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1 „Ungeheuer ist viel. Doch nichts Ungeheuerer, als der Mensch.“ Chor Begleitmaterial zu Sophokles ANTIGONE Regie: Eva Lange Bühne & Kostüme: Ulrike Obermüller Dramaturgie: Peter Hilton Fliegel Regieassistenz: Lotta Seifert Soufflage: Jannika Wübben Mit Zenzi Huber (Antigone), Aida-Ira El-Eslambouly (Ismene), Fabian Monasterios (Chor), Sven Brormann (Kreon), Aom Flury (Wächter/Bote/Teiresias), Robert Lang (Haimon), Ramona Marx (Eurydike), Robin Wegner (Polyneikes, der tote Bruder) Premiere: Sa., 21/11/2015 / 20.00 Uhr / Stadttheater Wilhelmshaven www.landesbuehne-nord.de

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„Ungeheuer ist viel. Doch nichts

Ungeheuerer, als der Mensch.“

Chor

Begleitmaterial zu

Sophokles

ANTIGONE

Regie: Eva Lange

Bühne & Kostüme: Ulrike Obermüller

Dramaturgie: Peter Hilton Fliegel

Regieassistenz: Lotta Seifert

Soufflage: Jannika Wübben

Mit Zenzi Huber (Antigone), Aida-Ira El-Eslambouly (Ismene), Fabian Monasterios (Chor), Sven

Brormann (Kreon), Aom Flury (Wächter/Bote/Teiresias), Robert Lang (Haimon), Ramona Marx

(Eurydike), Robin Wegner (Polyneikes, der tote Bruder)

Premiere: Sa., 21/11/2015 / 20.00 Uhr / Stadttheater Wilhelmshaven

www.landesbuehne-nord.de

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Inhalt

1. Der Fluch der Labdakiden ............................................................................................ 3

2. Alte Gesetze, neue Gesetze .......................................................................................... 4

3. Fragen überall und keine Antworten ............................................................................. 5

4. Bestattungspflicht ........................................................................................................ 6

5. Fluch ............................................................................................................................ 6

5. Die Darsteller – außer F- Monasterios (Gast) und R.Wegner (Statist)........................... 12

6. Szenen ........................................................................................................................ 13

7. Anregungen für Ihren Unterricht .................................................................................. 25

8. Informationen zu Buchungen & Kontakt ...................................................................... 26

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1. Der Fluch der Labdakiden

Den Höhepunkt einer Geschichte herausgreifen und diesen in Echtzeit erzählen, das ist das

Merkmal der griechischen Tragödie mit ihrer Einheit von Raum und Zeit. Dass dabei viel an

Wissen über die Vorgeschichte vorausgesetzt wird, war für ihr damaliges Publikum vor 2500

Jahren in Athen kein Problem. Im Jahr 2015 muss man an dieser Stelle etwas ausholen.

Laios, der Sohn des Labdakos und König von Theben, wird dem Mythos zufolge verflucht, weil er

den Sohn eines Freundes entführt und missbraucht. Und zwar prophezeit das Orakel von Delphi,

dass, sollte er sich je unterstehen einen Sohn zu zeugen, dieser ihn erschlagen und die eigene

Mutter Iokaste schwängern werde. Um dem Fluch zu entgehen, lässt Laios dem Säugling Ödipus

die Füße durchschneiden und durch einen Schäfer im Gebirge aussetzen. Dieser hat Mitleid mit

dem Kind und übergibt es einem anderen Schäfer aus Korinth. In der Pubertät kommen Ödipus

Zweifel an seiner Herkunft. Auch er befragt das Orakel von Delphi, das ihm vorhersagt, er werde

seinen Vater erschlagen und seine Mutter zur Frau nehmen. Entsetzt flieht er, begegnet in den

Bergen seinem Vater Laios und erschlägt ihn im Streit. In Theben übernimmt Kreon, Iokastes

Bruder, die Regierung.

Als Ödipus nach Theben kommt, befreit er die Stadt von der Schreckensherrschaft der Sphinx.

Wie versprochen überlässt ihm Kreon den Thron und gibt ihm Laios‘ Witwe Iokaste, seine eigene

Mutter, zur Frau. Mit ihr zeugt Ödipus die Zwillinge Eteokles und Polyneikes und die Töchter

Antigone und Ismene. Nach glücklichen Jahren unter Ödipus‘ Herrschaft bricht in Theben die Pest

aus und das Orakel verkündet, Laios‘ Mörder müsse gefunden werden, um das Sterben zu

beenden. Widerwillig enthüllt der blinde Seher Teiresias Ödipus, dass er der gesuchte Mörder ist.

