eigentlich das Akzidentielle bedeutet. Wirsagen von jeglichem, teils daß es ewig und mit Not-wendigkeit sei – mit Notwendigkeit nicht im Sinneeines äußeren Zwanges, sondern in dem Sinne wie wirdas Wort da gebrauchen, wo es sich um logisches Be-weisverfahren handelt - , teils daß es der Regel nachsei, teils daß es auch nicht einmal der Regel nach,noch immer und mit Notwendigkeit, sondern rein zu-fällig sei. So kann es vorkommen, daß in den Hunds-tagen Frost eintritt, aber das tritt nicht ein als einimmer und mit Notwendigkeit, auch nicht als ein re-gelmäßig Vorkommendes; es kann sich aber wohl ein-mal so treffen. So ist denn das Akzidentielle ein sol-ches, was wohl vorkommt, was aber nicht immer,noch mit Notwendigkeit, noch in der Regel geschieht.

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Wenn damit bezeichnet ist, was unter dem Akzidenti-ellen zu verstehen ist, so wird daraus dann auch klar,weshalb es von dergleichen keine Wissenschaft gibt.Denn alle Wissenschaft hat zum Gegenstande das wasimmer oder das was in der Regel ist; das Akzidentiel-le aber gehört zu keiner dieser beiden Klassen. Undso leuchtet auch ein, daß es von dem, was nur imSinne des Akzidens existiert, keine Ursachen undPrinzipien in der gleichen Bedeutung gibt, wie vondem was ein selbständig Seiendes ist. Denn so würdealles ein Notwendiges sein. Wenn nämlich das einedeshalb ist, weil das andere ist, dieses aber wieder,weil ein drittes ist, und dieses letztere nicht durch Zu-fall, sondern aus Notwendigkeit ist, so stammt auchalles das, wofür dieses die Ursache war, aus Notwen-digkeit bis auf das letzte Endglied, das als ein Verur-sachtes bezeichnet war. Dieses aber sollte doch einAkzidentielles sein. Mithin würde alles aus Notwen-digkeit sein, und die Alternative des zufälligen Ein-treffens, die Möglichkeit daß etwas eintrete oder nichteintrete, würde völlig aus dem Geschehen in der Weltbeseitigt werden.

Dasselbe aber würde die Folge sein, wenn man alsUrsache setzen wollte solches was nicht ist, aberwird; auch so würde alles was geschieht mit Notwen-digkeit geschehen. Denn der Verlauf ist der: die mor-gige Finsternis wird eintreten, wenn dieses Bestimmte

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sich ereignet, und dieses wieder, wenn etwas anderes,und ebenso dieses, wenn ein anderes geschieht. Aufdiese Weise wird man also, indem man von dem be-grenzten Zeitraum, der zwischen dem gegenwärtigenAugenblick und dem morgenden Tag liegt, ein Stücknach dem andern abzieht, zuletzt bei dem gegenwärti-gen Augenblick anlangen. Und mithin wird, da diesjetzt so ist, alles was nach diesem Augenblick ge-schieht, mit Notwendigkeit geschehen, und alles alsowird sich mit Notwendigkeit ereignen, was künftiggeschieht.

Dasjenige, was im Sinne der wahren Aussage wahrist und als Akzidentielles einem Subjekt zukommt, istvon zweierlei Art. Das eine beruht auf der verbinden-den Tätigkeit des Gedankens und bildet eine Be-stimmtheit in demselben. Deshalb ist die Frage nichtdie nach den Prinzipien für das in diesem Sinne Sei-ende, dagegen wohl nach denen für die abgesondertfür sich bestehenden Außendinge. Das andere dage-gen ist nicht notwendig, sondern unbestimmt; damitbezeichne ich das Akzidentielle in engerem Sinn. Fürdie Ursachen von diesem ist weder Ordnung nochGrenze gesetzt.

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III. Zufall / Bewegung / Unendliches /Veränderung / Räumlichkeit

Das Zweckmäßige findet sich in zweifacher Weise,erstens in dem was die Natur gestaltet, zweitens indem was aus absichtlicher Veranstaltung hervorgeht.Ein zufälliges Zusammentreffen begegnet uns da, woZweckmäßiges beiläufig sich einfindet. Es ist nämlichmit der Ursache gerade so wie mit dem Sein über-haupt: es gibt Ursächliches was wesentlich, und sol-ches was bloß zufällig ist. Ein zufälliges Zusammen-treffen ist eine Verursachung, die Zweckmäßiges, wassonst mit bewußtem Vorsatz hergestellt wird, beiläu-fig ergibt. Zufälliges Zusammentreffen hat dann mitabsichtlicher Veranstaltung das gleiche Ergebnis;denn bewußter Vorsatz findet sich nicht ohne absicht-liches Verfahren. Die Ursachenreihe aber, aus der sichsolch ein zufälliges Zusammentreffen ergeben kann,verläuft ins Unbestimmte; sie ist deshalb für mensch-liche Berechnung unfaßbar und bedeutet für irgendwelchen Erfolg eine nur beiläufige, keine wesentlicheVerursachung. Man nennt es ein glückliches oder un-glückliches Zusammentreffen, je nachdem es günstigeoder ungünstige Folgen hat; die größere oder gerin-gere Bedeutung dieser Folgen bezeichnet man dannals Glück oder Unglück. Wie nun nichts was bloß be-

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gleitend und beiläufig auftritt, dem gegenüber was ausdem Wesen der Sache folgt, ein Höheres bedeutet, sogilt das auch bei der Verursachung. Und wenn daherdas bloße Zusammentreffen oder das blinde Ohnge-fähr eine der Ursachen im Weltall bildet, so ist dochVernunft und innere Anlage Ursache in weit höheremSinne.

Es gibt solches, was bloß aktuell, anderes, wasbloß potentiell, und wieder anderes, was beides, aktu-ell und potentiell zugleich ist, und zwar als bestimm-tes Einzelwesen, oder als Quantitatives, und so weiterim Sinne der übrigen Kategorien; aber es gibt keineBewegung, die noch neben den Gegenständen exi-stierte. Denn wo Veränderung ist, da vollzieht sie sichim Sinne der Kategorien des Seienden; ein Allgemei-nes aber, was darüber schwebte und nicht einer derKategorien angehörte, existiert nicht.

Jegliche Bestimmung kann jeglichem Gegenstandein doppelter Weise zukommen. So bedeutet die Be-stimmtheit als Einzelwesen das eine Mal die Form,das andere Mal die Formlosigkeit; so ist der Qualitätnach das eine weiß, das andere schwarz, der Quantitätnach das eine vollständig, das andere unvollständig,der Bewegung im Räume nach aber das eine oben,das andere unten, das eine leicht, das andere schwer.Mithin gibt es ebensoviele Arten der Bewegung undder Veränderung, wie es Kategorien des Seienden

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gibt.Da nun der Unterschied des potentiell Seienden

und des aktuell Seienden in jeder Kategorie vor-kommt, so nenne ich Bewegung die Verwirklichungdes Potentiellen als solchen. Daß diese Bezeichnungzutrifft, wird durch folgende Erwägungen klar wer-den. Gebaut wird dann, wenn das was das Vermögenhat ein Bau zu werden, sofern wir es rein als solchesnehmen, zur Verwirklichung gelangt; und die Tätig-keit des Bauens bedeutet eben dieses Verwirklichen.Das gleiche gilt von der Tätigkeit des Lernens, desHeilens und des Umwälzens, das gleiche vom Gehenund Springen, vom Altem und Reifen.

Daß etwas bewegt wird, das tritt da ein, wo dieVerwirklichung selber eintritt, nicht früher, noch spä-ter. Die Verwirklichung also des Potentiellen, wennes als aktuell Seiendes in Wirksamkeit tritt, und zwarnoch nicht als solches, sondern erst als ein für Bewe-gung Empfängliches, das heißt Bewegung. Mit die-sem »als« ist folgendes gemeint. Das Erz ist potentielleine Bildsäule; aber gleichwohl äst die betreffendeBewegung nicht die Verwirklichung des Erzes, dasErz als solches genommen. Denn Erz sein und etwasdem Vermögen nach sein, bedeutet nicht dasselbe.Wäre es begrifflich schlechthin dasselbe, so würde al-lerdings die Verwirklichung des Erzes eine Art vonBewegung sein; es ist aber nicht dasselbe. Man sieht

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das, wo es sich um Gegensätze handelt. Das Vermö-gen gesund und das Vermögen krank zu sein ist nichtdasselbe; sonst würde auch gesund sein und kranksein dasselbe bedeuten. Dagegen das Substrat, demdas Gesundsein wie das Kranksein zukommt, sei essonst eine Flüssigkeit, sei es das Blut, dieses ist einsund dasselbe. Weil aber jenes nicht dasselbe ist, wieauch die Farbe und der Gegenstand, der vermittelstihrer sichtbar wird, nicht dasselbe sind, so ist Bewe-gung die Verwirklichung des Potentiellen als Potenti-ellen. Daß sie wirklich dies bedeutet, wird dadurchklar geworden sein, und ebenso auch dies, daß die Er-scheinung, daß etwas in Bewegung ist, dann eintritt,wenn die Verwirklichung selber eintritt, und nicht frü-her noch später. Denn jedes Ding hat die Möglichkeitdas eine Mal wirklich zu werden, das andere Malnicht, wie es bei dem der Fall ist, was das Vermögenhat ein Bau zu werden, sofern es im Zustande des blo-ßen Vermögens ist. Die Verwirklichung dessen, wasein Bau zu werden die Möglichkeit hat, sofern esdiese Möglichkeit hat, ist eben die Tätigkeit des Bau-ens. Denn Verwirklichung bedeutet entweder dieses,die Tätigkeit des Bauens, oder das Gebäude. Aberwenn das Gebäude fertig dasteht, so hat der Zustanddes Vermögens ein Bau zu werden aufgehört; das da-gegen, woran noch gebaut wird, ist eben das, wasnoch im Zustande des Vermögens sich befindet. Mit-

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hin muß die Verwirklichung notwendig die Tätigkeitdes Bauens bedeuten, und diese Tätigkeit ist eine Be-wegung. Ganz ebenso ist es in den anderen Fällen derBewegung auch.

Daß diese Ausführungen zutreffen, ersieht man ausdem, was sonst von anderen über den Begriff der Be-wegung vorgebracht worden ist; da zeigt es sich, daßeine andere begriffliche Bestimmung darüber zugeben keineswegs so leicht ist. Zunächst, die Bewe-gung läßt sich nicht wohl unter eine andere Gattungeinreihen. Man sieht das an den verschiedenen Versu-chen, die man gemacht hat um sie zu bezeichnen; dereine meint, sie sei ein Anderssein, der andere, sie seieine Ungleichheit, der dritte, sie sei das Nichtsein:lauter Bestimmungen, die ganz wohl auch ohne denBegriff der Bewegung gedacht werden können, beidenen aber auch die Veränderung weder als Verände-rung in dieselben, noch als Veränderung aus densel-ben, in höherem Maße mitgedacht wird, als bei demwas ihnen entgegengesetzt ist. Der Grund, weshalbman die Bewegung unter diese Begriffe einreiht, istwohl der, daß sie den Eindruck macht, etwas Unbe-stimmtes zu sein, wie die Prinzipien, die in der derpositiven Reihe gegenüberstehenden Reihe von Be-griffen vorkommen, ja gleichfalls unbestimmt sind,weil sie eine Privation bedeuten. Denn Bewegung läßtsich nicht als ein bestimmter Gegenstand noch als

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eine Qualität noch sonst unter einer der übrigen Kate-gorien fassen. Daß aber die Bewegung den Anscheinder Unbestimmtheit an sich trägt, davon ist der Grundder, daß man sie weder zu dem potentiell noch zu demaktuell Seienden zu rechnen vermag. Daß es in Bewe-gung sei, ist weder bei dem notwendig, was potentiellein Quantum ist, noch bei dem, was aktuell ein Quan-tum ist. So macht denn die Bewegung zwar den Ein-druck ein Aktuelles zu sein, aber doch nur ein unvoll-endetes Aktuelles; und der Grund dafür ist der, daßdas Potentielle, dessen Verwirklichung sie bedeutet,eben noch ein Unvollendetes ist. Gerade deshalb ist esso schwer zu erfassen, was sie ist. Man ist gezwungensie entweder unter den Begriff der Privation oderunter den der Potentialität oder unter den der Aktuali-tät ohne weiteres einzureihen, und doch ist augen-scheinlich keiner von diesen Begriffen geeignet, sieunter sich zu befassen. Es bleibt daher nur übrig, dieBewegung so zu bestimmen, wie wir sie gefaßt haben,als Wirklichkeit und auch nicht als Wirklichkeit, alsein schwer zu Verstehendes, aber doch als ein sol-ches, was immerhin einen Platz im Dasein einnehmenkann.

Soviel jedenfalls ist klar, daß Bewegung nur da ist,wo die Möglichkeit der Bewegung vorhanden ist.Denn sie ist die Verwirklichung dieser Möglichkeitvermittelst dessen, was die Kraft besitzt etwas in Be-

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wegung zu setzen. Die Wirksamkeit aber dessen wasdie Bewegung setzt, ist nicht etwas Fremdes gegen-über jener Möglichkeit; sie muß vielmehr die Wirk-samkeit von beiden zusammen sein. Daß es in Bewe-gung setzen kann, das hat es durch sein Vermögen;daß es wirklich in Bewegung setzt, darin besteht seineWirksamkeit; diese Wirksamkeit aber hat es in bezugauf das, was die Möglichkeit hat bewegt zu werden.Und so ist es denn eine Wirksamkeit, die beidengleichmäßig angehört. Wie der Abstand von eins zuzwei derselbe ist wie der von zwei zu eins, oder wieder Weg nach oben und der Weg nach unten derselbeWeg, und doch der Begriff nicht in beiden Falleneiner und derselbe ist, ganz so ist es auch mit demVerhältnis zwischen dem was bewegt und dem wasbewegt wird.

Das Unendliche ist das, bei dem es nicht möglichist zu einem Ende zu kommen, entweder weil es sei-ner Natur nach ein Ende nicht zuläßt, etwa in demSinne, wie es die Natur des Tones mit sich bringt, daßman ihn nicht sehen kann, oder es ist das, was nur tat-sächlich immer weiterzugehen gestattet ohne Ende,oder was zu Ende zu kommen nur in bedingter Weisegestattet, oder was ein Gelangen ans Ende und eineGrenze nicht zuläßt, obwohl es eigentlich in seinerNatur läge, es zuzulassen. Es kann ferner etwas einUnendliches sein dadurch, daß es ein immer weiteres

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Hinzufügen, oder dadurch, daß es ein Hinwegnehmen,oder dadurch, daß es beides zuläßt.

Unmöglich nun ist es, daß solches Unendliche sel-ber als abgetrennt für sich und daß es als sinnlicherGegenstand existiere. Denn wenn es weder eine Aus-dehnung noch eine Vielheit ist und das Unendlicheselber sein Wesen und nicht bloß eine ihm zufallendeBestimmung ausmacht, so müßte es ein Unteilbaressein, weil, was teilbar ist, entweder eine Ausdehnungoder eine Vielheit ist es aber unteilbar, so ist es wie-der nicht unendlich; es könnte das nur sein in demSinne, wie der Ton unsichtbar ist; aber nicht in die-sem Sinne spricht man vom Unendlichen, und nicht indiesem Sinne suchen wir es zu erfassen, sondern nurwie ein solches was nicht zuläßt, daß man an seinEnde gelange. Wie sollte ferner ein Unendliches anund für sich existieren können, wenn solche Existenzdoch für Zahl und Ausdehnung, an denen die Unend-lichkeit als Bestimmung vorkommt, ausgeschlossenist? Und soll es nur als Bestimmung an anderem exi-stieren, so könnte es doch als Unendliches in keinemFalle ein Element des sonst Existierenden bilden,ebensowenig wie das Unsichtbare ein Element derSprache bildet, obwohl doch der Ton tatsächlich un-sichtbar ist.

Damit ist denn auch ausgemacht, daß es überhauptkein Unendliches geben kann, das aktuell wäre.

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4516 436Aristoteles: Metaphysik

Müßte doch jeder Teil desselben, den man heraus-greift, auch wieder unendlich sein. Denn existierte dasUnendliche als selbständiger Gegenstand und nichtbloß an einem Substrat, so wäre der Begriff der Un-endlichkeit und der unendliche Gegenstand eines unddasselbe, und dieser müßte daher unteilbar oder, wennman Teile davon setzen darf, immer weiter in lauterTeilbares teilbar sein. Es ist aber undenkbar, daßeines und dasselbe eine Vielheit von lauter Unendli-chen sei; und doch müßte, wenn das Unendliche selb-ständiger Gegenstand und Prinzip ist, ebenso wie derTeil der Luft wieder Luft ist, der Teil des Unendlichenwieder unendlich sein. Mithin ist es nicht in Stückeoder Teile zerlegbar. Andererseits ist auch umgekehrtausgeschlossen, daß was aktuell ist, unendlich sei;denn es müßte notwendig ein Quantitatives sein. Alsokommt es nur als Bestimmung an anderem vor. Wenndem aber so ist, so haben wir schon dargelegt, daßnicht das Unendliche die Bedeutung des Prinzipshaben kann, sondern nur das, an dem es als Bestim-mung auftritt, wie etwa der Luftraum oder die Reiheder geraden Zahlen.

Das also ergibt die Untersuchung des Begriffes imallgemeinen. Daß sich aber das Unendliche tatsäch-lich nicht unter den sinnlichen Gegenständen findet,wird aus folgendem klar. Ist der Begriff eines Körpersder des durch Flächen Begrenzten, so kann es keinen

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4517 437Aristoteles: Metaphysik

unendlichen Körper geben, weder als sinnlichen nochals intelligiblen Gegenstand, ebensowenig wie dieZahl als für sich bestehende und unendliche existierenkann, weil das was Zahl ist oder eine Zahl hat, sichzählen läßt. Ruf dem Wege naturwissenschaftlicherErörterung aber wird dasselbe durch folgende Be-trachtung erwiesen. Das unendliche könnte weder einZusammengesetztes noch ein Einfaches sein. Eskönnte kein zusammengesetzter Körper sein, weil dieElemente schon ihrer Vielheit wegen begrenzt sind;denn die entgegengesetzten Elemente müssen einan-der das Gleichgewicht halten, und es könnte nichteines von ihnen unendlich sein, weil, wenn das Ver-mögen des einen noch so wenig hinter dem des ande-ren zurückbliebe, das Endliche vom Unendlichen zumVerschwinden gebracht werden würde. Ebenso un-denkbar aber ist es, daß jedes Element ein Unendli-ches sei. Denn ein Körper ist das nach allen Seltenhin Ausgedehnte, ein Unendliches aber ist das in un-begrenzter Weise Ausgedehnte; so würde also ein un-endlicher Körper nach allen Richtungen hin unendlichsein. Aber auch einheitlich und einfach könnte ein un-endlicher Körper nicht sein, noch wie manche anneh-men, neben den Elementen existieren als das, woraussie dieselben erst hervorgehen lassen. Denn es exi-stiert nicht neben den Elementen noch ein solcherKörper. Woraus etwas besteht, darin löst es sich auch

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4518 438Aristoteles: Metaphysik

wieder auf; aber es kommt nicht neben den einfachenKörpern auch noch dieses zur Erscheinung. Auch dasFeuer oder irgend ein anderes Element kann nichtdafür gelten. Denn abgesehen davon, daß dann einesvon ihnen unendlich sein müßte, ist es auch unmög-lich, daß das Weltall, gesetzt selbst, es wäre begrenzt,eines von ihnen wäre oder zu einem von ihnen würde,etwa wie Heraklit meint, daß alles einmal in Feueraufgehen würde.

Ganz dasselbe gilt nun auch von dem Einen, dasdie Naturphilosophen neben den Elementen anneh-men. Denn immer wo Veränderung ist, kommt dasEine von seinem Gegenteil her; es wird z.B. das Kalteaus dem Warmen. Außerdem muß ein sinnlicher Kör-per einen Ort haben, und derselbe Ort gilt für dasGanze wie für den Teil, wie z.B. bei der Erde. Ist derKörper daher gleichartig, so würde er entweder unbe-wegt oder in beständigem Umschwung sein. Dies aberist beides gleich unmöglich. Denn weshalb sollte ersich eher nach oben als nach unten oder irgendwiesonst bewegen? Gesetzt z.B. es handelte sich um eineErdscholle: wo sollte sie sich hinbewegen, wo verhar-ren? Ist doch ihr Ort wie der des ihr zugeordnetenKörpers unendlich. Wird sie also den ganzen Raumeinnehmen? Und wie wird sie ihn einnehmen? undwas bedeutete also ihr Verharren oder ihre Bewe-gung? Entweder wird sie überall verharren, also wird

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4519 439Aristoteles: Metaphysik

sie sich nicht bewegen. Oder sie wird sich überall be-wegen: dann wird sie also nicht ruhen. Ist aber dasGanze ungleichartig, so sind auch die Orter ungleich-artig, und dann ist erstens der Körper des Ganzennicht ein einheitlicher, sondern die Teile haben eineArt von Zusammenhang nur durch Berührung, undzweitens würden sie der Art nach entweder begrenztoder unendlich sein. Nun ist es ausgeschlossen, daßsie begrenzt seien; denn dann würden sie, wenn dochdas Ganze unendlich ist, das eine begrenzt, das andereunendlich sein, z.B. Feuer und Wasser, und ein sol-ches Verhältnis würde für die so entgegengesetztenTeile den Untergang bedeuten. Sind aber die Teile un-endlich und einfach, so sind auch ihre Räume unend-lich, und die Elemente würden auch unendlich sein.Ist aber dies undenkbar und sind die Orter begrenzt,so muß auch das Ganze notwendig begrenzt sein.

Überhaupt aber ist es undenkbar, daß ein Körperund ein Ort für die Körper unendlich sei, wenn dochjeder sinnlich wahrnehmbare Körper entweder Schwe-re oder Leichtigkeit besitzt. Denn er müßte entwedersich nach der Mitte hinbewegen oder nach oben stei-gen; es ist aber undenkbar, daß das Unendliche ent-weder als Ganzes oder seine Hälfte mit einer von die-sen beiden Bewegungen behaftet sei. Denn wo willman den Teilungsstrich anbringen? oder was hat esfür einen Sinn, daß der eine Teil des Unendlichen

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4520 440Aristoteles: Metaphysik

oben, der andere unten, der eine ein äußerstes, der an-dere ein mittleres sei? Außerdem ist jeder sinnlichwahrnehmbare Körper an einem Orte, und der Ortwird in sechs Arten bestimmt: oben, unten; rechts,links; vorn, hinten; es ist aber undenkbar, daß irgendeine davon an einem unendlichen Körper vorkommt.Überhaupt, wenn es unmöglich ist, daß der unendli-che Raum sei, so ist es auch unmöglich, daß ein un-endlicher Körper sei. Denn was im Raum ist, das istirgendwo; das bedeutet aber ein Oben oder Unten,oder eine der übrigen Bestimmungen, und jede dersel-ben bildet eine Grenze.

Übrigens bedeutet Unendlichkeit für Ausdehnungoder Bewegung nicht dasselbe wie für die Zeit, alswäre sie in alledem ein einheitliches Wesen; sondernvom Später redet man in Beziehung auf das Früher,ebenso wie von Bewegung in Beziehung auf die Aus-dehnung, in der die Bewegung, die Veränderung oderVergrößerung stattfindet, und von Zeit um der Bewe-gung willen.

Was sich verändert, das verändert sich teils beiläu-fig, wie wenn einer, der ein Kunstkenner ist, auchspazieren geht, teils so, daß man ohne weiteres sagt,der Gegenstand verändert sich, wenn etwas vom Ge-genstande, z.B. was seine Teile angeht, sich verän-dert. So sagt man, der Leib werde gesund, wenn dasAuge gesund wird. Nun kommt es aber auch vor, daß

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4521 441Aristoteles: Metaphysik

etwas sich ursprünglich seinem Begriffe und Wesennach bewegt, und dies ist da der Fall, wo die Beweg-barkeit im Begriffe liegt. Das gleiche gilt dann auchvon dem was Bewegung bewirkt. Denn auch was Be-wegung bewirkt, tut dies entweder nur beiläufig, odernach einem seiner Teile, oder seinem Begriffe undWesen nach.

Nun ist erstens etwas, was ursprünglich Bewegungbewirkt, und es ist zweitens etwas, was bewegt wird;dazu kommt das, worin es sich bewegt, die Zeit, fer-ner ein Ausgangspunkt, von dem aus, und endlich einZielpunkt, zu dem hin es sich bewegt. Die Formen da-gegen, die Bestimmungen und der Ort, zu denen dasin Bewegung Befindliche sich bewegt, diese sind un-beweglich, z.B. Erkenntnis oder Wärme. Die Wärmeist keine Bewegung, aber das Erwärmen ist eine.

Eine Veränderung aber, die keine bloß beiläufigeist, kommt nicht bei allen Gegenständen vor, sondernnur erstens bei solchem, was einen konträren Gegen-satz bildet, zweitens bei solchem, was zwischen Ge-gensätzen in der Mitte liegt, und drittens beim kontra-diktorischen Gegensatz. Zum Beweise genügt die Be-rufung auf die Erfahrung.

Wo Veränderung ist, da kann sie sein: entwederVeränderung aus einem Gegenstand in einen anderenGegenstand, oder aus solchem was nicht Gegenstandist, in anderes, was auch nicht Gegenstand ist, oder

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4522 442Aristoteles: Metaphysik

aus solchem was nicht Gegenstand ist, in einen kon-kreten Gegenstand, oder aus einem Gegenstand in sol-ches was nicht Gegenstand ist. Unter einem Gegen-stand aber verstehe ich das, was in positiver Form be-zeichnet wird. Demnach kann es nur drei Arten vonVeränderung geben; denn die Veränderung aus demwas nicht Gegenstand ist in etwas was auch nicht Ge-genstand ist, wäre keine Veränderung, weil hier wederein konträrer Gegensatz, noch ein kontradiktorischerGegensatz, überhaupt kein Gegensatz vorhanden istDie Veränderung, die in der Weise des kontradiktori-schen Gegensatzes aus solchem was nicht Gegenstandist, zu einem Gegenstand hinüberführt, heißt Entste-hen, teils Entstehen schlechthin, als Entstehen ohneweiteren Zusatz, teils bestimmtes Entstehen als Ent-stehen von etwas und aus etwas. Die Veränderung,die von einem Gegenstand zu solchem führt, wasnicht Gegenstand ist, heißt Vergehen, Vergehenschlechthin als Vergehen ohne Zusatz, oder bestimm-tes Vergehen als Vergehen von etwas.

Nun spricht man vom Nichtsein in mehrfachemSinne. Weder das Nichtsein im Sinne von Verbindungoder Trennung von Begriffen, noch das Nichtsein, dasim Sinne der Potentialität dem Sein als solchen entge-gengesetzt ist, bietet die Möglichkeit der Bewegung.Denn was ein Nicht-weißes oder Nicht-gutes ist. Istwohl der Bewegung fähig, freilich nur in akzidentiel-

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ler Weise; es kann das Nicht-weiße z.B. ein Menschsein; – dagegen nicht das, was in keinem Sinne einbestimmter Gegenstand ist; denn daß das Nicht-seien-de sich bewegt, ist unmöglich. Ist aber dem so, sokann auch Entstehung unmöglich Bewegung sein.Denn was entsteht, ist als solches noch ein Nicht-sei-endes. Gesetzt auch, das Entstehen komme ihm nochso sehr nur in akzidentieller Weise zu, so würde den-noch in Wahrheit gelten, daß dem was erst schlecht-hin entsteht, noch das Nichtsein zukommt. Ebensowe-nig gilt vom Nichtsein, daß es ruhe. Dieselbe Schwie-rigkeit ergibt sich auch daraus, daß wenn alles wassich bewegt, im Räume ist, das Nichtseiende nicht imRäume ist; es müßte sonst doch irgendwo sein. Mit-hin ist auch das Vergehen keine Bewegung. Denn denkonträren Gegensatz zur Bewegung bildet eine andereBewegung oder die Ruhe; zum Entstehen aber bildetden Gegensatz das Vergehen.

Jede Bewegung ist eine Veränderung, die Arten derVeränderung aber sind die drei genannten. Unter die-sen nun sind die Veränderungen im Sinne von Entste-hen und von Vergehen keine Bewegungen, und diesesind diejenigen, die zu einander in kontradiktorischemVerhältnis stehen. So bleibt denn notwendig als einzi-ge Art der Bewegung übrig die Veränderung auseinem Gegenstand in einen anderen. Die Gegenständeaber verhalten sich zu einander entweder als konträr

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entgegengesetzte, oder als mittlere zwischen Entge-gengesetztem. Denn auch die Privation darf als kon-trärer Gegensatz gelten und wird in positiver Formbezeichnet: z.B. nackt, zahnlos, schwarz.

Die Kategorien sind unterschieden worden als dieder Substanz, der Qualität, des Ortes, des Tuns undLeidens, der Relation, der Quantität. Demnach erge-ben sich notwendig drei Arten der Bewegung, näm-lich die Bewegung im qualitativen, im quantitativenund im räumlichen Sinne. Eine Bewegung als Bewe-gung der Substanz ist ausgeschlossen, weil es zurSubstanz keinen konträren Gegensatz gibt, und eben-so eine Bewegung als Bewegung der Relation; dennwenn das eine der beiden Glieder der Relation sichverändert, so ist es immer möglich, daß es nicht rich-tig sei, daß das andere Glied sich auch mit verändert.Die Bewegung der beiden Glieder ist mithin eine nurakzidentielle. Es gibt aber auch keine Bewegung des-sen was aktiv und dessen was passiv sich verhält, wasbewegt und was bewegt wird; denn es gibt keine Be-wegung der Bewegung und kein Entstehen der Entste-hung, und überhaupt keine Veränderung der Verände-rung.

Eine Bewegung der Bewegung könnte nur einenzweifachen Sinn haben: entweder als Bewegung einesGegenstandes, wie ein Mensch eine Bewegung erlei-det, indem er sich von der weißen Hautfarbe in die

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schwarze verwandelt; dem analog wäre es, wenn mansagte, die Bewegung werde erwärmt oder abgekühlt,sie wechsle den Ort oder werde größer. So aber darfman nicht sagen; denn die Veränderung hat nicht dieArt eines konkreten Gegenstandes. Oder aber eskönnte unter der Bewegung der Bewegung auch diesverstanden werden, daß ein anderer Gegenstand alsdie Bewegung infolge der Veränderung eine andereForm annähme, etwa wie ein Mensch aus dem Zu-stande der Krankheit in den der Gesundheit übergeht.Aber auch so gefaßt hat Bewegung der Bewegungkeinen rechten Sinn, es sei denn, daß man es in bloßakzidentieller Weise nähme. Denn Bewegung istimmer Veränderung von einem in das andere, und fürEntstehen und Vergehen gilt ganz dasselbe; nur daßjene Bewegungen auf Entgegengesetztes, auf diesesoder jenes Bestimmte hinführen. Entstehen und Ver-gehen aber keine Bewegungen sind. Ein Menschmüßte demnach zugleich aus dem Zustande der Ge-sundheit in den der Krankheit und aus eben dieserVerwandlung in eine andere übergehen. Offenbar alsohätte er, wenn er krank würde, eine Veränderung in ir-gend einen Zustand erfahren, – wenn wir diesen alseinen Stillstand ansehen dürfen, – und überdies jedes-mal nicht in einen beliebigen, und diese Veränderungwürde wieder, wenn es Bewegung der Bewegunggeben soll, mit einer anderen aus einem Zustande in

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einen anderen verbunden sein, also mit der Verände-rung in den jenem Zustand entgegengesetzten Zu-stand, d.h. in die Genesung; aber das bildet danneinen bloß akzidentiellen Vorgang, wie z.B. bei je-mand, der aus dem Zustande der Erinnerung in dendes Vergessens übergeht, weil derjenige, bei dem diesder Fall ist, sich verändert, sei es in bezug auf seinWissen, sei es in bezug auf seine Gesundheit.

Außerdem kämen wir, wenn es eine Veränderungder Veränderung und eine Entstehung der Entstehunggeben soll, zum Fortgang ins Unendliche; muß dochnotwendig auch die frühere Veränderung sich verän-dern, wenn es die spätere tut. Z.B. wenn die Entste-hung, welche Entstehung schlechthin ist, einmal ent-standen ist, so ist auch das Entstehende, was Entste-hendes schlechthin ist, einmal entstanden. Es wärealso doch nicht schlechthin Entstandenes, sondern eswäre ein bestimmtes Entstehendes oder bereits Ent-standenes, und auch dies wäre wieder ein einmal Ent-standenes, und mithin war es noch nicht zu der Zeit,wo es entstand. Da es aber in der unendlichen Reihekein erstes Glied gibt, so würde es wie kein Erstesauch kein darauf Folgendes geben. Mithin würdenichts entstehen, nichts in Bewegung sein, nichts sichverändern können, und es würde ferner die Bewegungeines und desselben Gegenstandes auch die entgegen-gesetzte Bewegung und auch Ruhe sein, Entstehen

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würde auch Vergehen sein, und das was entsteht,würde gerade dann untergehen, wenn es ein Entste-hendes geworden ist. Denn es wäre nicht sogleichbeim Entstehen und auch nicht nachher da; was aberuntergehen soll, muß zuvor ein Dasein haben.

Was entsteht und was sich verändert, muß fernereine Materie zur Grundlage haben. Welche nun wirdes sein? Etwas der Veränderung Zugängliches ist z.B.der Leib oder die Seele; was ist in diesem Sinne das,was zu Bewegung oder Entstehung wird? Und aufwelches Ziel läuft die Bewegung hinaus? Denn dieBewegung muß die Bewegung dieses Gegenstandesvon diesem Punkte aus und zu jenem Punkte hin sein;sie kann nicht Bewegung schlechthin sein. Wie also?Das Lernen kann nicht die Entstehung des Lernensbedeuten, also auch die Entstehung nicht die Entste-hung des Entstehens.

Da nun weder von einer Entstehung der Substanznoch der Relation noch des Tuns und Leidens dieRede sein kann, so bleibt nur übrig, daß die Bewe-gung die Qualität, die Quantität und den Ort betreffe;denn für jedes von diesen gibt es einen konträren Ge-gensatz. Unter der Qualität verstehe ich dabei nichtdie Beschaffenheit der Substanz, – ist doch auch derartbildende Unterschied eine Qualität, – sondern dieFähigkeit eine Einwirkung von außen zu erfahren,eine Fähigkeit, in bezug auf welche man sagt, daß

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etwas eine Bestimmtheit annimmt oder für dieselbeunzugänglich ist.

Das Unbewegliche ist das, was schlechterdings au-ßerstande ist, in Bewegung zu geraten, weiter das,was nur mit Mühe, in langer Zeit oder langsam in Be-wegung gerät, drittens das was zwar von Natur dieArt hat in Bewegung zu sein und auch das Vermögendazu besitzt, was aber zu der Zeit wo, an dem Ortewo, und in der Weise wie es seiner Natur nach sichbewegen sollte, sich tatsächlich nicht bewegt. Dies al-lein nun nenne ich bei dem was sich nicht bewegt, denZustand der Ruhe. Denn Ruhe ist der konträre Gegen-satz von Bewegung und bedeutet also die Privationeines Vermögens, das der Gegenstand besitzt.

