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Barrierefreier Zugang zu Information
-
Realisierbarkeit und Wirtschaftlichkeit eines „Internet ohne Ausgrenzung“
Abschlussarbeit, verfasst im Rahmen der berufsbegleitenden Fortbildung zur
wissenschaftlichen Dokumentarin am
Institut für Information und Dokumentation
Fachhochschule Potsdam
Vorgelegt von
Dr. Gwendolyn Schulte
Walter-Leiske-Straße 38
60320 Frankfurt am Main
Erste Gutachterin: Christina Thomas
Thematischer Schwerpunkt Management-Grundlagen
Kurs B/2005
Potsdam, 26. September 2005
1
Abstract
Das Wort „Barrierefreiheit“ als Konzept für eine behindertengerechte Gestaltung von
Informationssystemen wird im Jahr 2005 viel diskutiert. Die Medienpräsenz des
Themas wird zum Anlass genommen, praktische, rechtliche und ökonomische
Aspekte eines „behindertenfreundlichen Internet“ zu erörtern. Der Begriff der
Barrierefreiheit wird im Kontext internationaler sowie nationaler Richtlinien und
Gesetze vorgestellt (Kapitel 1 und 2). Das dritte Kapitel formuliert praktische Aspekte
der Barrierefreiheit. Im Fokus stehen informationswissenschaftliche Fragestellungen
der Umsetzbarkeit von Gestaltungsprinzipien. Am Beispiel des Deutschen
Bildungsservers und des interdisziplinären Portals Vascoda werden Praxisprobleme
aufgezeigt. Das vierte Kapitel untersucht mikro- und makroökonomische Aspekte des
barrierefreien Zugangs zu Informationssystemen. Abschließend werden
ökonomische Überlegungen und informationsethische Ansprüche einander
gegenüber gestellt.
2
0 Einleitung .............................................................................................................3
1 Der Begriff der „Barrierefreiheit“ und das Internet ................................................5
2 Rahmenbedingungen für die Barrierefreiheit........................................................6
2.1 Die „digitale Spaltung“: Internetnutzung und Behinderung............................7
2.2 Rechtsgrundlagen für die Barrierefreiheit....................................................11
2.2.1 Die rechtliche Situation Behinderter in Deutschland ............................11
2.2.2 Die BITV als Normvorschrift.................................................................14
3 Barrierefreies Webdesign in der Praxis ..............................................................16
3.1 Prüfverfahren und Nutzerstudien ...............................................................17
3.2 Zur Zertifizierung von Barrierefreiheit..........................................................19
3.3 Barrierefreiheit und Usability .......................................................................21
3.4 Barrierefreiheit und Informationswissenschaft ............................................23
3.5 Zwei Praxisbeispiele: Vascoda und der Deutsche Bildungsserver..............24
4 Kosten und Qualitätssicherung ..........................................................................27
5 Schlussbemerkungen.........................................................................................32
6 Literatur ..............................................................................................................35
3
0 Einleitung
Im Jahr 2005 erlebt die barrierefreie Informationstechnik einen Aufschwung. „Barrie-
refreiheit“ kennzeichnet ein Prinzip, das behinderten Menschen den Zugang zu
gestalteten Lebensbereichen – darunter auch Informationssystemen - ermöglicht.
Öffentlich-rechtliche Anbieter von Internet-Informationen sind gesetzlich verpflichtet,
ihre Websites so aufzubereiten, dass sie für Menschen mit Behinderung zugänglich
sind1. Um neue Kunden zu gewinnen, wendet sich auch die Privatwirtschaft dem
Thema zu. So gründete der Deutsche Multimedia Verband 2004 einen Aktionskreis
„Barrierefreiheit“. Der Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW), rät zur barriere-
freien Gestaltung von E-Commerce- Auftritten, um die Reichweite zu optimieren2.
Der Deutsche Journalistenverband setzt sich kritisch mit dem Thema Barrierefreiheit
im Online-Journalismus auseinander3.
Das Modewort „Barrierefreiheit“ scheint demnach einen Trend zu einem Webdesign
zu kennzeichnen, das sich an behinderten Nutzern orientiert und Vorteile für die An-
bieter impliziert. In diesem Sinn kann die Barrierefreiheit als Qualitätsmerkmal von
Informationsdienstleistungen verstanden werden. Thomas (2005: 3) definiert für den
Qualitätsbegriff unterschiedliche Anspruchsgruppen. Anbieter und Kunden und
gesellschaftliche Ansprüche sind bei der Schaffung von Qualitätsstandards einzube-
ziehen. Im konkreten Fall lassen sich zwei Kundengruppen unterscheiden (Web-
designer als Gestalter sowie die Anbieter von Internetdiensten). Die Bedürfnisse be-
hinderter Nutzer müssen somit über zwei Gruppen vermittelt werden, die sich jeweils
ökonomische Vorteile sichern wolle.
Es bestehen jedoch nicht nur kommerzielle, sondern vor allem politische und ethi-
sche Anforderungen an eine „Informationsgesellschaft für alle“. Link (2005) postuliert,
dass Barrierefreiheit ein Umdenken voraussetzt. Barrierefreiheit ist demnach eine
fundamental demokratische Angelegenheit, sie entscheidet darüber, ob eine Gesell-
schaft behinderten Menschen eine Teilhabe ermöglicht.
1 Spätestens bis zum 31.12.2005 müssen Internetangebote des Bundes so gestaltet sein, dass sie von behinderten Menschen genutzt werden können. Vgl. § 4 BITV. 2Pressemitteilung des BVDW vom 28.07.04, http://www.bvdw.org/ww/de/7_pub/themen_neu/dienstleister_neu/content8679.cfm 3 vgl Link (2005)
4
Kuhlen (2004b: 68) formuliert in seinem Themenkatalog für die Informationsethik
die Frage: „Gehen ökonomische Interessen und ethische Pflichten bei der barriere-
freien Gestaltung von Websites zusammen?“ Diese Grundsatzfrage kann durch die
Überlegung ergänzt werden, ob Rechtsnormen ein erforderliches Mittel zur Durch-
setzung der „ethischen Pflichten“ sind. Das skizzierte Spannungsfeld von Ethik,
Rechtsnormen und Ökonomie soll in der vorliegenden Arbeit analysiert werden. Das
Interesse für diese Arbeit erwuchs aus der Aktualität des Themas „Barrierefreiheit“,
die auf Seiten der Anbieter von Internetdiensten die Frage nach Kosten und Nutzen
nach sich zieht. Während die technischen Voraussetzungen eines barrierefreien In-
ternet seit einigen Jahren öffentlich dokumentiert sind, ist die Frage der ökono-
mischen Realisierbarkeit weniger eindeutig zu beantworten.
Einleitend wird die Barrierefreiheit in bestehende Initiativen zu einem zugänglichen
Webdesign eingeordnet, in Kapitel 1 wird daher die WAI (Web Accessibility Initiative)
mit ihren Richtlinien vorgestellt. Im zweiten Teil der Arbeit sollen die Rahmen-
bedingungen für ein barrierefreies Internet erörtert werden. Zentrale Fragestellungen
sind die Nutzungsbedingungen sowie gesetzliche Grundlagen für ein „Internet ohne
Ausgrenzung“. Der dritte Teil stellt die technische Umsetzung sowie Evaluierungs-
verfahren vor. Hier werden auch Praxiserfahrungen aus der Fachinformation
diskutiert. Am Beispiel des Deutschen Bildungsservers und des interdisziplinären
Portals Vascoda sollen Probleme für die Barrierefreiheit aufgezeigt werden. In
Kapitel 4 wird eine Wirtschaftlichkeitsanalyse von Barrierefreiheit vorgenommen. Es
ist zwar derzeit kaum möglich, die Rentabilität von Barrierefreiheit zu ermitteln.