Erschüttert erhängt sich Iokaste und Ödipus sticht sich mit einer goldenen Nadel aus ihrem Kleid

die Augen aus. In der Hoffnung, den alten Fluch endlich zu brechen, besteigt Kreon den Thron

und verbannt Ödipus. Antigone begleitet ihn bis an sein Lebensende. Vor seinem Tod prophezeit

der Blinde einen tödlichen Zweikampf zwischen Antigones Brüdern. Daraufhin kehrt sie nach

Theben zurück, nur um festzustellen, dass die Vorhersage des Vaters eingetroffen ist.

Während Antigones Abwesenheit hatte Kreon auf deren Wunsch die Herrschaft an die Brüder

übergeben, die diese sich im Jahreswechsel teilen wollten. Als aber Eteokles nach dem ersten

Jahr sich weigert zurückzutreten, zieht Polyneikes nach Argos, versammelt ein Heer um sich und

greift Theben an. An sechs der sieben Thore der Stadt gewinnen Polyneikes und seine

Verbündeten, aber am siebten Tor erschlagen sich die beiden Brüder im Zweikampf.

An dieser Stelle setzt Sophokles‘ Tragödie ANTIGONE ein.

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2. Alte Gesetze, neue Gesetze

Kreon, der jetzt zum dritten Mal Thebens Thron besteigt, will mit aller Macht den Fluch

überwinden und erlässt ein neues, menschliches, den politischen Umständen geschuldetes

Gesetz. Er erklärt Eteokles zum Freund und Polyneikes zum Feind. Der Freund darf bestattet und

damit das Ende des Kriegs gefeiert werden, die Leiche des Feindes soll außerhalb der

Stadtmauer liegen bleiben, für alle Augen zu sehen, den Geiern und Hunden zum Fraß. Bei

Zuwiderhandlung droht die Todesstrafe. Das kann und will Antigone nicht akzeptieren. Nach den

alten Gesetzen, den ewigen oder göttlichen, ist Antigone verpflichtet, ihren toten Bruder zu

bestatten.

Ungesehen bestattet sie nachts Polyneikes. Kreon lässt ihn wieder ausgraben, sie bestattet ihn

ein zweites Mal, tagsüber, vor den Augen der Wachen. Als diese sie vor Kreons Thron stellen,

verteidigt sie ihre Tat offen. Kreon, um ihr eine letzte Chance zu geben, verfügt, sie in eine Gruft

einzumauern mit genügend zu Essen für drei Tage, damit sie ihre Tat widerrufen kann. Nach einer

düsteren Prophezeiung des blinden Sehers Teiresias kommt Kreon endlich zur Vernunft und will

Antigone begnadigen. Als Kreon und sein Sohn Haimon, Antigones Verlobter, die Gruft

aufbrechen, sehen sie, dass es zu spät ist: Aus Protest gegen Kreons Versuch, sie zur

Kapitulation zu zwingen, hat sie sich erhängt. Haimon will in der ersten Verzweiflung seinen Vater

erschlagen, dann ersticht er sich selbst. Als Eurydike, seine Mutter und Kreons Frau, davon

erfährt, ersticht sie sich ebenfalls. Zurück bleiben am Ende als lebende Tote Kreon und Ismene.

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3. Fragen überall und keine Antworten

Wer hat eigentlich recht in ANTIGONE? Kreon, der endlich Frieden herbeiführen will, wenn auch

mit rabiaten Mitteln, indem er einem Toten das Grab verweigert? Er würde mit diesem Ansinnen

übrigens auch heute noch gegen Grundrechte aller Kulturen verstoßen. Oder liegt vielleicht doch

Antigone daneben, die mit ihrem starrköpfigen Beharren auf der Bestattung neuen Streit in der

Stadt Theben provoziert, einer Stadt, die seit dem Frevel des Laios nicht mehr zur Ruhe

gekommen ist? Erst die Sphinx, dann die Pest und zuletzt der Krieg – die Bürger sind müde und

misstrauisch. Warum beharren alle auf ihrem Recht? Warum kann keiner verzeihen? Warum

versteht keiner, dass niemand gegen den anderen gewinnen kann, weil es ums Gewinnen nicht

geht?