Dem Orte nach beisammen ist das, was in einemstreng einheitlichen Räume, und getrennt das, wassich an verschiedenen Orten befindet. Dasjenige be-rührt sich, dessen äußerste Enden in einem Orte zu-sammenfallen. Ein Dazwischenliegendes, ein Mittle-res, ist das, bei dem das was sich verändert, sofern essich seiner Natur gemäß in stetiger Veränderung be-findet, eher anzulangen hat, bevor es beim Letzten an-kommt. Räumlich konträr entgegengesetzt ist daswas in einer geraden Linie die größte Entfernung be-zeichnet. Eine Reihe dagegen bildet solches, was voneinem Anfang an gemessen, nach Lage oder Formoder sonst wie bestimmt und so abgegrenzt ist, daß

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nichts was derselben Gattung und derselben Reihe an-gehörte dazwischen liegt; so reiht sich Linie an Linie,Einheit an Einheit oder ein Haus an ein Haus. Dage-gen hindert nichts, daß zwischen so Zusammenhän-gendem Fremdes liege; denn Glied einer Reihe seinbedeutet ein Folgen auf ein früheres Glied und einSpäterkommen als dieses. Die Eins reiht sich nicht andie Zwei, noch der Neumond an das zweite Viertel.Was in der Reihe so aufeinander folgt, daß es sich be-rührt, heißt angrenzend.

Veränderung, so sahen wir, vollzieht sich zwischenGegensätzen; diese aber können konträr und kontra-diktorisch sein, und beim kontradiktorischen Gegen-satz ist ein Mittleres ausgeschlossen. Mithin kommtoffenbar das Mittlere nur bei konträren Gegensätzenvor.

Kontinuierlich ist was zusammenhängt oder sichberührt. Man nennt etwas kontinuierlich, wenn dieGrenze von zweien, wo sie sich berühren und sich aneinander schließen, völlig zusammenfällt. Offenbaralso hat das Kontinuierliche da seinen Platz, wo sichaus mehreren ihrer Natur nach ein Einiges im Sinneder Berührung bilden kann. Auch das ist augenschein-lich, daß das Ursprüngliche dabei die Anreihung ist.Denn die Angereihten brauchen sich nicht zu berüh-ren; eben das macht den Begriff der Reihe aus. WoKontinuität ist, da ist auch Berührung; aber mit der

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Berührung ist noch nicht Kontinuität gegeben. Beiden Dingen aber, bei denen keine Berührung stattfin-det, ist auch keine völlige Verschmelzung vorhanden.Daher ist der Punkt nicht dasselbe wie die Einheit.Denn Punkte berühren sich, Einheiten hingegen be-rühren sich nicht, sondern bilden eine Reihe. Bei denletzteren gibt es ein Mittleres, und bei jenen nicht.

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IV. Die Frage der unsinnlichen, unbeweglichenSubstanzen

Ueber das, was in den sinnlichen Dingen das ei-gentliche Wesen ausmacht, haben wir zunächst in denAusführungen der Physik über die Materie und späterin denen über die Substanz als aktuell gehandelt. Daes aber die Frage ist, ob es neben den sinnenfälligenDingen noch ein Unbewegtes, Ewiges gibt oder nicht,und wenn es ein solches gibt, welches es ist, so müs-sen wir zunächst das ins Auge fassen, was andere dar-über sagen, damit wir einerseits, wenn was sie sagennicht stichhält, nicht in die gleichen Fehler verfallen,und andererseits, wenn wir ihre Auffassung teilen,nicht uns persönlich einen Vorwurf daraus machen.Denn man darf es sich schon gefallen lassen, wenndas, was man vorzubringen weiß, entweder richtigeroder doch mindestens nicht weniger richtig ist als das,was die anderen sagen.

Über unsere Frage darf man zwei Auffassungen alsdie herrschenden bezeichnen. Manche betrachten alsselbständige Wesen die mathematischen Gegenstän-de wie Zahlen, Linien, und was zu derselben Gattunggehört; andere setzen dafür die Ideen. Dabei fassendie einen diese, die Ideen und die mathematischenZahlen, als zwei verschiedene Gattungen auf, die an-

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deren finden in beiden die gleiche Natur wieder; nochandere nehmen dagegen bloß für die mathematischenGegenstände die Bedeutung von selbständigen WesenIn Anspruch. Wir müssen also zunächst die mathema-tischen Gegenstände In der Weise untersuchen, daßwir sie von jeder fremden Beimischung rein halten, sovon der Frage, ob etwa Ideen wirklich existieren odernicht, ob sie Prinzip und Wesen des Seienden sindoder nicht, und allein die Frage nach den mathemati-schen Gegenständen selber stellen, ob sie sind odernicht sind, und wenn sie sind, was sie eigentlich sind.Und dann, worin dies erledigt ist, wird insbesonderezu handeln sein von den Ideen selbst schlechthin undsoweit als unerläßlich ist, um damit der herkömmli-chen Pflicht ein Genüge zu tun. Denn das meiste dar-über ist viel und oft vorgebracht worden, auch in denErörterungen für ein weiteres Publikum. Und darauf-hin gilt es dann in ausführlicherer Behandlung dieobige Frage zu entscheiden, indem wir untersuchen,ob diese Wesen und die Prinzipien des Seienden Zah-len und Ideen sind. Denn nach der Frage über dieIdeen bleibt diese Frage als die dritte übrig.

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1. Die mathematischen Objekte

Wenn den mathematischen Objekten ein Sein zu-kommt, so müssen sie entweder in den sinnlichen Ge-genständen existieren, wie manche wirklich anneh-men, oder von den sinnlichen Gegenständen abgeson-dert bestehen, eine Auffassung, die gleichfalls ihreVertreter hat, – oder falls keines von beiden zutrifft,so haben sie gar kein Sein, oder sie haben ein Sein inanderem Sinne. Im letzteren Falle würde unsere Erör-terung sich nicht sowohl auf ihr Sein, als vielmehr aufdie Art und Weise ihres Seins zu richten haben.

Daß sie nun unmöglich in den sinnlichen Gegen-ständen existieren können, und daß diese Auffassungeine ganz willkürliche ist, das haben wir schon, wowir die Probleme erörtert haben, auf Grund dessendargelegt, daß zwei Körper nicht einen und denselbenRaum einnehmen können, und daß ferner konsequen-terweise auch die übrigen Kräfte und Gebilde in densinnlichen Gegenständen stecken müßten und keinevon ihnen eine dem Sinnlichen gegenüber abgeson-derte Existenz haben könnte. Soviel also ist schonfrüher ausgemacht worden. Nun kommt aber nochhinzu die offenbare Unmöglichkeit, unter dieser Vor-aussetzung irgend einen Körper in Teile zu zerlegen.Er müßte doch nach Flächen geteilt werden, diese

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aber nach Linien, und diese wieder nach Punkten, sodaß, wenn es unmöglich ist, den Punkt zu teilen, esauch bei der Linie unmöglich ist, und wenn bei dieser,auch beim Übrigen. Was macht es also für einen Un-terschied, ob wir annehmen, jene sinnlichen Dingeseien Wesen von dieser Beschaffenheit, also unteil-bar, oder sie seien es zwar nicht selber, aber Wesenvon dieser Art steckten in ihnen drinnen? Was dabeiherauskommt, ist ganz dasselbe. Denn wenn man diesinnlichen Dinge teilt, werden diese Wesen mitgeteiltwerden, und geht es nicht für diese, so geht es auchfür die sinnlichen Dinge nicht.

Andererseits ist es aber ebenso undenkbar, daß Ge-bilde dieser Art außerhalb der sinnlichen Dinge ab-gesondert für sich bestehen. Wenn es neben den sinn-lichen Dingen Körper geben soll, die von ihnen ge-trennt, von den sinnlichen Körpern verschieden, fürsie ein Prius bedeuten, so müssen offenbar auch eben-so neben den sinnlichen Flächen andere selbständigexistieren, und ganz das gleiche gilt für die Punkteund für die Linien. Denn das Verhältnis ist hier wiedort ganz dasselbe. Gilt es aber für diese, so muß eswieder auch neben den Flächen, den Linien und Punk-ten des mathematischen Körpers andere, gesondertbestehende geben. Denn für das Zusammengesetztebildet das Nichtzusammengesetzte das Prius. Undwenn den sinnlichen Dingen Körper von nicht sinnli-

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cher Art vorausgehen, so müssen nach derselben Ana-logie [sofern allen mathematischen Gebilden selbstän-diges Sein zugeschrieben wird] auch den Flächen anden unbeweglichen Körpern Flächen von derselbenArt als an sich seiende vorausgehen, und diese Flä-chen und Linien würden andere sein, als die an dengesondert bestehenden Körpern; denn jene sind zu-gleich mit den mathematischen Körpern, diese bildenfür die mathematischen Körper das Prius. Es wirdalso auch wieder Linien für diese Flächen geben; fürdiese Linien werden andere Linien und Punkte alsPrius gefordert, immer nach derselben Analogie, undfür die Punkte in den das Prius bildenden Linien alsPrius wieder andere Punkte, und erst für diese gäbe esnicht mehr andere Punkte als Prius. Diese Häufungnimmt sich doch aber höchst absonderlich aus. Es er-geben sich neben den sinnlichen Körpern Körpereiner einzigen Art; neben den sinnlichen Flächen abersolche dreifacher Art; nämlich Flächen erstens nebenden sinnlichen, Flächen zweitens an den mathemati-schen Körpern, und Flächen drittens neben den andiesen vorgestellten Flächen; Linien gäbe es gar vonvierfacher und Punkte von fünffacher Art. Welche vondiesen nun sind es, von denen die mathematischenWissenschaften handeln? Doch wohl nicht die Flä-chen, Linien und Punkte an dem Körper, der ohne Be-wegung ist: denn die Wissenschaft handelt immer von

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dem Gegenstande, der für das andere das Prius bildet.Dieselbe Analogie gilt nun auch für die Zahlen.

Neben jeder Art von Punkten würde es von ihnen ver-schiedene Einheiten geben, und ebenso neben jederArt von sinnlichen Dingen, sodann neben den intelli-gibeln Gegenständen, und so ergäben sich unzähligeArten von mathematischen Zahlen.

Und wie ferner will man die Schwierigkeiten lösen,die wir schon oben bei unserer Erörterung der Pro-bleme berührt haben? Die Gegenstände, mit denensich die Astronomie beschäftigt, müßten ebensoneben den sinnlich wahrnehmbaren existieren, wiediejenigen, mit denen es die Mathematik zu tun hat.Wie aber soll man sich das vorstellen, daß ein Him-mel sei und seine einzelnen Teile oder sonst irgendetwas, was eine Bewegung vollzieht, noch neben demSinnlichen? Das gleiche gilt dann auch mit bezug aufOptik und Akustik. Es müßte Töne und Färben gebenneben den sinnlich wahrnehmbaren und den realeneinzelnen Erscheinungen, und für die anderen Sinneund ihre Gegenstände würde dasselbe gelten. Dennwarum sollte es eher von dem einen Sinn als von denanderen gelten? Ist dem aber so, so wird es, wenn essolche sinnliche Wahrnehmungen gibt, dazu auchnoch lebende Wesen neben den sinnlichen Wesengeben müssen, die sie empfinden.

Aber weiter: die Mathematiker stellen allerlei allge-

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meine Sätze neben jenen Wesenheiten auf; also würdees auch dafür noch eine andere Wesenheit geben müs-sen, die gesondert bestehend, zwischen den Ideen unddem Mittleren wieder ein Mittleres bedeuten würde,und die weder eine Zahl noch ein Punkt, weder Aus-dehnung noch Zeit wäre. Ist nun dies widersinnig, soist offenbar auch die Ansicht widersinnig, daß jeneWesenheiten von den sinnlichen gesondert bestehen.

Überhaupt aber, faßt man die mathematischen Ge-genstände als für sich abgesondert bestehende Gebil-de auf, so gerät man in den direkten Gegensatz zualler Wahrheit und aller Erfahrung. Um dieser ihrerBedeutung willen müßten sie für die sinnlich ausge-dehnten Dinge das Prius abgeben, in Wahrheit aberwürden sie das Posterius sein; denn dies Ausgedehnteohne Realität ist wohl für die Entstehung das Prius,für den wirklichen Bestand aber ist es das Abgeleite-te, etwa wie das Unbelebte es dem Belebten gegen-über ist.

Weiter aber: wodurch denn wohl können die ma-thematischen Objekte eine innere Einheit besitzen?Für die irdischen Dinge leistet es die Seele oder einSeelenvermögen oder sonst ein Wesen mit verständli-cher Wirkung; versagt dies, so ergibt sich eine bloßeVielheit, und das Ding löst sich auf. Was aber soll fürjene Dinge, die teilbar und quantitativ sind, denGrund abgeben, daß sie eine Einheit bilden und zu-

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sammen bleiben?Das gleiche Resultat gibt die Entstehungsweise an

die Hand. Ein Ding bildet sich etwa zuerst in derLängsrichtung, dann nach der Breite und zuletzt in dieTiefe aus, und so erreicht es seine Vollendung. Wennnun das was für die Entstehung das Spätere, für denwirklichen Bestand ein Früheres ist, so ist der Körperfrüher als die Fläche und als die Linie, und er wirddadurch in noch höherem Grade ein Vollendetes undGanzes, daß er zum Beseelten wird. Wie könnte aberje eine Linie oder eine Fläche ein Beseeltes sein?Solch eine Annahme ginge doch über alles was manje erlebt hat hinaus. Zudem ist ein Körper ein selb-ständiges Wesen; denn er besitzt schon einen gewis-sen Grad voller Realität. Wie sollten aber Linienselbständige Wesen sein? Sie könnten es weder alsForm und Gestalt sein, wie etwa die Seele ein solchesist, noch als Materie, wie der Leib. Denn augen-scheinlich ist es undenkbar, daß irgend etwas aus Li-nien, aus Flächen oder aus Punkten bestehen könnte;wären sie aber eine Art materieller Substanz, somüßte dies doch offenbar der Fall sein können.Mögen sie also immerhin begrifflich das Prius sein,so ist doch keineswegs alles, was begrifflich das Priusist, das Prius auch dem realen Bestände nach. Denndem realen Bestände nach ist das Prius das, was alsgesondert Existierendes ein höheres Maß des Seins

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besitzt; dem Begriffe nach dagegen sind es jedesmalda wo ein Begriff aus Begriffen besteht, diese Teilbe-griffe des ganzen Begriffs. Beides aber, Priorität demBegriffe und dem realen Bestande nach, findet sichnicht zusammen. Denn wenn neben den selbständigenWesen die ihnen anhaftenden Bestimmungen, wie die.Bewegtes oder Weißes zu sein, keine eigene Existenzhaben, so ist die Bestimmung weiß wohl begrifflichdas Prius für den Menschen von weißer Farbe, abersie ist es nicht auch dem realen Bestände nach. Denndiese Bestimmung kann nicht gesondert für sich be-stehen, sondern findet sich immer nur zusammen mitdem konkreten Gegenstande, und unter diesem Kon-kreten verstehe ich den Menschen von weißer Farbe.Augenscheinlich ist also weder das Abstrakte dasPrius, noch das mit der Bestimmung Verbundene dasAbgeleitete. Vielmehr deshalb, weil die Bestimmungweiß hinzutritt, wird der Mensch ein Mensch vonweißer Farbe genannt.

Damit mag denn als hinlänglich erwiesen gelten,daß die mathematischen Objekte weder selbständigeWesen in höherem Sinne als die Körper sind, nochdem Sein nach für die sinnlichen Dinge das Prius bil-den, sondern nur dem Begriffe nach, und daß es auchausgeschlossen ist, daß sie räumlich gesondert fürsich beständen. Da es sich nun als ebenso unmöglicherwiesen hat, daß sie in den sinnlichen Dingen exi-

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stieren könnten, so ergibt sich augenscheinlich, daßihnen entweder gar kein Sein zukommt, oder doch einSein nur in bestimmtem Sinne, und daß dieses ihrSein nicht ein Sein schlechthin ist. Denn von Seinspricht man in vielfacher Bedeutung.

Wie nämlich auch die allgemeinen Sätze in derMathematik nicht von gesondert Existierendem gel-ten, was noch neben den Raumgrößen und den Zahlenbestände, sondern zwar wohl von diesen, aber nichtals von solchen, die Ausdehnung haben oder in Teilezerlegbar sind: so kann es offenbar auch Gedankenzu-sammenhänge und Beweisgänge geben, die die sinn-lich wahrnehmbaren Größen betreffen, aber nicht, so-fern sie sinnlich wahrnehmbar, sondern sofern sie die-ses Bestimmte, nämlich Größen, sind. Und wie esviele Gedankengänge gibt, die die Gegenstände nurals bewegte betreffen, unter Absehen von dem wasjeder dieser Gegenstände und was seine Beschaffen-heiten außerdem noch ihrem Wesen nach sind, undwie es keineswegs notwendig ist, daß deshalb nunauch was bewegt ist ein von den sinnlichen DingenAbgesondertes oder ein in ihnen als bestimmt abge-grenztes Gebilde Vorhandenes sei: so wird es auchGedankengänge und Erkenntnisse geben, die das sichBewegende betreffen, aber nicht als sich Bewegendes,sondern bloß als Körper, und wiederum bloß als Flä-chen und bloß als Linien, als in Teile zerlegbar oder

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4541 461Aristoteles: Metaphysik

zwar nicht zerlegbar, aber doch eine Lage innehal-tend, oder bloß als nicht zerlegbar. Mithin, da manmit vollem Rechte sagen darf, daß Existenz nichtohne weiteres nur dem gesondert Existierenden zu-kommt, sondern auch dem nicht gesondert Existieren-den, z.B. dem sich Bewegenden, so darf man auch derWahrheit gemäß den mathematischen Objekten ohneweiteres ein Sein zuschreiben, und zwar ihnen als sol-chen, gerade wie man sie sonst auffaßt. Und wie manmit vollem Rechte auch von den anderen Wissen-schaften aussagen darf, daß ihr Gegenstand durch denGesichtspunkt, unter dem er betrachtet wird, undnicht durch eine ihm anhaftende Bestimmung festge-legt wird, – wie also z.B. die Wissenschaft vom Ge-sunden nicht zur Wissenschaft vom Weißen wird,wenn das Gesunde von weißer Farbe ist, sondernWissenschaft ist von dem, als was der Gegenstand je-desmal betrachtet wird, Wissenschaft vom Gesunden,wenn Gesundheit den Gesichtspunkt bildet, Wissen-schaft vom Menschen, wenn der Gegenstand alsMensch aufgefaßt wird: gerade so also ist es auch mitder Geometrie. Wenn der Gegenstand, mit dem sichdie mathematischen Wissenschaften beschäftigen, dieEigenart hat, sinnlich wahrnehmbar zu sein, die Wis-senschaft ihn aber nicht als sinnlich wahrnehmbar be-trachtet, so ist der Gegenstand der mathematischenWissenschaften eben nicht das sinnlich Wahrnehm-

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4542 462Aristoteles: Metaphysik

bare, aber freilich auch nicht irgend ein anderes, wasin gesonderter Existenz daneben bestände. Den Din-gen kommen mancherlei Eigenschaften zu an und fürsich und durch ihre bloße Existenz als das was siesind; das Tier wird betrachtet, das eine als weiblich,das andere als männlich, und das sind charakteristi-sche Bestimmungen an ihnen; dennoch gibt nicht einWeibliches oder Männliches als von den lebendenWesen getrennt für sich Existierendes. So nun werdendie Dinge auch bloß unter dem Gesichtspunkte als Li-nien und als Flächen betrachtet, und je mehr solcherGesichtspunkt den Charakter des begrifflichen Priusund der Einfachheit trägt, um so strenger wissen-schaftlich wird die Untersuchung sein. Das Genannteaber ist das Einfache, und darum ist es in höheremGrade vorhanden, wo man von der räumlichen Aus-dehnung absieht, als da wo man sie in Betracht zieht,und im höchsten Grade da, wo man von der Bewe-gung absieht. Handelt man aber von der Bewegung,dann ist die Betrachtung derjenigen Bewegung diestrengste, die am meisten ursprünglich ist. Sie ist dieeinfachste, und innerhalb ihrer ist es die gleichmäßigeBewegung. Das Gleiche gilt für Optik und Akustik.Keine von beiden untersucht den Gegenstand soferner sichtbar und hörbar ist, sondern sofern er in Linienund Zahlen darstellbar ist; und doch sind jene die denGegenständen eigentümlich zukommenden Bestim-

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4543 463Aristoteles: Metaphysik

mungen. Und mit der Mechanik verhält es sich ganzebenso.

Wenn deshalb einer Erscheinungen an einem Ob-jekt herausgreift, sie von den sonstigen dem Objektzukommenden Bestimmungen isoliert und als solchezum Gegenstande seiner Untersuchung macht, so wirder damit keineswegs etwas Irreführendes und Unwah-res beginnen, ebensowenig wie wenn er eine Figur aufden Boden zeichnet und eine Linie der Figur, die dochnicht einen Fuß lang ist, als einen Fuß lang annimmt.Denn die Unrichtigkeit liegt niemals in der Annahme,die man macht. Vielmehr es gilt von jedem Gegen-stande, daß er in der Weise am zweckmäßigsten un-tersucht wird, daß man tatsächlich nicht Getrenntesals getrennt annimmt. Und so in der Tat verfährt derArithmetiker und der Geometer. Der Mensch alsMensch ist ein Einiges, ein Individuum. Jener nunnimmt ihn als solche Eins, als Individuum, und siehtdann zu, was etwa dem Menschen für Bestimmungenauf Grund dieser Unteilbarkeit zufallen. Der Geome-ter dagegen betrachtet ihn nicht als Menschen, nochals unteilbare Einheit, sondern als Raumgestalt. Dennoffenbar muß das, was ihm an Bestimmungen zukom-men würde, auch wenn er nicht ein unteilbares Wesenwäre, nämlich der räumliche Kubikinhalt, ihm auchdann zukommen können, wenn man von seiner Un-teilbarkeit absieht. Und deshalb haben die Geometer

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4544 464Aristoteles: Metaphysik

ganz recht, und ihre Aussagen gelten auch vom Wirk-lichen und enthalten selber Wirkliches. Denn das Sei-ende ist gedoppelt; teils ist es aktuell wie die Form,teils potentiell wie die Materie.

Wenn aber weiter das Zweckmäßige und Schönezweierlei sind, – denn jenes erscheint immer nur in tä-tiger Bewegung, das Schöne dagegen auch an dem,was sich nicht bewegt, – so ist man auch darin im Irr-tum, wenn man behauptet, die mathematischen Wis-senschaften sagten nichts aus über das was schönoder zweckmäßig ist. Vielmehr, sie sprechen wohldarüber, ja, sie zeigen es mit Vorliebe auf. Denn daßsie die Ausdrücke nicht gebrauchen, während sie dieWirksamkeit und die vernünftigen Zusammenhängeaufzeigen, das bedeutet doch nicht, daß sie nichtdavon sprächen. Die wichtigsten Kennzeichen desSchönen sind Ordnung, Gleichmaß und sichere Be-grenzung, und dies gerade zeigen die mathematischenWissenschaften vor anderen auf. Und da diese Eigen-schaften, ich meine z.B. Ordnung und sichere Begren-zung, die Gründe für viele weitere Erscheinungen dar-stellen, so behandeln die mathematischen Wissen-schaften offenbar auch diesen so gearteten Grund, derin gewisser Weise ebensogut Grund ist wie das Schö-ne selbst es ist. Eingehender werden wir darüber ananderer Stelle zu sprechen haben.

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4545 465Aristoteles: Metaphysik

2. Die Ideen

Das Gesagte mag ausreichen, was die mathemati-schen Objekte betrifft, zu zeigen, daß diesen und inwelchem Sinne ihnen ein Sein zukommt, wiefern sieferner den Dingen gegenüber ein Prius bilden undwiefern nicht. Wir wenden uns jetzt zu der Lehre vonden Ideen, und da müssen wir zunächst die Ideenlehreselbst betrachten, indem wir dabei die Deutung aufdie Verwandtschaft mit den Zahlen ganz außer Äugenlassen. Es gilt die Ideen so zu nehmen, wie diejeni-gen, die zuerst die Existenz derselben behauptethaben, sie von Anfang an aufgefaßt wissen wollten.

Die Ideenlehre ergab sich ihren Urhebern, indemsie sich, was die Wahrheitserkenntnis anbetrifft,durch die Ausführungen Heraklits davon überzeugenließen, daß alles Sinnliche in beständigem Flusse sei,und daß es mithin, wenn es eine Erkenntnis und einWissen überhaupt geben soll, neben den sinnlichenGegenständen noch andere Wesen geben müsse, wel-che bleiben. Denn von dem was sich in stetem Flussebefindet, gebe es keine Erkenntnis. Sokrates, der seinNachdenken auf das im Sinne der sittlichen Willens-betätigung Rechte und Löbliche richtete, und der erstewar, der darüber feste allgemeine Bestimmungen zuermitteln suchte, – denn unter den Naturphilosophen

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4546 466Aristoteles: Metaphysik

hat Demokrit diese Fragen nur eben gestreift, und woer begriffliche Bestimmungen gab, da handelte es sichetwa um solches wie das Warme und das Kalte; diePythagoreer aber hatten allerdings schon vorher voneinigen wenigen dahin gehörenden Gegenständen ge-handelt und ihre Auffassungen darüber an die Zahlengeknüpft, z.B. was der rechte Augenblick oder dasGerechte oder die Ehe sei; – also Sokrates erst suchteauf dem Wege strenger Erörterung den Begriff derSache. Denn was er anstrebte war ein Schlußverfah-ren, das Prinzip des Schluß-Verfahrens aber ist derBegriff. Damals war man in der dialektischen Fertig-keit eben noch nicht so weit gelangt, daß man ver-mocht hätte auch ohne feste Begriffsbestimmung dasPro und Kontra zu erörtern und ob es eine und diesel-be Wissenschaft ist, die beide Glieder eines Gegen-satzes zu behandeln habe. Zweierlei vornehmlich istes, was man mit Recht dem Sokrates als sein Ver-dienst anrechnen darf: das induktive Verfahren unddie begriffliche Bestimmung des Allgemeinen: beidesDinge, die die Grundlegung aller Wissenschaft betref-fen. Aber Sokrates faßte das Allgemeine noch nichtals gesonderte Existenz auf und ebensowenig die be-grifflichen Bestimmungen. Erst die Urheber der Ide-enlehre nahmen diese Verselbständigung des Allge-meinen dem Sinnlichen gegenüber vor und nanntendann diese Art von subsistierenden Wesen Ideen.

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4547 467Aristoteles: Metaphysik

Damit ergab sich für sie die Folgerung, daß es unterdemselben Gesichtspunkte Ideen gab so ziemlich vonallem was als Allgemeines gedacht wird, und es warnahezu so, wie wenn jemand, der Gegenstände zuzählen unternimmt es nicht glaubt leisten zu können,so lange noch ihre Anzahl eine geringere wäre, unddarum erst die Anzahl vermehrt, um sie nachher bes-ser zählen zu können. Denn die Ideen machen eigent-lich eine größere Anzahl aus als die einzelnen sinnli-chen Dinge, die bei der Frage nach ihren Gründen denAnlaß gaben, von ihnen ausgehend bei den Ideen an-zulangen. Gibt es doch für alles Einzelne eine demsel-ben gleichnamige Idee, und nicht bloß neben denselbständigen Wesen, sondern auch für das übrige,soweit es irgend in einer Vielheit einen einheitlichenBegriff gibt, und das ebensowohl im Gebiete der sinn-lichen, wie in dem der ewigen Dinge.

Zweitens aber findet sich unter den Gründen, mitdenen man die Existenz der Ideen erweist, kein einzi-ger, der wirklich einleuchtend wäre. Und zwar giltdies von den einen, weil sie nicht das Material zueinem stringenten Schluß bieten; von den anderen,weil sich nach ihnen Ideen auch für solche Dinge er-geben würden, wofür man doch gar keine Ideen an-nimmt. Geht man nämlich von der Tatsache der wis-senschaftlichen Erkenntnis aus, so müßte es Ideengeben für alles, was Gegenstand der Erkenntnis ist.

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4548 468Aristoteles: Metaphysik

Geht man aus vom Begriff als der Einheit in der Viel-heit, so würde es Ideen geben auch vom Negativen;und geht man davon aus, daß doch auch vom Vergan-genen eine Vorstellung bleibt, so gibt es auch Ideendes Vergänglichen; denn wir behalten davon einebleibende Vorstellung. Weiter aber, ein konsequentesDenken ergibt die Annahme von Ideen auch für dasRelative, das man doch nicht als eine selbständigeGattung anerkennt, und andererseits läuft die Sacheauf den dritten »Menschen« hinaus.

Überhaupt aber, die Ideenlehre hebt gerade das auf,dem die Anhänger dieser Lehre ein höheres Sein zu-schreiben als den Ideen selber. Denn die Folge ist,daß nicht die Zweiheit das Ursprüngliche ist, sonderndie Zahl, daß das Relative früher ist als die selbstän-dige Existenz, und so vieles anderes, womit manche,die der Ideenlehre Gefolge geleistet haben, zu ihreneigenen Prinzipien sich in offenen Widerspruch ge-setzt haben.

Der Gedankengang sodann, der zu der Annahmevon Ideen führt, ergibt weiter die Folgerung, daß esIdeen geben müßte nicht bloß von selbständigen Din-gen, sondern auch von vielem anderen. Denn der Be-griff faßt nicht bloß selbständig Existierendes in eineEinheit zusammen, sondern auch solches, was nichtselbständig existiert, und eine Erkenntnis gibt es nichtbloß von selbständigen Wesen. Und so könnten wir

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4549 469Aristoteles: Metaphysik

mit Einwürfen von gleicher Art ins Unendliche fort-fahren.

Halten wir uns an die sachliche Notwendigkeit undan den Charakter der ganzen Lehre, so dürfte es, wenndoch von einer »Teilnahme« an den Ideen die Redesein soll, notwendigerweise Ideen nur von selbständi-gen Wesen geben. Denn solches Teilnehmen findetnicht etwa statt in dem Sinne, daß eines Prädikat amandern wäre, sondern allein in dem Sinne, daß dasDing nicht von einem anderen, das sein Substratwäre, ausgesagt wird. Ich meine das so: wenn z.B.etwas an der Idee der Doppelbett teilhat, so hat esauch teil an einem Ewigen, aber doch nur in akziden-tieller Weise; denn die Doppeltheit hat es an sich, einEwiges zu sein. Die Ideen müssen also den Charakterder selbständigen Wesenheiten haben. Diesen Cha-rakter der selbständigen Wesenheit verleiht aber inder idealen Welt eben dasselbe wie in der realenWelt. Oder was soll es heißen, wenn man sagt, es exi-stiere neben den Dingen noch etwas, nämlich das Eineim Vielen? Entweder die Ideen und das was an ihnenteilhat sind der Form nach identisch: dann werden sieetwas Gemeinsames haben. Denn wie sollte es kom-men, daß wohl in den sinnlichen Zweiheiten und denmathematischen Zweiheiten, die zwar viele, aber zu-gleich ewig sind, der Begriff der Zweiheit beidemaleiner und derselbe ist, aber nicht in der Idee der Zwei-

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heit und irgend einem einzelnen Falle der Zweiheit?Oder aber sie sind der Form nach nicht identisch:dann würde bloß die Wortbezeichnung die gleichesein, und es wäre gerade so, wie wenn jemand denKallias und ein Stück Holz beide Mensch nennenwollte, ohne irgend etwas Gemeinsames an beiden imAuge zu haben.

Wenn wir aber annehmen, daß zwar in den anderenBeziehungen die allgemeinen Begriffe mit den Ideenübereinstimmen, – z.B. auf die Idee des Kreises passeebenso der Begriff Figur, Fläche und die anderen imBegriffe enthaltenen Merkmale, – daß aber noch wei-ter hinzuzufügen ist, was das ist, dessen Idee sie ist:so muß man wohl erwägen, ob dies nicht eine völligleere Bestimmung bedeutet. Denn was ist das, wozujene Bestimmung hinzugefügt werden soll? Ist es derMittelpunkt oder die Fläche oder alles zusammen?Denn alles was in dem Begriff vereinigt ist, sindIdeen, z.B. lebendig und zweifüßig. Dabei müßte of-fenbar jene Bestimmung selber wieder ein eigenesGebilde sein, wie die Fläche ein Gebilde ist, das alsGattung in allen darunter begriffenen Arten enthaltensein muß.

Die größte Schwierigkeit aber erhebt sich bei derFrage, was denn nun die Annahme von Ideen zur Er-klärung der sinnlichen Erscheinungen, sei es der ewi-gen unter denselben, sei es derjenigen, die entstehen

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und vergehen, zu leisten vermag. Haben doch dieIdeen weder für die Bewegung noch für die Verände-rung der Dinge irgendwie die Bedeutung des Grundes.Aber auch für die Erkenntnis der Gegenstände bietensie keinerlei Hilfe; denn ihr Wesen machen sie nichtaus, sonst würden sie in ihnen sein; und zu ihrer Exi-stenz tragen sie nichts bei, da sie ja dem nicht ein-wohnen, was an ihnen teil hat. Man könnte etwa an-nehmen, sie dürften in der Weise als Grund gelten,wie das dem Körper beigemischte Weiß den Grundfür seine weiße Farbe abgibt. Aber auch diese Auffas-sung, die zuerst Anaxagoras und nach ihm Eudoxos,dieser nicht ohne Bedenken, und mehrere andere vor-getragen haben, ist doch allzuwenig haltbar, und esläßt sich leicht vielerlei gegen diese Ansicht auftrei-ben, was sie als unmöglich erweist. Vielmehr aus denIdeen läßt sich das andere in keiner der Weisen ablei-ten, in denen man sonst das eine aus dem anderen ab-zuleiten gewohnt ist. Wenn es aber heißt, sie seienUrbilder, und das andere habe an ihnen teil, so ist daseine bloße Redensart und poetische Metapher. Dennwelches ist das hervorbringende Subjekt, das dabei anden Ideen sich ein Muster nähme? Ähnlich einem an-deren aber kann möglicherweise jedes Beliebige seinund als ihm Ähnliches entstehen, ohne ihm geradenachgebildet zu werden; ob Sokrates existiert odernicht existiert, es kann ganz wohl etwas dem Sokrates

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Ähnliches entstehen, und offenbar auch dann, wennSokrates ein Ewiges wäre. Es müßte ferner danach fürdenselben Gegenstand eine Vielheit von Urbildernund also auch von Ideen geben, so für den Menschendie Idee des lebenden Wesens und des Wesens mitzwei Beinen und zugleich die des Menschen. Es müß-ten die Ideen ferner Urbilder nicht bloß für die sinnli-chen Dinge, sondern auch für die Ideen selbst sein, sodie Gattung für die Arten der Gattung, und es wäremithin eines und dasselbe Urbild und Abbild zu-gleich. Außerdem darf man es wohl als widersinnigerklären, daß das Wesen getrennt existieren soll vondem, dessen Wesen es ist. Oder was soll es heißen,daß die Ideen, die doch das Wesen der Dinge bildensollen, von diesen gesondert für sich bestehen? Im»Phaedon« freilich wird die Sache so dargestellt, alsseien die Ideen Grund des Seins und des Entstehens,aber gesetzt auch, die Ideen existieren, so ergibt sichdaraus immer noch kein Entstehen, wenn nicht auchein solches existiert, was die Bewegung bewirkt, undandererseits entsteht vielerlei anderes, wie ein Hausund ein Ring, wovon es doch nach jenen DenkernIdeen gar nicht geben soll. Offenbar also bleibt dieMöglichkeit, daß auch das, wovon es nach ihnenIdeen gibt, durch eben dieselben Ursachen sei undentstehe, durch die die eben genannten Gegenständeentstehen, und nicht durch die Ideen. Indessen über

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die Ideenlehre ließe sich in dieser Weise und durchÜberlegungen von noch eingehenderer und strengererArt mancherlei zusammentragen immer mit dem glei-chen Ergebnis wie bei den hier vorgetragenen Erwä-gungen.