Ohlsen (2005) fragt provokativ, ob Barrierefreiheit angesichts ihrer sozialen
Dimension überhaupt einen wirtschaftlichen Nutzen haben dürfe. Bei Fortdauern der
Wirtschaftslage läuft die Barrierefreiheit jedoch Gefahr, kurzfristigen
Kostenkalkulationen zum Opfer zu fallen, wenn es nicht gelingt, die Anbieter vom
wirtschaftlichen Nutzen der Barrierefreiheit zu überzeugen. Die oben formulierte
ethische Frage von Kuhlen soll jedoch nicht zugunsten eines „Primats der Ökonomie“
entschieden werden. Ich werde sie vielmehr in der Schlussbemerkung erneut
aufgreifen.
Begriffe wie „Internet“ und „World Wide Web“ werden in dieser Arbeit synonym ge-
handhabt, da eine Differenzierung für den diskutierten Sachverhalt unerheblich ist.
5
Im Wesentlichen wird auf Internetangebote in Form von Webseiten Bezug genom-
men, andere Informationsdienste sollen vereinzelt angesprochen werden4.
1 Der Begriff der „Barrierefreiheit“ und das Internet
Der Terminus „Barrierefreiheit“ wird im Internet sehr unterschiedlich verwendet. Wäh-
rend die meisten Menschen mit einem „barrierefreien“ Gebäude konkrete Vorstel-
lungen assoziieren, ist das Cyberspace virtuell, Schranken sind unsichtbar und für
Programmierer oft schwer vorstellbar. Als „barrierefrei“ gekennzeichnete Webseiten
erweisen sich daher für Behinderte oft als unzugänglich. Häufig sind „Textversionen“
als Alternative zum „Normalangebot“. Diese sind für die Zielgruppe der behinderten
Nutzer nicht immer auffindbar oder bedienbar5. Textversionen bedeuten einen
zusätzlichen Pflegeaufwand, sie nutzen höchstens blinden Surfern, werden von Pro-
grammierern aber als „barrierefreie Angebote“ missinterpretiert. Eine Möglichkeit,
den Terminus im Internet zu schützen, wäre die Einführung eines Zertifikates, die seit
Februar 2005 in der Diskussion ist (siehe Kapitel 3.2). Bestrebungen existieren so-
wohl auf nationaler Ebene als auch im europäischen Kontext der Aktionsplanung
„Information Society for All“.
Im englischen Sprachgebrauch hat sich der Terminus „accessibility“ etabliert. Im Ge-
gensatz zur Barrierefreiheit impliziert dieser nicht die absolute Freiheit von Hinder-
nissen bei der Nutzung von Informationen. Aus mehrfacher Hinsicht ist eine absolute
„Garantie für Barrierefreiheit“ nicht möglich. Zum einen wird die technische Umset-
zung von Vorgaben durch die Heterogenität der Nutzer sehr erschwert (vgl. Kap.
2.1). Zum anderen enthalten die internationalen und nationalen Richtlinien zur barrie-
refreien Gestaltung von Internetseiten neben scharfen auch weiche Kriterien (Kap
2.2.2, 3). So lässt sich eindeutig bestimmen, dass eine grafische Darstellung nur
dann für Blinde barrierefrei ist, wenn sie einen alternativen Text enthält. Ob dieser
Text jedoch für Menschen mit Sprachbehinderung leicht verständlich ist, kann nicht
eindeutig für alle Angehörigen dieser Nutzergruppe bestimmt werden. Zur Evalu-
4 Wie Kuhlen (2004a: 7ff.) ausführt, ist eine Terminologiedebatte hinsichtlich der Verwendung von Basisbegriffen wie „Information“ nicht zwingend erforderlich- im pragmatischen Sinne wird Information hier verstanden als medial repräsentiertes Wissen. Voraussetzung für die Nutzbarkeit ist die Zugäng-lichkeit. 5 Parkinson (2003) verdeutlicht, dass die „Fehletikettierung“ auf Unkenntnis seitens der Webdesigner zurückzuführen ist. Diese verlassen sich m.E. auf die Ergebnisse automatischer Prüfwerkzeuge (siehe auch Kap 3.1).
6
ierung von Internetangeboten sind daher neben automatischen Prüfverfahren auch
Nutzerbefragungen erforderlich. So lässt sich ein Grad von Barrierefreiheit ermitteln,
der der zu erwartenden Zielgruppe entspricht. (Kapitel 3.1). Hellbusch (2005: 38)
führt aus: „Wer behauptet, sein Webauftritt sei 100% barrierefrei, hat Barrierefreiheit
nicht verstanden.“
Trotz der geschilderten Problematik existieren anerkannte Grundprinzipien zur tech-
nischen Gestaltung barrierefreier Auftritte auf nationaler und internationaler Ebene.
Die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG 1.0) wurden 1999 von der WAI,
der Web Accessibility Initiative, veröffentlicht. Diese Arbeitsgruppe des W3C ent-
wickelt Zugänglichkeitskriterien für die Spezifikationen X(HTML), HTML und XML. Als
Grundprinzipien eines barrierefreien Designs werden Wahrnehmbarkeit, Verständ-
lichkeit, Bedienbarkeit und technologische Robustheit genannt (mehr dazu in Kapitel
3).
Bei allen terminologischen Schwierigkeiten wird der Begriff „Barrierefreiheit“ als Ar-
beitsbegriff verstanden und aus Gründen der Vereinfachung synonym mit
Accessibility und Zugänglichkeit verwendet. In Kapitel 2.2.1 wird die juristische Be-
sonderheit des Begriffs deutlich: im Rahmen der Schaffung des BGG (Bundesbehin-
dertengleichstellungsgesetz) wurde eine Legaldefinition entwickelt, die es erlaubt, die
„Barrierefreiheit“ auf die virtuelle Welt auszudehnen. In Kapitel 3.3 wird der Terminus
in Relation zum Begriff der Usability ebenfalls erörtert.
2 Rahmenbedingungen für die Barrierefreiheit
Das nachstehende Kapitel skizziert die Entwicklung des Nutzerkreises digitaler
Medien. Der Zugang zu neuen Medien (hier spezifisch dem Internet) ist nicht allen
Menschen möglich, soziale Barrieren ergeben sich aus Geschlecht, Behinderung und
wirtschaftlicher Situation sowie regionaler Herkunft. Diese wirken global, aber auch
innerhalb einer Gesellschaft. Hier wird auf ausgewählte Aspekte der „Zugangskluft“
eingegangen (Kapitel 2.1), der Begriff der Barriere wird auf Menschen mit Behin-
derung fokussiert. Im folgenden Abschnitt werden gesetzliche Grundlagen eines „In-
ternet ohne Ausgrenzung“ thematisiert (Kapitel 2.2.1, 2.2.2).
7
2.1 Die „digitale Spaltung“: Internetnutzung und Behinderung
Die Medienfachwelt konstatiert in den letzten Jahren eine "digitale Spaltung" (engl.
digital divide). Der Zugang zu elektronischen Informationsressourcen ist nicht
gleichmäßig für alle Gesellschaftsgruppen gewährleistet. Auf globaler Ebene lässt
sich eine Kluft zwischen den reichen Industrienationen und den Ländern der Dritten
Welt feststellen. Dies ist bedenkenswert, da vorhandene Macht- und Gesellschafts-
strukturen dazu beitragen, dass sich ein dauerhaftes Ungleichgewicht konsolidiert
und der Graben sich ausweitet. Kuhlen (2004c, o. Seitenangabe) bezeichnet die
digitale Spaltung als die „größte Herausforderung“ des 21. Jahrhunderts.
Auch innerhalb der westlichen Industrienationen ist die Nutzung digitaler Medien un-
gleichmäßig verteilt. Laut (N)Onliner-Atlas 2005 ist bei Volksschülern ohne
Berufsausbildung die Internetnutzung am geringsten6. Untersuchungen der ARD-
Rundfunkgemeinschaft haben eine „Vererbung“ des Mediennutzungsverhaltens
ermittelt (Media Perspektiven 5/2004: 233). Der wirtschaftliche und soziale Erfolg von
Individuen, aber auch von Volkswirtschaften, steht im Zusammenhang damit, wie die
Menschen neue Medien und Informationstechnologien einsetzen.