In wessen Hand läge der Schlüssel, den Fluch zu überwinden? Eva Langes Inszenierung stellt

diese Frage verstärkt. Alle Personen sind in einem Raum, der Tote Bruder ist, anders als bei

Sophokles, die ganze Zeit da, unsichtbar außer für Antigone, aber spürbar für alle. Kreon hat die

Macht, aber ist er deswegen alleine schuld? Warum findet niemand Worte des Verzeihens, wie sie

Lot Vekemans in ihrem Monodrama „Schwester von“ Ismene in den Mund legt: „Ich war sein

einziger Blutsverwandter und er meiner / Er war alles, was ich noch hatte / Und darum habe ich

mich mit ihm versöhnt.“ – Am Ende haben alle Kreon verlassen, auch die Lebenden. Hass macht

einsam.

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4. Bestattungspflicht

Diskutieren Sie die Frage, ob Kreons Beschluss, Polyneikes nicht zu bestatten, um endlich den

Krieg zu beenden, als extremes Mittel unter Umständen gerechtfertigt sein oder ob die Regeln

der Bestattungspflicht immer gelten.

In Deutschland herrscht die sogenannte Bestattungspflicht, wie sie hier beschrieben ist:

„Bestattungspflichtig sind nach den Bestattungsgesetzen der Bundesländer die nächsten

Angehörigen der oder des Verstorbenen. Sie sind verpflichtet, für Durchführung der

Leichenschau, Ausstellung der Todesbescheinigung und Bestattung (Einsargung, Beförderung,

Bestattungsart, Friedhofs- und Grabwahl, Beisetzung) innerhalb der kurzen gesetzlichen Fristen

zu sorgen. Für Kosten der Bestattung haben Erben oder Unterhaltspflichtige von Verstorbenen

aufzukommen.“ (Quelle Wikipedia).

Geregelt ist auch die Reihenfolge der Bestattungspflicht: Ehepartnerin/Ehepartner oder

Lebenspartnerin/Lebenspartner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft, die Kinder, die Eltern,

die Geschwister, Partnerin/Partner einer auf Dauer angelegten nichtehelichen

Lebensgemeinschaft, sonstige Sorgeberechtigte (z.B. Vormund eines verstorbenen

Minderjährigen), die Großeltern, die Enkelkinder, sonstige Verwandte bis zum 3. Grad.

Selbst im Krieg ist die Bestattung der Toten geregelt. Es sind Feuerpausen einzuhalten, die es

den einzelnen Kriegsparteien ermöglichen, ihre Toten zu bergen und zu bestatten. Die

Bestattungsorte sind von Kriegshandlungen auszunehmen. Leichen, die auf Feindesland liegen,

sind den Vertretern ihres Heimatlandes, bzw. in Bürgerkriegen ihren Angehörigen, zurückzugeben.

Diese Regeln findet man in allen Kulturen und zu allen Zeiten. Aber man findet auch seit der

Antike immer wieder Fälle, in denen Tote zur Abschreckung ausgestellt wurden.

5. Fluch

Was bedeutet der Fluch, der sich als Phänomen durch Erzählungen aller Kulturen zieht, aus

heutiger Sicht. Ist er das, was die Psychologie heute „vererbtes Leiden“ nennt?

Zum Thema ein informativer Artikel aus: http://www.huffingtonpost.de/christa-muths/krieg-

spaetfolgen-vererbung_b_7115396.html

Die späten Folgen von Krieg und Völkermord - wie Traumata sich in der folgenden Generation

durchsetzen

Über die Weitergabe des stummen Entsetzens

Wir schreiben das Jahr 2015, siebzig Jahre nach Beendigung des zweiten Weltkrieges. Immer

noch sind viele Fragen aus der Zeit vor und während des Nationalsozialismus nicht beantwortet

und so manche Tabus schlummern noch im Dunkeln unserer Geschichte.

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Eines dieser Themen sind die Traumata der Opfer des Nationalsozialismus und die Spätfolgen auf

Kinder und Enkelkinder. Das gilt natürlich auch für alle Kriegsbetroffenen und auch die

Leittragenden von Völkermorden.