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3. Idealzahlen

Nachdem wir über diese Fragen zu einer Entschei-dung gelangt sind, wird es am Platze sein, wieder dar-auf einzugehen, was für Folgerungen sich denen erge-ben, die die Zahlen für gesondert bestehende selb-ständige Wesenheiten und für die obersten Ursachender realen Gegenstände erklären. Wenn die Zahl einselbständiges Gebilde und ihr Wesen kein anderes istals eben dieser ihr Begriff, wie manche behaupten, sosind folgende Fälle möglich. Entweder es muß an derZahl ein Ursprüngliches und ein sich daran Anschlie-ßendes geben, jedes der Art nach vom anderen ver-schieden, und zwar wäre dies dann entweder gleichbei den Einsen der Fall, so daß jede beliebige Einheitmit jeder beliebigen anderen Einheit unvereinbarwäre; oder es bildeten sogleich von vornherein alleeine Reihe und wären jede beliebige mit jeder beliebi-gen vereinbar, wie es für die Zahl im Sinne der Ma-thematik gilt; – denn in dem Gebiete der Mathematikgibt es zwischen einer Einheit und einer anderen kei-nen Unterschied; – oder es gäbe solche Einheiten, dieunter einander eine Vereinigung eingehen, und ande-re, die eine solche nicht eingehen; so wenn nach derEins die Urzwei, sodann die Urdrei und in gleicherWeise die Reihe der übrigen Zahlen folgt, und die

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Einheiten in jeder Zahl z.B. die in der Urzwei enthal-tenen unter einander und ebenso die in der Urdrei ent-haltenen unter einander und ebenso weiter in den an-deren Zahlen zusammensetzbar sind, dagegen die inder Urzwei enthaltenen mit den in der Urdrei enthalte-nen nicht zusammengesetzt werden können und eben-sowenig die in den anderen Zahlen enthaltenen wie sieauf einander folgen. In der Mathematik zählt mandoch so, daß auf die Eins die Zwei folgt, indem zu derfrüheren Eins eine andere Eins hinzukommt, und danndie Drei, indem zu diesen beiden noch eine weitereEins kommt, und die übrigen Zahlen ebenso. Aufdiese andere Weise dagegen würde nach der Eins einedavon verschiedene Zwei folgen, ohne daß die ersteEins dabei wäre, und ebenso eine Drei, ohne daß dieZwei darin vorkäme, und ebenso die weitere Zahlen-reihe hindurch. Oder, und das ist die zweite Möglich-keit, es könnten die Zahlen teils die Beschaffenheithaben, wie sie an erster Stelle bezeichnet worden ist,teils die andere Beschaffenheit, wie sie von den Zah-len der Mathematiker gilt; teils könnten sie drittensdie zuletzt bezeichnete Beschaffenheit an sich tragen.

Es könnten aber weiter eben diese Zahlen entwedervon den Dingen gesondert bestehen, oder sie könntennicht als gesonderte, sondern als in den sinnlichenDingen enthaltene bestehen, aber nicht in der Weise,wie wir es an früherer Stelle bezeichnet haben, son-

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dern in der Weise, daß das Sinnliche aus den ihm alsBestandteile innewohnenden Zahlen bestände; oder eskönnten endlich die Zahlen teils gesondert für sich be-stehen, teils nicht, oder alle gesondert oder nicht ge-sondert.

Mit dem, was wir so aufgezählt haben, sind dieMöglichkeiten für Bestand und Wesen der Zahlennotwendig erschöpft, in der Tat haben denn auch die-jenigen, die das Eine als das Prinzip, als Wesen undGrundelement von allem bezeichnen, und aus ihm undeinem zweiten Element die Zahl bestehen lassen, jedereine von diesen Beschaffenheiten der Zahl angenom-men; nur die Annahme, daß alle Einheiten die Zusam-mensetzbarkeit ausschlössen, hat keinen Vertreter ge-funden. Und das ist auch nicht ohne verständlichenGrund; denn außer den aufgezählten ist eine weitereKonstitution der Zahl nicht denkbar. Die einen alsobehaupten, es gebe beide Arten von Zahlen, Zahlen,in denen es ein Vor und Nach gibt, als Ideen, und diemathematische Zahl, die neben den Ideen und demSinnlichen bestehe, beide Arten aber von den sinnli-chen Dingen gesondert, andere dagegen behaupten,die mathematische Zahl sei die einzige; sie sei das Ur-sprüngliche unter dem was ist und von den sinnlichenDingen gesondert, auch die Pythagoreer kennen nurdie eine Art, die mathematische Zahl; nur halten siesie nicht für gesondert, sondern lassen die sinnlichen

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Wesenheiten aus ihnen bestehen. Sie bauen das ganzeWeltall aus Zahlen auf, allerdings nicht aus Zahlenvon streng unbenannter Art, sondern sie nehmen an,daß die Einheiten eine Ausdehnung besitzen, aber wiedas ursprüngliche Eins, das eine Ausdehnung hat, zu-stande gekommen ist, darüber, scheint es, wissen siekeine Auskunft zu geben. Ein anderer kennt nur eineArt von Zahlen, die ursprüngliche Zahl als Idealzahl,während wieder andere meinen, die mathematischeZahl sei eben diese Idealzahl. Ebenso gehen nun auchdie Ansichten auseinander über die Linien, die Flä-chen und die Körper. Die einen halten die mathemati-schen Objekte für verschieden von denen, die nachden Ideen gebildet sind. Unter denen aber, die anderenAnsichten folgen, lassen die einen nur die mathemati-schen Objekte gelten und sprechen darüber im Sinneder Mathematik; sie machen die Ideen nicht zu Zahlenund bestreiten die Existenz der Ideen. Die anderennehmen wohl die mathematischen Objekte an, abernicht im Sinne der Mathematik; denn nicht jede aus-gedehnte Größe lasse sich in ausgedehnte Größen zer-legen, und nicht jede beliebige Art von Einheitenbilde eine Zweiheit. Als Einheiten aber fassen dieZahlen alle diejenigen, welche die Eins für das Grun-delement und Prinzip dessen was ist erklären, ausge-nommen die Pythagoreer, welche den Einheiten, wieerwähnt, eine Ausdehnung zuschreiben.

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Damit wird klar geworden sein, wie vielerlei An-nahmen über die Zahlen möglicherweise aufgestelltwerden können, und daß alle diese Auffassungswei-sen wirklich ans Licht getreten sind. Unhaltbar frei-lich sind sie alle mit einander; vielleicht aber ist es dieeine doch in noch höherem Grade als die anderen.

Zunächst nun müssen wir die Frage erörtern, ob dieEinheiten eine Zusammensetzung gestatten oder nicht,und wenn sie sie nicht gestatten, in welcher der vonuns unterschiedenen Weisen es der Fall ist. Denn eswäre denkbar in der Weise, daß jede beliebige Einheitmit jeder beliebigen unvereinbar ist; es ist aber auchin der Weise möglich, daß diejenigen, die in der Urz-wei enthalten sind, mit den in der Urdrei enthaltenen,und so überhaupt diejenigen Einheiten, die in jederder Urzahlen enthalten sind, mit den in einer anderenUrzahl enthaltenen keine Zusammensetzung eingehen.

Angenommen nun, alle Einheiten seien der Verbin-dung fähig und von einander nicht verschieden, so er-gibt sich die mathematische Zahl, und zwar sie als dieeinzige; dann aber ist es unmöglich, die Ideen alsZahlen zu fassen. Denn was für eine Art von Zahlkönnte die Idee Mensch oder Tier oder sonst irgendeine Idee abgeben? Die Idee ist doch jedesmal nureine für jede Art von Wesen; so ist sie eine für denUrmenschen, und eine, aber eine andere, für das Ur-tier; bei den Zahlen dagegen gibt es der gleichen und

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ununterschiedenen unzählig viele, und es hätte mithindiese Dreiheit keinen größeren Anspruch den Urmen-schen zu bedeuten, als irgend eine andere Dreiheit.Sind aber die Ideen keine Zahlen, so wird ihre Exi-stenz überhaupt unmöglich. Denn welches sollten diePrinzipien sein, aus denen sie entspringen könnten?Die Zahl entspringt aus der Einheit und der unbe-stimmten Zweiheit; diese werden als die Prinzipienund Grundelemente der Zahl angesprochen. Die Ideenaber den Zahlen gegenüber als das Prius zu setzen, istebenso unmöglich, wie sie als das Posterius zu be-zeichnen.

Wir kommen zur zweiten Annahme. Gesetzt also,die Einheiten entziehen sich der Zusammensetzung,und zwar auf die Weise, daß jede beliebige Zahl sichjeder beliebigen entzieht, so kann eine Zahl von dieserArt weder die mathematische sein, – denn die mathe-matische Zahl besteht aus ununterschiedenen Einhei-ten, und was von ihr bewiesen wird stimmt nur dann,wenn sie von dieser Art ist, – noch kann sie die Ideal-zahl sein. Denn die Urzwei könnte dann nicht aus derEinheit und der unbestimmten Zweiheit, und dannweiterhin die Zahlenreihe, wie man sie benennt: Zwei,Drei, Vier, sich ergeben. Denn die in der Urzwei ent-haltenen Einheiten werden zugleich hervorgebracht,sei es wie der Urheber der Lehre sagte, aus Unglei-chem, – denn sie sollen entstanden sein durch Gleich-

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machung des Ungleichen, – sei es auf andere Weise.Sodann, wenn die eine Einheit das Prius für die ande-re bilden soll, so muß sie auch das Prius bilden fürdie aus beiden gewordene Zweiheit. Denn wenn vonzweien das eine das Prius, das andere das Posteriusbedeutet, so wird auch das Produkt aus ihnen dasPrius des einen und das Posterius des anderen bedeu-ten. Ferner aber ergäbe sich folgendes: wir hätten dieUr-Eins als das Ursprüngliche, und zweitens unterdem anderen noch eine Ur-Eins, die aber nach jenendie zweite wäre, und wiederum als dritte die zweitenach der zweiten, die aber ein drittes wäre von der Ur-Eins an gerechnet: es würden also die Einheiten dasPrius sein gegenüber den Zahlen, aus denen sie gebil-det werden; es würde z.B. in der Zweiheit eine dritteEinheit stecken, bevor es noch eine Dreiheit gibt, undin der Dreiheit die vierte und ebenso die fünfte Ein-heit, bevor es noch zu diesen Zahlen gekommen wäre.

Nun hat ja freilich keiner von den Denkern dieserRichtung sich dahin ausgesprochen, daß die Einheitensich überhaupt nicht mit einander verbinden ließen;dennoch liegt es als Folgerung aus den von ihnen ver-tretenen Prinzipien auch so durchaus nahe, währendes allerdings in Wahrheit völlig ausgeschlossen ist.Daß es neben den Einheiten vorhergehende und nach-folgende gibt. Ist einleuchtend, vorausgesetzt, daß eseine ursprüngliche Einheit und ein ursprüngliches

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Eins gibt, und das Gleiche gilt auch für die Zweihei-ten, vorausgesetzt, daß es auch eine Urzwei gibt.Denn daß es nach dem Ersten ein Zweites gibt, isteine einleuchtende Notwendigkeit, und wenn einZweites, dann auch ein Drittes, und so weiter dieReihe hindurch. Aber ganz unmöglich ist es, daßeiner beides zugleich sage, nämlich daß es nach derEins eine ursprüngliche und eine zweite Einheit gebe,und dann noch eine ursprüngliche Zweiheit. JeneLeute dagegen nehmen eine erste Einheit und ein er-stes Eines an, aber dann nicht mehr ein zweites unddrittes, und eine erste Zweiheit, aber dann nicht mehreine zweite und dritte.

Nun ist aber weiter auch dies ausgemacht, daß es,wenn alle Zahlen unfähig sind, eine Verbindung untereinander einzugehen, unmöglich eine Ur-Zweiheit undUr-Dreiheit und ebenso die anderen Zahlen gebenkann. Denn ob nun die Einheiten ohne Unterschiedsind, oder jede von jeder anderen sich unterscheidet,immer muß die Zahl durch Hinzufügung des einenzum anderen zustande kommen, wie die Zweiheit da-durch entsteht, daß zu der Eins eine andere Eins, dieDreiheit dadurch, daß zu den beiden noch eine weitereEins hinzugefügt wird, und ebenso die Vierzahl. Istdem aber so, so kann der Ursprung der Zahlen un-möglich der sein, wie jene Denker ihn sich vorstellen,nämlich aus der Zweizahl und der Eins. Denn die

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Zweizahl wird ja so zu einem Teil der Dreizahl, unddiese zu einem Teil der Vierzahl; und das Gleiche giltdann auch weiter für die nachfolgenden Glieder. Da-gegen soll nach ihnen die Vierzahl aus der ursprüngli-chen Zweiheit und der unbestimmten Zweiheit ent-standen sein, zwei Zweiheiten neben der Ur-zweiheit.Wäre dem nicht so, so müßte diese Zweiheit ein Teilder Urvier sein, und so würde sich eine einzige Zwei-heit dazu einfinden; die Zweiheit bestände also dannauch aus der Ur-Eins und einer weiteren Eins. Ist demaber so, so folgte die Unmöglichkeit, daß das eineElement die unbestimmte Zweiheit sei. Denn sie er-zeugt bloß eine Einheit, aber nicht eine bestimmteZweiheit. Und weiter: wie soll es neben der Urzweiund der Urdrei noch andere Zweiheiten und Dreihei-ten geben? Und in welcher Weise setzen sie sich ausvorgehenden und nachfolgenden Einheiten zusam-men? Alles derartige ist ein bloßes Hirngespinst; esist ganz unmöglich, daß eine ursprüngliche Zweiheitund sodann eine Urdrei existiere. Und doch müßte esso sein, wenn die Eins und die unbestimmte Zweiheitfür die Elemente ausgegeben werden. Sind aber dieKonsequenzen widersinnig, so sind auch die Prinzipi-en widersinnig, aus denen sie abgeleitet werden.

Aus der Voraussetzung, daß die Einheiten alle, jedebeliebige von jeder beliebigen, verschieden wären, er-geben sich mithin mit Notwendigkeit die bezeichneten

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Folgen, und andere von gleicher Art. Aber auch beider anderen Annahme, daß die Einheiten in verschie-denen Zahlen verschieden, und nur die Einheiten ineiner und derselben Zahl unter einander nicht ver-schieden wären, stößt man wieder auf Schwierigkeitenvon nicht geringerer Art. In der Urzehn z.B. sind zehnEinheiten enthalten; nun ist aber die Zehnzahl ebenso-wohl aus diesen zusammengesetzt wie aus zwei Fün-fen. Solche Zehnzahl aber ist nicht jede beliebigeZahl, und es sind nicht beliebige Fünfer, wie auchnicht beliebige Einheiten, aus denen sie besteht; die indieser Zehnzahl enthaltenen Einheiten müßten alsounter jener Voraussetzung notwendig unterschiedensein. Denn unterscheiden sie sich nicht, so würdensich auch die Fünfen, aus denen die Zehnzahl besteht,nicht unterscheiden. Sie unterscheiden sich aber: alsounterscheiden sich auch die Einheiten in der Zehn.Sind sie aber verschieden, so fragt sich: gibt es dannkeine anderen Fünfer außer diesen beiden, oder gibtes noch weitere? Gibt es keine weiteren, so haben wirbaren Widersinn vor uns; gibt es aber welche: was istdas für eine Zehnzahl, die aus ihnen besteht? Denn esgibt doch in der Zehnzahl nicht neben ihr noch eineandere Zehnzahl. Aber weiter, auch die Vierzahl be-steht notwendigerweise nicht aus beliebigen Zweizah-len. Denn die unbestimmte Zweizahl, wie sie sichausdrücken, hat zwei Zweiheiten hervorgebracht,

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indem sie die bestimmte Zweizahl annahm, undwurde durch dieses Annehmen zur Erzeugerin derDoppeltheit. Und ferner: wie soll es zugehen, daßneben den zwei Einheiten die Zweiheit, und ebensodie Dreizahl neben den drei Einheiten noch etwas be-sonderes für sich sein soll? Es müßte doch eines amanderen teilhaben, entweder wie ein Mensch von wei-ßer Farbe neben dem Weiß und dem Menschen be-steht – denn beides sind seine Attribute - , oder so,daß das eine den artbildenden Unterschied bezeichnet,wie am Menschen lebendes Wesen und zweibeinigesWesen; oder endlich so, wie manches durch Berüh-rung, anderes durch Mischung, wieder anderes durchräumliche Anordnung eines wird. Von allen diesenVerhältnissen hat bei den Einheiten, aus denen dieZweizahl und die Dreizahl besteht, keines einen Sinn.Vielmehr, so wenig wie zwei Menschen eine Einheitneben den beiden einzelnen ausmachen, so wenigkönnen es auch zwei Einheiten; auch der Umstand,daß sie unzerlegbar sind, ist kein Grund, daß sie sichanders verhalten könnten. In Teile unzerlegbar sindauch die Punkte, und dennoch bildet eine Zweiheitvon Punkten nicht noch etwas Besonderes neben denbeiden einzelnen. Aber weiter darf man auch die Kon-sequenz nicht unbemerkt lassen, daß es vorhergehen-de Zweizahlen und abgeleitete Zweizahlen gebenmüßte, und daß es sich bei den anderen Zahlen eben-

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so verhalten würde. Denn die in der Vierzahl enthalte-nen Zweizahlen mögen mit einander zugleich dasein;aber dann werden sie den in der Achtzahl enthaltenenvorausgehen, und wie die Zweiheit sie, so bringen siedie in der idealen Achtzahl enthaltenen Vierzahlenhervor. Also wenn die Ur-Zwei eine Idee ist, so wer-den auch die letzteren Ideen sein. Dieselbe Überle-gung gilt aber auch für die Einheiten. Denn die Ein-heiten in der Ur-Zwei bringen die vier Einheiten inder Vierzahl hervor; so werden alle Einheiten zuIdeen, und die Idee wäre aus Ideen zusammengesetzt.Offenbar also würde auch das, dessen Ideen sie seinsollen, etwas Zusammengesetztes sein, und es wäre,wie wenn man sagen wollte, die lebenden Wesenseien aus lebenden Wesen zusammengesetzt, wenn esIdeen von ihnen gibt.

Überhaupt aber, die Einheiten als unter einanderverschieden zu setzen, ist in jedem Sinne ein Undingund ein bloßes Hirngespinst; als Hirngespinst aberbezeichne ich, was man um eine Annahme durchzu-führen willkürlich bei den Haaren heranzieht. Denntatsächlich sehen wir, daß Einheit und Einheit sichweder der Quantität noch der Qualität nach unter-scheiden. Die Zahl ist notwendig entweder gleich oderungleich; das gilt für jede Zahl, am meisten aber fürdie unbenannte, aus reinen Einheiten bestehen de;mithin, wenn die eine nicht größer oder kleiner ist als

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die andere, so sind sie beide gleich. Was aber gleichund überhaupt nicht verschieden ist, das gilt bei denZahlen als identisch. Gälte das nicht, so würden auchdie in der Urzehn enthaltenen Zweizahlen, die dochgleich sind, nicht ununterschieden sein. Denn welchenGrund würde der anführen können, der behauptete,sie seien ununterschieden? Ferner, wenn jedesmal eineEinheit und eine andere Einheit zwei macht, so würdeeine Einheit aus den in der idealen Zweiheit enthalte-nen und eine Einheit aus den in der idealen Dreiheitenthaltenen eine Zweiheit aus unterschiedenen Einhei-ten bilden, und dann ist die Frage, ob sie der Dreiheitvorausgeht oder aus ihr abgeleitet ist. Es scheint ehernotwendig, daß sie das Vorausgehende sei; denn dieeine der Einheiten ist mit der Dreizahl, die andere mitder Zweizahl zugleich vorhanden. Wir nun denkenüberhaupt so, daß eins und eins, ob es nun gleich oderungleich sei, zwei macht, z.B. das Gute und dasSchlechte, ein Pferd und ein Mensch; dagegen lassenes die Vertreter jener Ansicht nicht einmal von denreinen Einheiten gelten. Soll aber die Urdrei nichteine größere Zahl sein als die Urzwei, so wäre dasdoch sehr verwunderlich. Ist sie aber die größereZahl, so ist offenbar eine der Zweiheit gleiche Zahl inihr enthalten, und diese wäre dann von der Urzweinicht unterschieden. Das aber ist nicht möglich, wennes eine erste und eine zweite Zahl gibt, und die Ideen

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könnten dann keine Zahlen sein. Denn eben darinhaben sie nach unseren obigen Ausführungen ganzrecht, daß sie fordern, die Einheiten müßten verschie-den sein, wenn sie Ideen sein sollen. Denn die Idee isteine. Sind aber die Einheiten nicht verschieden, sosind auch die Zweizahlen und die Dreizahlen nichtverschieden. Deshalb sind jene auch gezwungen zusagen, wenn man in dieser Weise zähle: eins, zweiusw., so habe das nicht den Sinn, daß zu dem jedes-mal Vorhandenen noch etwas hinzugefügt werde.Denn damit würde die Entstehung aus der unbe-stimmten Zweiheit fortfallen, und das Dasein vonIdeen würde zur Unmöglichkeit. Es würde eine Ideein einer anderen Idee enthalten sein, und alle Ideenwürden zu Teilen des Einen. Darum ist was sie sagenganz richtig im Sinne ihrer Voraussetzung, aber sonstallerdings ist es völlig verkehrt. Sie setzen sich überviele Tatsachen hinweg; ja, sie müssen sich zu derBehauptung versteigen, schon eben dieses sei proble-matisch, ob wir, wenn wir zählen und sagen: eins,zwei, drei, dabei hinzufügend oder fortnehmend ver-fahren. In Wirklichkeit hat unser Verfahren beide Sei-ten, und es ist darum töricht, diesen Unterschied so-weit emporzuschrauben, bis er zum Unterschied desWesens und der Substanz wird.

Vor allem anderen gilt es festzulegen, was der Un-terschied bei Zahlen, und was er bei Einheiten bedeu-

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ten kann, wenn es überhaupt einen solchen Unter-schied gibt Der Unterschied müßte doch entweder derder Quantität oder der Qualität sein; keines von bei-den aber scheint denkbar. Sofern es sich um Zahlenhandelt, müßte es ein Unterschied der Quantität sein.Wenn nun aber schon die Einheiten quantitativ ver-schieden wären, so würden auch Zählen mit gleicherAnzahl von Einheiten verschiedene Zahlen sein. Undweiter bliebe es fraglich, ob die in der Reihe vorange-henden Zahlen die kleineren sind und die Zahlen wiesie nach einander kommen zunehmen, oder ob dasUmgekehrte der Fall ist. Alles das hat doch keinenrechten Sinn. Daß sich die Einheiten aber qualitativunterscheiden ist erst recht undenkbar: denn sie habengar keine Eigenschaft, der gemäß solcher Unterschiedbei ihnen stattfinden könnte. Jene Leute geben ja sel-ber an, das Qualitative komme bei den Zahlen späterals das Quantitative. Jenes könnte ihnen aber weiterauch von keinem ihrer Elemente, weder von demEinen noch von der Zweiheit aus zufließen. Denn dasEine ist qualitätslos, die Zweiheit aber soll ja geradeQuantität bewirken; es gilt doch als ihre Natur, dieUrsache zu sein, daß das Reale eine Vielheit bildet.Soll es sich aber damit irgendwie anders verhalten, sowäre das einzig Angemessene, man sagte es gleich zuAnfang und bestimmte genau, worin denn der Unter-schied zwischen Einheiten bestehen soll; besonders

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aber müßte man auch aufzeigen, aus welchen Grün-den denn jene Verschiedenheit notwendig angenom-men werden muß. Tut man das nicht, so bleibt esfraglich, welcher Unterschied denn eigentlich gemeintist.

Offenbar also ist es, wenn die Ideen Zahlen sind,weder denkbar, daß alle Zahlen unter einander Ver-bindungen eingehen können, noch daß jede Verbin-dung zwischen ihnen in jedem Sinne ausgeschlossenist. Aber auch die Ansicht über die Zahlen, die manvon anderer Seite her vernimmt, ist in keiner Weisehaltbar, nämlich die Ansicht derjenigen, die zwar dieExistenz der Ideen bestreiten und sie weder als solchenoch in der Bedeutung von Idealzahlen anerkennen,dagegen am Dasein mathematischer Objekte festhal-ten, die Zahlen als den Ursprung aller Realität und dieUr-Eins als das Prinzip der Zahlen betrachten. Denndann hat es keinen Sinn, daß zwar die Eins, wie siemeinen, der Ursprung der vielen Einse, aber nichtauch die Zweizahl der Ursprung der Zweizahlen, nochdie Dreizahl der Ursprung der Dreizahlen sein soll.Denn in alledem ist das Verhältnis dasselbe. Wenn essich mit der Zahl so verhält und man nur die Existenzder mathematischen Zahl anerkennt, dann kann dieEins nicht das Prinzip sein. Denn dann müßte dieEins in diesem Sinne genommen sich von den anderenEinheiten unterscheiden, und ist das der Fall, dann

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muß es auch eine Urzwei geben, die sich von denZweizahlen unterscheidet, und das Gleiche muß auchbei den anderen Zahlen der Reihe nach der Fall sein.Soll die Eins das Prinzip sein, so muß es sich viel-mehr mit den Zahlen so verhalten, wie Plato dieSache auffaßte: es muß eine erste Zweizahl und eineerste Dreizahl geben und die Zahlen müssen außer-stande sein, mit einander Verbindungen einzugehen.Macht man aber wiederum diese Annahme, so ergibtsich daraus die Menge widersinniger Konsequenzen,die wir oben nachgewiesen haben. Nun muß sich aberdie Sache notwendig auf diese oder auf jene Weiseverhalten; wenn also keines von beiden möglich ist,so erweist es sich auch als unmöglich, daß die Zahlüberhaupt eine gesonderte Existenz für sich besitze.

Daraus geht nun auch das klar hervor, daß die drit-te Annahme die am wenigsten annehmbare von allenist, nämlich die Annahme, wonach die Idealzahl unddie mathematische Zahl eine und dieselbe Zahl sei.Denn da stellen sich nur die Verkehrtheiten, die jenenbeiden Theorien anhaften, zusammen ein. Bei dieserAnnahme kann es sich erstens nicht um die mathema-tische Zahl handeln; man ist vielmehr gezwungen, umdie Vorstellung aufrecht zu erhalten, die gewagtenHypothesen umständlich auszuspinnen. Und zweitensverstricken sich ihre Vertreter gleichwohl unabweis-bar in alle die Konsequenzen, die sich ergeben, wenn

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man die Zahl als Ideen auffaßt.Demgegenüber bietet die Annahme der Pythagore-

er in einem Betracht allerdings geringere Schwierig-keiten als die bisher erörterten; auf der anderen Seiteaber bietet sie dafür andere Schwierigkeiten, die ihreigentümlich sind. Denn freilich, damit daß die Zahlnicht als etwas gesondert Existierendes betrachtetwird, werden viele Undenkbarkeiten beseitigt. Dage-gen ist es völlig unmöglich, erstens, daß die Dingeselber aus Zahlen bestehen, und zweitens, daß dieseZahl die mathematische sein soll. Denn erstens ist eswidersinnig, Größen anzunehmen, die ohne Teilesind. Gesetzt aber auch, diese Annahme wäre zuläs-sig, so haben doch sicher die Einheiten keine Ausdeh-nung. Was soll es aber dann für einen Sinn haben,daß aus Unteilbarem sich ein Ausgedehntes zusam-mensetze? Nun aber ist doch die arithmetische Zahlaus unbenannten Einheiten gebildet. Sie aber erklärendie Zahl für das real Vorhandene; wenigstens bringensie die mathematischen Lehrsätze in solche Verbin-dung mit den Dingen, als beständen die Dinge ausdiesen letzteren, den Zahlen.

Muß nun, wenn die Zahl zu den an sich seiendenWesen gehört, eine der bezeichneten Weisen beiihnen statthaben, und ist keine dieser Weisen denk-bar, so ist offenbar die Natur der Zahl nicht eine der-artige, wie diejenigen sie sich zurechtlegen, die die

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Zahl als etwas an und für sich Subsistierendes anse-hen.

Aber weiter fragt sich: erzeugt sich jede Einheit ausdem Großen und dem Kleinen, so daß diese sich darinausgeglichen haben, oder entsteht die eine aus demKleinen, die andere aus dem Großen? Ist das letztereder Fall, so besteht einerseits nicht jegliches aus allenElementen, andererseits sind die Einheiten nicht un-unterschieden. In der einen ist das Große, in der ande-ren das Kleine das Herrschende, und diese sind vonNatur einander entgegengesetzt. Aber wie steht esweiter um die Einheiten in der idealen Dreiheit? Vondiesen ist doch eine ungerade. Eben aus diesem Grün-de vielleicht setzen jene Leute die ideale Einheit alsdie Mitte in dem Ungeraden. Besteht dagegen jede derbeiden Einheiten aus den beiden Elementen, so daßdiese sich ausgeglichen haben, wie soll dann dieZweiheit als einheitliches Gebilde aus dem Großenund dem Kleinen sich erzeugen? oder wodurch sollsie sich von der Einheit unterscheiden? Nun geht au-ßerdem die Einheit der Zweiheit vorher; denn wird sieaufgehoben, so wird die Zweiheit mit aufgehoben.Also müßte sie die Idee einer Idee sein als vor derIdee seiend und müßte früher entstanden sein. Worausdenn wohl? Es war ja die unbestimmte Zweiheit viel-mehr der Ursprung der Zweiheit.

Ferner aber muß die Zahl entweder unendlich oder

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endlich sein. Denn jene setzen die Zahl als ein Wesenfür sich, und mithin kann sie unmöglich ohne einedieser beiden Bestimmungen sein. Daß sie nun nichtals unendliche existieren kann, ist klar. Denn die un-endliche Zahl ist weder gerade noch ungerade, dieEntstehung der Zahlen ist aber immer eine Entstehungdes Ungeraden oder des Geraden, des Ungeraden,wenn die Einheit zu der Geraden hinzutritt, des Gera-den, wenn die mit zwei multiplizierte Einheit wiedermit der Zwei multipliziert wird, und die andere Artdes Geraden, wenn die ungerade mit zwei multipli-ziert wird. Und außerdem: ist jede Idee die Idee vonetwas, und sind die Zahlen Ideen, so muß auch die un-endliche Zahl die Idee von etwas sein, sei es vonetwas Sinnlichem oder von etwas anderem; und den-noch ist dies, der Annahme jener Leute nach ebensounmöglich wie dem begrifflichen Zusammenhangenach; sie aber bringen so die Ideen in einer Ordnungunter, ist die Zahl hingegen endlich, wo liegt dieGrenze? Diese muß man doch angeben, und zwarnicht bloß als tatsächlich vorhanden, sondern auchden Grund muß man bezeichnen. Aber gesetzt, dieZahl reiche bis zur Zehn, wie manche lehren, so wirdes zunächst mit den Ideen schnell zu Ende gehen.Z.B. wenn die Drei die Idee des Menschen bedeutet,welche Zahl soll dann die Idee des Pferdes bedeuten?Es soll doch jede Zahl bis zur Zehn eine Idee bedeu-

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ten; es müßte also eine von diesen Zahlen sein, dennsie gelten als selbständige Wesen und Zahlen zu-gleich. Aber gleichwohl wird es nicht zulangen; schonder Arten des lebendigen Wesens gibt es dafür zuviele. Zugleich aber ist es klar, daß wenn so die Dreidie Idee des Menschen bedeutet, so wird dasselbe vonden anderen Dreiheiten auch gelten; denn die Ideen,die von den identischen Zahlen bedeutet werden, sinddie gleichen; es wird also, wenn jede Drei eine Ideebedeutet, die Idee Mensch unzählige Male vorhandensein; jedes menschliche Individuum würde die Ideedes Menschen sein, und wenn das nicht, so wird eswenigstens unzählige Menschen geben. Und wenn diekleinere Zahl als Teil in der größeren enthalten ist,indem sie aus den zusammengefügten Einheiten be-steht, die in derselben Zahl enthalten sind, so wirdauch der Mensch als Teil im Pferde enthalten sein,falls der Mensch eine Zweiheit bedeutet und die Vier-zahl selber die Idee von irgend etwas, etwa die IdeePferd oder Weiß darstellt.

Überdies ist es ebenso widersinnig, daß es eineIdee der Zehnzahl geben soll, aber nicht eine Idee derElfzahl oder der sich anschließenden Zahlen. Es exi-stiert zwar und entsteht nach ihnen mancherlei, wovones keine Ideen gibt: was aber ist nun der Grund, wes-halb es nicht auch von diesen Dingen Ideen gibt? DieIdeen können doch nicht wohl den Grund dafür abge-

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4575 495Aristoteles: Metaphysik

ben. Es hat aber auch sonst keinen Sinn, daß die Zahlnur bis zur Zehn für Ideen genommen wird; ist dochdie Eins im höheren Sinne ein Seiendes und ist siedoch die Idee der Zehnzahl selber; und gleichwohl hatjenes als Einheit keine Entstehung, wohl aber die letz-tere. Man versucht eine Begründung damit, daß dieReihe der Zahlen bis zur Zehn eine in sich vollendeteund abgeschlossene sei. Indessen läßt man wohl dasAbgeleitete, wie den leeren Raum, die Proportion, dasUngerade, anderes derartige innerhalb der Zahlenreihebis zur Zehn hervorgehen, rechnet aber das eine, wieBewegung und Ruhe, Gutes und Schlechtes zu denPrinzipien, und daneben das andere zu den Zahlen.Infolgedessen wird die Eins zum Ungeraden. Dennwenn das Ungerade erst in der Drei gegeben wäre,wie könnte die Fünf ungerade sein? Und so sollendenn auch die Raumgrößen und alles derartige bis aufdas bestimmte Quantum beschränkt sein, z.B. die ur-sprüngliche unteilbare Linie, sodann die Zweiheit,und so immer weiter, bis die Zehnzahl herauskommt.