Neben „Bildungsbarrieren“ existieren „Zugangsklüfte“ auf der Ebene des Geschlechts
und der Behinderung sowie in Altersstrukturen. Positiv ist anzumerken, dass der
Anteil weiblicher Nutzerinnen von elektronischen Medien innerhalb der industria-
lisierten Länder der EU ansteigt7. Ältere Menschen („silver surfer“) gehören zur
Gruppe derjenigen Internetnutzer, die am rasantesten wächst.8 Hier schließt sich die
digitale Kluft in den kommenden Jahren absehbar9.
6 a.a.O., S. 14 In dieser Nutzergruppe sind nur 24% online, der Bundesdurchschnitt liegt bei 55 % (ebd., S. 10). Die Nutzergruppe mit niedrigem Bildungsgrad wächst aber an. 7 ebd., S. 13: Männer nutzen zu 63% das Internet, Frauen zu 47%, bei Frauen ist aber der Anteil der „Nutzungsplanerinnen“ höher. 8 Statistische Angaben liefert u.a. die von der EU betriebene Website Information Society: http://europa.eu.int/information_society. Einer der Schwerpunkte ist E-Inclusion bzw. Accessibility. Für Deutschland liefert die Stiftung Digitale Chancen (http://www.digitale-chancen.de) Daten und Analysen. 9 Vgl. (N)Onliner-Atlas 2005: 40ff.)-Der Zuwachs ist besonders in der Altersgruppe der 60-69jährigen Männer zu verzeichnen. Auffallend ist, dass die Kluft zwischen Frauen und Männern in den höheren Altersgruppen besonders stark ausgeprägt ist.
8
Neben ökonomischen Hemmnissen (hohe Kosten der Informations- und Kommuni-
kationstechnologie, fehlende Hardware) existieren „weiche“ Barrieren, die sich aus
einem Gefühl des „Nichtdazugehörens“ ergeben10. Aus informationsethischer Sicht
wird die zunehmende Fokussierung auf technische Aspekte der digitalen Spaltung
daher kritisch bewertet (vgl. Kuhlen, 2004b und 2004c).
Die vielen Dimensionen der digitalen Spaltung sowie der Barrieren im Internet
machen es erforderlich, für den Zweck der vorliegenden Arbeit eine Eingrenzung
vorzunehmen. Dies geschieht im Hinblick auf eine gesellschaftliche Gruppe, die in
Studien zur digitalen Spaltung kaum erfasst wird. Im Folgenden sollen Menschen mit
Behinderungen als Nutzergruppe des Internet vorgestellt werden11..
Behinderte Menschen sind in der Teilhabe am Leben "in der Öffentlichkeit" dadurch
eingeschränkt, dass sie in ihrer Mobilität reduziert sind. Sie können diesen Nachteil
nicht automatisch dadurch ausgleichen, dass Informationsangebote, Waren oder
Dienstleistungen via Internet bezogen werden. Wer spezielle Bedürfnisse an die
Gestaltung von Websites hat, gerät an virtuelle Barrieren. Ein grafisch gestaltetes
Verkaufsangebot, das sich nur mit einer Maus bedienen lässt, kann von sehge-
schädigten und motorisch behinderten Personen weder wahrgenommen, noch ge-
nutzt werden. Da aber gerade behinderte Menschen die Möglichkeiten des E-
Commerce nutzen könnten, schließt der Anbieter potenzielle Kunden aus12.
Laut einer Studie der Accessibility-Homepage von Microsoft sind in den USA über
100 Millionen Menschen zumindest teilweise (bzw. gelegentlich) in der Nutzung von
Computern durch eine körperliche, kognitive oder sinnliche Behinderung einge-
schränkt13. Für Deutschland wird von 6,7 Millionen Menschen mit anerkannter Behin-
derung ausgegangen (Hellbusch 2005: 26). Wie viele behinderte Menschen tatsäch-
lich das Internet nutzen, ist bisher nicht konkret ermittelt worden. Laut DINCERTCO
10 Zu sozialen Barrieren vgl. Schröder/Wenning 2003 11 Die einzige größere Studie zur Internetnutzung durch behinderte Menschen, die den hier vorge-stellten Zahlen zu Grunde liegt, wurde im Jahr 2001 durchgeführt. Sie ist demnach für das diskutierte Thema nicht aktuell. Außerdem ist sie nicht repräsentativ, da nur erwerbstätige Personen befragt wurden. Zur Studie vgl. http://www.digitale-chancen.de/transfer/downloads/MD248.pdf12 Papst, eine blinde Internetnutzerin, schildert auf der österreichischen Website http://www.wai-austria.at/grundlagen/alltag06.php eindrucksvoll eine virtuelle Shopping-Tour. 13 http://www.microsoft.com/enable/
9
nutzen etwa 80% der Behinderten regelmäßig das Internet14. Diese Zahl erscheint
überhöht, vermutlich ist sie der bereits zitierten Studie aus dem Jahr 2001 ent-
nommen und somit nur für berufstätige Behinderte relevant. Die Studie belegt auch
innerhalb der Gruppe behinderter Internetnutzer eine digitale Spaltung. Während
sehgeschädigte Personen das Internet zu einem hohen Prozentsatz nutzen, ist der
Anteil lernbehinderter Nutzer sehr gering15. Weiter sind viele Personen nicht aner-
kannt behindert, aber dauerhaft oder gelegentlich in ihrer Wahrnehmung oder
Motorik eingeschränkt. So sind etwa acht bis zehn Prozent der männlichen Bevöl-
kerung farbfehlsichtig, meist haben diese eine Rot-Grün-Schwäche.
Die Nutzergruppe ist heterogen, darüber hinaus bestehen fließende Grenzen hin-
sichtlich Dauerhaftigkeit und Schwere von Beeinträchtigungen. Da die Nutzung des
Internet durch ältere Menschen zunimmt und diese stärker beeinträchtigt sind als
jüngere Bevölkerungsgruppen, ist die Zunahme der Internetnutzung durch Menschen
mit Handicap nur wahrscheinlich. Weitere Indizien sind der zunehmende Abbau von
persönlichen Dienstleistungen im Bereich der öffentlichen Verwaltung und ihre Ver-
lagerung ins Internet. Durch diese neuen, kostengünstigeren Formen des E-
Government bleibt behinderten Menschen oft keine andere Wahl, als sich der elekt-
ronischen Medien zu bedienen.
Für behinderte Menschen konstatieren Experten einen Zusammenhang zwischen
Medienkompetenz und Berufschancen16. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt
prognostiziert auf der DVD „Barrierefrei ins Internet“ für die Zukunft einen Mangel an
Fachkräften. Wegen des demografischen Wandels werden demnach auch behin-
derte Menschen auf dem Arbeitsmarkt eine Chance haben, wenn sie zukunftsfähige
Qualifikationen aufweisen. Hänsgen (2003) führt jedoch aus: „Barrierefreie Web-
seiten allein genügen nicht, um umfassende Teilhabe von behinderten Menschen in
den Bereichen Computer und Internet zu gewährleisten“17. So sind nur wenige
öffentliche Bibliotheken mit Computern ausgestattet, die über kostenintensive
14http://217.110.109.153/de/produkte_und_leistungen/produkte/barrierefreie_planungen_bauten_und_produkte/barrierefreie_website_internetpraesenz_.php. Die DINCERTCO, eine Gesellschaft zur Zertifi-zierung von Produkten und Dienstleistungen, wird in Kapitel 3.2 näher erörtert. 15 Schmitz (2002). Eine tabellarische Darstellung des prozentualen Anteils von Internetkenntnissen (nach Behinderung) findet sich bei Duncker und Jüptner (2004: 11). Diese berufen sich u.a. auf die UNIVERSUM-Studie aus dem Jahr 2001. 16 Vgl Hertlein (2003). 17 Hänsgen (2003, a.a.O).
10
Zusatzausrüstungen wie Braillezeile oder Sprachausgabe verfügen. Vielfach sind
Einrichtungen für Körperbehinderte nicht zugänglich, wodurch diese von der Nutzung
ausgeschlossen werden. Die zunehmende Kommerzialisierung des Internet führt zu
einem verstärkten Wettbewerb, die Inhalte des Web werden zunehmend von ökono-
mischen Interessen dominiert und es bleibt zu klären, wie weit sich behinderte Per-
sonen in diesem Rahmen inhaltlich artikulieren können. Die in meiner Arbeit im
Folgenden vorgenommene Beschränkung auf technische Aspekte des Internet
erfolgt daher im Bewusstsein, dass ein Teilaspekt der Zugänglichkeitsproblematik
thematisiert wird.