Der Fernsehsender France 24 brachte in der zweiten Aprilwoche 2015 einen Bericht über die

Spätfolgen der Völkermorde in Afrika, wie in Ruanda. Die Regierung in Paris hatte im April 2015

die bisher geheim gehaltenen Akten zum dortigen Völkermord freigegeben. France 24 stellte

eigene Nachforschungen zur Rolle Frankreichs beim Völkermord in Ruanda an. Der Sender

sprach ausführlich mit Überlebenden, um sich ein eigenes Bild zu machen.

20 Jahre nach dem Geschehen herrscht immer noch viel Angst in der Bevölkerung

Viele der überlebenden Männer und Frauen leiden noch heute unter Schlafstörungen. Sie werden

von dem Erlebten, den Morden, den Folterungen und Vergewaltigungen bis heute in den Träumen

verfolgt. Die Erfahrungen und Ängste der Eltern hatten sich zudem auf die Kinder sowie auf die

nächste Generation der Enkelkinder übertragen. Die Reporter waren über die Spätfolgen bei den

Menschen über Generationen hinweg erschüttert.

Ähnliche Konsequenzen erlebten die englischen Soldaten, die aus dem Golfkrieg von 1991 mit

dem Golfkriegssyndrom zurück kamen, einem Krankheitsbild geprägt von Depressionen,

Fibromyalgie, chronischem Ermüdungssyndrom, Ekzem und Dyspepsie. Die Sterblichkeitsrate der

Kriegsveteranen war beträchtlich höher, vor allem war die Zunahme an Autounfällen mit

Todesfolge sehr auffällig und lag deutlich über die der Gesamtbevölkerung. Nach vorsichtigen

Schätzungen eines Gutachtens aus den USA von 2008 war zumindest 1 von 4 Soldaten der

insgesamt 697 000 Veteranen davon betroffen.

Ich lebte zu diesem Zeitpunkt in England und kannte viele "Golfkriegs-Familien". Die Männer

kamen völlig verstört vom Krieg zurück und die gesamte Familiensituation hinterließ bei allen

große Probleme. Die Depressionen und weitere Krankheiten der Männer wirkten sich negativ auf

die Frauen wie auch auf die Kinder aus. Viele Ehen zerbrachen, es gab auch viele Selbstmorde

unter den Veteranen.

Nur in wenigen Fällen konnte ein stabiles Gleichgewicht in den Familien wieder hergestellt

werden. Erschwerend kam hinzu, dass es zu dieser Zeit so gut wie keine Hilfe von der englischen

Regierung gab, sondern die Symptome der Veteranen nicht nur als übertrieben sondern vor allem

als Charakterschwäche der Männer interpretiert wurde. "Reiß' Dich zusammen!" war die Devise.

(Stiff up the lip!)

Wenn ich heute z.B. die Kriegsberichte aus Syrien, Libyen und dem Jemen im Fernsehen sehe,

fallen mir immer wieder die Golf-Veteranen und deren harsches Schicksal ein. Als Nachkriegskind

erinnere ich mich natürlich auch der Kriegsgefangenen, die als Spätheimkehrer aus Sibirien

zurückkamen als auch an die Atmosphäre der Wiederaufbauzeit.

In meinem Buch "Der (Un-) Vergessene Widerstand. Die Helden des Alltags. Das tägliche

Überleben im antifaschistischen Widerstand" berichte ich über die Spätfolgen auf die

Hinterbliebenen der Opfer, aber auch der Täter. Erst langsam rückt dieser Problemkreis in das

Licht der Öffentlichkeit.

Wir wissen alle, dass sich Einstellungen sowie Verhaltensweisen der Eltern, aber auch der

Großeltern, auf die nachfolgenden Generationen übertragen. Babys depressiver Mütter z.B.

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passen sich der Gefühlsstimmung ihrer Mutter an. Es ist nicht nur eine äußere Anpassung,

sondern setzt sich in der Selbsterfahrung des Säuglings fort.

Diese Übertragung findet natürlich auch bei allen anderen Gefühlstimmungen der Mütter sowie

Väter und nahestehenden Personen statt. Die Kinder lernen und verstehen den Sinn ihres

Umfeldes indem sie mit diesem agieren, sich anpassen und sich so in diesem Rahmen

entwickeln. Diese Form der Erfahrung und des Austausches prägt das Kind wesentlich und bleibt

unterhalb der bewussten, gesprochenen Sprache wirksam.