Überdies, wenn die Zahl ein Sonderdasein hat, sodürfte es Schwierigkeiten machen, was das Vorange-hende ist, die Eins oder die Drei und die Zwei. Soferndie Zahl zusammengesetzt ist, wäre das Vorangehen-de die Eins; sofern aber das Allgemeine und die Formdas Vorangehende ist, wäre das Vorangehende dieZahl. Denn jede der beiden Einheiten ist ein Teil der

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Zahl als ihre Materie, die Zahl dagegen wäre dieForm. Es ist damit ebenso, wie der rechte Winkel dasPrius ist gegenüber dem spitzen Winkel, weil dieserseinem Begriffe nach durch jenen bestimmt wird; inanderem Sinne ist wieder der spitze Winkel das Prius,weil er vom rechten einen Teil ausmacht und dieserdurch Teilung in den spitzen übergeht. Als Materiealso ist der spitze Winkel, ist das Element, die Einheitdas Prius; dagegen in der Bedeutung als Form und be-griffliche Wesenheit ist es der rechte Winkel, dasGanze, das aus Materie und Stoff besteht Näher derForm und dem begrifflichen Inhalt ist dieses Konkre-te, das doch der Entstehung nach das Spätere ist. Inwelcher Bedeutung ist nun das Eins Prinzip? Mansagt uns, weil es nicht teilbar ist. Aber unteilbar ist jaauch das Allgemeine, das Einzelne und das Element,nur in anderem Sinne: jenes dem Begriffe, dieses derZeit nach. In welcher von diesen beiden Bedeutungenalso ist das Eins Prinzip? Denn wie oben dargelegtworden, es wird sowohl der rechte Winkel dem spit-zen gegenüber, als auch dieser jenem gegenüber fürdas Vorangehende genommen, und jeder von beidenbildet eine Einheit. Jene nun setzen das Eins als Prin-zip in beiden Bedeutungen, und das ist unmöglich.Denn die eine Bedeutung ist die der Form und desselbständigen Wesens, die andere die des Teils undder Materie, und diese beiden schließen sich aus.

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4577 497Aristoteles: Metaphysik

Beide Einheiten der Zwei sind in gewissem Sinne einEines; in Wahrheit sind sie es aber nur der Möglich-keit nach, sofern die Zahl ein Eines ist und nicht einbloßes Aggregat bedeutet, sondern wie sie selbersagen eine andere Zahl auch aus anderen Einheitenbesteht; der Wirklichkeit nach aber ist keine der bei-den Einheiten in der Zwei ein Eines.

Der Grund des Irrtums, in den sie geraten, ist der,daß sie zugleich im Sinne der Mathematik und imSinne der Allgemeinheit der Begriffe der Sache beizu-kommen gesucht haben. Sie haben deshalb von jenerBetrachtung aus das Eine und das Prinzip als Punktgedacht; denn die Einheit ist ein Punkt ohne Räum-lichkeit Und so haben sie ebenso wie gewisse anderedas Seiende aus dem Kleinsten zusammengesetzt.Damit wird dann die Einheit zur Materie für die Zah-len, zugleich aber zum Prius für die Zwei; anderer-seits wird sie doch wieder zum Abgeleiteten, insoferndie Zweiheit als ein Ganzes, als Eines und als Formgefaßt wird. Von der anderen Betrachtung aus ver-standen sie, indem sie das Allgemeine suchten, unterder Eins das, was von allen Zahlen ausgesagt wird,und setzten es auf diese Weise als Teil des Zahlbe-griffs. Es ist aber unmöglich, daß dieses beides voneinem und demselben Objekte gelte.

Sofern aber das Ur-Eins ausschließlich als raumlosgedacht werden darf – denn sein Unterschied von

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allem anderen besteht nur darin, daß es Prinzip ist - ,die Zweiheit dagegen teilbar ist und die Einheit nicht,so würde die Einheit mit dem Ur-Eins die größereÄhnlichkeit haben als die Zwei. Wenn aber die Ein-heit die größere Ähnlichkeit hat, so würde auch dieUr-Eins in höherem Grade der Einheit gleichen alsder Zweiheit, und mithin wäre jede der beiden Einhei-ten in der Zwei das Prius für die Zweiheit. Das abergerade bestreiten sie, wenigstens lassen sie die Zwei-zahl zuerst entstehen. Und ferner, wenn die Ur-Zweiselber eine Einheit ist und die Ur-Drei auch, so ma-chen sie zusammen wieder eine Zweizahl aus. Worausalso entsteht diese Zweizahl?

Man dürfte auch wohl fragen, da es in den Zahlenkeine Kontinuität, aber wohl eine Reihenfolge gibt,ob die Einheiten, zwischen denen es kein Mittleresgibt, wie die Einheiten, die in der Zweizahl oder derDreizahl enthalten sind, in der Reihenfolge unmittel-bar nach der Ur-Eins kommen oder nicht sowie ob dieZweizahl in der Reihe voraufgeht, oder eine der bei-den in ihr enthaltenen Einheiten.

Ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich nun auchbetreffs der aus der Zahl abgeleiteten Gattungen ma-thematischer Objekte, der Linie, der Fläche und desKörpers. Die Einen lassen sie aus den Arten des Gro-ßen und des Kleinen entstehen, so z.B. die Linien ausdem Langen und Kurzen, die Flächen aus dem Breiten

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und Schmalen, die Körper aus dem Hohen und Nied-rigen; dies aber sind Arten des Großen und Kleinen.Dagegen das Prinzip im Sinne der Einheit bestimmtder eine unter den Denkern so, der andere anders.Dabei ergibt sich eine Unmenge von Unmöglichkei-ten, von leeren Einbildungen, die aller gesunden Ver-nunft Hohn sprechen. Die Konsequenz wäre, daßdiese Objekte von einander losgelöst werden, wennnicht auch die Prinzipien mit einander verbundenbleiben und was breit und schmal ist, nicht auch langund kurz ist; ist aber dies der Fall, so ist die Flächeauch Linie und der Körper auch Fläche. Und ferner,wie will man den Winkel, die Figuren und derglei-chen erklären? Es ergeben sich hier ganz dieselbenKonsequenzen wie bei den Zahlen. Denn was man an-gibt, das sind Attribute der Größe, nicht Elemente,aus denen die Größe besteht, ebensowenig wie dieLinie aus dem Geraden und Krummen oder der Kör-per aus dem Rauhen und dem Glätten besteht. Beiallem diesem erhebt sich gemeinsam die Frage, diedie Arten der Gattung betrifft, wenn man das Allge-meine verselbständigt, ob die Idee des Tieres in demTier oder ob sie etwas von dem Tiere selber Verschie-denes ist Die Sache würde gar keine Schwierigkeitmachen, wenn das Allgemeine nicht als etwas für sichSeiendes aufgefaßt wird. Wird aber so, wie die An-hänger jener Theorie es tun, das Eins und die Zahlen

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selbständig einander gegenübergestellt, so ist es nichtleicht, wenn man von dem was unmöglich ist, sichdes Ausdruckes bedienen darf, daß es nicht leicht sei.Denn wenn man in der Zweiheit und überhaupt in derZahl die Eins denkt, denkt man dann die Idee der Einsselbst oder etwas anderes?

Die einen also lassen die Größen aus einer derarti-gen Materie entstehen, andere aus dem Punkte – derPunkt aber ist nach ihrer Ansicht nicht Einheit, son-dern nur der Einheit verwandt –, und aus einer ande-ren Materie, die wieder der Vielheit verwandt, abernicht die Vielheit selber ist. Diesen ergeben sich umnichts weniger dieselben Schwierigkeiten. Ist die Ma-terie eine, so sind auch Linie, Fläche und Körper das-selbe; denn als aus demselben bestehend sind sieidentisch und eines. Sind es dagegen mehrere Materi-en, und die Materie der Linie eine andere als die derFläche und diese wieder eine andere als die des Kör-pers, so sind sie entweder mit einander verbundenoder nicht, und es ergeben sich auch hier wieder eben-so die gleichen Konsequenzen. Denn die Fläche wirdentweder keine Linie an sich haben oder sie wird sel-ber eine Linie sein.

Die Frage ferner, wie es möglich sein soll, daß ausder Eins und der Vielheit die Zahl entsteht, diese wirdgar nicht in Angriff genommen. In welcher Weise sieaber auch sich darüber aussprechen, es ergeben sich

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immer dieselben Schwierigkeiten wie für diejenigen,die die Zahl aus der Eins und der unbestimmten Zwei-heit ableiten. Der eine nämlich läßt die Zahl entstehenaus dem, was als Allgemeines ausgesagt ist, und nichtaus irgend welcher Vielheit, der andere aus einerVielheit, aber der ursprünglichen; denn die Zweiheitsei die ursprüngliche Vielheit. Es ist also eigentlichgar kein Unterschied zwischen den beiden Ansichten,und die gleichen Schwierigkeiten treten auch hier wie-der auf, ob Mischung oder räumliche Lage, ob Durch-dringung oder Hervorgehen oder sonst etwas derarti-ges vorliegt. Vor allem aber darf man fragen: wennjede Einheit eine besondere ist, woher stammt siedenn? Es ist doch wohl nicht jede die Ur-Eins; siemuß also wohl aus der Ur-Eins und der Vielheit oderaus einem Teile der Vielheit stammen. Die Einheitnun als eine Art der Vielheit zu bezeichnen ist un-möglich, da Sie unteilbar ist; sie aus einem Teile derVielheit zu erklären, bringt eine Menge andererSchwierigkeiten mit sich. Denn jeder der Teile müßtenotwendig unteilbar oder eine Vielheit, die Einheitaber müßte teilbar sein, und die Eins und die Vielheitkönnten nicht die Elemente sein. Denn es entstehtdoch nicht jede einzelne Einheit aus Vielheit und Ein-heit. Ferner tut der, der diese Ansicht vorbringt, nichtsanderes, als daß er die Zahl wieder aus einer anderenZahl ableitet; denn eine Vielheit von Unteilbaren

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heißt eben Zahl. Sodann muß man auch den Vertre-tern dieser Ansicht gegenüber die Frage aufwerten, obdie Zahl unendlich ist, oder ob sie begrenzt ist. Dennman muß annehmen, daß es auch eine begrenzte Viel-heit gewesen sein muß, aus der im Verein mit der Ein-heit die begrenzten Einheiten stammen. Es ist aber einanderes, die Vielheit als Idee und eine begrenzte Viel-heit. Welche Art von Vielheit ist also das Element,aus dem in Verbindung mit der Einheit die Zahl ent-standen ist? Ganz dieselbe Frage könnte man auchwegen des Punktes und des Elementes aufwerfen, ausdem sie die Raumgrößen ableiten. Denn es handeltsich hier nicht bloß um diesen einen Punkt. Die ande-ren Punkte also, woher stammt jeder von ihnen? Dochwohl nicht aus irgend einer Strecke und dem Punkt alsIdee? Vielmehr, auch die unteilbaren Teile könnennicht Teile der Strecke sein, wie die Teile der Viel-heit, aus denen die Einheiten stammen. Denn die Zahlbesteht freilich aus Unteilbarem, die Raumgrößenaber nicht.

Alles dieses und anderes dergleichen beweist au-genscheinlich die Unmöglichkeit der Annahme, daßdie Zahl und die Raumgrößen abgesondert für sichbestehen könnten. Aber auch die Uneinigkeit, die zwi-schen den ersten unter den Denkern über die Zahlenherrscht, ist ein Zeichen, daß es die Unzulänglichkeitder Sache selbst ist, die die Verwirrung unter ihnen

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angestiftet hat. Die einen, die die mathematischen Ob-jekte, und sie allein, neben den sinnlichen Dingen be-stehen lassen, weil sie die Schwierigkeit und die Will-kürlichkeit der Erfindung einsahen, die mit der Ideen-lehre gegeben ist, wollten von der Idealzahl nichtswissen und hielten sich an die mathematische Zahl.Diejenigen dagegen, die den Ideen zugleich die Be-deutung von Zahlen beilegen wollten, aber nichtsahen, wie die mathematische Zahl, wenn man diesePrinzipien annimmt, neben der Idealzahl soll bestehenkönnen haben die Idealzahl und die mathematischeZahl dem wörtlichen Ausdruck nach als identisch ge-setzt, in Wirklichkeit die mathematische Zahl aus demWege geräumt. Denn die grundlegenden Vorstellun-gen, von denen sie ausgehen, sind eigentümlicher Artund haben mit Mathematik nichts zu schaffen. Dererste allerdings, der die Ideenlehre aufgestellt und dieIdeen als Zahlen gefaßt hat, hat mit gesundem Sinnedie Ideen und die mathematischen Objekte auseinan-dergehalten. Es ergibt sich daraus, daß sie alle in ge-wissem Maße die Wahrheit treffen, aber keiner völlig,und sie selber gestehen das zu, indem sie nicht allesich in gleichem, sondern in entgegengesetztem Sinneaussprechen. Der Grund liegt in der Irrtümlichkeitihrer Grundanschauungen und ihrer Prinzipien. Dennschwierig ist es nach dem Ausspruch des Epicharm,aus unrichtigen Vordersätzen richtige Folgerungen

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4584 504Aristoteles: Metaphysik

abzuleiten. Man hat kaum den Satz ausgesprochen,als sich auch schon zeigt, daß er nicht haltbar ist.

Damit hätten wir die Zahlenlehre genügend erörtertund durchgesprochen. Wer durch das Bisherige über-zeugt worden ist, den würden wir durch weitere Erör-terungen vielleicht noch fester überzeugen; wer aberjetzt noch nicht Überzeugt worden ist, bei dem würdedie Ausführung weiterer Gründe auch nichts ausrich-ten.

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4585 505Aristoteles: Metaphysik

V. Widerlegung des Dualismus

Was über die obersten Prinzipien und die letztenGründe und Elemente von denjenigen gelehrt wird,die sich nur mit der sinnlich wahrnehmbaren Erschei-nungswelt beschäftigen, haben wir zum Teil in unse-rer Naturphilosophie behandelt; zum Teil ist dafür inunserer gegenwärtigen Untersuchung nicht der geeig-nete Ort. Dagegen schließt es sich passend an unserebisherigen Erörterungen an, wenn wir das ins Augefassen, was diejenigen, die neben den sinnlich wahr-nehmbaren Objekten noch andere anerkennen, dar-über zu sagen wissen. Da es nun manche gibt, die alssolche Wesenheiten die Ideen und die Zahlen bezeich-nen und die Elemente derselben für die Prinzipien undElemente des Seienden überhaupt halten, so wird zubetrachten sein erstens, was sie darüber sagen, undzweitens, wie sie es sagen. Von denjenigen, die dieZahlen allein und zwar die mathematischen als Prin-zip setzen, wird später zu handeln sein. Dagegen wer-den sich dem, der die Eigentümlichkeit der Ideenlehrebetrachtet, die in ihr liegenden Schwierigkeiten auf-drängen.

Man stellt die Ideen zugleich als Allgemeines hinund wiederum als gesondert für sich Bestehendes undganz nach Analogie der Einzeldinge. Daß dies un-

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4586 506Aristoteles: Metaphysik

möglich ist, haben wir oben bei der Erörterung derProbleme nachgewiesen. Der Grund, weshalb sie,indem sie die Ideen als Allgemeines bezeichneten,diese beiden Bestimmungen an einem und demselbenGegenstande verknüpften, war der, daß sie diese We-senheiten einerseits nicht mit den sinnlichen Objektenzusammenfallen ließen. Sie waren der Meinung, inder sinnlichen Erscheinungswelt sei das Einzelne inbeständigem Flusse und da gebe es nichts was behar-re, das Allgemeine daher bestehe daneben als etwasdavon Verschiedenes. Sokrates war es, wie wir obendargelegt haben, der durch sein Dringen auf begriffli-che Bestimmung dazu die Anregung bot; doch war erweit davon entfernt, das Allgemeine dem Einzelnengegenüber zu verselbständigen, und darin, daß er esnicht verselbständigte, hat er seine gesunde Einsichtbewiesen. Das zeigen die Tatsachen. Gewiß ist es un-möglich, Erkenntnis zu gewinnen ohne das Allgemei-ne; die Verselbständigung desselben aber ist derGrund der Fülle von Schwierigkeiten, in die die Ide-enlehre verwickelt. Indem man es andererseits für not-wendig hielt, daß, wenn neben den sinnlichen, imFlusse befindlichen Wesen noch andere beständen,diese selbständig für sich sein müßten, wußte mandoch keine solche anderen Wesen aufzuzeigen; mansetzte also eben dieselben Wesen noch einmal, abernun mit der Bestimmung der Allgemeinheit, und das

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4587 507Aristoteles: Metaphysik

Resultat war dies, daß diese Wesen mit der Bestim-mung der Allgemeinheit und die Einzeldinge fastgenau dieselben waren. Das ist eine Schwierigkeit,die mit dieser Ansicht an und für sich gegeben ist.

Ein Bedenken dagegen, das ebensowohl für die Be-streiter der Ideenlehre wie für ihre Vertreter vorhan-den ist, und das wir vorher gleich im Anfang bei derErörterung der Probleme berührt haben, wollen wirjetzt näher ins Auge fassen. Wenn man die Wesenhei-ten nicht verselbständigt und zwar in der Weise, wieman Einzeldinge auffaßt, so hebt man damit die We-senheit, wie wir einmal zugeben wollen, überhauptauf. Verselbständigt man dagegen die Wesenheiten,wie will man dann ihre Elemente und Prinzipien be-stimmen? Sind diese letzteren Einzeldinge und nichtAllgemeines, so wird erstens die Anzahl der Wesenebensogroß wie die der Elemente, und zweitens hörendie Elemente auf, Gegenstände der Erkenntnis zusein. Gesetzt z.B. die Silben in der Sprache seienselbständige Wesen und ihre Elemente Elemente die-ser Wesen, so ergäbe sich, daß die Silbe BA nur eineinziges Mal existierte und ebenso jede einzelneSilbe; denn sie sollen doch kein Allgemeines sein undmit anderen einer und derselben Gattung angehören;es wäre also jede der Zahl nach nur eine, ein bestimm-tes Dieses, und nicht ein für vieles darunter befaßtesGleiches; – überdies setzen sie jedes was an und für

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4588 508Aristoteles: Metaphysik

sich ist als ein einiges Einzelwesen. Gilt das aber vonden Silben, dann gilt es auch von den Bestandteilender Silben. Es wird also auch nicht mehr als ein Ageben, und derselbe Gesichtspunkt gilt dann für jedender anderen Buchstaben, wie auch für jede der ande-ren Silben, die jede nur einmal und nicht immer wie-der als eine andere existieren können. Ist dem aber so,so gibt es auch nicht neben den Elementen noch ande-re Wesen, sondern es gibt bloß die Elemente. Dannsind aber weiter die Elemente auch nicht erkennbar;denn sie sind nichts Allgemeines, das Erkennen aberhat zum Gegenstande das Allgemeine. Das sieht manam Beweis und an der Definition. Denn der Schluß:dieses Dreieck hier ist gleich 2 Rechten, kommt nichtzustande, wenn nicht jedes Dreieck gleich 2 Rechtenist, und ebensowenig der Schluß: dieser Mensch hierist ein lebendes Wesen, wenn nicht jeder Mensch einlebendes Wesen ist.

Gilt dagegen die andere Annahme und sind diePrinzipien allgemein, oder sind auch die aus ihnen ab-geleiteten Wesenheiten allgemein, so wird was keineselbständige Wesenheit ist zum Prius der selbständi-gen Wesenheiten gemacht. Denn das Allgemeine istkeine selbständige Wesenheit, das Element aber unddas Prinzip sollten allgemein sein; das Element unddas Prinzip aber ist das Prius dessen, wofür es Prin-zip und Element ist.

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4589 509Aristoteles: Metaphysik

Alle diese Konsequenzen ergeben sich in strengerFolge, wenn man die Ideen aus Elementen ableitetund wenn man annimmt, daß neben den Wesenheitenund den Ideen, die der gleichen Art angehören, nochein Einheitliches existiere, das gesondert für sich be-stehe. Wenn aber nichts hindert, daß es wie bei denElementen des Sprachlautes wohl viele A und B gibt,ohne daß doch neben dieser Vielheit noch ein A undB als Idee existiert, so wird es eben deswegen eineUnendlichkeit von gleichen Silben geben.

Daß aber alles Erkennen Erkennen des Allgemei-nen ist und daß deshalb auch die Prinzipien der Dingeallgemein sein müssen, ohne doch für sich abgeson-derte Wesenheiten zu sein, das bezeichnet die größteSchwierigkeit, die den aufgestellten Behauptungenentgegensteht, indessen, wenn der Satz in gewisserBeziehung wahr ist, so ist er wieder in anderer Bezie-hung nicht wahr. Denn die Erkenntnis wie auch dasErkennen hat eine doppelte Bedeutung; teils ist es po-tentiell, teils aktuell. Die Potentialität im Sinne derMaterie, die allgemein und unbestimmt ist, hat zumGegenstande das Allgemeine und Unbestimmte; dieAktualität dagegen ist bestimmt und hat zum Gegen-stande das Bestimmte; sie ist dieses Einzelne und hatzum Gegenstande dieses Einzelne. Nur beiläufignimmt die Sehkraft auch die Farbe als Allgemeineswahr, sofern diese bestimmte Farbe, die sie wahr-

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4590 510Aristoteles: Metaphysik

nimmt, Farbe überhaupt ist. Ebenso was der Gram-matiker betrachtet, dieses A hier, ist zugleich ein Aüberhaupt. Müssen die Prinzipien allgemein sein, somuß auch das aus ihnen Abgeleitete allgemein sein,wie es bei den Beweisen der Fall ist. Ist dem aber so,so ist die Folge, daß es überhaupt nichts gesondertExistierendes und keine selbständige Wesenheit gäbe.Aber eben damit stellt sich offenbar heraus, daß dasErkennen wohl in dem einen Sinne ein Erkennen desAllgemeinen ist, in dem anderen Sinne es aber nichtist.

So viel über diese Art von Wesen. Nun gilt aberebenso wie für die Welt der sinnlichen Dinge auch fürdiejenigen Objekte, denen keine Bewegung zukommt,daß man ganz allgemein die Prinzipien, aus denen siestammen, dualistisch nach Gegensätzen geschiedenauffaßt. Indessen, wenn es ausgeschlossen ist, daß esüber dem Prinzip des Alls noch ein höheres Prinzipgebe, so ist damit auch ausgeschlossen, daß ein Prin-zip auch dann noch Prinzip sei, wenn ein Verschiede-nes sich gegenüber zu haben zu seinem Begriffe ge-hört. So wenn jemand sagen wollte, das Weiße seiPrinzip, nicht sofern es anderem gegenüber ein ande-res, sondern sofern es weiß ist; freilich hafte es aneinem Substrat, und weiß sei es als anderem gegen-überstehend: dann wäre eben jenes Substrat dem Wei-ßen gegenüber das Höhere. Richtig ist, daß wo Ent-

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4591 511Aristoteles: Metaphysik

stehung stattfindet, jegliches aus Entgegengesetztementsteht, also in der Weise, daß für die Gegensätze einSubstrat gegeben ist Daß das Substrat als das Höheredarüber steht, muß also am meisten da der Fall sein,wo ein gegensätzliches Verhältnis vorliegt; sind aberalle Gegensätze immer an einem Substrat, so hatnichts, was Glied eines Gegensatzes ist, ein Sonder-dasein für sich. Dagegen, was ein selbständigesWesen für sich ist, das hat keinen Gegensatz sich ge-genüber; das leuchtet von selber ein, und begrifflicheÜberlegung kann es nur bestätigen. Mithin kannnichts, was in einem gegensätzlichen Verhältnissteht, in eigentlichem Sinne Prinzip des Alls sein;das Prinzip maß anderswo gesucht werden.

Die Denker nun, von denen vorhin die Rede war,fassen das eine Glied des Gegensatzes als Materie,teils so, daß sie dem Einen, dem Gleichen, das Un-gleiche als das die Natur der Vielheit Bezeichnende,teils indem sie dem Einen die Vielheit selber als Ma-terie gegenüberstellen. Nach den einen erzeugen sichdie Zahlen aus der Zwiespältigkeit des Ungleichen,des Groß-und-Kleinen, nach den anderen aus derVielheit, nach beiden aber auf Grund der Einheit alsdes selbständigen Wesens. Denn auch wer als die Ele-mente das Ungleiche und die Eins bezeichnet, das Un-gleiche aber als die Zweiheit von Groß und Klein ver-steht, setzt das Ungleiche und das Groß-und-Klein als

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4592 512Aristoteles: Metaphysik

wesentlich Eines, und gibt nur nicht die Bestimmung,daß beide wohl dem Begriffe nach, aber nicht derZahl nach eine Einheit bedeuten.

Indessen, auch die Art, wie sie die Prinzipien, diesie Elemente nennen, bezeichnen, kann man nicht alszutreffend gelten lassen. Die einen setzen das Großeund Kleine in Verbindung mit der Eins als die dreiElemente der Zahlen, jene beiden als die Materie, dieEins als die Form: die anderen nennen dafür das Vielund Wenig, weil das Große und Kleine eher geeignetsei, bloß die Natur der Raumgröße zu bezeichnen; diedritten halten etwas über diesen Liegendes, was nochmehr allgemein ist, nämlich das Umfassende und dasUmfaßte für die bessere Bezeichnung. Ob man daseine oder das andere vorzieht, macht fast gar keinenUnterschied in bezug auf einige der sich ergebendenKonsequenzen, sondern nur in bezug auf die begriffli-chen Schwierigkeiten; vor diesen aber hat man darumso große Scheu, weil man selber seine Beweisgängein streng begrifflicher Weise vorbringt. Nur daßgenau aus demselben begrifflichen Gründe, aus wel-chem das Umfassende und Umfaßte und nicht dasGroße und Kleine die Prinzipien vorstellen sollen,auch die Zahl der Zweiheit gegenüber das Höhere seinmüßte, was als das Frühere aus den Elementen her-vorgeht. Denn beide Male haben wir es mit dem zutun, was in höherem Grade ein Allgemeines ist. Sie

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4593 513Aristoteles: Metaphysik

aber tragen diesem Gesichtspunkte wohl in jenemFalle Rechnung, in diesem aber nicht.

Wir kommen nun zu denen, die der Eins als Gegen-satz das Ändere und das Verschiedene gegenüberstel-len, und zu denen, die als den Gegensatz zu demEinen die Vielheit bezeichnen. Besteht, wie es ihreAnsicht ist, das was ist, aus Gegensätzen, und stehtder Eins entweder nichts, oder wenn es doch etwassein soll, die Vielheit gegenüber, das Ungleiche aberdem Gleichen, das Anderssein dem Identischen unddas Verschiedensein dem Esselbstsein: so haben die-jenigen noch am meisten guten Grund für sich, dieden Gegensatz aus der Eins und der Vielheit bestehenlassen; freilich, völlig befriedigen kann auch dasnicht. Denn dann hieße Eins soviel wie wenig, weilden Gegensatz zur Vielheit die Wenigkeit und zumViel das Wenig bildet.

Nun bedeutet aber Eins offenbar das Maß, undsetzt ein Substrat voraus, und zwar bei jeglichem Ge-genstande ein anderes, so bei den Tönen den Viertel-ton, bei der Ausdehnung die Spanne oder den Fußoder sonst etwas dergleichen, beim Rhythmus denVersfuß oder die Silbe, und ebenso für die Schwereein bestimmtes Gewicht, überhaupt für jeglichesetwas, was von derselben Art ist wie das Gemessene,für das Qualitative ein Qualitatives, für das Quantita-tive ein Quantitatives; – das Maß selber aber ist, was

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4594 514Aristoteles: Metaphysik

unteilbar ist, teils seinem Begriffe nach, teils für dieWahrnehmung, und damit ist gegeben, daß die Einsnicht für eine für sich bestehende Wesenheit genom-men wird. Und das hat auch seinen guten Sinn. Denndie Eins bedeutet, daß etwas als Maß einer Vielheitdient, die Zahl aber, daß das Gemessene eine Vielheitbildet und das Maß mehrfach wiederholt ist. Deshalbist auch nach gesundem Urteil die Eins gar keineZahl. Denn das Maß ist nicht eine Vielheit vonMaßen, sondern die Eins ist wie das Maß Prinzip.Das Maß muß immer etwas sein, was identisch ist füralle unter einer Gesamtheit Befaßten; z.B. sind Pferdezu zählen, so ist das Maß ein Pferd, und sind Men-schen zu zählen, so ist das Maß ein Mensch. IstMensch, Pferd und Gott zu zählen, so wird das Maßetwa Lebewesen heißen, und die Zahl gibt dann an,wieviel lebende Wesen da sind. Handelt es sich aberum Mensch, weiß und beweglich, so ist dies zum Ge-zähltwerden am wenigsten geeignet, weil es sich hierum lauter Prädikate desselben Gegenstandes handelt,der der Zahl nach nur einer ist; doch mag die Zahl indiesem Falle immerhin die Zahl von Gattungen odersonst von irgend einem allgemeinen Prädikate bedeu-ten.

Die Theorie derjenigen dagegen, die als Prinzip dasUngleiche, ein begrifflich Eines, oder das Groß-und-Kleine, die unbestimmte Zweiheit, setzen, entfernt

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4595 515Aristoteles: Metaphysik

sich doch allzuweit von dem, was annehmbar unddenkbar ist. Denn das sind Attribute und Bestimmun-gen eher als Substrate für Zahlen und Raumgrößen,das Viel-und-Wenig für die Zahl, das Groß-und-Klei-ne für die Raumgröße; ganz ebenso wie gerade undungerade, glatt und rauh, gerade und krumm. Zu die-ser Verwechslung kommt noch das andere, daß großund klein und alles dergleichen notwendig etwas Re-latives ist. Das Relative aber hat unter allem den ge-ringsten Anspruch darauf, unter die Kategorie derDinge für sich oder der selbständigen Wesen gerech-net zu werden; es ist selbst der Qualität und derQuantität gegenüber das Spätere, Abgeleitete. DasRelative ist, wie wir dargelegt haben, ein Attribut derQuantität, nicht ihre Materie; bedarf doch das Relati-ve ebenso in seiner allgemeinen Bedeutung wie in sei-nen Teilen und Arten eines anderen, was ihm zugrun-de liegt. Denn nichts ist an sich groß oder klein, vieloder wenig, überhaupt relativ, sondern immer nur imVerhältnis zu anderem. Daß das Relative am weite-sten davon entfernt ist, ein selbständiges Wesen undein Gegenstand für sich zu sein, zeigt sich auch darin,daß bei ihm allein weder von Entstehung, noch vonUntergang, noch von Bewegung die Rede ist, wie esbeim Quantum Zunahme und Abnahme, bei der Qua-lität Veränderung, beim Raume Ortsbewegung, beiden selbständigen Wesen Entstehen und Vergehen

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4596 516Aristoteles: Metaphysik

schlechthin gibt Nicht so beim Relativen. Denn ohneselbst irgendwie in Bewegung zu geraten, wird etwasder Quantität nach das eine Mal größer, das andereMal kleiner oder gleich, je nachdem das andere Gliedder. Relation sich verändert Was aber Materie vonetwas sein soll, das muß demselben potentiell gleich-artig sein, also auch die Materie der selbständigenWesenheit; das Relative aber ist weder potentiellnoch aktuell selbständige Wesenheit. Es ist also unge-reimt, ja ganz unmöglich, das, was nie etwas Selb-ständiges ist, als Element und Prius der selbständigenWesenheit zu setzen; denn dieser gegenüber sind alleKategorien Abgeleitetes. Außerdem, während die Ele-mente nicht als Prädikate zu dem stehen, dessen Ele-mente sie sind, sind viel und wenig getrennt oder auchzugleich Prädikate der Zahl, und lang und kurz Prädi-kate der Linie, und eine Fläche ist breit oder schmal.Gibt es nun eine Vielheit, die immer das Prädikatwenig hat, wie die Zweizahl, – denn wenn Zwei vielwäre, würde Eins wenig sein, – so gibt es auch eine,die viel schlechthin ist, etwa wie Zehn viel ist, wennes keine Zahl gibt, die mehr ist, oder Zehntausend.Was soll es aber dann heißen, daß die Zahl aus demWenig und Viel entsteht? Man müßte doch danachvon jeder Zahl entweder beides aussagen oder keinesvon beiden; es wird aber in Wirklichkeit nur das eineausgesagt.

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4597 517Aristoteles: Metaphysik

Man muß sich aber weiter ernstlich auch die Fragevorlegen: ist es denn überhaupt denkbar, daß das, wasewig ist, aus Elementen besteht? Wäre dem so, dannmüßte es doch eine Materie haben; denn alles was ausElementen besteht ist ein Zusammengesetztes. Giltnun notwendig von allem, gleichviel ob es ewig oderob es entstanden ist, daß es aus dem, woraus es be-steht, auch entsteht, und entsteht alles Gewordene ausPotentiellem, – denn aus anderem als aus Potentiellemkönnte es ebensowenig entstehen als bestehen; – giltferner von dem Potentiellen, daß beides möglich ist,ebensowohl, daß es aktuell, wie daß es nicht aktuellwerde: so ergibt sich für die Zahl ebenso wie für jedesandere was eine Materie hat, mag es auch noch sosehr ein Ewiges sein, daß es ebensogut auch möglichist, daß sie nicht sei, gerade so, wie es von dem gilt,was nur einen Tag und von dem, was beliebig vieleJahre existiert. Und ist dem so, dann gilt es auch fürdas, was eine noch so lange Zeit besteht, ja eine Zeit,die ohne Grenzen ist. Mithin wäre die Zahl nichtewig, wenn doch, wie sich an anderer Stelle aus unse-rer Untersuchung ergeben hat, das was möglicherwei-se auch nicht sein kann, nichts Ewiges ist. Ist nun dereben dargelegte Satz von allgemeiner Wahrheit, daßkeinerlei Wesen ewig ist, das nicht Aktualität besäße,und sind die Elemente der Wesen ihre Materie, sofolgt daraus, daß es für kein Wesen, das ewig ist, Ele-

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mente gibt, die seine Bestandteile bildeten.Nun machen zwar manche die unbestimmte Zwei-

heit zum einen, die Einheit zum anderen Element,weisen aber mit Unwillen die Versuchung ab, das Un-gleiche als Element zu setzen: wohl begreiflich; dennin der Tat würden sich daraus widersinnige Konse-quenzen ergeben. Aber es bleiben ihnen dadurch dochbloß diejenigen Schwierigkeiten erspart, die sich not-wendig dann einstellen, wenn man das Ungleiche undRelative zum Element macht. Die anderen Schwierig-keiten dagegen, die von dieser Annahme unabhängigsind, müssen sich notwendig auch ihnen entgegenstel-len, und das gleichviel, ob sie aus diesen Elementendie Idealzahl oder ob sie daraus die mathematischeZahl hervorgehen lassen.