Der Umgang mit Computern ist vor allem für Nutzer erschwert, die sich assistiver
Technologien bedienen. Darunter versteht die Fachsprache speziell für die Bedürf-
nisse Behinderter entwickelte Hard- und Software (Brückensoftware). Blinde nutzen
Screenreader, die eine Sprachausgabe oder eine Braillezeile steuern und Bild-
schirminhalte in taktil wahrnehmbare Zeichen auf einer speziellen Tastatur anzeigen
oder in synthetische Sprache umwandeln. Da die Hersteller von Screenreadern ihre
Entwicklungen an die gängigen Betriebssysteme und Formate anpassen müssen,
sind Screenreader nicht auf dem jeweils aktuellsten Stand der Technik 18. Andere
nutzen spezielle Ein- und Ausgabegeräte (Großfeldtastatur, Spracheingabe) als
Schnittstellen am Computer. Neben diesem Kreis von Surfern, die auf besondere
Technologien angewiesen sind, besteht eine unbekannt große Gruppe an Individuen,
die Farben oder Schriften an ihren Bildschirmen so verändern, dass sie eine opti-
mierte Wahrnehmung erreichen19. Kognitiv behinderte Nutzer benötigen speziell
aufbereitete Informationen. Gehörlose können auditive Informationen nicht wahr-
nehmen, sie benötigen Untertitelungen, häufig präferieren sie Gebärdensprach-
videos20. Die Vielfalt der Nutzungsweisen verdeutlicht, dass Anbieter zielgruppen-
orientiert vorgehen sollten. Gleichzeitig ist darauf zu achten, dass ein Internetauftritt
unabhängig von einer konkreten Darstellung wahrnehmbar und verständlich ist. So
ist ein textbasiertes Informationsportal so zu gestalten, dass es von Sehbehinderten
18 Modernste assistive Technologien können nicht zum Maßstab für die „Zugänglichkeit“ eines Internetauftrittes gewählt werden. Kostenträger bewilligen nur etwa alle fünf Jahre eine neue Aus-stattung- Anbieter, die einen großen Nutzerkreis erreichen wollen, sollten auf eine rückwärts kompa-tible Gestaltung des Designs achten. 19 Duncker/Jüptner (2004: 27) nennen eine Zahl von 31% aller Sehbehinderten, die Farben individuell anpassen (beliebt ist ein dunkler Bildschirmhintergrund). 29% der Sehbehinderten nutzen Sprachaus-gabesoftware. 20 Zur Syntax und Semantik von Gebärdensprache siehe Schröder/Wenning, 2003, S. 9 ff..
11
wahrgenommen und bedient werden kann. Je nach Anwenderkreis ist auf sprach-
liche Formulierungen zu achten.
2.2 Rechtsgrundlagen für die Barrierefreiheit
Das Recht, sich aus allgemein zugänglichen Quellen zu informieren (Informations-
freiheit) ist ebenso wie Pressefreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung ein
verbrieftes Grundrecht. Es wurde bereits 1948 in die Allgemeine Erklärung der Men-
schenrechte der Vereinten Nationen aufgenommen21. Artikel 5, Absatz 1 Satz 1 des
Grundgesetzes übernimmt dieses Grundrecht, er lautet:
Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten22.
Entscheidend für den hier diskutierten Kontext – den Zugang behinderter Menschen
zu Information- ist der 2. Halbsatz, 1. Satz des Absatzes 1. Das Recht, sich aus
allgemein zugänglichen Quellen zu informieren, steht allen Menschen zu. In Kapitel
2.1 wurde geschildert, welche (häufig technischen) Barrieren behinderte Menschen
daran hindern, das Grundrecht auf Informationsfreiheit auszuüben. In Kapitel 2.2.1
soll gezeigt werden, welche weiteren Vorschriften die Bundesrepublik verpflichten,
Behinderten die Partizipation an diesem Grundrecht zu ermöglichen. Kapitel 2.2. 2
erörtert Grundlagen der technischen Umsetzung.
2.2.1 Die rechtliche Situation Behinderter in Deutschland
Für die Gleichstellung der Behinderten in Deutschland existieren eine Vielfalt von
gesetzlichen Bestimmungen. Grundlage aller Vorschriften ist der Satz 2 des Art. 3
(III) Grundgesetz, der 1994 eingefügt wurde. Dort heißt es: „Niemand darf wegen
seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Für den Bund ergibt sich daraus die Ver-
pflichtung, auf die Beseitigung von Benachteiligungen hinzuwirken. Das
Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) regelt die gesellschaftliche Teilhabe von behinderten
Menschen und trat am 1. Juli 2001 in Kraft. Es definiert den Begriff „Behinderung“
sowie die darunter zu verstehenden Gruppen. Des weiteren leitet das SGB IX einen
Paradigmenwechsel ein. In Abkehr von einem „Fürsorgeprinzip“ wird behinderten
21 Vgl. http://wikisource.org/wiki/Allgemeine_Erkl%C3%A4rung_der_Menschenrechte#Artikel_19. 22 Hier zitiert nach http://www.bundesregierung.de/Grundgesetz-,4245/I.-Die-Grundrechte.htm. Kursive Hervorhebung von mir.
12
Bürgern ein partizipatorischer Mitsprachestatus zuerkannt23. Damit setzt das SGB IX
Vorgaben der EU um. Zusätzlich hat die Bundesregierung am 22. März 2002 das
Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) verabschiedet. Das BGG bildet mit der
Verordnung zur Schaffung von Barrierefreiheit in der Informationstechnik (BITV) die
Grundlage zur Gestaltung von Internetauftritten der öffentlichen Hand.
Das BGG ist aus zweierlei Gründen auf den Bund und ihm nachgeordnete Behörden
beschränkt (§ 7 BGG). Das Bürgerliche Gesetzbuch gewährt privatwirtschaftlichen
Unternehmen Vertragsfreiräume. In der Bundesrepublik ist daher die Einführung
eines zivilen Antidiskriminierungsgesetzes heftig umstritten, während z.B.
Großbritannien mit dem Disability Discrimination Act auch die Privatwirtschaft in die
Pflicht nimmt24. Des Weiteren kann der Bund nur indirekt auf die Länder und
Kommunen einwirken, da ihnen im Grundgesetz Autonomie eingeräumt wird. Die
Gesetzeslage in den Bundesländern ist folglich unterschiedlich25. Entscheidend für
das Rechtsverständnis von Barrierefreiheit und Behinderung sind folgende
Vorschriften des BGG, die wegen ihrer hohen Relevanz hier wörtlich wiedergegeben
werden.
„„§§ 33 BBeehhiinnddeerruunngg MMeennsscchheenn ssiinndd bbeehhiinnddeerrtt,, wweennnn iihhrree kköörrppeerrlliicchhee FFuunnkkttiioonn,, ggeeiissttiiggee FFäähhiiggkkeeiitt ooddeerr sseeeelliisscchhee GGeessuunnddhheeiitt mmiitt hhoohheerr WWaahhrrsscchheeiinnlliicchhkkeeiitt lläännggeerr aallss sseecchhss MMoonnaattee vvoonn ddeemm ffüürr ddaass LLeebbeennssaalltteerr ttyyppiisscchheenn ZZuussttaanndd aabbwweeiicchheenn uunndd ddaahheerr iihhrree TTeeiillhhaabbee aamm LLeebbeenn iinn ddeerr GGeesseellllsscchhaafftt bbeeeeiinnttrrääcchhttiiggtt iisstt..““
Diese Definition wurde aus dem SGB IX (§ 2 I) übernommen und ist nicht unum-
stritten, da sie zwar eine Partizipation Behinderter vorsieht, aber einen defizit-
orientierten Ansatz vertritt (Behinderung als Abweichung von einer Norm). Drewes
(2004) und Kuhlen (2004c) weisen darauf hin, dass Behinderung auch als spezi-
fische Ausprägung der Wirklichkeit determiniert werden kann. Kennzeichnend für die
deutsche Gesetzgebung ist dagegen die Auffassung, dass behinderte Menschen
defizitär sind, der „Nachteilsausgleich“. Steht im Fokus.