So findet neben der genetischen Vererbung auch eine "Gefühlsvererbung" statt, gesteuert von

den häufig unbewussten Gefühlsstrukturen und Erfahrungen aus dem engen Familienkreis. Die

Ausdrucksformen der Gefühlsvererbung bestehen u.a. aus traurigen und abwesenden Blicken,

offener oder unterdrückter Ärger, Ekel, Scham, Hektik und Überaktivität, Angst, allgemeine

Irritationen, das ganze Gefühlsspektrum, welches sich in Blick, Mimik und Körperhaltung

ausdrückt.

In einem anhaltenden Zustand von Resignation, Ohnmacht und Hilflosigkeit können Eltern bzw.

Großeltern den Kindern keinen Schutz bieten. Wenn sie selber traumatisiert wurden, ist es ihnen

oft nicht möglich, sich den Kindern gegenüber emphatisch, verstehend und unterstützend zu

verhalten. So vermitteln sie ihren Nachkommen unbeabsichtigt das eigene Gefühl von Ohnmacht

und Resignation.

Das ist eine Seite der Übertragung von ungelösten Konflikten der traumatisierten Menschen. Ein

anderer Aspekt ist die das Nicht-Lösen-Können von unausgelebten Aggressionen, der Versuch

seine mörderische Wut über die erlittenen Demütigungen unter Kontrolle zu halten. Das gelingt

oft nicht und so macht sich die unterdrückte Wut in Ausbrüchen als aggressives oder sogar

sadistisches Verhalten Luft.

Kinder und Enkelkinder können das nicht einordnen, beziehen die Ausbrüche auf sich und fühlen

ich schuldig ohne zu verstehen, was sie angestellt haben. Auch der Angreifer fühlt sich schuldig,

da er die Kontrolle verloren hat. Manche Menschen entwickeln in diesem Kontext sogar Angst vor

sich selber.

Traumatisierte Eltern, konfuses Sozialverhalten

So entsteht ein gefährlicher Cocktail aus sich widersprechenden Gefühlen: unaufgearbeitete

erlittene Demütigungen, Schuldgefühle überlebt zu haben, eine kaum kontrollierbare Wut über

das Erlebte wie Folterungen, Vergewaltigungen, Zeuge wie andere Menschen sinnlos gefoltert

und getötet wurden, Angst, Schuld, Scham, Gefühle von Ohnmacht und Versagen.

In diesem diffusen Gefühlcocktail wachsen die Kinder auf, so lernen sie die Welt sehen und

verstehen. Traumatisierte Eltern und ihr damit zusammenhängendes konfuse Sozialverhalten

erleben die Nachkommen oft als beängstigend. Denn die Eltern sind in ihren plötzlichen

Zuständen der Verwirrtheit, Panikattacken, innerer Abwesenheit sowie Leere, Wutausbrüchen

und damit zusammenhängenden Schuldgefühlen und überkompensierendem Verhalten für die

Kinder emotional nicht erreichbar.

Es entsteht eine sehr widersprüchliche und angsteinflößende Situation für die Kinder, denn die

Person/en, die maßgeblich an dem eigenen Verständnis der Welt beteiligt sind und Sicherheit

weitergeben wollen, werden selbst zur Quelle von Angst und Unsicherheit.

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Die Schuldverstrickungen traumatisierter Eltern werden dann sozusagen zu einem

unbeabsichtigten Wegweiser für die Nachfahren.

Ein stabiles Selbstwertgefühl können deren Kinder in solchen Strukturen nur selten entwickeln.

Vielmehr überträgt sich das Gefühl innerer Wertlosigkeit traumatisierter Menschen auf ihre

Schützlinge.

Aber auch die Kinder der Täter während des Nationalsozialismus, die Soldaten der Kriege und

Völkermörder leiden unter der Vergangenheit ihrer Vorfahren. Insbesondere dann, wenn in der

Gesellschaft nach dem Krieg grausame Taten, von den Eltern verübt, schamvoll verschwiegen

werden. Oder wenn sich in einer moderneren Gesellschaft die Täter ihre alten Autoritäten

Verhaltensweisen nicht ablegen können.

In der Regel verlangen die Täter-Eltern Gehorsam und Leistung. Auch sie sind schuldverstrickt,

denn oft werden ihnen die Grausamkeiten ihrer brutalen Handlungen erst nach dem Krieg

bewusst, da viele während Krieg, Völkermord, Nationalsozialismus und anderer faschistischer

Strukturen, Mitläufer waren. Sie suchten nach Anerkennung und erhofften sich Vorteile für sich

und ihre Familien und passten sich den grausamen "Erfordernissen" ohne großes Nachdenken

an.