Der Gründe, weshalb man zu dieser Erklärungs-weise seine Zuflucht genommen hat, gibt es viele; derwirksamste aber war ein altehrwürdiges Inventarstückvon Bedenken. Man meinte nämlich, alles was istwürde zu Einem, dem Eins an sich selber, werden,wenn man nicht einen Ausweg fände und dem Aus-spruch des Parmenides dreist entgegenträte: »Nim-mer erweisen wirst du den Satz, daß sei, was da nichtist«; ganz im Gegenteil müsse man notwendig zeigen,daß das Nichtseiende sei; so würde sich das Seiende,sofern es eine Vielheit bildet, aus dem Seienden undeinem anderen wohl erklären lassen. Indessen zu-

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nächst, wenn doch das Sein mehrere Bedeutungenhat, – es bedeutet nämlich das eine Mal selbständigeExistenz, dann wieder Qualität, Quantität und so dieanderen Kategorien hindurch, – in welchem Sinnewird das Eins genommen, wenn es heißt, daß, wenndas Nichtseiende kein Sein hat, alles Seiende Eineswird? Soll es von dem selbständig Existierenden odervon seinen Attributen und den anderen Bestimmungenebenso gelten, oder wird alles zu Einem, sowohl diesEinzelding wie die Qualität und die Quantität undalles andere was irgendwie die Bedeutung des Seien-den hat? Das wäre doch ungereimt, ja völlig unmög-lich, daß eine besondere Seinsart den Grund dafür ab-geben soll, daß das Seiende jetzt ein Einzelding, danneine Qualität, dann wieder eine Quantität, dann einOrt sei. Sodann, was ist das für ein Nichtseiendes undwas für ein Seiendes, aus dem die Dinge stammen?Denn auch das Nichtsein hat viele Bedeutungen,ebenso wie das Sein ja auch. Jetzt heißt es Nicht-Mensch, also nicht dieses bestimmte Wesen, dannwieder nicht-gerade, also nicht von dieser Beschaffen-heit, dann nicht-drei-Ellen-lang, also nicht von dieserGröße. Also was ist mit dem Sein, was mit demNichtsein gemeint, woraus die Vielheit der Dingestammen soll? Man erklärt: das Nichtseiende, das be-deute den Irrtum, und meint, diese Seinsart sei dasNichtseiende, aus dem in Verbindung mit dem Seien-

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den die Vielheit der Dinge stamme. Im Zusammen-hang damit hat man denn auch wohl ausgeführt: manmüsse ja wohl etwas was falsch ist als Annahme set-zen; so mache es der Geometer, wenn er annimmt, essei etwas einen Fuß lang, was doch nicht einen Fußlang ist. Diese Deutung ist indessen völlig ausge-schlossen. Auch der Geometer macht keine solchenAnnahmen; denn das, was er tatsächlich zeichnet,kommt für den Schluß, den er zieht, gar nicht in Be-tracht. Und andererseits stammt ebensowenig das Ent-stehen wie das Vergehen der Dinge aus dem Nichtsei-enden in dieser Bedeutung. Sondern man spricht vomNichtseienden erstens in ebensovielen verschiedenenBedeutungen, wie es verschiedene Kategorien gibt;man versteht das Nichtsein zweitens im Sinne des Irr-tums und drittens im Sinne des bloß Potentiellen. DasNichtsein im letzteren Sinne ist das, woraus die Ent-stehung der Dinge abzuleiten ist. Ein Mensch alsoentsteht aus dem, was noch nicht Mensch ist, wasaber ein Mensch werden kann, und das Weiße ausdem, was noch nicht weiß ist, aber weiß werden kann,und das ganz gleich, ob nun das, was entsteht, ein Ei-niges ist oder eine Vielheit.

Bei der Frage, wie das Seiende eine Vielheit dar-stellt, nimmt man augenscheinlich das Seiende imSinne des selbständig Subsistierenden; denn was manals das Hervorgebrachte bezeichnet, das sind Zahlen,

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Linien und Körper. Es hat also keinen Sinn, bei derFrage, wie das Seiende eine Vielheit ist, nur an dasselbständige Ding zu denken und nicht auch an dieQualitäten und Quantitäten. Denn die unbestimmteZweiheit und das Groß-und-Kleine gibt doch nichtden Grund ab, weshalb es zwei weiße Dinge oderviele Färben, Geschmacksqualitäten oder Figurengibt; das hieße doch, daß auch solches wie das ebenBezeichnete Zahlen und Einheiten bedeutete. Viel-mehr, man hätte nur näher heranzutreten gebraucht, sohätte man den Grund für die Vielheit auch jener Ein-zeldinge wohl gesehen; denn der Grund ist für allesvon derselben oder doch von verwandter Art. Dieserfalsche Gesichtspunkt bildet die Ursache auch dafür,daß sie bei der Frage nach dem was als das dem Sei-enden und dem Einen Entgegengesetzte in Verbin-dung mit diesen das Prinzip der Dinge bildet, etwaszugrunde legten, was sie als das Relative, das Unglei-che faßten; also etwas, was zu jenem weder in konträ-rem noch in kontradiktorischem Gegensatze steht,sondern ganz ebenso wie die Substanz und das Attri-but eine besondere Seinsart darstellt. Man hätte dannhübsch auch die Frage stellen sollen, in welcherWeise denn das Relative selbst Vieles und nicht bloßEines ist; in Wirklichkeit aber behandelt man wohldie Frage, in welcher Weise es viele Einheiten nebender ursprünglichen Eins geben kann, aber nicht in

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welcher Weise vieles Ungleiche neben dem ursprüng-lichen Ungleichen besteht. Gleichwohl machen sie inihren Ausführungen beständigen Gebrauch von Großund Klein, Viel und Wenig, woraus die Zahlen, Langund Kurz, woraus die Linie, Breit und Schmal, wor-aus die Fläche, Hoch und Tief, woraus die Körper be-stehen sollen. Ja, sie nennen noch weitere Arten desRelativen. Was soll denn nun für diese der Grundsein, daß sie als solche Vielheit vorkommen?

Es bleibt also nur, daß man es macht wie wir, undjegliches aus dem ableitet, was für dasselbe das Po-tentielle bedeutet. Der Urheber jener Ansicht aber gabauf die Frage, was dieses nur der Potenz nach, abernicht an sich als Einzelnes und Selbständiges existie-rende Wesen sei, noch die weitere Antwort, es sei dasRelative; er hätte ebensogut sagen können: das Quali-tative, das ja ebenso weder potentiell das Eine oderdas Seiende, noch die Negation des Einen und desSeienden, sondern eine der Formen des Seienden ist.Und noch viel mehr hätte er, wie gesagt, das Potenti-elle zugrunde legen müssen, wenn die Frage war, wiedas Seiende eine Vielheit ausmacht; er hätte sich nichtauf das einer einzelnen Kategorie angehörende be-schränken dürfen, um zu zeigen, wie es viele selbstän-dige Wesen oder viele Beschaffenheiten geben könne,sondern er hätte untersuchen müssen, wie das Seiendeüberhaupt eine Vielheit bilden kann. Denn das Seien-

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de ist doch nur zum Teil selbständig Existierendes;anderes ist Attribut, und wieder anderes ist Relatives.

Betreffs der anderen Kategorien nun gibt es wohlnoch ein anderes, wobei man stehen bleiben kann, umzu erklären, wie sie eine Vielheit bilden. Weil sienämlich nicht selbständig bestehen, so könnte derGrund für die Vielheit von Qualitativem und Quanti-tativem darin liegen, daß ihr Substrat eine Vielheitwird und ist. Indessen, für jede besondere Art müßtees auch so eine besondere Materie geben; nur ist esausgeschlossen, daß sie etwas von den selbständigenWesen abgesondert für sich Bestehendes wäre. Dage-gen betreffs der Einzelwesen hat es seine Schwierig-keit, wie das Einzelwesen eine Vielheit bilden soll,falls es nicht einerseits das Einzelwesen und anderer-seits ein potentielles Sein derselben Art gibt. DieSchwierigkeit also liegt vielmehr in der Frage, wie eseine Vielheit von aktuellen selbständigen Wesen undnicht bloß eines gibt.

Wenn nun aber Einzelwesen nicht dasselbe bedeu-tet wie Quantitatives, so sagt man uns nicht, wie undweshalb das Seiende, sondern wie das Quantitativeeine Vielheit bildet. Denn jede Zahl bedeutet einQuantum, und die Eins, wenn sie nicht als Maß dient,bedeutet das im Sinne der Quantität Unteilbare. Istaber das Quantitative etwas anderes als das selbstän-dige Einzelwesen, so ist die Herkunft der Einzelwesen

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und die Vielheit derselben nicht erklärt; und soll esgar dasselbe sein, so zieht man sich mit der ganzenTheorie eine Menge von Einreden auf den Hals.

Es ist aber noch eine weitere Erwägung, auch be-treffs der Zahlen, die einen Aufenthalt veranlaßt: aufwelchem Wege kann man eigentlich die Überzeugungvon ihrer Existenz gewinnen? Dem Anhänger der Ide-enlehre stellen sie etwas wie einen Grund für daswahrhaft Seiende dar, wenn jede der Zahlen eine Idee,die Idee aber auf irgend welche Weise den Grund desDaseins für das andere bedeutet. Das nun mag ihneneinmal als Voraussetzung zugegeben werden. Denje-nigen aber, der diese Auffassung nicht zu teilen ver-mag, weil er die mit der Ideenlehre verbundenenSchwierigkeiten durchschaut, und der deshalb eineselbständige Existenz der Zahlen leugnet, dafür aberdie mathematische Zahl gelten läßt: – wie will mandiesen überzeugen, daß eine solche Zahl existiert, undwelchen Gewinn bringt sie für das Verständnis deranderen Dinge? Der Vertreter der Ansicht, daß dieZahl existiere, faßt sie ja gar nicht als Zahl von irgendetwas, sondern als ein selbständig für sich bestehen-des Wesen, und man sieht auch nicht, wie sie von ir-gend etwas die Ursache sein kann; denn alle Sätze derZahlenlehre behalten, wie wir oben nachgewiesenhaben, ihre volle Gültigkeit auch dann, wenn sie sichauf die sinnlichen Gegenstände beziehen.

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4605 525Aristoteles: Metaphysik

Die Vertreter der Ideenlehre nun, die zugleich an-nehmen, daß die Ideen Zahlen seien, machen wenig-stens den Versuch, wenn neben der Vielheit das Eine,die Gattung, als selbständig herausgesetzt wird, nach-zuweisen, auf welche Weise und aus welchem Gründejegliche solche Einheit existiert. Indessen, da eine sol-che Annahme weder notwendig noch auch nur denk-bar ist, so reichen diese Gründe nicht aus, um deshalbder Zahl eine gesonderte Existenz zuzuschreiben. DiePythagoreer dagegen, weil sie bemerkten, daß vieleAttribute der Zahlen an den sinnlichen Dingen haften,bezeichneten wohl das Seiende als Zahl, doch nicht indem Sinne, daß sie sie als etwas von den Dingen ge-sondert Bestehendes betrachtet hätten, sondern sie lie-ßen vielmehr die Dinge selber geradezu aus Zahlenbestehen, aus welchem Gründe aber? Nun, weil dieAttribute der Zahlen in der Harmonie der Töne, in denBewegungen der Himmelskörper und in vielen ande-ren Erscheinungen wiederkehren. Diese Art von Be-gründung ist allerdings für diejenigen, die nur derZahl im Sinne der Mathematik Realität zuschreiben,vermöge ihrer Voraussetzungen unbrauchbar; darumberuft man sich hier darauf, daß es im anderen Fallekeine Wissenschaft von diesen Gegenständen würdegeben können. Wir dagegen behaupten, diese Wissen-schaft besteht ganz wohl auch so, nämlich in dem frü-her von uns dargelegten Sinne. Und in der Tat, daß

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4606 526Aristoteles: Metaphysik

die mathematischen Objekte nichts Abgesondertes fürsich sind, ist ganz evident. Denn bestanden sie wirk-lich so abgesondert für sich, so würden uns nicht ihreAttribute in den realen Dingen begegnen.

Die Pythagoreer nun unterliegen in dieser Bezie-hung allerdings keinem Vorwurf, aber wohl in andererBeziehung. Denn wenn sie die natürlichen Dinge ausZahlen bestehen lassen, also das was leicht undschwer ist aus solchem ableiten, was weder Leichtig-keit noch Gewicht besitzt, so scheint es, sie reden voneinem anderen Himmel und von anderen Dingen undnicht von dieser sinnlichen Welt. Diejenigen aber, diedie abgesonderte Existenz annehmen, schreiben denZahlen Existenz, und zwar abgesonderte Existenz,deshalb zu, weil die Axiome keine Geltung für diesinnlichen Dinge haben könnten, diese Axiome aberso wie man sie hinstellt wahr sind und der Vernunfteinleuchten. Und ganz dasselbe gelte von den Raum-größen im Sinne der Mathematik. Offenbar nun ver-anlaßt der Gegensatz in der Auffassung auch einenGegensatz in den Konsequenzen, und den Vertreterndieser Ansicht liegt es ob, die eben dargelegteSchwierigkeit zu lösen und zu zeigen, wie es kommt,daß, während die mathematischen Objekte nirgends inden sinnlichen Dingen vorhanden sind, dennoch ihreAttribute in den sinnlichen Dingen wiederkehren.

Manche schließen, weil der Punkt von der Linie,

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4607 527Aristoteles: Metaphysik

die Linie ebenso von der Fläche und diese vom Kör-per die Grenze und das äußerste Ende bildet, somüßte diesen Gebilden auch notwendig Existenz zu-kommen. Indessen, auch bei diesem Schlüsse gilt eszu prüfen, ob seine Bündigkeit nicht zu wünschenübrig läßt. Das äußerste Ende ist doch kein selbstän-dig Seiendes, sondern alles das ist vielmehr bloßeGrenze, wie ja jedes Schreiten und überhaupt jede Be-wegung einmal an eine Grenze gelangt. Dies müßtedemnach alles bestimmtes Einzelwesen und selbstän-dig Seiendes bedeuten; das aber ist ungereimt. Undgesetzt selbst, sie existierten wirklich, so müßten siesämtlich zu den sinnlichen Dingen gehören; denn mitBezug auf diese ist doch der Schluß gezogen worden.Warum sollten sie nun auf einmal abgesondert fürsich existieren?

Aber weiter, wer nicht geneigt ist, sich allzuleichtzufrieden zu geben, wird betreffs der Zahl überhauptund der mathematischen Objekte auch diesen Um-stand in Betracht ziehen, daß zwischen den verschie-denen Stufen, dem Vorhergehenden und dem Nachfol-genden, hier schlechterdings kein Zusammenhang be-steht. Angenommen, der Zahl komme keine Existenzzu, so werden doch nichtsdestoweniger für die, dienur den mathematischen Objekten eine Existenz zuge-stehen, die Raumgrößen existieren, und wenn auchdiese keine Existenz haben, so wird doch immer noch

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4608 528Aristoteles: Metaphysik

die Seele und werden die sinnlichen Dinge fortbeste-hen. Die Welt aber macht mit ihren Erscheinungennicht den Eindruck, als ob sie ein zusammenhangslo-ses Gefüge gleich einer schlecht gebauten Tragödiewäre.

Den Anhängern der Ideenlehre allerdings bleibtsolcher Vorwurf erspart. Sie lassen die Raumgrößenaus der Materie und der Zahl entstehen, aus der Zwei-heit die Linie, aus der Dreiheit etwa die Fläche, ausder Vier die Körper, oder meinetwegen auch aus an-deren Zahlen; denn darauf kommt gar nichts an. Aberwie ist es nun damit? Soll dies Ideen bedeuten? oderwas soll man sich sonst darunter vorstellen? und wel-chen Beitrag liefern sie zur Realität der Dinge? Garkeinen; sie tragen dazu ebensowenig bei wie die ma-thematischen Objekte. Ja auch nicht einmal ein ma-thematischer Lehrsatz gilt für sie, es sei denn, daßman die mathematischen Objekte in Bewegung zuversetzen und ganz eigentümliche Anschauungen übersie anzustellen sich entschließen will. Das freilichkann man ja. Es macht keine besondere Mühe, sichbeliebige Hypothesen auszutifteln, dann darüber einLanges und Breites zu schwatzen und sie immer wei-ter auszuspinnen.

Dies also ist der eine Abweg, daß man auf die ge-schilderte Weise die mathematischen Objekte mit denIdeen verschmilzt. Einen anderen haben diejenigen

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4609 529Aristoteles: Metaphysik

beschritten, welche zuerst zwei Arten von Zahlen auf-gestellt haben, Idealzahlen und dann noch mathemati-sche Zahlen. Leider aber haben diese niemals gesagtund wissen auch nicht zu sagen, auf welche Weiseund woraus die mathematische Zahl entsteht. Siesehen in ihr ein Mittleres zwischen der Idealzahl undden sinnlichen Dingen. Soll sie nun aus dem Groß-und-Kleinen entstehen, so wird sie mit der Idealzahlidentisch. Vielleicht nun meinen sie, es sei ein ande-res Klein-und-Großes, und wieder ein anderes, wor-aus die Raumgrößen entstehen. Wenn man aber so einzweites Groß-und-Kleines annimmt, so setzt mandamit eine Mehrheit von Elementen, und wenn manfür jedes von beiden ein Einiges als Prinzip setzt, somüßte das Eine wieder ein Gemeinsames über beidenausmachen. Dann aber muß man erstens fragen, inwelchem Sinne das Eine zu dieser Vielheit wird, undzweitens ist es nach jener Ansicht ja gerade ausge-schlossen, daß die Zahl anders als aus der Eins undder unbestimmten Zweiheit entstehe.

Das alles hat also keinen rechten Sinn. Es streitetebenso wider sich selbst wie wider die gesunde Ver-nunft und gleicht durchaus dem, was Simonides einlangatmiges Gerede nennt. Solches Gerede stellt sichein gerade wie bei den Sklaven, wenn sie etwas Ver-nünftiges zu ihrer Entschuldigung nicht vorzubringenwissen. Man hört geradezu die Elemente selber, das

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4610 530Aristoteles: Metaphysik

Große und Kleine, laute Beschwerde erheben über dieArt, wie sie bei den Haaren herbeigeschleppt werden.Denn es ist völlig undenkbar, wie die Zahl von ihnenerzeugt werden sollte; es könnten doch immer nur vonder Einheit ausgehend die Potenzen der Zweizahlsein, die sich daraus ableiten ließen.

Übrigens ist schon das unangebracht, bei dem, wasewig ist, von einer Entstehung zu sprechen, ja nochmehr, es ist eines von den Dingen, die völlig sinnlossind. Ob die Pythagoreer eine solche Entstehung an-nehmen oder ablehnen, darüber braucht man sichnicht den Kopf zu zerbrechen; denn sie lehren aus-drücklich: sobald einmal die Einheit herausgebildetwar, sei es aus der Fläche, sei es aus der Farbe, oderaus dem Samen oder weiß Gott woraus sonst, was an-zugeben sie in Verlegenheit sind, so wurde im selbenAugenblick von ihr als der Grenze das Nächstliegen-de aus dem Unbegrenzten herbeigezogen und zum Be-grenzten gemacht. Aber da sie ja selbst angeben, siewollten die Entstehung der Welt erklären und dabeinaturwissenschaftlich verfahren, so darf man, um ge-recht zu sein, Kritik an ihrer Lehre auch nur im Sinneder Naturwissenschaft üben, und bei unserer gegen-wärtigen Untersuchung ist demnach von ihnen abzu-sehen. Denn unsere gegenwärtige Untersuchung drehtsich um die Frage nach den Prinzipien in dem, wasunbeweglich ist, und deshalb haben wir hier die Ent-

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4611 531Aristoteles: Metaphysik

stehung der Zahlen ins Auge zu fassen nur sofern siediesen Charakter tragen.

Die Platoniker sagen nichts von einer Entstehungdes Ungeraden; es ist also offenbar ihre Meinung, daßvon Entstehung nur beim Geraden die Rede seinkönne. Die erste gerade Zahl aber lassen manche ausdem Ungleichen, also aus einem Ausgleich des Groß-und-Kleinen hervorgehen. Dann muß also notwendig,ehe der Ausgleich geschah, eine Ungleichheit zwi-schen ihnen bestanden haben. Wären sie von Ewig-keit her ausgeglichen, so könnten sie nicht vorher un-gleich gewesen sein; denn für das, was ewig ist, gibtes kein Vorhergehendes. Augenscheinlich also schrei-ben sie den Zahlen eine wirkliche Entstehung undnicht bloß im Sinne einer begrifflichen Entwicklungzu.

Eine Frage, an der man nicht so wohlgemut vorbei-gehen kann, ohne sich dem Tadel auszusetzen, ist fer-ner die nach dem Verhältnis, in dem die Elemente unddie Prinzipien zum Guten und Wertvollen stehen. Esist das die Frage, ob etwas derartiges, wie das, waswir das Gute an sich und das höchste Gut nennenwollen, selbst zu den Elementen und Prinzipien zurechnen ist oder nicht, ob es nicht vielmehr etwas erstspäter Gewordenes ist. Rat selten der mythologisie-renden Denker scheint über diesen Punkt eine Art vonÜbereinstimmung zu herrschen mit gewissen neueren,

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4612 532Aristoteles: Metaphysik

die jenes bestreiten und meinen, erst mit dem Fort-schritt in der Entwicklung der Dinge trete darin auchdas Gute und Zweckmäßige in die Erscheinung.Wenn die letzteren so lehren, so geschieht es, umeiner wirklichen Schwierigkeit zu entgehen, derSchwierigkeit, die sich für diejenigen ergibt, die, wiemanche es tun, das Prinzip in der Einheit erblicken.Nicht etwa daraus ergibt sie sich, daß sie dem Prinzipdie Zweckmäßigkeit als ihm immanent beilegen, son-dern daraus, daß sie die Einheit zum Prinzip machen,und zwar zum Prinzip im Sinne des Elements, und dieZahl aus der Einheit sich erzeugen lassen. Die Dichterder Vorzeit bewegen sich insofern in ähnlichen Vor-stellungen, als sie die Herrschaft und das Weltregi-ment nicht den ursprünglichen Göttern, wie der Nachtund dem Himmel oder dem Chaos und dem Okeanos,sondern dem Zeus zuschreiben. Indessen, sie kommenzu solcher Darstellung dadurch, daß sie die Herrschaftder Welt von einer Hand in die andere übergehen las-sen, während diejenigen, bei denen die mythischeVorstellungsweise nicht rein und nicht durchwegherrscht, wie Pherekydes und einige andere, gleichdas ursprüngliche erzeugende Prinzip als das höchsteGut fassen, und ebenso die Magier, und unter denPhilosophen der späteren Zeit Empedokles und Ana-xagoras, von denen jener die Liebe als Element, die-ser die Vernunft als Prinzip gesetzt hat. Unter denen

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4613 533Aristoteles: Metaphysik

aber, die die Existenz von unbewegten Wesenheitenannehmen, lehren die einen, die Idee der Einheit seiauch die Idee des Guten; allerdings meinten sie, dieEinheit sei darin das eigentliche Wesen.

Die Frage ist nun die, in welcher von beiden Wei-sen man die Sache fassen soll. Nun wäre es dochgewiß seltsam, wenn dem Absoluten, dem höchsten,dem ewigen, schlechthin sich selbst genügendenWesen gerade dies Höchste, das Sichselbstgenügenund die ewige Dauer nicht als das Zweckmäßige inne-wohnen sollte. Vielmehr hat es doch seine Unver-gänglichkeit aus keinem anderen Grunde als daher,daß es vollkommen ist, und eben daher auch hat essein Selbstgenüge. Darum hat man allen guten Grund,den Satz, daß dies dem Prinzip als sein Attribut zu-komme, als zutreffend anzuerkennen. Ausgeschlossendagegen ist die Annahme, daß dieses Prinzip die Ein-heit, oder wenn nicht diese, daß es Element und zwarElement der Zahlen sei. Daraus würde sich eineMenge von Schwierigkeiten ergeben.

Um diesen zu entgehen, haben manche diese Wen-dung aufgegeben. Zwar, daß die Einheit oberstesPrinzip und Element sei, das lassen sie gelten, aberdoch nur für die Zahl im Sinne der Mathematik. Sonstnämlich würde jede Einheit ihrem Wesen nach zueinem Guten, und damit ergäbe sich allerdings ein ge-waltiger Reichtum an guten Dingen. Ferner, wenn die

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4614 534Aristoteles: Metaphysik

Ideen Zahlen sind, so ist dann jede Idee von Wesenein Gutes. Nun mag man Ideen als existierend setzenvon jedem Beliebigen. Setzt man sie nur als Ideen vonguten Dingen, so fällt der Begriff Idee nicht mehr mitdem von selbständiger Wesenheit zusammen. Setztman sie aber zugleich als Ideen von dem was selb-ständige Wesenheit ist, so werden sämtliche Tiere undsämtliche Pflanzen zu guten Wesen und ebenso alles,was an ihnen teilhat. Ist schon diese Konsequenz un-gereimt, so gilt es ebensosehr von der anderen, daßdann das jenem entgegengesetzte Element, es heißenun Vielheit oder Ungleichheit oder Groß-und-Klein,das Zweckwidrige schlechthin bedeuten müßte. Ausdiesem Grunde vermied es denn auch der eine dieserDenker, die Zweckmäßigkeit an den Begriff der Ein-heit zu knüpfen, indem er bedachte, daß dann, weildas Werden aus dem geschieht, was den Gegensatzbedeutet, das Wesen der Vielheit notwendig in derZweckwidrigkeit bestehen müßte. Ändere bezeichnendagegen das Ungleiche geradezu als das Wesen derZweckwidrigkeit. Die Konsequenz ist dann die, daßalle Dinge die Eigenschaft der Zweckwidrigkeit besit-zen, außer einem, der Idee der Einheit, daß ferner dieZahlen noch in höherem Grade als die Raumgrößendiese Eigenschaft unvermischt an sich tragen, und daßdas Schlechte für das Gute das Material abgäbe undsomit an dem teilhätte und dem zustrebte, was ihm

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4615 535Aristoteles: Metaphysik

den Untergang bereitet. Denn wo zwei einen Gegen-satz bilden, da ist das eine des anderen Verderben.Und wenn, wie wir ausgeführt haben, die Materieeines jeden Dinges das Ding als Potentielles ist, z.B.die Materie des aktuellen Feuers das potentielleFeuer, so würde das Schlechte seinem Begriffe nachdas Gute als potentielles Gutes sein.

Alles dergleichen ergibt sich als Konsequenz dar-aus, daß man erstens aus jedem Prinzip ein Elementmacht, zweitens dualistisch die Prinzipien in Gegen-sätze scheidet, drittens die Einheit als Prinzip setzt,viertens die Zahlen für die obersten Wesenheiten, fürselbständige Existenzen und Ideen ansieht.

Ist es nun ebenso unmöglich, den Zweck nichtunter den Prinzipien aufzuführen, wie ihn in der be-zeichneten Weise aufzuführen, so ist auch nachgewie-sen, daß diese Art, die Prinzipien und die oberstenWesenheiten zu bezeichnen, nicht die richtige seinkann.

Man ist aber auch darin auf falschem Wege, wennman eine Gleichartigkeit zwischen den Prinzipien desUniversums und dem annimmt, was für die Tiere undPflanzen gilt, und behauptet, weil hier aus Unbe-stimmtem und Unvollkommenem das immer Voll-kommenere sich herausbilde, deshalb müsse es sichmit den obersten Wesenheiten ebenso verhalten, wo-nach dann der Idee der Einheit überhaupt keine Exi-

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4616 536Aristoteles: Metaphysik

stenz zukäme. Allein auch dort, bei Pflanzen und Tie-ren, sind schon die Prinzipien, aus denen sie entsprin-gen, immer die vollkommenen Gebilde. Was denMenschen hervorbringt, ist ein Mensch, und derMensch, nicht der Same, ist das Ursprüngliche. Es istganz ebenso ungereimt, wenn man den Raum schonmit den mathematischen Körpern zugleich entstehenlassen will. Denn der Raum ist etwas den realen Ein-zeldingen Angehöriges, die deshalb räumlich geschie-den sind; die mathematischen Objekte dagegen sindnicht im Räume. Und ebenso ungereimt ist es, denmathematischen Objekten ein räumliches Dasein zu-zuschreiben, aber nicht zu sagen, was denn nun derRaum ist.

Wer da behauptet, die Dinge beständen aus Ele-menten und die obersten unter den Dingen seien dieZahlen, dessen Sache wäre es, die verschiedenen Wei-sen zu unterscheiden, wie eines aus anderem wird,und so nachzuweisen, wie denn nun die Zahl aus denPrinzipien entspringt. Soll es etwa durch Mischunggeschehen? Aber erstens, es läßt sich nicht alles mi-schen, und zweitens, was durch Mischung entsteht, istein anderes als die Bestandteile; also hätte dann dieEinheit keine gesonderte Existenz mehr und kein vonden Bestandteilen verschiedenes Wesen. Und das ist'sdoch gerade, was sie wollen. Oder durch äußerlicheZusammensetzung, so wie eine Silbe entsteht? Aber

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4617 537Aristoteles: Metaphysik

dann müßte eine Setzung schon vor der Zusammen-setzung vorhanden sein, und wer den Gegenstanddenkt, würde die Einheit und die Vielheit als die Be-standteile des Zusammengesetzten jedes gesondertdenken; dann wäre die Zahl eben dies, ein Aggregatvon Einheit und Vielheit, oder von Einheit und Un-gleichem. Aus etwas stammen kann nun ebensogutbedeuten aus solchem stammen, was im Gegenstandevorhanden bleibt oder aus solchem, was nicht darinbleibt; welches von beiden gilt nun für die Zahl? DieAbstammung aus solchem, was im Gegenstande vor-handen bleibt, findet sich nur da, wo eine Erzeugungstattfindet. Also entsteht die Zahl wie aus einemSamen? Aber von dem was unteilbar ist, wie die Eins,kann doch nichts auf anderes übergehen. Oder wie auseinem Entgegengesetzten, das nicht bestehen bliebe?Allein, was so entsteht, das erfordert für sein Entste-hen noch etwas anderes, welches bestehen bleibt. Danun die Einheit von den Einen als Gegensatz zurVielheit, von anderen als Gegensatz zum Ungleichengenommen wird, wobei dann die Eins als das Gleicheverwandt wird, so würde die Zahl aus einem gegen-sätzlichen Paare abstammen, und es müßte dann nochein anderes geben, woraus sie stammt und das beste-hen bleibt als ein davon verschiedenes Substrat. Undendlich: wie kommt es denn, daß alles andere was ausGegensätzen stammt, oder den Gegensatz an sich hat,

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4618 538Aristoteles: Metaphysik

auch dann, wenn beide Gegensätze sich in der Her-vorbringung erschöpfen, zugrunde geht, die Zahl abernicht? Darüber spricht man sich nicht aus. Und dochist der Gegensatz Grund des Unterganges, gleichvielob er im Gegenstande steckt oder nicht steckt, wie derStreit [bei Empedokles] die Mischung verderbt; – al-lerdings wäre es hier nicht einmal notwendig, weil derStreit ja nicht zu der Mischung den Gegensatz bildet[sondern zur Freundschaft].

Bestimmter Aufschluß wird ferner auch darübernicht gegeben, in welchem Sinne die Zahlen Ursachender Wesen und der Existenz bedeuten können. Etwaals Grenzen, wie die Punkte für die Raumgrößen, undwie Eurytos es machte? Der wußte nämlich anzuge-ben, was die Zahl eines jeden beliebigen Dinges sei;z.B. dies sei die Zahl des Menschen, diese die desPferdes. Und ebenso andere Leute, die die Zahlennach der Figur des Dreiecks und des Vierecks ordnenund von den Formen der Pflanzen vermittelst Rechen-steinen ein Abbild herstellen. Oder soll, weil die Har-monie ein Zahlenverhältnis ist, deshalb auch derMensch und jedes andere Wesen eine Harmonie sein?In welchem Sinne nun gar sollen Eigenschaften wieweiß, süß, warm, Zahlen sein? Daß die Zahlen keineselbständigen Wesen und keine Ursachen der Gestal-tung sind, ist ausgemacht. Denn das Wesen liegt indem Verhältnis, und dafür ist die Zahl bloße Materie.

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4619 539Aristoteles: Metaphysik

So macht eine Zahl das Wesen des Fleisches oder desKnochens in dem Sinne aus, daß dazu 3 Teile Feuer,2 Teile Erde gehören. Die Zahl, welche es auch sei,ist jedesmal die Zahl von etwas. Zahl des Feuers oderder Erde oder Zahl von Einheiten. Das Wesen derSache aber besteht darin, daß in der Mischung dasVerhältnis des einen zum anderen durch diese be-stimmte Zahl ausgedrückt wird. Dies ist aber nichtmehr eine Zahl, sondern ein zahlenmäßiges Mi-schungsverhältnis von körperlichen oder sonst irgend-welchen Dingen.

Das Ergebnis von alledem ist, daß die Zahl nichtdie Ursache der Dinge im Sinne der hervorbringendenUrsache sein kann, weder die Zahl überhaupt noch dieaus Einheiten bestehende; daß sie es auch nicht alsMaterie noch als Begriff und Form der Dinge ist. Undso ist sie es denn auch nicht im Sinne der Zweckursa-che.

Nun könnte man weiter die Frage aufwerten, wasmit der Zweckmäßigkeit gemeint ist, die von den Zah-len dadurch herkommen soll, daß die Mischung einezahlenmäßige ist, sei es nun, daß sie nach Potenzenoder nach ungeraden Zahlen geschieht. In Wirklich-keit ist eine Mischung aus Wasser und Honig nichtdeshalb gesünder, wenn die Mischung gerade nachdem Verhältnis von dreimal drei stattgefunden hat;vielmehr ist sie vielleicht heilkräftiger, wenn sie zwar

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4620 540Aristoteles: Metaphysik

einen Zusatz von Wasser, aber diesen in keinem be-stimmten Verhältnis enthält, als wenn sie zwar nacheiner bestimmten Zahl gemischt, aber zu stark ist. Au-ßerdem darf man Mischungsverhältnisse nur in einerAddition von Zahlen, nicht in einer Multiplikation be-stehen lassen; z.B. drei plus zwei, aber nicht dreimalzwei. Denn wo eine Multiplikation stattfinden soll, damuß es sich um eine und dieselbe Gattung handeln.Hat man eine Reihe a b c, so muß sie durch a gemes-sen werden, und ebenso die Reihe d e f durch d, undso jegliches jedesmal durch das Identische. Es kannalso für das Feuer nicht eine Reihe wie b e c f geltenund für das Wasser nicht die Zahl zweimal drei dieangemessene sein.

Wäre es aber richtig, daß alles notwendig mit derZahl in Zusammenhang steht, so ergäbe sich ebensonotwendig, daß vieles identisch wird und die Zahl fürden einen Gegenstand dieselbe ist wie für den ande-ren. Kann also damit wirklich die Ursache bezeichnetsein? kann das Ding seinen Bestand der Zahl verdan-ken? oder bliebe es damit nicht vielmehr vieldeutig?Da ist z.B. eine Zahl für den Umlauf der Sonne undwiederum eine für den des Mondes und ebenso einefür Leben und Älter jedes lebenden Wesens. Was hin-dert nun, daß einige dieser Zahlen Quadratzahlen, an-dere Kubikzahlen, einige gleich, andere ein Doppeltesseien? In der Tat hindert nichts, vielmehr müßten sich

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4621 541Aristoteles: Metaphysik

die Zahlen in diesen Verhältnissen bewegen, wennalles an der Zahl hinge, und es wäre die Möglichkeitgegeben, daß das Verschiedene durch dieselbe Zahlbezeichnet würde. Wenn daher für manche Dinge sichdieselbe Zahl ergeben hätte, so wären somit dieseDinge unter einander identisch, weil sie die identischeForm der Zahl hätten, und es würde z.B. Sonne undMond identisch werden.

Was ist aber der Grund, daß dies als Ursache gel-ten soll? Es gibt sieben Vokale, sieben Saiten oderHarmonietöne auf dem Instrument, sieben Plejaden;mit sieben Jahren wechseln die Kinder, manche we-nigstens, manche auch nicht, die Zähne; sieben Für-sten zogen gen Theben. Ist nun die Eigentümlichkeitdieser Zahl schuld daran, daß es gerade sieben waren,oder daß die Plejade aus sieben Sternen besteht? oderwar es nicht vielmehr die Zahl der Tore oder sonsteine andere Ursache, die es bewirkte? Wir zählen inder Plejade sieben, im Bären aber zwölf Sterne, undandere zählen noch mehr. Die Konsonanten X, Ps, Znennen jene Leute »Konsonanzen«, und meinen, des-halb weil die musikalischen Konsonanzen der Zahlnach drei betragen, so gelte die Zahl drei auch beijenen. Daß es dergleichen Konsonanten unzähligegeben könnte, das kümmert sie nicht. Könnte mandoch auch für g mit r ganz wohl einen einzigen Buch-staben setzen. Wenn es aber wirklich diese Doppel-

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konsonanten gibt und keine weiteren, so ist der Grunddafür der, daß es im Sprachorgan drei Stellen derKonsonantenbildung gibt, wo ein s angehängt wird;das ist der Grund, weshalb es nur die drei Doppelkon-sonanten gibt, und nicht das, daß die Zahl der »Kon-sonanzen« drei beträgt. Überdies gibt es der letzterenmehr als drei, was bei jenen ausgeschlossen ist.