Das BGG definiert auch den Begriff der Barrierefreiheit:
23Zur Umsetzung der Rechtsnormen http://www.behindertenbeauftragter.de oder http://www.sgb-ix-umsetzen.de/index.php/nav/tpc/nid/1/aid/221. 24 Vgl Website „Web Access Centre“ des Royal National institute for the Blind, http://www.rnib.org.uk/xpedio/groups/public/documents/PublicWebsite/public_caseforaccessibility.hcs25 Vgl. tabellarische Übersicht „Landesgesetze“ in Handbuch barrierefreies E-Government (2005: 24)
13
„§ 4 Barrierefreiheit Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchs-gegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informations-quellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.“
Diese Legaldefinition nennt den gesamten gestalteten Lebensbereich als Gegens-
tand, Informationssysteme als (virtuelle) Räume, die von Menschen geschaffen wur-
den, sind daher Teil des Begriffes „Barrierefreiheit“. Ein wichtiger Aspekt ist, dass
diese Bereiche „ohne besondere Erschwernis“ nutzbar sein müssen, in der „allge-
mein üblichen Weise“ und eigenständig. Hinsichtlich der Gestaltung von Internetauf-
tritten hat dies die Forderung nach einem „Universal Design“ oder einem Zugang für
alle zur Konsequenz. Zum genauen Verständnis von Barrierefreiheit im Kontext der
Informationstechnik siehe unten.
„§ 11 Barrierefreie Informationstechnik Träger öffentlicher Gewalt im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 gestalten ihre Internetauftritte und -angebote sowie die von ihnen zur Verfügung gestellten grafischen Programmoberflächen, die mit Mitteln der Informationstechnik dargestellt werden, nach Maßgabe der nach Satz 2 zu erlas-senden Verordnung schrittweise technisch so, dass sie von behinderten Menschen grundsätz-lich uneingeschränkt genutzt werden können. Das Bundesministerium des Innern bestimmt im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung durch Rechtsverordnung, die nicht der Zustimmung des Bundesrates bedarf, nach Maßgabe der technischen, finanziellen und verwaltungsorganisatorischen Möglichkeiten 1. die in den Geltungsbereich der Verordnung einzubeziehenden Gruppen behinderter Menschen, 2. die anzuwendenden technischen Standards sowie den Zeitpunkt ihrer verbindlichen Anwendung, 3. die zu gestaltenden Bereiche und Arten amtlicher Informationen. (2) Die Bundesregierung wirkt darauf hin, dass auch gewerbsmäßige Anbieter von Internet-seiten sowie von grafischen Programmoberflächen, die mit Mitteln der Informationstechnik dar-gestellt werden, durch Zielvereinbarungen nach § 5 ihre Produkte entsprechend den techni-schen Standards nach Absatz 1 gestalten.“
Paragraf 11 enthält die Vorschrift, die zum Erlass der BITV geführt hat (Abs. 1, Satz
2). Entscheidend ist darüber hinaus die in Abs. 2 bekundete Aufgabe, über den
eigenen Wirkungsradius hinaus auf die Träger gewerbsmäßiger Angebote in der
Informationstechnik hinzuwirken. Um der Aufgabe nachzukommen, wurde in § 5 BGG
die Möglichkeit der Zielvereinbarung eingefügt. Anerkannte Behindertenverbände
können mit kommerziellen Unternehmen für ihren jeweiligen sachlichen und räum-
lichen Geltungsbereich Vereinbarungen treffen. Zur Rechtswirksamkeit solcher
Vereinbarungen können Termine gesetzt und Vertragsstrafen für den Fall von
Verstößen verabredet werden26. Für die Träger öffentlicher Gewalt, die in § 7 BGG
26 Eine Musterzielvereinbarung wurde vom Projekt BIK (Barrierefreies Informieren und Kommu-nizieren) entworfen und ist seit dem 4. Mai 2005 abrufbar:
14
im Einzelnen spezifiziert werden, besteht die Verpflichtung, Internetinformationen
barrierefrei zu gestalten. Behinderte haben sowohl als Individuen als auch in der
Prozessstandschaft (anerkannte Verbände) das Recht auf Feststellungsklage.
2.2.2 Die BITV als Normvorschrift
Die Bundesregierung hat sich in § 11 Abs. 1 Satz 2 BGG zum Erlass einer Verord-
nung verpflichtet, die eine technische Umsetzung von Standards zur Herstellung der
Barrierefreiheit regelt. Die „Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informations-
technik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz“ (Barrierefreie Informations-
technik-Verordnung BITV) wurde im Juli 2002 vom Bundesministerium des Innern
erlassen. Wie bei der Entstehung des BGG waren die Vertreter einzelner Behinder-
tenorganisationen beteiligt (siehe Drewes 2004). Insbesondere die Blindenverbände
waren aktiv, so dass in der Begründung zu § 11 des BGG fast ausschließlich von
blinden und sehbehinderten Personen die Rede ist – ein „Manko, das die BITV
teilweise ausgleicht“ (Drewes 2004: Abs. 26)27. Vereinzelt wurde die Kritik geäußert,
„andere Behinderungsarten“ würden „ausgegrenzt“ (Bittner in: „Barrierefreiheit-
Internet auf Krankenschein?“28). Tatsächlich hat das starke Engagement der
Sehbehinderten dazu geführt, dass Barrierefreiheit auch unter Informatikern mit
„Textversionen für Blinde“ gleich gesetzt wird29. Auch in der BITV nehmen Alternativ-
texte für Grafiken und andere Wahrnehmbarkeitskriterien für Nutzer von „Blinden-
techniken“ einen hohen Stellenwert ein.
Die BITV entstand auf der Grundlage internationaler Standards der W3C-Unter-
gruppe WAI (Web Accessibility Initiative), sie übernimmt die Web Content
Accessibility Guidelines 1.0 großenteils und ist daher technisch teilweise veraltet.
Derzeit ist eine neue Auflage der WCAG (Version 2.0) in Bearbeitung. Die BITV
sieht in § 5 eine regelmäßige Überprüfung der Richtlinien vor, so dass ihre Aktua-
lisierung absehbar ist. Sie richtet sich sachlich nur an die Anbieter von Internet-
http://www.wob11.de/publikationen/zielvereinbarung.html^. Das BMGS hält Informationen zu Zielvereinbarungen und eine Datenbank anerkannter Verbände bereit. http://www.bmgs.bund.de/deu/gra/datenbanken/index.php27 Die Behindertenverbände haben im März 2005 eine Pressemitteilung veröffentlicht, um der Kritik entgegen zu treten. Siehe Gemeinsame Presseerklärung der BAG. 28 Veröffentlicht in „Onlinejournalismus“ im Januar 2005. http://www.onlinejournalismus.de/praxis/barrierefreiheit.php29 Die Artikel der PC-Fachzeitschrift c’t aus dem Heise-Verlag widmen sich ebenfalls der Zielgruppe der Sehgeschädigten. Siehe Literaturverzeichnis.
15
auftritten selbst, während die WAI auch Richtlinien für die Erstellung von Autoren-
tools oder User Agents erstellt hat und somit z.B. die Hersteller von Browsern und
Autorentools anleitet, diese auf Barrierefreiheit zu prüfen30.
Während die 66 Bestimmungen der Web Content Accessibility Guidelines in insge-
samt drei Prioritätsstufen eingeteilt werden, kennt die BITV nur die Prioritäten I und
II. Die in den WCAG vorgesehenen ersten beiden Prioritäten entsprechen dabei der
Priorität I, während die 3. Prioritätsstufe als Priorität II in die BITV integriert wurde31.
Bedingungen der Priorität I sind dabei für die genannten Anbieter ohne Einschrän-
kung zu erfüllen, Kategorien der Stufe II müssen für zentrale Elemente (wie die Navi-
gation) erfüllt werden. Insgesamt 14 Richtlinien gliedern sich in 54 Teilbedingungen.