Wenn Kinder bzw. Enkelkinder dann die Wahrheit oder auch nur die halbe Wahrheit über das

Verhalten ihres Vaters herausfinden, geraten sie oft in einen zerreißenden Gewissenskonflikt,

denn schließlich hat man seinen Vater zu lieben. Zudem fühlen sich die Nachfahren der Täter von

ihren Eltern belogen, getäuscht und betrogen und oft auch von der Umwelt gemieden, ohne den

Hintergrund der sozialen Ausgrenzung zu kennen.

Meine Eltern unterstützten während des Nationalsozialismus den Widerstand und ich durfte nach

dem Krieg mit einigen Kindern aus dem Dorf nicht spielen, denn die Eltern "waren damals Nazis",

so hieß es, "denen kann man nicht trauen". Die Enkelin einer holländischen

Widerstandskämpferin erzählte mir genau das gleiche aus ihrem Heimatort. Auch ihre Eltern

warnten sie: "Der war falsch im Kriege, der hat mit den Nazis kollaboriert, der Familie kann man

nicht trauen".

Hier einige Ausschnitte aus meinem Buch zu dem Thema:

Im Rahmen des von den Alliierten seit 1943 durchgeführten „area bombing", bei dem die

Alliierten ein fächendeckendes Bombardement der deutschen Städte durchführte, kam es in

Hamburg am "28. Juli 1943 zu einem Inferno. Eine Mischung aus Brand- und Sprengbomben

setzte fast die gesamte Innenstadt in Brand. Der Feuersturm kostete 35.000 Menschen das

Leben."

Rund 750.000 Hamburger wurden obdachlos. 3sat brachte dazu am 26.6.2011 eine Sendung,

die auch über die Spätfolgen des Feuersturms berichtete. „Psychische Leiden durch die

traumatischen Erlebnisse der schweren Luftangriffe waren die Folge, auch in den nachfolgenden

Generationen. Der Film zeigt die Auswirkungen dieser Erfahrungen in den Familiensystemen und

wie sich die Traumatisierung in die Generationen der Kinder und Enkel der Überlebenden

transportiert hat."

Auch jüdische Gremien berichten darüber, dass die Leiden des Holocaust bis in die zweite

Generation spürbar ist. Da die Leiden der Verfolgten des Nationalsozialismus oft schweigend

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ausgehalten werden, werden sie schweigend an die nächsten Generationen weitergegeben. So

werden auch die Kinder traumatisiert, ohne einen direkten Bezug zum Traumata zu haben.

„Den Kindern wurde zudem ein unerfüllbarer Wunsch aufgelastet. Sie sollten das Trauma heilen,

dass in der Familie die Kontinuität zwischen den Generationen abgebrochen war. Viele erhielten

daher die Namen ermordeter Verwandter. Wardi spricht von Kindern als "Gedenkkerzen". Sie

sollten an Tote erinnern, deren Geschichte ihnen aber niemand erzählte."

So berichtet die israelische Therapeutin Wardi über die Entwurzelung, Vertreibung, Trennung,

Vernichtung der Juden und wie die Kinder als Kompensation, Rettungsanker und Ersatz gelten.

Im holländischen Amersfoort und in Wien gibt es z.B. Ambulanzen, die sich auf die Behandlung

von Folgen der Massenvernichtung und der Entwurzelung spezialisiert haben.

Diese Prozesse treffen erschwert auf die Kinder der Holocaust Opfer zu, aber ebenso auf die

Generationen der Flüchtlinge, Vertriebene sowie Zwangsarbeiter und Bombenopfer. Das Beispiel

Hamburg hat das ja eindeutig nachgewiesen. Therapeuten beobachteten, wie Opfer des

Nationalsozialismus zugleich Opfer und Täter sind (Täter, da sie unabsichtlich ihre ungelösten

Probleme an die Kinder weitergeben) und diskutieren ob Opfer und Täter als archetypische

Einheit gesehen werden können.

Insbesondere Horst-Eberhard Richter und Alexander Mitscherlich haben nach dem Kriege die

Zusammenhänge innerhalb der Familiensysteme nachgewiesen, insbesondere Mitscherlich mit

seinem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens". Oft zeigt das

Ungesagte mehr Wirkung als das Gesagte, denn um das Ungesagte können sich mehr Phantasien

bilden, nur zu oft auch völlig unbewusst.