Jene Leute machen es gerade so wie die alten Ho-mererklärer, die geringe Verwandtschaften sehen, fürdie großen aber keine Äugen haben. Es gibt Leute,die sich gern in derartigen Spielereien bewegen: z.B.wie die beiden mittleren Saiten die eine 8, die andere9 Töne habe, ebenso habe der epische Vers siebzehnSilben, gleich der Summe von jenen, und man mißtihn so, daß die rechte Seite 9, die linke 8 Silben hat;oder der Abstand im Alphabet von A bis Z sei eben-sogroß wie der auf der Flöte vom tiefsten Ton biszum höchsten, und die Zahl des letzteren sei gleichdem Gesamtbau des Himmels. Man überlege sich da-gegen bloß, wie wenig Beschwerde es macht, derglei-chen sich auszuklügeln und ausfindig zu machen inden ewigen Dingen, da es schon in den vergänglichenDingen so leicht ist.

Die eigentümlichen Bestimmtheiten der Zahlen,diejenigen sowohl, die man preist, wie diejenigen, diedazu den Gegensatz bilden, und überhaupt das Wesender mathematischen Objekte, scheint nun gerade in

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demselben Maße, wie sie von der Zahl reden und siezur Ursache der ganzen Welt machen möchten, denenunter den Händen zu gerinnen, die sich dieser Be-trachtungsweise überlassen. Was sie vorbringen, istin keiner der Bedeutungen Ursache, die wir in unsererErörterung über die Prinzipien festgelegt haben. Wiesie es bestimmen, ist allerdings soviel augenschein-lich, daß das Zweckmäßige existiert und daß es dereinen der beiden Reihen, der des Guten, angehört, sodas Ungerade, die gerade Linie, das Gleiche, die Po-tenzen gewisser Zahlen. Dahin gehört auch die Ver-gleichung der Jahreszeiten mit einer Zahl, ebenso wiedas andere, was sie aus den Lehrsätzen der Mathema-tik zusammentragen; alles das hat dieselbe Bedeu-tung, alles aber macht zugleich den Eindruck zufälli-ger Einfälle. Zufälligkeiten sind es, wenn auch alleunter einander verwandt, und das Band zwischenihnen ist die bloße Analogie. Solche Analogie gibt esin jeder Kategorie des Wirklichen. Was in der Liniedas Gerade, das ist in der Fläche das Ebene, in derZahl etwa das Ungerade, in der Farbe das Weiße. DieIdealzahlen übrigens sind jedenfalls nicht die Ursa-chen der harmonischen Verhältnisse und dessen, wasihnen gleicht. Denn bei jenen sind die der Form nachgleichen Zahlen von einander verschieden, wie schondie Einheiten selber verschieden sind. Also einGrund, Ideenlehre zu treiben, wäre in jenen Dingen

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nimmermehr zu finden.Solche Konsequenzen ergeben sich, und man könn-

te wohl eine noch größere Menge heranziehen. Dochschon dies, daß die Entstehung der Zahlen so großeSchmerzen macht, und daß man sie auf keine Weiseverständlich machen kann, scheint ein Beweis dafürzu sein, daß die mathematischen Objekte keine vonden sinnlichen Dingen abgesonderte Existenz haben,wie manche sie ihnen zuschreiben, und daß sie eben-sowenig als die Prinzipien des Seienden anzusehensind.

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VI. Zur Terminologie

1. Prinzip, Grund, Element

Ein Prinzip nennt man erstens den Punkt, von woaus man bei einem Gegenstande die Bewegung be-ginnt; wie bei einer Linie oder einem Wege, wo aufdieser Seite der eine, auf der entgegengesetzten Seiteder andere Ausgangspunkt liegt. Zweitens aber heißtPrinzip auch das, von wo aus etwas am zweckmäßig-sten vollbracht wird; wie man beim Lehren bisweilennicht mit dem was der Sache nach das Erste und dasPrinzip ist, sondern mit dem anfangen muß, von woaus das Lernen sich am leichtesten vollzieht. Drittensheißt Prinzip der Bestandteil, der für die Entstehungdes Ganzen der ursprüngliche ist, wie beim Schiffeder Kiel, beim Hause der Grundstein; bei den leben-den Wesen legen die einen dem Herzen, die anderendem Gehirn, wieder andere irgend einem anderen Or-gane diese Bedeutung bei. Viertens heißt Prinzip auchdas, was ohne Bestandteil der Sache zu sein beiihrer Entstehung das Erste ist, das wovon die Bewe-gung und die Veränderung der Natur der Sache nachals von dem Ersten beginnt; wie für das Kind Vaterund Mutter, für den Streit eine Beleidigung. Fünftensdas was eine Bewegung oder Veränderung vorsätz-

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lich hervorruft; in diesem Sinne heißt Prinzip die Ob-rigkeit im Staate, die Herrschermacht, das gesetzlicheKönigtum und die usurpierte Gewalt, andererseits dieKünste und unter diesen wieder vor allem die für an-dere leitenden. Sechstens heißt Prinzip des Gegen-standes auch das, wovon die Erkenntnis des Gegen-standes als von dem Ersten ausgeht, wie die Vorder-sätze eines Schlusses.

In ebenso vielfacher Bedeutung nun spricht manauch vom Grunde. Denn alles was Grund ist, ist auchPrinzip. Das Gemeinsame in allen Bedeutungen desWortes Prinzip ist dies, daß es den Ausgangspunktbezeichnet dafür, daß etwas ist oder geschieht oder er-kannt wird. Dahin gehört teils solches was dem Ge-genstande selbst angehört, teils solches was ihm äu-ßerlich ist. Daher ist Prinzip die innere Anlage unddas Element, die Überlegung und die Absicht, die be-griffliche Wesenheit und der Zweck. Denn es gibtviele Dinge, bei denen das Prinzip für die Erkenntniswie für die Bewegung die Zweckbeziehung und derWert bildet.

Grund heißt in einem Sinne das in dem Gegenstan-de Enthaltene, woraus er wird; so das Erz für dieBildsäule, das Silber für das Gefäß, und ebenso dieGattung, zu der Erz und Silber gehören. In anderemSinne heißt Grund die Form und das Urbild, also derWesensbegriff, sowie die jenen übergeordnete Gat-

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tung, so für die Oktave das Verhältnis 2 : l, und alshöherer Begriff die Zahl, und die Glieder des Verhält-nisses. Drittens heißt Grund der Ausgangspunkt fürVeränderung und Ruhe; so ist jemand Grund, d.h. Ur-heber, durch seinen Willen, der Vater für das Kind,überhaupt wer etwas macht für das was gemacht wird,und das was Veränderung setzt für das Veränderte.Viertens ist Grund der Zweck, also das Wozu, wie fürdas Spazierengehen die Genesung. Denn auf dieFrage: wozu geht jemand spazieren? antworten wir:um gesund zu werden, und mit dieser Antwort meinenwir den Grund bezeichnet zu haben. So heißt dennGrund auch, was in der Mitte liegt zwischen dem An-stoß der Bewegung und dem Ziele; so für die Gene-sung die Entfettungskur oder das Abführen, die Ar-zenei oder die Instrumente, lauter Dinge, die zu demZwecke als Mittel dienen, aber sich unterscheiden wiedie Veranstaltung und ihre Verrichtung.

Das etwa sind die Bedeutungen, in denen man vonGrund spricht. Daher kommt es, daß, da Grund inmehreren Bedeutungen gebraucht wird, eines und das-selbe mehrere Gründe haben kann, und nicht bloß ne-bensächlicherweise. So hat die Bildsäule ihren Grundin der Bildhauerei, aber auch im Erz, und beides nichtin anderer Beziehung, sondern eben als Bildsäule;aber doch nicht in gleichem Sinne; sondern das eineist Grund als Materie, das andere als bewegende Ur-

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sache. Es kann auch jedes wechselsweise der Grunddes anderen sein. So ist die Anstrengung Grund desWohlbefindens, und dieses Grund der Anstrengung;aber auch wieder beides nicht in demselben Sinne,sondern das eine im Sinne des Zweckes, das andereim Sinne der bewegenden Ursache. Weiter aber istbisweilen eines und dasselbe der Grund für Entgegen-gesetztes. Was nämlich durch sein Vorhandensein denGrund für dieses Bestimmte bildet, das nehmen wirbisweilen, wenn es nicht vorhanden ist, als Grund fürdas Entgegengesetzte in Anspruch; so die Abwesen-heit des Steuermanns als Grund für das Scheitern desSchiffes, wie seine Anwesenheit den Grund für dieErhaltung des Schiffes bildete. Beides, Vorhanden-sein und Nichtvorhandensein aber, sind Grund imSinne der bewegenden Ursache.

Die Gesamtheit dessen, was wir eben als Grund be-zeichnet haben, läßt sich unter vier Arten zusammen-fassen, die aufs deutlichste ins Auge fallen. Die Lautesind Grund der Silbe, das Material Grund des darausGefertigten, Feuer, Erde und dergleichen Grund derkörperlichen Dinge, die Teile Grund des Ganzen, dieVordersätze Grund des Schlusses, alles dies im Sinnedes Woraus, das eine als Substrat, wie die Teile, dasandere als begriffliche Wesenheit, als Ganzes, Ver-bindung und Form. Der Same dagegen, der Arzt, derWille, überhaupt das Tätige, Hervorbringende, dieses

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4629 549Aristoteles: Metaphysik

alles ist Grund als Ursache der Veränderung oder desBeharrens. Dazu kommt das was Grund ist im Sinnedes Zieles und Zweckes für das andere. Denn dasWozu beansprucht für das andere das Wertvollste unddas Ziel zu sein. Dabei mag der Unterschied zwischendem an sich und dem nur anscheinend Zweckmäßigenunerörtert bleiben.

Dies alles also heißt Grund, und so viele Arten desGrundes gibt es. Der besonderen Beziehungen frei-lich, die beim Begriffe Grund vorkommen, gibt eseine Menge; doch lassen sich auch diese auf eine ge-ringere Zahl zurückführen. Man spricht von Gründenin vielfacher Beziehung, und innerhalb einer undderselben Art des Grundes ist das eine der nähere, dasandere der entferntere Grund. So ist Grund der Gene-sung der Arzt, aber auch der Sachkundige; Grund derOktave das Verhältnis 2: l, aber auch die Zahl; und sojedesmal das Allgemeine, das das Einzelne unter sichbefaßt. Dann ferner die zufällige Bestimmtheit unddie Gattung, zu der sie gehört. So ist Grund der Bild-säule in einem Sinne Polykleitos, im anderen Sinneein Bildhauer, weil der Bildhauer zufällig Polykleitosist; ferner das was für die zufällige Bestimmung dashöhere Allgemeine ist. So ist Grund der Bildsäule einMensch oder noch allgemeiner, ein lebendes Wesen,weil Polykleitos ein Mensch und der Mensch ein le-bendes Wesen ist. Aber auch unter den zufälligen Be-

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stimmungen liegt die eine näher, die andere entfernter.So wenn man sagen wollte, Grund der Bildsäule seiein bleicher oder ein gebildeter Mensch, statt zu sagenPolykleitos oder ein Mensch.

Alles ferner, was als Grund bezeichnet wird, sei esin eigentlichem Sinne, sei es im Sinne der zufälligenBestimmung, wird teils als Potentielles, teils als Ak-tuelles genommen. So ist Grund des Hausbaues ent-weder der Bauverständige als solcher, oder der wirk-lich bauende Bauverständige. Dasselbe wird nun gel-ten wie vom Gründe so auch von dem was durch denGrund gesetzt wird, also von dieser Bildsäule odervon einer Bildsäule überhaupt oder noch allgemeinervon einem Bildwerk, und ebenso von diesem be-stimmten Erz oder vom Erz überhaupt oder von derMaterie im allgemeinen. Und bei den zufälligen Be-stimmungen ist es ebenso. Beides wird dann auch inder Aussage mit einander verbunden, und so wird alsGrund angegeben nicht Polykleitos und nicht einBildhauer, sondern der Bildhauer Polykleitos.

Indessen, alles dies geht doch auf die Anzahl vonsechs verschiedenen Bedeutungen zurück, von denenjede wieder in zwiefachem Sinne vorkommt. DerGrund wird ausgesagt als Einzelnes oder als die Gat-tung, zu der es gehört; als zufällige Bestimmung oderals die Gattung dieser Bestimmung; und dieses beideswieder in Verknüpfung oder jedes für sich allein; alles

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4631 551Aristoteles: Metaphysik

dies aber als aktuell oder als potentiell. Dabei zeigtsich der Unterschied, daß bei dem Aktuellen und Ein-zelnen mit dem Sein oder Nichtsein des Grundes auchdas, dessen Grundes ist, ist oder nicht ist; so dieserbehandelnde Arzt und dieser sein Patient, dieser Bau-meister und dieser Hausbau, während es sich bei dem,was potentiell ist, nicht immer so verhält. Denn mitdem Baumeister vergeht nicht zugleich auch seinBauwerk.

Ein Element nennt man das, was den ursprüngli-chen Bestandteil der Sache bildet und sich nicht wie-der in andersartige Bestandteile zerlegen läßt. So sindElemente des Sprachlauts die letzten Teile aus denener zusammengesetzt ist und in die er sich zerlegenläßt, während sie nicht wieder in andere, der Art nachvon ihnen verschiedene Laute zerlegt werden können.Sofern sie sich aber zerlegen lassen, so geschieht es inTeile von gleicher Art; so bei den Teilen des Wassers,die wieder Wasser sind, aber nicht bei den Teilen derSilbe. Diejenigen, die die letzten Bestandteile be-zeichnen, in die sich die Körper zerlegen lassen, unddie nicht wieder in andere der Art nach verschiedenezerlegbar sind, bezeichnen damit ebenso die Elementeder Körper; ob sie nun ein einziges oder mehrere der-artige annehmen, unter Elementen verstehen sie ebendies. In ähnlichem Sinne spricht man dann auch vonElementen der mathematischen Beweise und der Be-

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4632 552Aristoteles: Metaphysik

weise überhaupt. Als Elemente der Beweise bezeich-net man die grundlegenden Beweise, diejenigen, diein einer Vielheit von Beweisen immer wieder vorkom-men; es sind das die obersten Syllogismen aus dreiGliedern vermittelst eines Mittelbegriffs. In übertra-genem Sinne nennt man dann von hier aus auch dasein Element, was an sich einheitlich und geringfügig,doch zu vielen Zwecken verwendbar ist; in diesemSinne wird auch das Geringe, Einfache, Unteilbare einElement genannt. Daher kommt es, daß das, was ammeisten allgemein ist, als Element gilt, weil ein jedessolches einheitlich und einfach ist und in vielen Ge-genständen, in allen oder doch in der Mehrzahl, vor-kommt, und daß bei manchen auch die Einheit undder Punkt für ein solches Erstes und Ursprünglichesgilt. Da nun was man Gattungen nennt ein Allgemei-nes und Unzerlegbares bedeutet, – kann man sie dochauch nicht definieren, – so bezeichnen manche dieGattungen als Elemente, und zwar sie in eigentliche-rem Sinne als ihre Artunterschiede, weil nämlich dieGattung in höherem Maße Allgemeines ist. Denn woder Artunterschied vorhanden ist, da ist damit auchdie Gattung gegeben; aber nicht jedesmal ist, wo dieGattung vorhanden ist, auch der Artunterschied gege-ben. In allen diesen Anwendungen ist das Gemeinsa-me dies, daß in jedem Falle das Element den ur-sprünglichen Grundbestandteil des Gegenstandes be-

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deutet.

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4634 554Aristoteles: Metaphysik

2. Natur, Notwendigkeit, Einheit, Sein, Substanz

Physis, Natur heißt in einem Sinne alles Werden,Wachsen und Sprießen (eine Bedeutung, als hätte dasWort physis langes υ). In anderem Sinne heißt Naturder ursprüngliche Bestandteil, aus dem das, was einWachstum hat, hervorsprießt. Drittens heißt Natur ineinem Dinge, das durch innere Anlage existiert, derKeim, die ursprünglich bewegende Ursache, die indem Gegenstande als solchem wirksam ist. Das Ver-bum phyesthai, wachsen, gebraucht man aber vonallem, was vermittelst eines anderen sprießt, dadurchdaß es dasselbe berührt, mit ihm verwächst und ihmzuwächst in der Art wie die Leibesfrucht. Dabei be-steht ein Unterschied zwischen dem Verwachsenseinmit dem anderen und bloßer Berührung. Denn hierbraucht außer den sich Berührenden nicht noch eindrittes vorhanden zu sein; bei dem aber was mit ein-ander verwachsen ist, ist noch ein Einheitliches, wasin beiden dasselbe ist; und dieses ist es was bewirkt,daß die beiden sich nicht bloß berühren, sondern miteinander verwachsen sind und im Sinne der Kontinui-tät wie der Quantität nach eine Einheit bilden, wennauch nicht der Qualität nach. Man nennt aber Naturauch viertens das Ursprüngliche, woher das, wasnicht durch innere Anlage ist, sein Sein und Werden

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4635 555Aristoteles: Metaphysik

empfängt; dies ist dann gestaltlos und durch eigenesVermögen nicht veränderbar. So wird bei einer Bild-säule und bei ehernen Gefäßen das Erz, bei hölzernendas Holz als die Natur des Gegenstandes bezeichnet,und ebenso ist es auch bei anderen Dingen. Denn jeg-liches solches Ding hat sein Bestehen darin, daß seineursprüngliche Materie sich erhält; – in diesem Sinnebezeichnet man denn auch die Elemente der Dinge,die durch innere Anlage sind, als deren Natur. Alssolche nehmen die einen Feuer, andere Erde, Luft oderWasser oder auch sonst etwas dergleichen an, undzwar die einen nur einzelnes davon, die anderen alleszusammen. Fünftens nennt man Natur wieder in ande-rem Sinne das innere Wesen der Naturdinge; so dieje-nigen, die die ursprüngliche Verbindung von Elemen-ten als die Natur bezeichnen oder wie Empedoklessich ausdrückt:

Eine Natur hat keins der seienden Dinge,Sondern Mischung allein und Scheidung auch

des Gemischten,Und Natur heißt's bloß, weil so es die Menschen

benennen.

In diesem Sinne sagen wir von dem, was durch in-nere Anlage ist oder wird, daß es noch nicht seineNatur erlangt habe, wenn zwar dasjenige bereits exi-

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4636 556Aristoteles: Metaphysik

stiert, woraus es regelmäßig ist oder wird, es selbstaber noch nicht seine Form und Gestalt besitzt. EinGebilde der Natur ist das, wo beide Momente zusam-menkommen, wie die Organismen und ihre Glieder.Natur heißt aber auch die ursprüngliche Materie, unddiese in zwiefachem Sinne, entweder als die für die-sen bestimmten Gegenstand oder die schlechthin ur-sprüngliche. So ist für die aus Erz gemachten Dingedas ursprüngliche Material in bezug auf sie das Erz;Urstoff schlechthin aber ist möglicherweise das Was-ser, wenn alles das was schmelzbar ist Wasser heißendarf. Und andererseits heißt Natur auch die Form unddas Wesen, und dies bildet das Ziel des Werdens. Inübertragenem Sinne wird dann schlechthin auch alleWesenheit Natur genannt eben um der Form willen,weil auch die innere Anlage eine Wesenheit ist.

Nach dem Dargelegten bedeutet also Natur im ur-sprünglichen und eigentlichen Sinne das Wesen des-sen, was das Prinzip seiner Bewegung in sich enthält,sofern es ist was es ist. Die Materie wird Natur ge-nannt deshalb, weil sie für ein solches Prinzip emp-fänglich ist, die Arten des Werdens aber und dasWachsen deshalb, weil es Bewegungen sind, die ausdiesem Prinzip stammen. Dieses den durch innere An-lage existierenden Dingen einwohnende Prinzip fürihre Bewegung aber ist in ihnen irgendwie entwederals bloßes Vermögen oder als wirksame Kraft.

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4637 557Aristoteles: Metaphysik

Notwendig nennt man dasjenige, was die Bedin-gung bildet, ohne welche das Leben nicht möglich ist;so ist für einen Organismus Atmung und Ernährungnotwendig, weil er ohne dieselben nicht bestehenkönnte, und so auch dasjenige, ohne welches es nichtmöglich ist, daß etwas was ein Gut ist da sei oder ent-stehe, oder etwas was ein Übel ist abgewendet oderbeseitigt werde; so ist das Einnehmen der Medizinnotwendig, um die Krankheit los zu werden, und eineFahrt nach Regina, um eine Geldsumme zu erheben.Zweitens heißt notwendig das Erzwungene und derZwang, also dasjenige, was im Gegensätze zu inne-rem Antriebe und Vorsatz hindernd und aufhaltendwirkt. Das Erzwungene wird als ein Notwendiges be-zeichnet, und deshalb ist es schmerzlich, wie dennauch Euenos sagt:

Jeder empfundene Zwang ist ein verdrießlichGefühl;

und Zwang ist Nötigung; so sagt Sophokles:

Doch ach, der Zwang ist's, was mich nötigt so zutun.

Die Notwendigkeit gilt als etwas, was keine Über-redung abzuwenden vermag, und mit Recht; denn sie

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4638 558Aristoteles: Metaphysik

bildet den Gegensatz zu derjenigen Bewegung, dieaus innerem Vorsatz und vernünftiger Überlegungentspringt. Drittens sagen wir von etwas, es sei not-wendig so wie es ist, wenn es unmöglich ist, daß esanders sei als es ist. Diesem Sinne des Wortes gemäßspricht man im Grunde auch sonst überall von Not-wendigkeit. Denn wo Zwang herrscht, sagt man, essei notwendig dies zu tun oder zu leiden, wenn esnicht möglich ist, dem inneren Antriebe zu folgen,eben infolge des Zwanges, der eine Notwendigkeit er-gibt, durch die es unmöglich wird, anders zu verfah-ren. Dasselbe Verhältnis liegt aber auch bei den Be-dingungen vor, die für das Leben und für die Güterdes Lebens erforderlich sind. Denn wo es unmöglichist, daß die Güter hier, das Leben dort vorhanden sei,ohne die Erfüllung gewisser Bedingungen, da sind dieletzteren notwendig, und diese Art des Grundseins isteine Art der Notwendigkeit. Viertens fällt unter denBegriff der Notwendigkeit auch das durch den BeweisFestgestellte; denn wenn etwas schlechthin bewiesenist, so ist es unmöglich, daß sich die Sache andersverhalte. Die Gründe dafür sind die Vordersätze, ausdenen sich der Schluß dann ergibt, wenn das Gegen-teil derselben unmöglich ist.

Bei manchen Dingen liegt der Grund dafür, daß sienotwendig sind, in etwas außer ihnen; bei anderenDingen ist es nicht so, sondern sie sind vielmehr der

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4639 559Aristoteles: Metaphysik

Grund dafür, daß anderes notwendig ist. Daher ist dasursprünglich und eigentlich Notwendige das Einfache.Denn bei diesem ist es ausgeschlossen, daß es vielfa-che Beschaffenheiten annehme, also auch, daß es sichjetzt so, jetzt anders verhalte; denn damit würde eseben vielfache Beschaffenheiten annehmen. Wenn esalso etwas gibt, was ewig und unveränderlich ist, sogibt es für dieses keinen Zwang und keine Störungder inneren Anlage.

Eins heißt etwas teils nach unwesentlichen Bezie-hungen, teils seines an sich seienden Wesens wegen;nach unwesentlichen Beziehungen, wie in der Verbin-dung von Koriskos und gebildet zu einem gebildetenKoriskos. Denn ob man von Koriskos und gebildetaussagt, sie seien eins, oder sagt: der gebildete Koris-kos, das ist einerlei; ebenso ist es bei gebildet und ge-recht und dem gebildeten und gerechten Koriskos.Alles das wird als Eins gesetzt auf Grund unwesentli-cher Beziehungen: gerecht und gebildet, weil beide zueinem einheitlichen Gegenstande Prädikate sind, ge-bildet aber und Koriskos, weil das eine das Prädikatdes anderen ist. Und ebenso bildet in gewissem Sinneauch der gebildete Koriskos mit Koriskos eine Ein-heit, weil das eine der beiden Glieder in der Verbin-dung Prädikat des letzteren, also gebildet ein Prädikatdes Koriskos ist. Der gebildete Koriskos aber machtmit dem gerechten Koriskos deshalb eine Einheit aus,

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4640 560Aristoteles: Metaphysik

weil das eine Glied in jedem der beiden AusdrückePrädikat desselben einheitlichen Subjekts ist. Ganzebenso bildet es eine Einheit in unwesentlicher Bezie-hung, wenn man von einer Gattung oder von einemAllgemeinen ein Prädikat aussagt, wie wenn manMensch und gebildeter Mensch als dasselbe setzt, ent-weder weil dem Begriffe Mensch als einer einheitli-chen Wesenheit das Prädikat gebildet zugefallen ist,oder weil beide Begriffe einem Individuum wie Koris-kos als Prädikate zugefallen sind. Indessen bildenbeide Begriffe doch nicht ganz gleichartige Bestim-mungen; vielmehr der eine bezeichnet etwa die Gat-tung und also eine Wesensbestimmung, das andereeine bloße Beschaffenheit und einen Zustand der We-senheit.

Dies ist der Sinn der Aussage, wenn von Einheit inunwesentlicher Beziehung die Rede ist. Spricht manaber von wesentlicher Einheit, so wird damit entwederbezeichnet die räumliche Zusammengehörigkeit, wieein Bündel durch eine Schnur, Holzplatten durch Auf-leimung verbunden sind. Eine Linie wird als einheit-lich bezeichnet, auch wenn sie eine gebrochene Linieist, vorausgesetzt nur, daß ein räumlicher Zusammen-hang gegeben ist, und so auch jedes der Glieder desLeibes, wie Bein und Arm. In eben diesen Fällen aberist in höherem Grade eins, was seiner inneren Naturnach, als was bloß durch künstliche Veranstaltung

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4641 561Aristoteles: Metaphysik

räumlich zusammenhängt. Räumlich zusammenhän-gend nennt man aber das, was sich als ein Ganzes be-wegt und sich nicht anders zu bewegen vermag; Ein-heit der Bewegung aber ist da vorhanden, wo die Be-wegung unteilbar, und zwar unteilbar der Zeit nachist.

Räumlich zusammenhängend an und für sich istdas, was nicht bloß durch Berührung eines ist. Wer-den Holzstücke so gelegt, daß sie einander berühren,so wird man deshalb nicht sagen dürfen, sie seieneines, weder ein Holz noch ein Körper oder sonst einräumlich Zusammenhängendes. Dagegen nennt manräumlich Zusammenhängendes überhaupt auch danneines, wenn es eine Biegung aufweist, freilich nochlieber das, was eine solche Biegung nicht aufweist, sodie Wade oder die Hüfte eher als das Bein, weil dieMöglichkeit besteht, daß die Bewegung des Beineskeine einheitliche sei. So ist die gerade Linie in höhe-rem Maße eines als die gebrochene. Die gebrocheneLinie, die einen Winkel bildet, nennen wir eine undauch wieder nicht eine, weil es möglich ist, daß ihreBewegung zugleich und auch daß sie nicht zugleichstattfinde. Dagegen ist die Bewegung der geradenLinie immer eine gleichzeitige, und kein Teil von ihr,der irgendwelche Ausdehnung hat, ist in Ruhe, wäh-rend der andere in Bewegung ist, wie es bei der ge-brochenen Linie der Fall ist.

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4642 562Aristoteles: Metaphysik

Wieder in anderem Sinne wird etwas deshalb einesgenannt, weil das Substrat seiner Art nach ohne Un-terschiede, homogen, ist, und solche Unterschiedslo-sigkeit besitzt das, worin die Wahrnehmung keineUnterschiede zu finden vermag. Das Substrat ist dabeientweder das nächste oder das entfernteste, wozu manschließlich gelangt. Der Wein wird als eines bezeich-net und das Wasser gleichfalls, sofern es in seiner Be-schaffenheit ohne Unterschiede ist. Alle Flüssigkeitenwie Wein, öl, Geschmolzenes werden als eines be-zeichnet, weil das letzte Substrat, das allen zugrundeliegt, eines und dasselbe ist; denn auf Wasser oder aufLuft lassen sie sich alle zurückführen.

Eins heißt ferner, was einer und derselben Gattungangehört und sich nur wie verschiedene Arten inner-halb derselben unterscheidet. Alles dies wird eines ge-nannt, weil die Gattung, die den Unterschieden derArten zugrunde liegt, eine Einheit bildet. So sindPferd, Mensch, Hund eines, weil sie sämtlich Tieresind, eine Einheit ganz ähnlich der Einheit dessen,dessen Materie eine ist. Diese Gegenstände werdenalso das eine Mal in diesem Sinne als eines bezeich-net, das andere Mal werden sie mit Rücksicht auf diehöhere Gattung als dasselbe bezeichnet, wenn sieletzte Arten der Gattung sind; so ist das Gleich-schenklige und das Gleichseitige eine und dieselbeFigur, weil beides Dreiecke bedeutet, wenn auch nicht

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4643 563Aristoteles: Metaphysik

dieselbe Art von Dreiecken.Sodann wird eins genannt das, dessen das bleiben-

de Wesen ausdrückender Begriff ununterscheidbar ist,sofern man ihn mit einem anderen das bleibendeWesen des Gegenstandes ausdrückenden Begriffe ver-gleicht. Denn an und für sich allerdings ist jeder Be-griff in Bestandteile zerlegbar. Auf diese Weise istetwas auch dann, wenn es vermehrt worden ist, undwenn es abnimmt, eines, weil sein Begriff einer ist,wie der Begriff der Form bei den ebenen Figuren.Überhaupt alles das, bei dem der Gedanke, der dasbleibende Wesen erfaßt, keinen Unterschied machtund weder der Zeit noch dem Orte noch dem Begriffenach eine Trennung setzt, das ist im höchsten Sinneeins, und darunter am meisten wieder das, was selb-ständiges Wesen ist. Denn im allgemeinen wird das,was keinen Unterschied an sich trägt, eben sofern esihn nicht an sich trägt, in dieser Beziehung ein einigesgenannt. So ist jemand, sofern er keinen Unterschiedan sich trägt als Mensch, ein Mensch, sofern als le-bendes Wesen, ein lebendes Wesen, und sofern alsGröße eine Größe. Das Meiste freilich wird ein Eini-ges genannt deshalb, weil etwas anderes, was es tut,hat, leidet oder wozu es in Beziehung steht, eines ist;dagegen das ursprünglich als ein Einiges Bezeichneteist das, dessen Wesen einheitlich ist, und zwar ein-heitlich entweder dem räumlichen Zusammenhange

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4644 564Aristoteles: Metaphysik

oder der Art oder dem Begriffe nach. Dagegen zählenwir als eine Vielheit teils was räumlich nicht zusam-menhängt, teils dessen Art nicht einheitlich ist oderdessen Begriff nicht einer ist. Weiter sagen wir vonetwas das eine Mal es sei eines, wenn es eine Größeund räumlichen Zusammenhang hat, das andere Males sei nicht eines, wenn es kein Ganzes bildet, unddas heißt, wenn es keine einheitliche Form hat. Sowürden wir nicht ebenso etwas als eines bezeichnen,wenn wir die Teile irgendwie neben einander liegensehen, wie etwa die eines Schuhes, es sei denn aufGrund des räumlichen Zusammenhanges, sonderndann, wenn sie so beisammen sind, daß sie einenSchuh bilden und also eine einheitliche Form haben.Darum ist auch die Kreislinie im höchsten Grade ein-heitlich, weil sie ein Ganzes und in sich Abgeschlos-senes bildet.

Der Begriff des Eins ist der Begriff des Prinzips fürdie Zahl. Denn was das ursprüngliche Maß ist, das istauch Prinzip. Das oberste Erkenntnismittel, das istdas ursprüngliche Maß für jegliche Gattung. Prinzipalso der Erkennbarkeit für jede Gattung ist die Ein-heit. Allerdings bedeutet Einheit nicht für alle Gattun-gen dasselbe. An der einen Stelle bedeutet sie denViertelton, an anderer Stelle den Vokal oder den Kon-sonanten; für die Schwere ist sie eine andere und wie-der eine andere für die Bewegung, aber überall ist

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4645 565Aristoteles: Metaphysik

Einheit Negation des Unterschiedes, sei es in bezugauf die Quantität, sei es auf die Form. Das was derGröße nach und als Größe unteilbar ist, das was nachallen Richtungen unteilbar und ohne Ort ist, das nenntman eine Monas; was nach allen Richtungen unteilbarist und einen Ort hat, heißt Punkt; was in einer Rich-tung teilbar ist, heißt Linie; was in zwei Richtungenteilbar ist, heißt Fläche; was in jeder Richtung und indreifacher Dimension seiner Ausdehnung nach teilbarist, heißt Körper. Und umgekehrt ist Fläche das nachzwei Richtungen Teilbare, Linie das nach einer Rich-tung Teilbare, das nach keiner Richtung der Ausdeh-nung nach Teilbare Punkt und Monas: nämlich wennes keinen Ort hat, Monas, wenn es einen Ort hat,Punkt.

Ferner gibt es solches, was der Zahl nach, und an-deres, was der Art nach eines ist, anderes, was derGattung nach, und wieder anderes, was der Analogienach eines ist. Der Zahl nach eines ist das, dessenMaterie, der Art nach das, dessen Begriff einer ist, derGattung nach das, was unter eine und dieselbe Kate-gorie fällt, der Analogie nach, was in demselben Ver-hältnis steht wie ein anderes zu einem anderen. Dabeiist jedesmal die folgende Stufe in der früheren mitenthalten. Also was der Zahl nach eines ist, ist einesauch der Art nach; dagegen ist nicht alles, was der Artnach eines ist, auch der Zahl nach eines. Ebenso ist

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4646 566Aristoteles: Metaphysik

der Gattung nach eines alles was der Art nach einesist; was aber der Gattung nach eines ist, ist nicht allesauch der Art nach eines, aber wohl ist es eines derAnalogie nach, während was der Analogie nach einesist, nicht alles auch der Gattung nach eines ist.

Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß woman Vielheit sagt, man den Gegensatz zur Einheitmeint. Eine Vielheit also heißt etwas deshalb, weil esräumlich nicht zusammenhängt, oder auch, weil seineMaterie, entweder als die entfernteste, oder als dienächste, Unterschiede zeigt, und wieder anderes heißtso, weil die das Wesen ausdrückenden Begriffe eineMehrheit bilden.