Die zentralen Anforderungen der BITV sollen im nachstehenden Kapitel an Praxis-
beispielen näher gebracht werden.
Ein weiterer internationaler Bezugspunkt der BITV sind die vom Aktionsplan der EU,
e-Europe 2002, entwickelten Standards. Eine Fortsetzung der EU-Aktionsplanung
zur Information Society ist e-Europe 200532. Die EU dringt auf die Umsetzung der
WAI-Standards und publiziert Leitfäden zur Sprachgestaltung von Internetseiten33.
Sie integriert die Accessibility in den größeren Rahmen der Gebrauchstauglichkeit 34
und versucht, übergreifende Konzepte zur Nutzungsoptimierung zu entwickeln. Im
Rahmen der e-Europe sind nationale Kompetenzzentren entstanden, die technische
Forschung, Entwicklung und Beratung betreiben35.
Ein bedeutsames Datum für die Umsetzung der Barrierefreiheit für Informationen
des Bundes sowie anhängiger Behörden ist der 31.12.2005. Paragraf 4 der BITV
nennt diese Frist für die Zugänglichkeit aller neu zu gestaltenden sowie auch der be-
stehenden Internetangebote.
30 http://www.w3.org/WAI/UA/31 vgl. Duncker/Jüptner, a.a.O., S. 6 f. 32 http://europa.eu.int/information_society/eeurope/2005/index_en.htm33 Auch das European Disability Forum des Europarates bezieht die Barrierefreie Informationstechnik in seinen Aktionsplan ein und beruft sich zur Umsetzung auf die WAI-Vorgaben. 34 Mehr dazu in Kapitel 3.3 dieser Arbeit 35 ‚Die Kompetenzzentren sind organisiert in EdeAN (European Design for All Network). Die deutsche Sektion findet sich unter http://www.edean.universelles-design.de . Beteiligt sind der Arbeitsbereich Universelles Design des Forschungsinstituts Technologie-Behindertenhilfe (FTB) und das Kompe-tenzzentrum BIKA des Fraunhofer-Instituts für Angewandte Informations- und Kommunikationstechnik (FIT).
16
3 Barrierefreies Webdesign in der Praxis
Die WAI hat vier Grundprinzipien des barrierefreien Webdesign erarbeitet: Wahr-
nehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und technologische Robustheit. Diese
vier Maxime liegen allen Anforderungen an ein barrierefreies Webdesign zu Grunde.
Alle Elemente eines Internetauftritts müssen für alle Nutzer erkennbar, bedienbar
und plausibel gestaltet sein. Der vierte Aspekt betrifft die Tatsache, dass die drei
ersten Bedingungen unabhängig von verwendeten Technologien und Geräten erfüllt
werden müssen („graceful design“). Dazu ist es erforderlich, anerkannte Standard-
spezifikationen wie HTML 4.01 oder XML 1.0 in der jeweils aktuellen Version anzu-
wenden. Inhalt und Layout von Websites werden strikt von einander getrennt. Der
HTML-Code dient der reinen Inhaltsbeschreibung und Strukturierung (Auszeichnung)
von Seiten, während deren optische Darstellung mittels CSS (Cascading Style
Sheets) erfolgen soll. Es zeigt sich an dieser Trennung, dass es einfacher ist, einen
komplett neuen Webauftritt barrierefrei zu gestalten, als ein bestehendes Angebot zu
„entrümpeln“, wie Pidun (2004) ausführt. Mit der Auslagerung von Layout-Strukturen
wird Nutzern die Möglichkeit gegeben, die Anzeige von Inhalten selbst zu bestim-
men. Die Verwendung aktueller Standards bewirkt, dass Webdesigner die gültigen
Erkenntnisse zur Nutzung von Internetangeboten berücksichtigen. So sehen
geltende Standards vor, dass Grafiken mit Alternativtexten zu hinterlegen sind, die
Sehbehinderten eine Beschreibung der Darstellung liefern (entspricht Anforderung 1
BITV). Veraltete HTML-Tags zur absoluten Festlegung von Schriftart sind zugunsten
von Cascading Style Sheets zu vermeiden. Die Verwendung öffentlich dokumen-
tierter Standards wie HTML ist Voraussetzung für die Zugänglichkeit eines Weban-
gebots für Nutzer von assistiven Technologien, da Brückensoftware auf Quelltexte
zugreift. Die Verwendung von nicht öffentlich zugänglichen Formaten birgt die
Gefahr, dass diese für einzelne Nutzer verborgen bleiben, wie die Problematik von
PDF-Formaten für Volltexte verdeutlicht(vgl. hierzu auch Kap.3.5)36.
Ein wichtiger Aspekt, der von Vlachogiannis et al. (2005) und Blanz (2004) thema-
tisiert wird, betrifft Autorentools bzw. Content Management Systeme. Üblicherweise
werden zur Gestaltung von Internetseiten Programme verwendet, die die Web-
36 Ein ausführlicher Diskurs zur Erstellung von zugänglichen PDF-Dateien findet sich in Hellbusch (2005: 246 ff.). Problematisch bleibt, dass ein PDF-Dokument nicht urheberrechtlich geschützt wer-den kann, wenn es von Screenreadern lesbar sein soll.
17
designer mittels fertiger Elemente unterstützen. Webredakteure verwenden Content
Management Systeme zur inhaltlichen Gestaltung. Die BITV sieht (im Gegensatz zu
Richtlinien wie den vom W3C entwickelten Authoring Tool Accessibility Guidelines37)
nicht vor, dass Autorensysteme die Barrierefreiheit einbeziehen sollten.
Vlachogiannis et al. (2005) führen aus, dass Autorentools Hinweise zur barrierefreien
Gestaltung geben können, indem sie beim Laden von Grafiken Alternativtexte
verlangen, nur gültigen HTML-Code zulassen oder die Systeme für Webdesigner mit
Behinderung als solche zugänglich sind. Tatsächlich scheinen sich viele Web-
designer nicht über Barrieren bewusst zu sein, die durch Java Scripts, Pop Ups oder
nicht skalierbare Frames und Schriften entstehen, da sie sich fertiger Autorentools
bedienen. Die BITV offenbart hier eine Schwachstelle.
Im folgenden Kapitel werden Prüfverfahren (Testwerkzeuge und Nutzerstudien)
erörtert. Die aktuelle Debatte um ein „Gütesiegel“ oder Zertifikat als Qualitätsmerkmal
wird in Kapitel 3.2 diskutiert. Barrierefreies Webdesign weist eine große Schnitt-
menge mit der Usability auf (vgl. Kap. .3.3). Kapitel 3.4 soll die Relevanz des
Themas für Bibliotheken und Fachinformationssysteme verdeutlichen. In Kapitel 3.5
werden an zwei Praxisbeispielen konkrete Probleme aufgezeigt.
3.1 Prüfverfahren und Nutzerstudien
Wie ausgeführt wurde, bestehen die Anforderungen an ein barrierefreies Webdesign
sowohl aus solchen Kriterien, die sich mittels technischer Bestimmungen prüfen las-
sen, als auch aus weichen Kriterien. Für die Verwendung von validem HTML-Code
und andere messbare Anforderungen an das Design von Internetseiten wurden eine
Reihe von Tools entwickelt, die Websites automatisch oder halbautomatisch über-
prüfen38. Neben solchen technischen Werkzeugen erweisen sich zusätzliche Tests
durch Nutzer als zwingend erforderlich, da Webdesigner die realen Surfgewohn-
heiten und Hürden der Nutzer oft nicht kennen. Da die Grundvoraussetzung von
barrierefreiem Design in der Anwendung von validem Code begründet ist, ist ein
erster Schritt die Validierung des Quelltextes eines Internetangebotes durch ein
(halb) automatisches Prüfwerkzeug. Hier bietet die WAI selbst einen Validator an,
37 Siehe http://www.w3.org/TR/WAI-AUTOOLS/
der kostenlos eine Prüfung vornimmt39. Webdesignern ist es anschließend möglich,
ein „Prüflogo“ auf ihrer Website aufzuführen:
Abbildung 1; Logo HTML-Validator
Ähnliche Validatoren und „Prüfsiegel“ existieren für die Verwendung von Style
Sheets (CSS Validator). Darüber hinaus bestehen kommerzielle Angebote von
automatischen oder manuellen Prüfungen nach unterschiedlichen Richtlinien (WCAG
1.0, US Section 508, BITV) . Die Prüfverfahren sind unterschiedlich aussagekräftig
und verleiten mitunter zu trügerischer Sicherheit40. Dies liegt auch daran, dass sich
mit „Barrierechecks“ offenbar viel Geld verdienen lässt. Andererseits lassen sich
nicht alle Barrieren mittels technischer Tools ermitteln. Bedienbarkeit oder Verständ-
lichkeit werden von unterschiedlichen Nutzergruppen sehr heterogen bewertet.