Die Kasseler Soziologin Gabriele Rosenthal beschreibt einen Familie Sonntag. Der Vater war nach

dem Krieg aufgrund nationalsozialistischer Verbrechen inhaftiert. Die Tochter hört im Alter von 15

Jahren das erste Mal vom Völkermord und fragt beim Vater nach. Dieser schweigt jedoch, wie so

viele Deutsche aus dieser Zeit.

Sie beginnt unter Schlafstörungen zu leiden, da sie nicht weiß, ob sie nicht auch für

nationalsozialistische Ideen anfällig ist. Der Sohn des Vaters verweigert jegliches Nachdenken.

Der Enkel will jedoch alles genau wissen. Er kann aber auch nicht herausfinden, was wirklich

passiert ist.

Immer mehr Enkel der Holocaust Generation versuchen die Lebensgeschichte ihrer Großeltern

kennenzulernen sowie die Zeit des Nationalsozialismus zu verstehen. Das bringt sie oft in große

Konflikte, da sie einmal vor einer Wand des Schweigens stehen und zum anderen keinen

Rahmen kennen, in dem sich für sie diese Zeit einordnen lässt.

Auch in den USA untersuchen seit 1980 psychoanalytische Studiengruppen ob sich seelische

Schäden bei Kindern von Opfern und Tätern ähnelten. In beiden Gruppen leiden die Kinder unter

dem Schweigen. Die Opfer-Kinder erleben es als „Schuld" überlebt zu haben, wie wir es ja auch

bei den Opfern des Tsunamis 2011 in Japan und 2013 beim Taifun in den Philippinen erlebten.

Die Psychologen sprechen von „Über-lebensschuld". Bei den Tätern handelt es sich jedoch um

eine reale, den Nachfahren oft unbekannte Schuld.

Nur bei Offenlegung des damaligen Geschehens mit Unterstützung therapeutischer Betreuung

sind Menschen in der Lage, diese auch zu verarbeiten und ihren Nachfahren einen

Familienhintergrund mitzugeben, mit offenen Zielen und durchschaubaren Strukturen, um klare

Wegweiser zu sein und damit ein gesundes Selbstbewusstsein zu vermitteln.

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Die neusten Forschungen zeigen zudem, dass extremer Stress, feindliche Lebensumstände,

Traumatisierungen sowie Depressionen die Zellen beeinflussen und ihnen schaden können.

Mensch und Tier integrieren prägende Erfahrungen in das Erbgut, denn so passen sie sich der

Umwelt an um damit ihre Überlebenschancen zu erhöhen.

Das Deutsche Ärzteblatt berichtet:

„Manchmal werden die Lebensängste von einer Generation auf die nächste weitergereicht.

Beispiele gibt es zuhauf. So leiden die Kinder von Menschen, die die Gräueltaten der Roten

Khmer erlebt haben, heute vermehrt unter Depressionen. In Australien ist unter den Kindern von

Vietnamveteranen die Suizidrate erhöht. Auch Mediziner beobachten, dass manche

Erkrankungen wie bipolare Störungen häufig über Genera­tionen in Familien auftreten.“

Die Stresshormone führen zu einer Veränderung der kurzen RNA-Moleküle, "die von außen auf

die Gene einwirken. Sie bestimmen beispielsweise, welche Gene angeschaltet werden und

welche stumm bleiben."

Jedoch ein Übermaß der kurzen RNA-Molekülen, "den wohl wichtigsten Substanzen für die

Umsetzung der genetischen Information, bringt in der Folge nicht nur das zelluläre Gleichgewicht

durcheinander, sondern führt auch zu Veränderungen der Nervenfunktion und anderen

Störungen." Schlechte Erfahrungen hinterlassen Spuren im Gehirn, in den Organen und

Keimzellen", sagt Mansuy. "Über die Keimzellen werden diese dann weitervererbt."

Nach den Erkenntnissen der Epigenetiker lassen sich die Gene aber auch durch Gedanken und

Vorstellungen beeinflussen. In der Krebsbehandlung werden z.B. im Krankenhaus in Bristol

(England) schon seit den Achtziger Jahren Meditationskurse zur Unterstützung der Heilungskräfte

angeboten. Heute spielen Meditationen und Visualisierungen in den meisten Krankenhäusern

eine bedeutende, den Heilungsprozess, verstärkende Rolle.