Vom Seienden spricht man teils im Sinne dessenwas an einem anderen ist, teils im Sinne dessen wasan und für sich ist: im Sinne dessen, was an einem an-deren ist, z.B. wenn wir von einem der gerecht istaussagen, daß er auch gebildet sei, oder vom Men-schen, daß er gebildet, und vom Gebildeten, daß erein Mensch sei, eine Aussage, ganz ähnlich derjeni-gen, wie wenn wir sagen, daß ein Gebildeter ein Hausbaut, weil nämlich der Baumeister zufällig auch ge-bildet oder der Gebildete ein Baumeister ist. Denn dabedeutet die Aussage, dieses Subjekt habe dieses Prä-dikat, daß letzteres dem ersteren zufällig zukomme,und eben dies ist der Fall auch in den obigen Beispie-len. Denn wenn wir sagen, der Mensch ist gebildet,

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4647 567Aristoteles: Metaphysik

oder der Gebildete ist ein Mensch, der Bleiche ist ge-bildet, oder der Gebildete ist bleich, so meinen wirbei der einen Aussage, daß beide Prädikate einem unddemselben Seienden zugefallen sind, bei der anderen,daß das Prädikat dem Seienden zugefallen ist, undwenn der Gebildete ein Mensch genannt wird, daßdiesem, dem Menschen, das Prädikat gebildet zuge-fallen ist. In derselben Weise wird nun auch vomNicht-weißen ausgesagt, daß es sei, nämlich weil das-jenige ist, dem es zufällig zukommt, nicht weiß zusein. Mithin wenn man vom Sein im Sinne des Zufäl-ligen spricht, so geschieht es entweder, weil zwei Be-stimmungen beide an demselben Subjekt sind, oderweil die Bestimmung einem Seienden zukommt, oderweil eben das ist, an dem das, wovon ein drittes alsPrädikat ausgesagt ist, eine Bestimmung bildet.

Vom an sich Seienden dagegen spricht man in sovielen Bedeutungen, als es Formen der Kategoriengibt; denn so viele Arten dieser Aussage es gibt, soviele Bedeutungen nimmt das Sein an. Nun bezeich-net die eine der Kategorien das Was, die anderen dieQualität, die Quantität, die Relation, das Tun oderLeiden, das Wo und das Wann; das Sein hat also je-desmal dieselbe Bedeutung, wie eine dieser Kategori-en. Denn ob man sagt, der Mensch ist ein genesender,oder der Mensch genest, ob man sagt, der Mensch istein gehender, schneidender, oder der Mensch geht,

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schneidet, das macht keinen Unterschied. Und sodurchgängig.

Weiter aber bedeutet das Sein und das »ist« auch,daß die Aussage wahr sei, das Nicht-sein aber, daßdie Aussage nicht wahr sondern falsch ist, und diesebenso im bejahenden wie im verneinenden Urteil.Z.B. Sokrates ist gebildet, bedeutet ebenso: dies istwahr, wie der Satz: Sokrates ist nicht bleich. Dagegender Satz: die Diagonale ist nicht kommensurabel, be-deutet: dies, nämlich daß sie kommensurabel sei, istfalsch.

Weiter bezeichnet das Sein und das Seiende in dengenannten Bedeutungen teils ein ausdrücklich als Po-tentielles, teils ein als Aktuelles Gemeintes. So sagenwir, etwas sei sehend, sowohl von dem, was aus-drücklich als zu sehen Vermögendes, wie von dem,was als wirklich sehend gemeint ist; das Verstehenschreiben wir ebensowohl dem zu, der den Verstandzu gebrauchen das Vermögen hat, wie dem, der ihnwirklich gebraucht, und das Ruhen ebensowohl dem,was bereits im Zustande der Ruhe sich befindet, wiedem, was das Vermögen hat in Ruhe zu sein. Ganzdasselbe ist der Fall bei den selbständigen Wesenhei-ten. Wir sagen: der Hermes sei im Steine, in der Liniesei ihre Hälfte, und nennen Korn auch was noch nichtreif ist. Wann aber vom Potentiellen die Rede seinkann und wann noch nicht, darüber ist an anderer

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Stelle genauer zu handeln.Unter Usia, selbständig Seiendem, versteht man

die einfachen Körper wie Erde, Feuer, Wasser unddergleichen, dann überhaupt Körper und was ausihnen zusammengesetzt ist, lebendige Wesen undHimmelskörper, sowie ihre Teile. Alles dieses wirdUsia, selbständig Seiendes, genannt, weil es nicht voneinem Substrat, sondern anderes von ihm ausgesagtwird. In anderem Sinne heißt Usia, was als Grund desSeins solchen Gegenständen, die nicht von einemSubstrat ausgesagt werden, innewohnt, wie die Seeleim lebenden Wesen. Ferner auch das, was zu Gegen-ständen von dieser Art als Teil gehört, was sie be-grenzt und als bestimmtes Einzelwesen kennbarmacht, also dasjenige, mit dessen Aufhebung dasGanze aufgehoben wird, wie nach der Meinung man-cher mit der Fläche der Körper und die Fläche mit derLinie aufgehoben wird. Insbesondere schreiben man-che der Zahl diese Bedeutung zu; denn wenn sie auf-gehoben werde, sei überhaupt nichts, und sie begren-ze alles. Weiter gehört dahin das begriffliche Wesen,dessen Definition der Begriff bildet; auch dieses wirdals Usia, als selbständiges Sein eines jeglichen be-zeichnet.

Es ergibt sich daraus, daß Usia in doppeltem Sinnegebraucht wird; als letztes Substrat, was nicht mehrvon einem anderen ausgesagt wird, und zweitens als

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4650 570Aristoteles: Metaphysik

bestimmtes Einzelwesen, das getrennt für sich be-steht. Von dieser Art aber ist die Gestalt und Formeines jeden Dinges.

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3. Identität, Unterschied, Gegensatz

Von Identität spricht man teils in akzidentiellemSinne, wie wenn das was blaß und das was gebildetist, identisch heißt, weil beides an demselben Gegen-stande vorkommt, oder Mensch und gebildet, weil daseine Prädikat des anderen ist. Das Gebildete ist einMensch, weil dem Menschen jene Bestimmung zuge-fallen ist. Mit jedem der beiden Glieder in der Verbin-dung ist diese Verbindung, und mit dieser Verbin-dung jedes der beiden Glieder identisch. Denn mitdem gebildeten Menschen heißt sowohl der Menschwie gebildet, und mit diesen heißt jenes identisch.Deshalb wird auch dies alles nicht als Allgemeinesausgesagt. Denn man dürfte nicht in Wahrheit sagen,daß jeder Mensch und gebildet identisch sei. Das All-gemeine hat sein Sein an und für sich, das Akzidenti-elle aber wird nicht als an und für sich Seiendes, son-dern nur von dem Einzelnen ohne weiteres ausgesagt.Sokrates und der gebildete Sokrates wird als identischgenommen; Sokrates aber wird nicht von einer Mehr-heit gebraucht, und man sagt deshalb auch nicht jederSokrates, wie man sagt jeder Mensch.

Das eine nun wird in dieser Weise als identisch be-zeichnet, das andere in dem Sinne des an sich Seien-den, ebenso wie es auch bei der Bezeichnung als Ein-

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heit der Fall ist. Identisch heißt das, dessen Materie,sei es der Art, sei es der Zahl nach eine ist, und auchdas, dessen Wesen eines ist. Identität bedeutet mithinoffenbar eine Art von Einheit, eine Einheit des Seinsfür eine Vielheit, oder auch so, daß ein Gegenstandals eine Mehrheit genommen wird, wie wenn mansagt, etwas sei mit sich selbst identisch, wo man esalso als zwei nimmt.

Von Anderssein spricht man da, wo eine Mehrheitvon Arten oder von Materien oder von Wesensbegrif-fen vorliegt. Das Anderssein bedeutet überall den Ge-gensatz zum Identischsein.

Verschieden heißt das, dem ein Anderssein zu-kommt, während es doch in gewissem Sinne identischist, nicht etwa der Zahl nach, sondern der Art, derGattung oder der Analogie nach; dann auch das, waseiner anderen Gattung angehört, sowie das konträrEntgegengesetzte und das, wo das Anderssein imWesen enthalten ist.

Ähnlich heißt, was durchgängig die gleichen Be-stimmungen hat, oder wo doch die gleichen Bestim-mungen über die verschiedenen überwiegen, und daßdessen kennzeichnende Beschaffenheit einheitlich ist.Sofern aber die Möglichkeit einer Veränderung in dasGegenteil besteht, so heißt ähnlich dasjenige, was diemeisten dieser Eigenschaften, oder diese der Hauptsa-che nach auch besitzt. Unähnlichkeit aber bildet den

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4653 573Aristoteles: Metaphysik

Gegensatz zur Ähnlichkeit.Unter Gegensatz versteht man das kontradiktori-

sche und das konträre Verhältnis, Relation, Privationund Haben einer Bestimmung, das letzte Woher unddas letzte Wohin beim Entstehen und Vergehen, ZweiBestimmungen, die ein Gegenstand, der für beideempfänglich ist, nicht zugleich haben kann, nenntman entgegengesetzt, teils die Bestimmungen selbst,teils das, woraus sie entspringen. Die Bestimmunggrau und die Bestimmung weiß kommt nicht zugleichdemselben Gegenstande zu; deshalb bildet auch das,woraus sie entspringen, einen Gegensatz.

Konträr entgegengesetzt heißt das der Gattungnach Verschiedene, was nicht zugleich an demselbenGegenstande vorkommen kann, und unter dein dersel-ben Gattung Angehörigen das was am weitesten aus-einanderliegt, das was unter dem an demselben dafürempfänglichen Gegenstande Vorkommenden am wei-testen auseinanderliegt, das was unter dem von einemund demselben Vermögen Abhängigen am meistenverschieden ist, überhaupt das dessen Unterschied dergrößte ist entweder schlechthin oder der Gattung nachoder der Art nach. Sonst heißt entgegengesetzt, daseine, weil es das eben Genannte an sich hat, das ande-re, weil es für die bezeichneten Verhältnisse empfäng-lich ist, wieder anderes, weil es diese Verhältnissehervorbringt oder erleidet, oder das Vermögen hat, sie

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hervorzubringen oder zu erleiden, oder weil es dasVerlieren oder Annehmen solcher Gegensätze oderdas Ansichhaben oder Ermangeln derselben bedeutet.Da aber Eins und Sein mehrere Bedeutungen hat, sofolgt das Gleiche notwendig auch für das, was nachjenen benannt wird; also auch für Identität, Anders-sein und Gegensatz gilt es, daß sie jedesmal nach derKategorie, die in Frage kommt, eine andere Bedeu-tung annehmen.

Disjunkt, der Art nach verschieden, heißt das, wasderselben Gattung angehörig, also nicht einanderüber- und untergeordnet ist, was also einer und dersel-ben Gattung angehörig unter sich verschieden ist, undwas einen Gegensatz im Wesen enthält, auch das kon-trär Entgegengesetzte ist ein der Art nach voneinanderVerschiedenes, entweder alles, oder doch das im ur-sprünglichen Sinne so Genannte; dann auch das be-grifflich Verschiedene, sofern es sich um die letztenArten der Gattung handelt. So sind Pferd und Menschinnerhalb der Gattung lebendes Wesen nicht weitereinzuteilende begrifflich verschiedene Arten. Somitgehört dahin auch, was derselben begrifflichen We-senheit angehörig bloße Verschiedenheit aufzeigt.Identität der Art nach aber bedeutet von alledem dasGegenteil.

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4655 575Aristoteles: Metaphysik

4. Prius und Posterius, Vermögen und Unvermögen

Ein Prius und Posterius, Vorausgehendes undNachkommendes, Abgeleitetes, unterscheidet man daseine Mal, sofern in jeder Gattung ein Erstes und einAusgangspunkt angenommen wird, danach, wie etwasdem bestimmten Ausgangspunkt näher steht, sei esdaß der Ausgangspunkt schlechthin und der Natur derSache nach gegeben sei, oder daß er nur in relativemSinne, räumlich oder nur auf jemandes Veranstaltunghin gelte. So ist etwas das Vorausgehende in räumli-chem Sinne dadurch, daß es entweder einem durch dieSache selbst gegebenen bestimmten Orte, etwa derMitte oder dem Rande, oder sonst einem beliebigenOrte näher liegt, und was weiter abliegt, ist dann dasNachkommende. Anders unter dem Gesichtspunkteder Zeit. Da heißt vorausgehend, was dem gegenwär-tigen Zeitpunkt ferner liegt; so bei Vergangenem. DenPerserkriegen gegenüber ist der trojanische Krieg alsvon der Gegenwart weiter zurückliegend das Voraus-gehende. Oder auch das was der Gegenwart näherliegt; so bei zukünftigen Ereignissen. Den pythischenSpielen gegenüber sind die nemëischen, weil sie derGegenwart näher liegen, das Vorausgehende, sofernman den gegenwärtigen Zeitpunkt zum Ausgangs-punkt und Anfang nimmt. Wieder anders unter dem

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4656 576Aristoteles: Metaphysik

Gesichtspunkte der Bewegung. Denn hier heißt vor-ausgehend, was der ersten Ursache der Bewegungnäher liegt, wie der Knabe im Vergleich mit demManne. Auch hier ist der Ausgangspunkt schlechthingegeben. Anders wieder unter dem Gesichtspunktedes Vermögens. Denn hier heißt vorausgehend daswas dem Vermögen nach das Überwiegende ist, dasMächtigere. Dahin gehört das, worauf nach ausdrück-lichem Vorsatz das Ändere, das Nachkommende, not-wendig folgen muß, so daß dieses keine Bewegungerfährt, wo nicht jenes es in Bewegung setzt, aberwohl, wenn jenes den Anstoß gibt. Der Ausgangs-punkt ist hier der ausdrückliche Vorsatz. Anders wie-der unter dem Gesichtspunkte der Ordnung. Hier han-delt es sich um solches, was auf eine bestimmte Ein-heit bezogen von dieser einen verhältnismäßigen Ab-stand hat; so ist der Nebenmann der Vorausgehendeim Verhältnis zum dritten Manne, und die vorletzteSaite das Vorausgehende im Verhältnis zur letztenSaite. Denn dort gilt der Chorführer und hier die mitt-lere Saite als Ausgangspunkt.

Dieses nun bedeutet das Prius in den bezeichnetenFällen. In anderem Sinne heißt etwas das Prius für dieErkenntnis, und wird dann als das genommen, waszugleich schlechthin das Prius ist; dabei ist es etwasanderes, ob es sich um begrifflichen Zusammenhangoder um sinnliche Wahrnehmung handelt. Denn wo es

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4657 577Aristoteles: Metaphysik

sich um begrifflichen Zusammenhang handelt, ist dasPrius das Allgemeine; wo es sich um sinnliche Wahr-nehmung handelt, ist es das Einzelne. Zugleich ist beider Frage nach dem Begriff die dem Gegenstande zu-fallende Bestimmung das Prius für die ganze Aussa-ge; so ist gebildet das Prius im Vergleich mit dem ge-bildeten Menschen. Denn die ganze Aussage würdenicht stattfinden können ohne den Teil. Freilich kannauch von gebildet nicht die Rede sein, wenn nicht ir-gend jemand da ist, der gebildet heißen darf.

Ferner werden als Prius auch die Beschaffenheitenbezeichnet, die dem was als Prius gilt zukommen; soist das Geradesein das Prius für das Glattsein, sofernjenes die Beschaffenheit der Linie als solcher, diesesdie der Fläche ist.

Dies also wird als Prius und Posterius in diesemSinne bezeichnet, anderes wieder im Sinne der Sacheselbst und ihres Wesens, nämlich das was sein kannohne das andere, während dieses ohne das anderenicht sein kann. Von dieser Unterscheidung hat PlatoGebrauch gemacht. Da aber das Sein viele Bedeutun-gen hat, so ist zunächst ein Prius das Substrat, mithindas selbständig Seiende, sodann in anderem Sinne istein Prius das Potentielle und das Aktuelle. Das eineMal ist etwas das Prius der Potentialität nach, das an-dere Mal der Aktualität nach. So ist im Sinne der Po-tentialität die Hälfte das Prius für die ganze Linie, der

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4658 578Aristoteles: Metaphysik

Teil das Prius für das Ganze, die Materie das Priusfür das selbständig Seiende; dagegen der Aktualitätnach sind sie das Posterius. Denn erst wenn der Ge-genstand sich aufgelöst hat, hat jenes ein Sein imSinne der Aktualität.

In gewissem Sinne also läßt sich jedesmal die Be-zeichnung von etwas als Prius und als Posterius aufdiese letzte Bedeutung zurückführen. Denn wo es sichum Entstehung handelt, da kann das eine sein ohnedas andere, so das Ganze ohne die Teile; und ebensowo es sich um das Vergehen handelt, der Teil ohnedas Ganze. Und ebenso ist es in den anderen Fällen.

Vermögen, Dynamis, nennt man den Grund der Be-wegung oder Veränderung, die in einem anderen oderin dem was als ein anderes genommen wird, sich voll-zieht. So ist die Baukunst ein Vermögen, das dochnicht in dem Bauwerk selbst vorhanden ist; die Heil-kunst dagegen, die gleichfalls ein Vermögen ist, kannwohl in dem Patienten vorhanden sein, nur nicht inihm sofern er Patient, sondern Arzt ist. Überhauptwird als Vermögen bezeichnet einerseits der Grundder Veränderung oder Bewegung in einem anderenoder einem als anderes Genommenen; andererseitsaber der Grund der Veränderung oder Bewegungdurch ein anderes oder ein als anderes Genommenes.Denn auch, daß etwas eine Einwirkung erleidet,schreiben wir einem Vermögen zu, einerseits gleich-

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4659 579Aristoteles: Metaphysik

viel, welches die Einwirkung sei, andererseits nichtbei jeder Art von Einwirkung, sondern nur wenn dieseeine Vervollkommnung bedeutet. Ein Vermögen istferner die Fähigkeit, etwas in rechter Weise oder nachbewußtem Vorsatz zu vollbringen. Denn es kommtvor, daß wir, wenn einer bloß geht oder spricht, abernicht in der rechten Weise oder so wie er es sich vor-genommen hat, einem solchen das Vermögen zugehen oder zu sprechen nicht zuerkennen. Und dasGleiche gilt auch dem Erleiden einer Einwirkung ge-genüber.

Weiter werden Vermögen genannt die dauerndenBeschaffenheiten, vermöge deren etwas einer Einwir-kung oder Veränderung völlig unzugänglich oderdoch der Veränderung zum Schlimmeren nicht leichtausgesetzt ist. Denn zerbrochen, zerrieben, verbogen,überhaupt ruiniert wird etwas nicht infolge eines Ver-mögens, sondern eines Unvermögens und einer Man-gelhaftigkeit. Was für solche Einwirkung nicht zu-gänglich ist, das erleidet sie kaum und in geringeremGrade, eben infolge seines Vermögens, seiner Machtund bestimmten Beschaffenheit.

Wenn nun in so vielfacher Bedeutung von Vermö-gen gesprochen wird, so wird auch mit Vermögen be-gabt in einem Sinne das heißen, was den Grund ent-hält für die Bewegung und Veränderung eines anderenoder als anderes genommenen; und ein solches ist

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4660 580Aristoteles: Metaphysik

dann auch das was Stillstand bewirkt. In anderemSinne heißt etwas mit Vermögen begabt, wenn ein an-deres solche Macht über es besitzt; wieder in anderemSinne, wenn es das Vermögen hat, irgend welche be-liebige Veränderung zu erleiden, sei es zum Schlim-meren, sei es zum Besseren; denn auch was zerstörtwird gilt dafür, ausgestattet zu sein mit dem Vermö-gen zerstört zu werden. Es würde nicht zerstört wer-den, wenn es nicht das Vermögen dazu hätte; nunaber hat es eine gewisse Beschaffenheit, einen Grundund Ursache für das Erleiden einer solchen Einwir-kung. Bald also ist es ein Besitzen, bald ein Erman-geln was den Grund dafür bildet, daß man einem Ge-genstande ein Vermögen zuschreibt. Nimmt man aberdas Nichthaben auch in gewissem Sinne für einHaben, so würde jegliches mit Vermögen begabt seindurch ein Haben, und der gleiche Name für alles pas-sen. Es hieße also etwas mit einem Vermögen ausge-stattet deshalb, weil es eine dauernde Beschaffenheitund einen Grund in sich hat, und ebenso dadurch daßes das Nichthaben der Beschaffenheit und des Grun-des an sich hat, sofern es möglich ist ein Nichthabenzu haben. Wieder in anderem Sinne heißt etwas mitVermögen begabt deshalb, weil nichts anderes odersolches was als anderes genommen ist, die Machtoder den Grund enthält, jenes zu zerstören. Und wei-ter gelten alle diese Bedeutungen entweder sofern es

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4661 581Aristoteles: Metaphysik

sich überhaupt um ein Geschehen oder Nichtgesche-hen, oder sofern es sich um ein Geschehen in rechterWeise handelt. Denn auch bei unbelebten Dingen gibtes ein Vermögen in diesem Sinne, so z.B. bei Instru-menten. Von der einen Lyra sagt man, sie habe dasVermögen des Klanges, von der anderen nicht, näm-lich wenn sie nicht wohl lautet.

Unvermögen heißt das Nichthaben eines Vermö-gens und eines Grundes in dem eben bezeichnetenSinne, entweder schlechthin, oder bei einem Gegen-stande, der eigentlich seiner Natur nach das Vermö-gen haben sollte, oder auch in dem Zeitpunkte, wo eres eigentlich haben sollte. Man nennt zeugungsunfä-hig nicht im gleichem Sinne einen Knaben, einenMann und einen Verschnittenen. Beiden Arten desVermögens steht ein entsprechendes Unvermögen ge-genüber, sowohl dem Vermögen des bloßen Bewe-gens wie dem des Bewegens in rechtem Sinne. Unver-mögend nun heißt etwas entweder im Sinne dieserBedeutung von Unvermögen, oder in anderer Bedeu-tung, so wie das Mögliche dem Unmöglichen gegen-übersteht. Unmöglich ist das, von dem das Gegenteilnotwendig wahr ist. So ist es unmöglich, daß die Dia-gonale der Seite kommensurabel sei, weil der Satzfalsch ist, dessen Gegenteil, nämlich daß die Diago-nale nicht kommensurabel ist, nicht nur tatsächlichwahr, sondern notwendig wahr ist. Daß sie kommen-

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4662 582Aristoteles: Metaphysik

surabel sei, ist also nicht bloß falsch, sondern es istnotwendig falsch. Das Gegenteil davon, das Mögli-che, ergibt sich dann, wenn das Gegenteil nicht not-wendig falsch ist. So ist es möglich, daß ein Menschsitze; denn daß er nicht sitze, ist nicht notwendigfalsch. Also bedeutet das Mögliche in dem einenSinne, wie gesagt, das nicht notwendig Falsche, in an-derem Sinne das tatsächlich Wahre, und wieder in an-derem Sinne das Wahrseinkönnen. In der Mathematikwird das Wort Dynamis für Potenz in übertragenemSinne gebraucht.

Diese Bedeutungen des Wortes »möglich« habenkeine Beziehung auf den Begriff des Vermögens. Woaber die Beziehung auf das Vermögen gemeint ist, dameint man Vermögen immer in dem einen, dem ur-sprünglichen Sinne, d.h. als Grund der Veränderungin einem anderen oder einem als anderes genommenenGegenstande. Denn das andere heißt vermögend ent-weder deshalb weil ein drittes ein solches Vermögender Einwirkung besitzt, oder weil es dasselbe nichtbesitzt oder es in dieser bestimmten Weise besitzt.Die gleiche Bedeutung hat es, wenn man etwas unver-mögend nennt. Die Grundbedeutung des Vermögensin ursprünglichem Sinne ist also immer die des Grun-des der Veränderung in einem anderen oder als ande-res genommenen Gegenstande.

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4663 583Aristoteles: Metaphysik

5. Quantität, Qualität, Relation

Ein Quantum nennt man das, was sich in Bestand-teile zerlegen läßt, von denen jeglicher, sei es als einervon zweien oder einer von mehreren, seiner Naturnach ein einiges und bestimmtes Einzelnes ist. EinQuantum bildet eine Vielheit, wenn es zählbar, eineAusdehnung, wenn es meßbar ist. Eine Vielheit heißt,was sich der Möglichkeit nach in nicht kontinuierli-che Teile, eine Ausdehnung heißt, was sich in konti-nuierliche Teile zerlegen läßt. Als kontinuierlich ineiner Richtung heißt die Ausdehnung Länge, in zweiRichtungen Breite, in drei Richtungen Tiefe. Als be-grenzt heißt die Vielheit Zahl, die Länge Linie, dieBreite Fläche, die Tiefe Körper. Ferner heißt das einean sich, das andere nur akzidentiell quantitativ; so istdie Linie ein Quantum ihrem Wesen nach, der musi-kalische Ton ist es nur akzidentiell. Von dem, was ansich die Natur des Quantums hat, hat sie das eine sei-ner selbständigen Wesenheit nach, wie die Linie;denn hier ist die Bestimmung als Quantum schon inder Bezeichnung des begrifflichen Wesens enthalten.Anderes ist Quantum als Affektion und dauernde Be-schaffenheit einer derartigen Wesenheit, so z.B. vielund wenig, lang und kurz, breit und schmal, hoch undniedrig, schwer und leicht, und anderes dergleichen.

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4664 584Aristoteles: Metaphysik

Es bilden weiter auch groß und klein, größer und klei-ner, was teils an sich, teils in Beziehung auf einanderausgesagt wird, Modifikationen des Quantums ansich; doch gebraucht man diese Ausdrücke in übertra-genem Sinne auch von anderem. Was nur akzidentiellals Quantum bezeichnet wird, das wird teils in demvorher angedeuteten Sinne so bezeichnet; wie der mu-sikalische Ton ein Quantitatives ist, so auch dasWeiße, nämlich deshalb, weil dasjenige, dem sie alsPrädikate zukommen, ein Quantitatives ist; anderesdagegen in dem Sinne wie die Bewegung und die Zeit,die als irgendwie Quantitatives und Kontinuierlichesdeshalb bezeichnet werden, weil dasjenige zu dem sieals Bestimmungen gehören, sich in Teile zerlegenläßt. Darunter aber verstehe ich nicht sowohl das wasbewegt wird, als vielmehr die Strecke, um die es be-wegt worden ist. Denn deshalb weil dieses ein Quan-titatives ist, ist auch die Bewegung ein Quantitatives,und weil die Bewegung, darum ist es auch die Zeit.

Qualität bedeutet in einem Sinne die unterschei-dende Beschaffenheit des Gegenstandes; so ist derMensch qualitativ bestimmt als lebendes Wesen mitzwei Beinen, das Pferd als solches mit vier Beinen.Der Kreis ist qualitativ bestimmt als eine Figur ohneEcken, indem diese unterscheidende Bestimmtheit diesein Wesen bezeichnende Qualität bedeutet. So wirdalso in dieser ersten Bedeutung die Qualität als die

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4665 585Aristoteles: Metaphysik

unterscheidende Beschaffenheit des Wesens aufge-faßt; einen anderen Sinn hat sie beim Bewegungslo-sen, Mathematischen. So sind die Zahlen qualitativbestimmt, z.B. die zusammengesetzten Zahlen, dienicht bloß in einer Richtung weitergehen, sondern diean der Fläche und dem Körper ihr Abbild haben; essind dies Produkte aus zwei und aus drei Faktoren.Überhaupt aber ist an den Zahlen das Qualitative das,was neben der Quantität noch an ihrer Wesenheit alsBestimmung vorkommt. Denn das Wesen jeder Zahlist das, was sie einmal genommen ist. So ist dasWesen der Sechszahl nicht dies, daß sie das Produktaus zwei und drei, sondern das, was sie einmal ge-nommen ist; denn sechs heißt soviel wie einmal sechs.

Weiter heißen Qualitäten die Bestimmungen derder Bewegung unterworfenen Gegenstände, wieWärme und Kälte, weiße und schwarze Farbe, Schwe-re und Leichtigkeit und anderes dergleichen, in bezugworauf man, wenn es anders wird, von den Körpernaussagt, daß sie sich verändern. Und so auch ferner inbezug auf gute und schlechte Beschaffenheit undüberhaupt auf das Schlechte und auf das Gute.

Demnach wird die Qualität in der Hauptsache inzwei Bedeutungen zu verstehen sein, von denen dieeine die eigentliche Bedeutung ausmacht. Denn Qua-lität im ursprünglichen Sinne ist die unterscheidendeBestimmtheit des Wesens, und von dieser bildet die

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4666 586Aristoteles: Metaphysik

Qualität als den Zahlen zukommend eine Unterabtei-lung. Denn auch hier ist sie eine unterscheidende We-sensbestimmtheit, aber nicht eine Bestimmtheit desBewegten, oder doch nicht sofern es bewegt ist. An-dererseits bedeutet Qualität die Bestimmungen der derBewegung unterworfenen Gegenstände, sofern sie derBewegung unterworfen sind, und die unterscheiden-den Bestimmtheiten der Bewegungen selber. Gute undschlechte Beschaffenheit bilden dann eine Unterabtei-lung dieser Bestimmtheiten; denn sie bedeuten die un-terscheidende Bestimmtheit der Bewegung und Wirk-samkeit, vermöge deren die in Bewegung begriffenenGegenstände Wirkungen in rechtem oder in verkehr-tem Sinne üben oder erleiden. Dasjenige was das Ver-mögen hat, in diesem bestimmten Sinne bewegt zuwerden oder zu wirken, ist ein Gutes; dasjenige dage-gen, was es in dieser bestimmten und entgegengesetz-ten Weise hat, ist ein Schlechtes. So kommt das Guteund Schlechte als Qualität am meisten bei den beseel-ten Wesen in Betracht, und unter diesen wieder ammeisten bei denjenigen Wesen, die mit bewußtemVorsatz tätig sind.

Unter Relation versteht man ein Verhältnis teilswie das des Doppelten zum Halben, des Dreifachenzum Drittel, überhaupt des Vielfachen zum Bruchteilund des Überwiegenden zum darunter Bleibenden;teils wie das des Wärme Spendenden zu dem für die

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4667 587Aristoteles: Metaphysik

Wärme Empfänglichen oder des Trennung Verursa-chenden zu dem der Trennung Fähigen und überhauptdes Wirkenden zu dem die Wirkung Erleidenden; teilswie das des Meßbaren zum Maß, des Gegenstandesder Erkenntnis zum Erkennen, des Gegenstandes derWahrnehmung zum Wahrnehmen. Im ersten Falle be-deutet Relation ein zahlenmäßiges Verhältnis, entwe-der schlechthin ein solches, oder ein bestimmtes, undein Verhältnis der Glieder zu einander oder zur Eins.So ist das Verhältnis des Doppelten zur Eins ein be-stimmtes Zahlenverhältnis, das Verhältnis des Vielfa-chen zur Eins wohl auch ein Zahlenverhältnis, aberkein bestimmtes, wie zu dieser oder zu jener Zahl; dasVerhältnis 3/2 : 2/3 ist ein Verhältnis zu einer be-stimmten Zahl; das Verhältnis eines unechten Brucheszu seiner Umkehrung dagegen das Verhältnis zueinem Unbestimmten, in demselben Sinne wie dasVerhältnis des Vielfachen zur Eins es ist. Das Ver-hältnis des Überwiegenden zu dem darunter Zurück-bleibenden ist ein Zahlenverhältnis von durchaus un-bestimmter Art; denn die Zahl selber ist kommensura-bel; hier aber sind beide Glieder des Verhältnisses imSinne einer nicht kommensurablen Zahl bezeichnet.Denn das Überwiegende ist im Verhältnis zu demdarunter Bleibenden erstens ein Ebensogroßes unddann noch etwas dazu; dies letztere aber ist unbe-stimmt; es mag, wie sich's eben trifft, dem andern

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4668 588Aristoteles: Metaphysik

gleich oder nicht gleich sein.In allen diesen Fällen nun bedeutet die Relation ein

Verhältnis von Zahlen und Eigenschaften von Zahlen;und eben das bedeutet auch das Gleiche, das Ähnlicheund das Identische, nur mit einer Modifikation. Dennalles das wird ausgesagt in Beziehung auf die Eins.Identisch ist das, dessen Wesen eines ist; ähnlich das,dessen Qualität eine ist; gleich das, dessen Quantitäteine ist. Die Eins aber ist Prinzip und Maß der Zahl,und so bedeuten denn alle diese Arten der Relationein Zahlenverhältnis, nur nicht alle in derselbenWeise.

Die Relation andererseits als das Verhältnis desWirkenden zum Leidenden bedeutet ein Verhältnisdes Vermögens zu wirken und des Vermögens zu lei-den und der Betätigung dieser Vermögen. Das Ver-hältnis des Wärme Spendenden zu dem für dieWärme Empfänglichen ist solch ein Verhältnis desVermögens, das Verhältnis des Erwärmenden aberzum Erwärmten, des Trennenden zum Getrennten einVerhältnis der Betätigung des Vermögens. Zahlenver-hältnisse dagegen lassen diese Bedeutung der Betäti-gung eines Vermögens nicht oder doch nur in der ananderer Stelle dargelegten Weise zu; von Betätigungim Sinne der Bewegung kann hier nicht die Rede sein.Das Verhältnis im Sinne des Vermögens verbindetsich mitunter auch mit einem Zeitverhältnis, z.B. als

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4669 589Aristoteles: Metaphysik

Verhältnis dessen, was hervorgebracht hat zu demwas hervorgebracht worden ist, und dessen was her-vorbringen wird zu dem was hervorgebracht werdenwird. In diesem Sinne spricht man von Vater undSohn; das eine ist dann das was die Wirkung geübt,das andere das was die Wirkung erfahren hat. Es gibtferner Relationen, die auf der Privation des Vermö-gens beruhen; so bei dem was des Vermögens ent-behrt und was auch danach benannt wird, z.B. dasUnsichtbare.

Wo von Relation im Sinne der Zahl und des Ver-mögens gesprochen wird, da steht etwas in Relationimmer dadurch, daß es schon seinem Wesen nach alsin Beziehung zu etwas anderem stehend gedacht wird,und nicht dadurch, daß noch erst etwas anderes in Be-ziehung dazu träte. Dagegen was meßbar, was er-kennbar, was denkbar heißt, das heißt etwas Relativesdadurch, daß ein anderes zu ihm in Beziehung gesetztwird. Denn wenn man etwas denkbar nennt, so meintman damit, daß eine Denktätigkeit sich darauf be-zieht; dagegen steht die Denktätigkeit nicht in Relati-on zu dem Objekt, das sie im Denken erfaßt; denn dashieße nur dasselbe zweimal sagen. Ebenso bedeutetdas Sehen das Sehen eines Gegenstandes, nicht dasSehen eines Gesehenen überhaupt, obwohl sich auchdies in Wahrheit sagen ließe, sondern bestimmter be-zogen auf eine Farbe oder etwas anderes dergleichen.

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4670 590Aristoteles: Metaphysik

Sonst würde nur zweimal dasselbe gesagt werden,nämlich daß das Sehen das Sehen dessen wäre, dessenSehen es ist.

Was nun als an sich relativ ausgesagt wird, daswird teils in dieser Weise ausgesagt, teils wenn dieGattung, zu der es gehört, ein Relatives ist. So ist dieHeilkunde etwas Relatives, weil die Gattung, zu dersie gehört, nämlich die Wissenschaft, für etwas Rela-tives gilt. Ferner ist etwas an sich relativ, sofern das,dessen Bestimmung es ist, als Relatives gemeint ist.So die Gleichheit, weil das Gleiche, und die Ähnlich-keit, weil das Ähnliche etwas Relatives ist. Anderesist relativ nur in akzidentiellem Sinne. So ist einMensch ein Relatives, weil er akzidentiell das Dop-pelte von einem anderen und weil doppelt etwas Rela-tives ist, oder das Weiße ist relativ, falls einem unddemselben Gegenstande beides zukommt, doppelt sogroß und weiß zu sein.