Parkinson (2003) stellt fest, dass teilweise erhebliche Divergenzen zwischen den
Ergebnissen von Prüftools und von Nutzerstudien bestehen. Er zitiert eine Studie,
wonach Nutzer Webseiten als schwerer zugänglich einstuften, nachdem diese mittels
Prüfwerkzeugen korrigiert worden waren.
Trotz aller Anstrengungen ist es bisher nicht gelungen, einheitliche und allseits aner-
kannte Prüfverfahren zu schaffen. Das vom BMGS geförderte Projekt BIK hat einen
BITV-Kurztest entwickelt, der aus manuellen und automatischen Verfahren besteht.
Der BITV-Kurztest bildet die Grundlage für die von BIK durchgeführten Benchmarks.
Er ist jedoch nicht unumstritten, da er sich stark auf die technischen Seiten der BITV
konzentriert und Aspekte wie die sprachliche Gestaltung wenig einbezogen werden.
39 http://validator.w3.org/
18
40 Sinnvoll sind Plug-Ins wie die Web Accessibility Tool Bar, die die Ansicht einer Website unter verschiedensten Nutzungsbedingungen erlauben. Download des Tools (deutsch): http://www.webforall.info/html/deutsch/aistoolbar.php
19
Das Testverfahren besteht aus (teilweise subjektiven) Bewertungssystemen nach
Punkten, wobei ein Test nur von ausgewiesenen Experten durchgeführt werden
kann. Kritiker meinen, der BIK-Test sei zu stark an Sehbehinderten orientiert
(tatsächlich ist BIK ein Projekt der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe). Es ist
daher fraglich, ob der BITV-Kurztest von BIK ein konsensfähiges Instrument
(beispielsweise für ein DIN-Zertifikat) darstellt. Derzeit ist er dennoch ein
vergleichsweise anerkanntes Verfahren. Entscheidend ist auch die Bereitschaft von
BIK, die eigenen Bewertungskriterien zu aktualisieren.
3.2 Zur Zertifizierung von Barrierefreiheit
Die Fülle an Prüfverfahren, Logos zur „Validierung“ und auch das zunehmende Be-
dürfnis von Anbietern, ihre Websites als „barrierefrei“ zu kennzeichnen, führen zur
Suche nach einem allgemein gültigen Kennzeichen von Websites. Auf europäischer
Ebene ist die EAM zu nennen, die European Accessibility Mark- Initiative. Diese
erarbeitet methodologische und technische Grundlagen für ein Testwerkzeug (WAB,
Web Accessibility Benchmark). Beteiligt sind wissenschaftliche Forschungsinstitute
aus verschiedenen Ländern der EU41.
Anfang 2005 ist parallel auch in Deutschland die Debatte aufgekommen, ob ein
anerkanntes „Gütesiegel“ für Barrierefreiheit sinnvoll ist. Auslöser war die Presse-
mitteilung des ABI-Projektes, in Kooperation mit der DINCERTCO GmbH eine DIN-
Norm für Barrierefreiheit zu entwickeln. In teilautomatisierten Verfahren sollen Web-
sites auf ihre Zugänglichkeit getestet werden, wobei bei regelmäßiger Überwachung
hohe Gebühren anfallen. Anbietern soll die Möglichkeit gegeben werden, ihre Web-
sites mit einem Logo der DIN zu versehen. Die Homepage der DINCERTCO zeigt ein
„Etikett“, das – je nach „Zugänglichkeitsstufe“ - mit bis zu drei Sternen versehen wer-
den kann42. Das Gütesiegel basiert auf der DIN 18024 (Barrierefreies Bauen und
Wohnen). Rasch entstand eine an zwei Fronten stark emotionalisierte Auseinander-
setzung43. Während Befürworter in einem Zertifikat die Chance sehen, in einem Ge-
41 vgl. http://www.support-eam.org/supporteam/default, Homepage der EAM, und http://www.wabcluster.org/. Die WAB ist ein Projekt zur Schaffung einer EU-weiten Evaluations-methode für die Barrierefreiheit von Websites. 42 vgl. http://www.din-certco.de/sixcms/detail.php?id=16419. 43 Der Webauftritt „Einfach für Alle“ der Aktion Mensch hat ein Forum zur Diskussion um ein Zertifikat eingerichtet, http://www.einfach-fuer-alle.de/forum/list.php?2
20
flecht von Testverfahren, Begriffsverwendungen und Ansprüchen Transparenz zu
schaffen, behaupten Gegner einer DIN-Vorschrift, diese sei ideologisch besetzt und
von wirtschaftlichen Interessen dominiert. So soll eine DIN-Vorschrift durch das von
BIK entworfene Verfahren des BITV-Kurztests zertifiziert werden44. Die Fronten „Pro“
und „Contra“ verlaufen entlang von Behindertenverbänden einerseits (deren Mehrheit
sich von einem Zertifikat die mit DIN-Normen verbundene Anerkennung erhoffen)
und der privaten Wirtschaft. Einer der Hauptkritikpunkte ist, dass die BITV auf einem
veralteten Stand der Technik sei. Bittner (2005)45, Mitarbeiter des „Barrierekompass“,
führt mehrere Argumente gegen ein DIN-gestütztes Zertifikat an. So seien Anbieter
häufig nicht verantwortlich für die Barrieren auf ihren Internetseiten, da diese
beispielsweise über Content Management Systeme generiert würden. Während man
argumentieren kann, dass es eine Grundsatzaufgabe von Anbietern sein sollte, für
ihre Inhalte (unabhängig davon, wie sie erzeugt werden) verantwortlich zu sein,
wiegen Bittners weiteren Argumente, die Dynamik des Internet mit seinen ständig
wechselnden Inhalten lasse keine Zertifizierung zu bzw. ein DIN-Zertifikat im „Abon-
nement“ sei überteuert, deutlich schwerer. Ein weiteres Argument gegen ein Zerti-
fikat ergibt sich aus der BITV- die Anforderung 11.3 sieht vor, dass veraltete Tech-
nologien durch neue ersetzt werden sollen, wenn diese neueren Technologien bar-
riereärmer sind. Eine als barrierefrei zertifizierte Website würde demnach in dem
Augenblick ihre Validität einbüßen, in dem eine „barriereärmere“ Technik verfügbar
ist46. In einem Interview aus dem Frühjahr 2005 versucht Professor Bühler von der
Fraunhofer Gesellschaft, die Wogen zu glätten, indem er die Notwendigkeit eines
Konsens in der Barrierefreiheit verdeutlicht und feststellt, dass bei aller Kritik die
BITV die einzige Basis aller Bestrebungen ist47.
Weitere Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Zertifizierung durch eine DIN
stellen, sind: ist es sinnvoll, der Vielfalt an Logos (die den meisten Anwendern nichts
bedeuten) ein weiteres hinzuzufügen, und: weshalb wird hier ein Einzelweg
beschritten, da den Projektpartnern bekannt ist, dass auf europäischer Ebene an
Prüfverfahren und Normierungsmethoden gearbeitet wird? Das Gütesiegel der DIN
ist Verbrauchern zwar optisch bekannt, es fragt sich aber, ob diese es im virtuellen
44 http://www.onlinejournalismus.de/praxis/barrierefreiheit_zertifikate.php45 http://www.barrierekompass.de/weblog/index.php?itemid=20246 Handbuch Barrierefreies E-Government, S. 22. 47 http://www.kobinet-nachrichten.org/cipp/kobinet/custom/pub/content,lang,1/oid,7156/ticket,g_a_s_t
21
Raum des Internet tatsächlich einschätzen können. Hier besteht ein grundsätzlicher
Unterschied zum barrierefreien Bauen, wo Barrieren für jedermann offensichtlich
sind. Der Vorwurf, die beteiligten Institutionen wollten sich wirtschaftlich an einem
Zertifikat bereichern, scheint nicht völlig zu entkräften. Im Gegensatz zu ABI und
DINCERTCO hat die EAM eine Befragung unter Anwendern und Entscheidern
durchgeführt, um den realen Bedarf einschätzen zu können48.