Die Entspannungstechnik Autogenes Training gibt es schon seit 1926, während Yoga und

Meditation schon seit Jahrtausenden in der asiatischen Medizin zur Entspannung und Gesundung

ausgeführt wird.

Es gibt viele Möglichkeiten die Traumata zu vermindern sowie aufzulösen und damit auch das

Erbgut zu entlasten, so dass es gesunden kann.

Deshalb verdient dieser Themenbereich eine große Verbreitung in der Öffentlichkeit, einmal zum

Verständnis der Problematik und zum anderen, damit die zur Verfügung stehenden

Heilungsmethoden von Staat und Krankenkassen unterstützt und gefördert werden.

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5. Die Darsteller – außer F- Monasterios (Gast) und R.Wegner (Statist)

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6. Szenen

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16

17

18

19

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6. Bild

21

22

23

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Lesen Sie die Szenen mit verteilten Rollen. Am besten lesen sie jede Szene einmal,

sprechen kurz über das Gehörte und lesen sie dann gleich nochmal.

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7. Anregungen für Ihren Unterricht

Erste Lektion

Wenn Sie die Szenen gelesen haben, gehen Sie folgenden Fragen nach:

1. Bild

- Wessen Haltung finden Sie überzeugender? Antigones oder Ismenes?

- Wer argumentiert stichhaltiger?

- Wenn Sie Antigones Haltung vorziehen: Können Sie Ismenes Haltung trotzdem verstehen? Und

umgekehrt?

3. Bild

- Ist Kreons Rede glaubhaft?

- Was sagt Kreon genau: Fassen Sie zusammen.

- Was ist Kreon wichtiger: Seine Machtposition oder das Wohl der Stadt?

6. Bild

- Wem geben Sie Recht? Kreon oder Antigone? Und warum?

- Was zeichnet dieses Gespräch aus? (Aspekt: Familienstreit?)

- Ist Antigone wirklich bereit zu sterben oder ist das eine taktische Äußerung im Rahmen des

Machtkampfes mit Kreon?

Hausaufgabe & Zweite Lektion

1. Lesen Sie die Szenen noch einmal und markieren Sie Stellen, die Sie nicht verstehen.

Besprechen Sie diese Fragen in der nächsten Stunde und versuchen Sie, der Bedeutung des

Textes auf den Grund zu gehen.

2. Welche Figur ist Ihnen am nächsten? Und warum?

3. Wie hätte die Tragödie, die zum dreifachen Tod führt, verhindert werden können. Verteilen Sie

die Rollen aus Antigone und improvisieren Sie eine Diskussion.

Nachgespräch

Fragenkatalog zur Reflexion des Stückes

Wie sah das Bühnenbild aus?

Was für einen Raum hat das Bühnenbild angedeutet? Warum?

Was erzählen die Kostüme?

Wie haben Schauspieler und Inszenierung die Gedanken und Gefühle spürbar gemacht?

Haben sich die Schauspieler direkt an die Zuschauer gewandt?

Wie wurde das Licht eingesetzt?

Konnte man der Geschichte gut folgen?

Was passiert nach Ende des Stücks? Wie geht es mit Theben und Kreon weiter?

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8. Informationen zu Buchungen & Kontakt

ANTIGONE

Premiere: 21/11/2015 / 20:00 Uhr / Stadttheater Wilhelmshaven

Wir spielen ANTIGONE bis Mitte Januar 2016 und empfehlen das Stück ab der 10. Klasse.

Schüler erhalten 50% Ermäßigung auf den regulären Kartenpreis.

Im Klassenverband kosten alle Karten 7,50€, in den hintersten zwei Reihen nur 6,40€.

Inhaber eines Klassen-Abos setzen sich wegen der Reservierung der Plätze bitte direkt mit dem Service-

Center der Landesbühne in Verbindung, Mo. – Fr. von 10-18 Uhr & Sa. Von 11-13 Uhr.

Für alle inhaltlichen Fragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung:

Peter Hilton Fliegel, Chefdramaturg

Tel. 04421.9401-17

[email protected]

Sie möchten, dass wir zu Ihnen in die Schule kommen? Dann sprechen Sie uns an:

Frank Fuhrmann, Theaterpädagoge der Landesbühne

Tel. 04421.9401-49

[email protected]

Änderungen und Irrtümer vorbehalten!