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4671 591Aristoteles: Metaphysik

6. Vollendet, Grenze, Bestimmtheit, Privation

Vollendet nennt man einmal das, zu dem man auchnicht das kleinste Teilchen von außen hinzuzunehmenbraucht; so ist die Zeit eines jeden Gegenstandes dannvollendet, wenn man zu ihr kein weiteres Zeitteilchenaußer ihr hinzuzufügen hätte, das noch als Teil zudieser Zeit gehörte. Weiter aber heißt vollendet auchdas, was in bezug auf Tüchtigkeit und rechte Beschaf-fenheit ein noch Höheres in seiner Gattung nicht zu-läßt; so ist einer ein vollendeter Arzt und ein vollen-deter Flötenspieler, wenn er an der eigentümlichenTüchtigkeit in seinem besonderen Fach nichts zuwünschen übrig läßt. So können wir dann den Begriffauch auf das Schlechte übertragen. Wir sprechen voneinem vollendeten Denunzianten und einem vollende-ten Dieb, wie wir ja auch solchen Leuten ihre Art vonTüchtigkeit zuschreiben und z.B. einen als Muster-dieb und Musterdenunzianten bezeichnen; solcheTüchtigkeit ist eben auch eine Art Vollkommenheit.Denn jegliches Ding ist dann vollendet, und jedes be-griffliche Wesen ist dann vollendet, wenn je nach derbesonderen Art der hier in Betracht kommenden rech-ten Beschaffenheit an der der Natur der Sache ent-sprechenden Größe kein Teilchen fehlt.

Weiter wird das vollendet genannt, was einem bil-

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ligenswerten Zwecke dient. Denn die Bezeichnungvollendet teleion erhält etwas nach dem Endzwecktelos, dem es dient. Da nun dieses, der Endzweck, einÄußerstes ist, so übertragen wir das auch auf dasSchlechte und sagen, etwas sei vollkommen zugrundegerichtet, vollkommen vernichtet, wenn an der Ver-nichtung und an dem Unheil gar nichts fehlt, sonderndas Äußerste wirklich eingetreten ist. Deshalb wird inübertragenem Sinne auch der Tod als ein Endziel be-zeichnet, weil beide ein Letztes sind. Endziel bedeutetaber weiter auch den letzten Zweck.

Was also als an sich vollendet bezeichnet wird, dasmeint man in diesen verschiedenen Bedeutungen, daseine deshalb, weil es an der rechten Beschaffenheitnichts vermissen läßt und kein Überbieten oder Hin-zunehmen von außen zuläßt, das andere deshalb, weiljedesmal in dieser Gattung überhaupt darüber hinaus-zugehen und von außen etwas hinzuzufügen nichtmöglich ist. Das andere aber wird demgemäß als voll-endet deshalb bezeichnet, weil es solches wie das Be-zeichnete bewirkt oder an sich hat oder damit zusam-menstimmt oder irgendwie mit dem was ursprünglichals vollendet bezeichnet wird im Zusammenhange ge-dacht wird.

Grenze heißt was jedesmal am Gegenstande dasLetzte ist, also das Erste, außerhalb dessen kein Teildes Gegenstandes gefunden werden kann, und das

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Erste, innerhalb dessen alles was zum Gegenstandegehört gefunden wird. Grenze heißt ferner dasjenige,was die Form der Ausdehnung oder dessen was eineAusdehnung hat, bildet; sodann das Ziel eines jedenGegenstandes, also ein solches, in der Richtung aufwelches hin, nicht von welchem her, die Bewegungund die Tätigkeit sich vollzieht, bisweilen aber auchbeides zusammen, Ausgangspunkt und Zielpunkt zu-gleich; ferner der Zweck, und das was jedesmal dasWesen des Gegenstandes, seine bleibende begrifflicheBestimmtheit bildet. Denn dieses macht die Grenzeder Erkenntnistätigkeit, und wenn die der Erkenntnis-tätigkeit, auch die des Gegenstandes aus. Es leuchtetsomit ein, daß das Wort Grenze in ebenso vielen Be-deutungen gebraucht wird wie das Wort Anfang, Prin-zip, ja in noch mehreren. Denn Prinzip, Ausgangs-punkt, heißt Grenze, Grenze aber nicht immer auchPrinzip.

Der Ausdruck sofern wird in vielen Bedeutungengebraucht. Er bezieht sich zunächst auf die Form undWesenheit eines Gegenstandes; man sagt z.B. sofernder Gute gut ist, und meint damit das Gute selbst. Inanderem Sinne bezieht sich der Ausdruck auf das Ur-sprüngliche, woran die Erscheinung ihrer Natur nachvorkommt, wie z.B. die Farbe an einer Fläche auftritt.Das Insofern, das wir an erster Stelle genannt haben,bedeutet die Form, das an zweiter Stelle genannte die

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jedesmalige Materie des Dinges, und sein ursprüngli-ches Substrat. Überhaupt kommt das Insofern inebensovielen Bedeutungen vor wie der Begriff desGrundes. So fragt man: in welchem Sinne ist er ge-kommen, und meint damit: zu welchem Zwecke ist ergekommen; oder: inwiefern ist ein falscher oder auchein richtiger Schluß gezogen worden, und meintdamit: was ist der Grund des richtigen oder des fal-schen Schließens gewesen. So gebraucht man denAusdruck auch, wo von der räumlichen Lage einesGegenstandes die Rede ist: sofern einer steht odergeht, alles Ausdrücke, die sich auf Lage oder Ort be-ziehen.

Darum wird denn auch der Ausdruck »an und fürsich« notwendigerweise mehrere Bedeutungen haben.Das an und für sich ist in dem einen Sinne die begriff-liche Wesensbestimmtheit des Gegenstandes, wieKallias an und für sich Kallias und dies die Wesens-bestimmtheit des Kallias ist; dann aber ist es auch dasals Merkmal in dem Wesensbegriff Enthaltene; so istKallias an und für sich ein lebendes Wesen, weil le-bendes Wesen zu sein in seinem Begriffe liegt undKallias sein Sein als lebendes Wesen hat. Fernerkommt dem Gegenstande das an und für sich auchdann zu, wenn er das Ursprüngliche ist, was etwas insich oder in dem was zu ihm gehört aufgenommenhat; so ist eine Oberfläche an und für sich weiß, und

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4675 595Aristoteles: Metaphysik

der Mensch hat an und für sich Leben. Denn die Seeleist des Menschen Bestandteil, und sie ist das Ur-sprüngliche, was Leben hat. Und so ist auch das anund für sich, was auf keinen weiteren Grund zurück-führt. Denn daß einer Mensch sei, dazu kommen vieleBestimmungen zusammen: lebendes Wesen, mit zweiBeinen versehen; dennoch ist der Mensch ein Menschan und für sich. Endlich ist an und für sich das wasdem Gegenstande, und ihm allein, zukommt und so-fern es ihm allein zukommt, weil damit der Gegen-stand als ein gesondert Existierendes an und für sichcharakterisiert wird.

Diathese, Disposition diathesis heißt bei dem, wasTeile hat, die Anordnung, teils in räumlichem Sinne,teils der Bedeutsamkeit, teils der Form nach. Zugrun-de liegt dabei eine Position, ein Gesetztsein thesis wieschon der Name diathesis zeigt.

Unter Habitus hexis dagegen versteht man einer-seits eine Wirksamkeit, wie die wo das eine etwashat, das andere Gegenstand dieses Habens ist; so beieiner Tätigkeit oder Bewegung; denn wo das eine her-vorbringt, das andere hervorgebracht wird, da gibt esdazwischen eine Tätigkeit des Hervorbringens, undebenso zwischen dem der ein Kleidungsstück hat unddem Kleidungsstück das er hat, ein Verhältnis desHabens. So viel nun ist klar, daß man diese Art vonVerhältnis des Habens nicht wieder haben kann; denn

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4676 596Aristoteles: Metaphysik

wenn man jedesmal wo man etwas hat, auch dasHaben wieder haben könnte, so geriete man in denFortgang ins Unendliche, in anderem Sinne heißt Ha-bitus die Beschaffenheit, der zufolge ein Eingerichte-tes wohl oder übel eingerichtet ist, und dies entwederan und für sich oder in bezug auf anderes. So ist dieGesundheit ein Habitus: denn sie ist eine Beschaffen-heit von der bezeichneten Art. Endlich gebraucht mandas Wort Habitus, hexis, auch für das, was einen Be-standteil einer derartigen Beschaffenheit bildet. Indiesem Sinne bedeutet auch die vorzügliche Beschaf-fenheit der Bestandteile einen Habitus.

Unter Bestimmtheit pathos versteht man einmaleine Eigenschaft, Affektion, in bezug auf welche derGegenstand einer Veränderung ausgesetzt ist, z.B.weiß und schwarz, süß und bitter, schwer und leicht,und dergleichen mehr; dann aber versteht man darun-ter auch die wirklichen Vorgänge und die in diesenBeziehungen eingetretenen Veränderungen, insbeson-dere diejenigen Veränderungen und Bewegungen,welche dem Gegenstande schädlich sind, und am häu-figsten die Schädigungen von schmerzlicher Art. End-lich werden mit dem gleichen Worte auch Unfälle undschmerzliche Erfahrungen von besonderer Größe be-zeichnet.

Von Privation, Entbehren, Beraubtsein sterêsisspricht man erstens da, wo ein Gegenstand das nicht

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4677 597Aristoteles: Metaphysik

hat, was von Natur dazu geeignet ist, daß ein Gegen-stand es habe, und das auch dann, wenn nicht der Ge-genstand selbst es eigentlich haben sollte; so sagt manvon der Pflanze aus, sie entbehre esterêsthai derAugen. Ferner aber auch da, wo der Gegenstand, undzwar entweder er selbst, oder die Gattung, zu der ergehört, das nicht hat, was er seiner Natur nach habensollte; so entbehrt der blinde Mensch des Augenlich-tes in anderem Sinne als der Maulwurf, der letzterewegen der Gattung, der er angehört, jener als diesereinzelne. Ferner aber auch dann, wenn der Gegen-stand nicht hat, was zu haben zu seiner Natur gehörtund zu der Zeit, wo es zu seiner Natur gehört. DennBlindheit ist eine Privation, blind aber ist einer nichtin jedem Lebensalter, wo er das Augenlicht nicht hat,sondern in dem, wo er es eigentlich haben sollte.Ebenso ist es mit dem Orte wo, mit dem Teile andem, mit der Beziehung in welcher, mit der Art in der,etwas nicht hat, was zu seiner Natur gehört. Und sowird ferner auch die gewaltsame Entziehung eines Be-sitzes eine Privation genannt. In ebenso vielen Bedeu-tungen, wie man die Negation mit Hilfe der Vorsilbe»un« oder der Endsilbe »los«, mit α privativum, aus-drückt, spricht man auch von Arten der Privation. Soheißt ungleich etwas davon, daß es die Gleichheitnicht hat, die zu seiner Natur gehört, unsichtbar auchdavon, daß es schlechterdings keine oder doch nur

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4678 598Aristoteles: Metaphysik

eine undeutliche Farbe hat, und fußlos auch davon,daß es überhaupt keine Füße oder solche von schlech-ter Beschaffenheit hat. Und so bezeichnet die Privati-on überhaupt auch dies, daß der Gegenstand etwasnur in kümmerlicher Weise hat; z.B. kernlos heißt einGranatapfel, der Kerne von dürftiger Art hat; oder siebezeichnet, daß man etwas nicht leicht oder nicht gutan dem Gegenstande vornehmen kann; so heißt unzer-trennlich nicht bloß das was gar nicht zu zertrennenist, sondern auch was sich nicht leicht oder nicht gutzertrennen läßt. Endlich bezeichnet die Privation, daßdem Gegenstande etwas schlechterdings fehlt. Soheißt blind nicht der Einäugige, sondern wer auf bei-den Äugen des Lichtes beraubt ist. Darum gilt esnicht, daß jeder Mensch entweder gut oder schlecht,gerecht oder ungerecht wäre, sondern es gibt auchZwischenstufen.

Mit dem Worte haben, halten, bezeichnet manmehrere Verhältnisse. Erstens heißt es soviel wie sei-ner eigenen Natur oder seinem inneren Triebe gemäßeinen Gegenstand treiben, ihn in einen Zustand ver-setzen. So sagt man wohl, das Fieber habe den Men-schen und der Herrscher den Staat, und das Klei-dungsstück habe der, der es trägt. Andererseits be-zeichnet haben, daß etwas an einem dafür Empfängli-chen vorhanden ist, wie das Erz die Form der Bild-säule und der Leib die Krankheit hat. Dann bedeutet

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4679 599Aristoteles: Metaphysik

»haben« auch das Verhältnis des Umfassenden zumUmfaßten. Man sagt, dasjenige habe etwas, was die-ses in sich enthält, wie das Gefäß die Flüssigkeit, dieStadt die Bewohner, das Schiff die Mannschaft, undso auch das Ganze die Teile. Dann aber sagt manauch von dem, was etwas daran hindert, sich seinemeigenen Triebe gemäß zu bewegen oder zu betätigen,es habe, halte eben dieses, wie eine Säule die daraufruhende Last, oder wie Atlas bei den Poeten den Him-mel hält, der sonst auf die Erde herabstürzen würde;eine Vorstellung übrigens, die man ähnlich auch beiNaturphilosophen finden kann! In demselben Sinnesagt man auch von dem was zusammenhält, es habe,halte, weil ihrem eigenen Triebe gemäß die Dingeauseinanderfallen würden. In demselben Sinne nunund im Anschluß an die Bedeutung des Wortes»haben« sagt man dann auch, etwas sei in einem an-deren.

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4680 600Aristoteles: Metaphysik

7. Bestandteil, Teil, Ganzes, Bruchstück

Mit aus etwas sein, bestehen drückt man aus, daßetwas an dem anderen seine Materie hat, und zwar indoppelter Weise: entweder im Sinne der obersten Gat-tung oder der letzten Art, also das eine Mal, wie allesFlüssige aus Wasser, das andere Mal wie eine Bild-säule aus Erz besteht. Man sagt aber auch, etwas sei,entstehe aus dem anderen als aus seinem ersten bewe-genden Grunde. Z.B. woher kommt der Streit? Auseiner beleidigenden Äußerung, weil diese der Ur-sprung des Streites ist. Andererseits wieder ist etwasaus dem Zusammengesetzten, das aus Materie undForm besteht; so sind die Teile aus dem Ganzen, derVers aus der Ilias und der Stein aus dem Hause. Denndas Endziel bildet die Form, und vollendet ist, wassein Endziel erreicht hat. Anders wieder bedeutet das»aus etwas sein« ein Verhältnis, wie der Begriff ausMerkmalen, z.B. der Mensch aus dem mit zwei Bei-nen versehen sein und die Silbe aus den Lauten ist.Hier ist das Verhältnis ein anderes als das zwischenBildsäule und Erz. Denn da besteht die zusammenge-setzte Substanz aus der sinnlich wahrnehmbaren Ma-terie; freilich besteht auch der Begriff aus der begriff-lichen Materie. Das wären denn die Bedeutungen desWortes. Es kann aber auch in jeder der genannten Be-

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4681 601Aristoteles: Metaphysik

deutungen etwas aus einem Teile des anderen sein,wie aus Vater und Mutter das Kind, aus dem Bodendie Pflanze, weil sie aus einem Teile von diesemstammt. »Aus etwas« heißt aber ferner auch zeitlichnach etwas; so wird aus dem Tage die Nacht und ausschönem Wetter stürmisches Wetter, weil das einenach dem anderen kommt. Bald drückt dies aus, daßdas eine, wie in den eben erwähnten Beispielen, sichin das andere umwandelt, bald daß bloß eine zeitlicheAufeinanderfolge stattfindet; so sagt man, die Seefahrtentsprang aus der Tagundnachtgleiche, weil sie nachihr kam, und aus den Dionysien wurden die Tharge-lien, weil sie nach den Dionysien kommen.

Teil heißt erstens das, worin etwas was Größe hatauf welche Weise auch immer zerlegt werden kann.Denn jedesmal wird bei einem Quantitativen als sol-chem das was man von ihm fortnimmt als ein Teildesselben bezeichnet, wie die Zwei als Teil der Drei.In engerem Sinne betrachtet man als Teil eines Quan-tums nur das, was als Maß für dasselbe dient. Dahergilt die Zwei wohl in jenem Sinne als Teil der Drei,aber nicht in diesem. Weiter wird auch das worin sichdie Art zerlegen läßt, wo nicht mehr das Quantitativein Betracht kommt, als Teil der Gattung bezeichnet;so nennt man die Arten Teile der Gattung. Weiter hei-ßen Teile auch die Glieder, in die das Ganze, sei esdie Form oder das mit der Form Ausgestattete, zerlegt

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4682 602Aristoteles: Metaphysik

wird oder woraus es besteht; so ist ein Teil der eher-nen Kugel oder des ehernen Würfels das Erz, dasheißt die Materie, in der die Form sich ausprägt, aberauch der Winkel. Endlich sind auch die Merkmale indem Begriffe, der den Gegenstand bezeichnet. Teiledes Ganzen. Und so wird auch die Gattung als Teildes Artbegriffs bezeichnet, während vorher in andererWeise die Art einen Teil der Gattung bildete.

Ein Ganzes heißt das, woran kein Teil fehlt, der zudem Ganzen seiner Natur nach gefordert wird, sowiedas was einen Inhalt so umfaßt, daß dieser eine Ein-heit bildet. Dies kann in doppelter Weise geschehen.Es kann jeder der umschlossenen Teile eine Einheitfür sich bilden, es kann aber auch die Einheit erst ausihnen werden. Das Allgemeine nämlich, das was manals eine Allheit gemeinsam bezeichnet, ist ein Allge-meines dadurch, daß es eine Vielheit so umfaßt, daßdas Ganze von jedem einzelnen ausgesagt wird undalles dieses einzelne als Einzelnes zusammen eineEinheit bildet, wie Mensch, Pferd, Gott sämtlich unterden Begriff lebendes Wesen fallen. Anders das Konti-nuierliche und Begrenzte, wo sich aus einer Mehrheitvon Bestandteilen eine Einheit ergibt, meistenteils inpotentieller, sonst wohl auch in aktueller Weise. Indiesem letzteren Falle gehört dahin mehr das was vonNatur als das was durch Kunst eine Einheit ausmacht,wie wir schon bei der Erörterung des Begriffs der Ein-

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4683 603Aristoteles: Metaphysik

heit dargetan haben; denn Totalität bedeutet eine Artvon Einheit. Bei dem ferner, was ein Quantitatives istmit Anfang, Mitte und Ende, gebraucht man das Wort»alles«, sofern die Lage und Ordnung der Teile kei-nen Unterschied ausmacht, dagegen das Wort »ganz«,sofern dieser Unterschied vorhanden ist; wo beideseintreten kann, da sind beide Bezeichnungen, die alsGanzes und die als Alles, am Platze. Dahin gehörtalles, was in der Veränderung der Ordnung der Teilewohl seine Natur, aber nicht seine Gestalt bewahrt,wie Wachs oder ein Kleidungsstück, die ebensowohlals »alles« wie als »ganz« bezeichnet werden, weilhier beide Bestimmungen passen. Bei Wasser aberund sonstigen Flüssigkeiten wie bei Zahlen gebrauchtman wohl das Wort »alles«; aber den Ausdruck»ganz« gebraucht man von der Zahl und von demWasser nicht, es sei denn in übertragenem Sinne.Man gebraucht den Ausdruck »sämtlich«, wo dasWort »alles« als von einer Einheit gilt, von den ein-zelnen Gliedern als getrennten. So wird »alles« vondieser bestimmten Zahl, »sämtlich« von diesen Ein-heiten darin gebraucht.

Den Ausdruck verstümmelt, Bruchstück, gebrauchtman nicht von jedem beliebigen Quantitativen, son-dern nur von dem was Teile hat und ein Ganzes bil-det. Die Zwei wird nicht unvollständig, wenn man dieeine Einheit von ihr wegnimmt; denn bei einer Ver-

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4684 604Aristoteles: Metaphysik

stümmelung ist niemals das was übrig bleibt demgleich was fortgefallen ist. Und das Gleiche gilt vonjeder Zahl; denn es gehört dazu, daß die Sache ihremWesen nach bestehen bleibt. Damit der Becher ver-stümmelt heißen könne, muß er immer noch ein Be-cher sein; die Zahl aber ist dann nicht mehr dieselbegeblieben. Aber weiter, man gebraucht den Ausdruckauch nicht von allem, was aus ungleichartigen Teilenbesteht; denn eine Zahl z.B. kann ganz wohl aus un-gleichen Teilen bestehen wie 5 aus 2+3. Aber über-haupt, Dinge, bei denen es auf Lage und Ordnung derTeile nicht ankommt, wie Wasser oder Feuer, könnennicht verstümmelt werden; sondern dazu wird erfor-dert, daß der Gegenstand seinem Begriffe und Wesennach eine bestimmte Ordnung der Teile, und weiter,daß er Zusammenhang habe. Eine Harmonie bestehtaus ungleichartigen Teilen in bestimmter Ordnung,und darf doch nicht verstümmelt heißen. Und weiter,auch bei dem, was ein Ganzes ist, reicht es zum Be-griff der Verstümmelung nicht aus, daß ihm ein belie-biger Teil geraubt wird; es dürfen weder die für denBestand des Dinges wesentlichen Teile, noch auch be-liebig irgendwo am Ganzen befindliche Teile sein.Ein Becher wird nicht verstümmelt, wenn er ein Lochbekommt, sondern etwa wenn er den Henkel oder denAufsatz an der Spitze verliert, und ebenso ein Menschnicht, wenn er ein Stück Fleisch oder die Milz, son-

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4685 605Aristoteles: Metaphysik

dern wenn er etwa eine der Extremitäten einbüßt, undauch hier nicht jede beliebige, sondern eine solche,die ganz weggenommen nicht wieder nachwächst. EinKahlköpfiger ist darum noch kein Krüppel.

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4686 606Aristoteles: Metaphysik

8. Gattung, Falsch, Akzidens

Von Gattung, Stamm, spricht man, wo sich konti-nuierlich eine Generation von Wesen, die dieselbeForm haben, an die andere reiht. So sagt man: solangedie menschliche Gattung besteht, und meint damit:solange sich eine Generation von Menschen an dieandere reiht. Man gebraucht das Wort aber auch da,wo es einen ersten Urheber und eine gemeinsame Ab-stammung gibt. So spricht man von dem Stamm derHellenen und dem der Jonier, weil jene den Hellen,diese den Jon zum Stammvater haben. Der Stammva-ter ist dabei wichtiger als die Materie, die Stammut-ter; doch wird der Stamm auch wohl von einemWeibe abgeleitet; so spricht man von der Nachkom-menschaft der Pyrrha. Man spricht weiter auch vonGattung bei einem Verhältnis wie dem der Ebene zuden ebenen Figuren und des Körpers zu den körperli-chen Gestalten. Denn jede ebene Figur ist wieder dieEbene in bestimmter Begrenzung, und jedes körperli-che Gebilde ein Körper mit dieser Bestimmtheit. Hierheißt Gattung das Substrat für die Unterschiede derArten. Bei den Begriffsbestimmungen ferner ist Gat-tung der erste Bestandteil, der aussagt, was der Ge-genstand ist, und die Artunterschiede werden danndurch die besonderen Beschaffenheiten gebildet. Das

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4687 607Aristoteles: Metaphysik

also sind die verschiedenen Bedeutungen, in denendas Wort Gattung gebraucht wird: die Kontinuität derErzeugung innerhalb der identischen Form; dieGleichartigkeit der Abstammung von dem gemeinsa-men Urheber und dann von der gemeinsamen Stam-materie. Denn das woran der Artunterschied und diequalitative Bestimmung sich findet, ist das Substrat,das wir Materie nennen.

Der Gattung nach verschieden heißt das, dessen ur-sprüngliches Substrat verschieden ist, wo ferner daseine sich nicht in das andere und beide sich nicht inein drittes auflösen lassen. So ist Form und Materieder Gattung nach verschieden, und ferner auch das,was unter verschiedene Kategorien des Seienden fällt.Denn das Seiende bedeutet teils das selbständigeWesen, teils die qualitative Bestimmung, teils eineder anderen Bestimmungen, die wir früher aufgezählthaben. Denn diese lassen sich weder auf einandernoch auf eine sonstige Einheit zurückführen.

Den Ausdruck falsch, unwahr, gebraucht man daseine Mal in dem Sinne, daß die Sache falsch heißt,und zwar zunächst deshalb, weil zwei Bestimmungenentweder tatsächlich nicht verbunden sind, oder weilsie unmöglich verbunden sein können. So wenn esheißt, daß die Diagonale kommensurabel sei, oderdaß du sitzest; hier ist jenes immer, dieses zuzeitenfalsch; denn in so verschiedener Weise ist doch beides

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4688 608Aristoteles: Metaphysik

ein Nicht-Seiendes. Unwahr ist aber auch, was zwarwirklich da ist, was aber die Natur hat, so zu erschei-nen, wie es in Wirklichkeit nicht beschaffen, oder alsdas was es in Wirklichkeit nicht ist, wie perspektivi-sche Bilder oder Träume, die ja an sich wirklichetwas, aber nicht das sind, wovon sie die Vorstellungerregen. Sachen also werden in diesem Sinne unwahrgenannt, entweder weil sie selbst nicht sind, oder weilsie die Vorstellung von etwas erzeugen, was nichtwirklich ist.

Eine Aussage aber ist falsch als Aussage über sol-ches, was nicht wirklich ist, sofern sie als diese falschist. Darum ist eine Aussage falsch auch dann, wennsie von einem anderen Gegenstande gemacht wird alsvon dem, für den sie richtig ist. So wird eine Aussageüber den Kreis falsch, wenn sie von dem Dreieck ge-macht wird. Die Aussage über einen jeden Gegen-stand ist in dem einen Sinne nur eine einzige, indemsie das eigentliche Wesen bezeichnet; sie kann aberauch eine mehrfache sein, da ein und derselbe Gegen-stand wohl er selber, aber er selber auch mit einer Be-stimmung ist, wie Sokrates und Sokrates mit demPrädikat gebildet. Die falsche Aussage aber ist vonkeinem Gegenstande die Aussage ohne weiteres. Ausdiesem Grunde meinte Antisthenes töricht genug, mandürfe von keinem Gegenstande etwas anderes aussa-gen als seinen eigenen Begriff: »von einem nur

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4689 609Aristoteles: Metaphysik

eines«. Daraus ergab sich denn, daß es unmöglich sei,widersprechende, und beinahe unmöglich, falscheAussagen zu machen. Aber vielmehr ist es wohl mög-lich, jedem Gegenstand nicht bloß seinen eigenen Be-griff, sondern auch den Begriff von etwas anderembeizulegen, und solche Bezeichnung kann ja sicher-lich falsch, sie kann aber auch richtig sein, wie wennman 8 als ein Doppeltes bestimmt, indem man denBegriff der 2 darauf anwendet.

Das wäre also soweit die Bedeutung von falsch.Nun spricht man aber auch von einem falschen, un-wahren Menschen und meint damit einen leichtferti-gen Menschen mit einem Hange zu Aussagen von derbezeichneten Art, nicht weil er etwas anderes damitbezweckt, sondern nur um ihrer selbst willen, und deranderen dergleichen vorredet; ebenso wie wir auch dieSachen als unwahr bezeichnen, die unwahre Vorstel-lungen erzeugen. Darum trifft die Ausführung im Dia-log »Hippias« daneben, als sei ein und derselbe wahrund unwahr zugleich. Hier wird der, der die Unwahr-heit zu sagen vermag, für einen unwahren Menschengenommen; wer aber die Unwahrheit zu sagen ver-mag, ist gerade der Wissende und Einsichtige; undobendrein wird derjenige, der mit Willen schlecht ist,als der Höherstehende betrachtet gegenüber dem, deres nicht mit Willen ist. Dieses falsche Ergebnis wirderlangt auf dem Wege der Induktion. Wer mit Willen

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4690 610Aristoteles: Metaphysik

hinkt, ist besser daran als der, der unfreiwillig hinkt:da heißt es also von einem, er hinke, wenn er nur sotut. Aber vielmehr, wäre einer mit Willen lahm, sowürde er doch dem gegenüber, der es Widerwillen ist,der Minderwertige sein, und es ist damit hier geradeso wie da, wo es sich um sittliche Eigenschaften han-delt.

Ein Akzidens symbebêkos nennt man eine Bestim-mung, die einem Gegenstande zukommt und ihm mitRecht beigelegt wird, indessen nicht notwendig undauch nicht regelmäßig. So wenn einer beim Grabeneiner Grübe für eine Pflanze einen Schatz findet. Fürden, der die Grübe gräbt, ist eben dies, das Findeneines Schatzes, ein akzidentielles Ereignis; denn daßeiner beim Pflanzen einen Schatz findet, das ist nichtnotwendig, weder als Folge daraus, noch als Folgedanach, noch trifft es regelmäßig ein. Ebenso kanneiner, der gebildet ist, ganz wohl auch blaß sein; aberda dies nicht notwendig noch regelmäßig zutrifft, sonennen wir es ein Akzidens, einen Zufall. Wenn dahereine Bestimmung vorkommt und an einem gewissenGegenstande vorkommt, und zuweilen auch wenn siean diesem Orte oder zu dieser Zeit vorkommt, so isteine solche Bestimmung, die zwar vorhanden ist, abernicht aus dem Grunde vorhanden ist, weil dieses Be-stimmte war oder jetzt oder hier war, ein Akzidens.Für das Akzidentielle gibt es keine bestimmte, son-

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4691 611Aristoteles: Metaphysik

dern nur eine beliebige Ursache, und diese ist unbe-stimmbar.. Es geschieht einem in akzidentiellerWeise, zufällig, daß er nach Ägina kommt, wenn ernicht aus dem Gründe daselbst angekommen ist, weiler dorthin fahren wollte, sondern etwa weil ihn einSturm dorthin verschlagen oder Räuber ihn entführthaben. Solches Akzidentielle ist ja geschehen und istvorhanden, aber nicht, sofern es selber ist, sondernsofern etwas anderes ist. So war der Sturm die Ursa-che, daß er nicht dahin gelangte, wohin er auf derFahrt war; dies aber war Ägina. Man gebraucht danndas Wort akzidentiell auch noch in anderem Sinneund bezeichnet

damit das was einem Gegenstande an und für sichzukommt, ohne doch zu seinem begrifflichen Wesenzu gehören, wie es eine Bestimmung des Dreiecks ist,daß die Winkelsumme zwei Rechte beträgt, und indieser Bedeutung kann das Akzidentielle auch einEwiges sein, nicht in jener Bedeutung. Genauereshierüber bringen wir an anderem Orte.

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4692 612Aristoteles: Metaphysik

Fußnoten

1 Daß die Körper, die sich bewegen, jeder mehrereArten des Umlaufs haben, das leuchtet auch dem ein,der sich mit der Sache nur ganz wenig befaßt hat.Jedes der umlaufenden Gestirne schwingt sich nichtbloß in einer, sondern in einer Mehrzahl von Bewe-gungen um. »Wie viele solcher Bewegungen es gebenmag, darüber wollen wir für jetzt nur zur Kenntnis-nahme, um für die Einsicht in die Sache an einer be-stimmten Anzahl eine Handhabe zu gewinnen, dieje-nige Auskunft wiederholen, die einige unter denAstronomen geben. Die Sache verdient es wohl, daßman sie selbst weiter untersuche und anderes bei denForschem über den Gegenstand erfrage; sollte sichdann bei weiterer Nachforschung eine Abweichungvon dem was wir jetzt vortragen herausstellen, somuß man sich zwar beiden dankbar bekennen, abersich denjenigen anschließen, die das Zutreffenderedarbieten.Eudoxus also nahm für Sonne und Mond je dreiSphären an, in denen sich ihr Umlauf vollziehe; dieerste davon sei die der Fixsterne, die zweite gehe mit-ten durch den Tierkreis, die dritte durchschneide denTierkreis schräg seiner Breite nach. Dabei sollte dieBreite des Durchschnitts bei dem Monde größer sein

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4693 613Aristoteles: Metaphysik

als bei der Sonne. Die Planeten dagegen ließ er ihrenUmlauf jeden in vier Sphären vollziehen, von denendie erste und zweite mit den entsprechenden vorigenidentisch wäre. Denn die Sphäre der Fixsterne tragesie alle, und auch diejenige, die ihren Platz zunächstunter ihr habe, und deren Umlauf durch die Mitte desTierkreises gehe, sei allen gemeinsam. Bei der drittendagegen für jeden Planeten lägen die Pole in demDurchschnitt mitten durch den Tierkreis; die vierteaber richte ihren Umschwung schräg durch die Mittejenes dritten Kreises. In der dritten Sphäre hätten dieanderen Gestirne jedes seine eigenen Pole, doch seiendie von Venus und Merkur dieselben.Die gleiche Anordnung der Sphären wie Eudoxus,d.h. die gleiche Ordnung der Abstände, nahm auchKallippos an; auch die Anzahl der Sphären für Jupiterund Saturn bezeichnete er ebenso wie jener. Dagegenwar er der Meinung, man müsse, wenn man den Er-scheinungen gerecht werden wolle, zu der Sphäre fürSonne und Mond noch zwei weitere Sphären hinzufü-gen, und noch je eine weitere für jeden der übrigenPlaneten.Indessen, wenn doch die Aufgabe ist, durch alle Sphä-ren in ihrer Gesamtheit eine befriedigende Erklärungfür die Erscheinungen zu erreichen, so bedarf es derAnnahme noch weiterer Sphären für jeden Planeten,und zwar muß ihre Anzahl um eins kleiner sein als

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4694 614Aristoteles: Metaphysik

die Anzahl der Planeten. Diese weiteren Sphärenhaben die Bestimmung, die der Lage nach erste Sphä-re des Gestirns, das jedesmal seinen Platz zunächstdarunter hat, zurückzuwinden und es wieder in seinefrühere Lage zurückzuversetzen. So allein wird esmöglich, durch die Gesamtheit der Sphären den Laufder Planeten verständlich zu machen.Da nun die Anzahl der Sphären, in denen sie sich um-schwingen, für Sonne und Mond zusammen 8 und fürdie anderen zusammen 25 beträgt, und da von denletzteren nur diejenigen, in denen das zu unterst ange-ordnete Gestirn umläuft, nicht wieder aufgewunden zuwerden braucht, so würde sich die Anzahl von 6Sphären ergeben, die die Bestimmung haben, die bei-den obersten zurückzuwinden. Für die vier letztenwürde diese Anzahl sich auf 16 belaufen, und die Ge-samtzahl aller derjenigen, die den Umschwung tragen,und derjenigen, die die Rückläufigkeit bewirken,würde 55 sein. Werden aber die Bewegungen, die wirder Sonne und dem Monde zuschreiben, nicht als gül-tig angesehen, so ergäben sich im ganzen 47 Sphären.Das mag denn als die Anzahl der Bewegungen gelten,und damit darf denn auch die Annahme ebensovielerSubstanzen und unbewegter Prinzipien wie sinnlichwahrnehmbarer Wesen als wahrscheinlich angesehenwerden. Darüber mit voller Autorität zu sprechen,muß den Leuten vom Fach überlassen bleiben.

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