3.3 Barrierefreiheit und Usability
Im Zusammenhang mit der Frage nach einem Zertifikat für die Validierung und
Kennzeichnung von Webseiten im Internet wird in Fachkreisen aktuell eine Annä-
herung an die Prinzipien der Usability gefordert. Die Gebrauchstauglichkeit als
Grundprinzip des nutzerorientierten Softwaredesign ist mit der ISO 9241-11 ein nor-
miertes Konzept zur Gestaltung von Informationsangeboten im Web.
Für die Barrierefreiheit ergeben sich aus § 4 BGG einige Basisanforderungen an die
Gestaltung von Informationen, die der Usability entsprechen. So sind „gestaltete
Lebensbereiche“ barrierefrei, wenn sie in der allgemein üblichen Weise, ohne
besondere Erschwernis und ohne fremde Hilfe nutzbar sind. Wie Hellbusch (2005:
29) ausführt, ist Barrierefreiheit demnach weit reichender als bloße Zugänglichkeit
und impliziert eine einfache Handhabung oder Gebrauchstauglichkeit, wie die deut-
sche Übersetzung des Terminus „usability“ lautet. Kriterien für die Usability bestim-
men das „Ausmaß, in dem ein Produkt durch bestimmte Benutzer in einem
bestimmten Nutzungskontext genutzt werden kann, um bestimmte Ziele effektiv, effi-
zient und zufrieden stellend zu erreichen“ (zit. nach Hellbusch 2005: 46). Neben
offenkundigen Parallelen, die sich aus der guten Verständlichkeit (Lesbarkeit) von
Webseiten und der übersichtlichen, leicht bedienbaren Navigation ergeben, finden
sich auch zufällige Schnittmengen von Usability und Barrierefreiheit. So weist die
DIN EN ISO 9241-11 aus, dass die Ladezeiten von Internettseiten eine gewisse
Dauer nicht überschreiten dürfen. Wenn dies auch kein explizites Kriterium für Barrie-
refreiheit ist, so ergeben sich aus der Auslagerung von Designstrukturen in Style
Sheets automatisch Ladezeitverkürzungen. Da die Usability als nutzeroptimierte
48 http://www.support-eam.org/supporteam/survey/surveyclosed.aspDie Online-Befragung wurde von Januar bis Februar 2005 durchgeführt, Ergebnisse wurden am 12. April veröffentlicht.
22
Gestaltungsgrundlage mittlerweile bei Webdesignern anerkannt ist, ist es sinnvoll,
die Barrierefreiheit in ihren Kontext zu integrieren. Dies entspricht dem Prinzip des
„universal design“. Neben allen Gemeinsamkeiten sollen einige Divergenzen jedoch
nicht ausgeklammert werden. So ist es aus Sicht der Usability üblich, Farbcodie-
rungen zu verwenden. Die Verknüpfung von Farben und Inhalten kann sich für die
Barrierefreiheit als problematisch erweisen, wenn sie als ausschließliche Kennzeich-
nung verwendet wird. So weist das im folgenden Praxisbeispiel vorgestellte Portal
Vascoda die Verfügbarkeit von Dokumenten mittels einer „EZB-Ampel“ aus. Die
Farben rot, grün und gelb kennzeichnen den Lieferbarkeitsstatus von (elektro-
nischen) Dokumenten. Während dies aus der Perspektive der Usability ein schnelles,
eindeutiges Erkennungsmerkmal sein mag, da Nutzern die Metapher „Ampel“
geläufig ist, schreibt die BITV in Anforderung 2.1 (Priorität I) ausdrücklich vor, dass
Informationselemente auch ohne Farbe verständlich sein müssen. Hierdurch
ergeben sich Redundanzen. Informationen müssen im Zweifelsfall mehrfach, auf
unterschiedliche Weise, dargestellt werden. Während Farbcodes für die schnelle
Erkennbarkeit eingesetzt werden können, ist eine alternative (Text) Beschreibung
des gleichen Inhaltes für Sehbehinderte erforderlich. Redundanzen ergeben sich
auch aus Anforderung 1 der BITV, die sich auf alternative Formate für Grafiken oder
multimediale Elemente bezieht. Im Einzelfall ist es nicht möglich, die mehrfache
Darstellung und Beschreibung von Inhalten zu vermeiden. Längere Bildbeschrei-
bungen lassen sich zwar im Quelltext „verstecken“, so dass sie Nutzern von
Screenreadern zur Verfügung stehen, ohne die „übrigen Nutzer“ zu beeinträchtigen.
Allerdings muss bei Links darauf geachtet werden, dass diese aussagekräftige
Beschriftungen aufweisen. Die aus Content Management-Systemen vertrauten Links
mit Titeln wie „mehr“ oder „hier klicken“ sind für Nutzer von Screenreadern
unbrauchbar, da sie über sog. Linklisten navigieren49. Gerade diese kurzen Linktexte
gelten als nutzerfreundlich, da lange Linktexte eine Seite unübersichtlich werden
lassen. Die Linkbeschriftung ist daher eine heikle Angelegenheit, es muss ein „opti-
maler“ Mittelweg aus aussagekräftiger Textbeschreibung und Prägnanz gewählt
werden. Grundsätzlich ist jedoch festzustellen, dass die Usability und Barrierefreiheit
einander ergänzen und nicht ausschließen. Kompromisse sind integrativer Bestand-
teil eines nutzerorientierten Webdesign, und behinderte Nutzer sind als integrativer
49Eine Beschreibung darüber, wie Blinde im Internet navigieren, liefert u.a. Papst (a.a.O., 2005), s. auch User Report zu Vorlesesoftware (http://www.wertewerk.de/publikationen/user_report.html)
23
Teil der Zielgruppe zu begreifen. Eine Möglichkeit, die sowohl aus Perspektive der
Usability als auch für die Barrierefreiheit sinnvoll scheint, ist das Anbieten von indivi-
duellen Nutzerprofilen50.
3.4 Barrierefreiheit und Informationswissenschaft
Die moderne Informationswissenschaft bringt für Menschen mit Behinderungen
besondere Herausforderungen mit sich. Wie in der Einleitung geschildert, eröffnen
sich durch das Internet neue Möglichkeiten der Teilhabe am öffentlichen Leben.
Gleichzeitig aber bedarf es bestimmter Voraussetzungen, damit die Potenziale
genutzt werden können. Es werden hier zwei ausgewählte Problemkreise
thematisiert: die zugängliche Gestaltung von Fachinformationen (Portale,
Dokumentlieferdienste) und die Gestaltung von elektronischen Katalogen zur
Recherche in Bibliotheksdatenbanken.
Menschen mit Behinderungen können aus online verfügbaren Angeboten von
Bibliotheken einen großen Nutzen ziehen. So ist es Sehbehinderten möglich, sich
Texte mittels Braillezeile oder Sprachausgabe zu erschließen, Körperbehinderte
müssen keine langen Wege auf sich nehmen. Die in jüngerer Zeit entstandenen
Dokumentlieferdienste eröffnen neue Perspektiven der eigenständigen Recherche
und des wissenschaftlichen Arbeitens. Hierzu ist es erforderlich, dass die Angebote
einen Mindeststandard an Barrierefreiheit erfüllen. Dies würde hinsichtlich der disku-
tierten Grundprinzipien bedeuten, dass die Dienstleistungen wahrnehmbar, verständ-
lich, und bedienbar sein sollten. Die Anforderungen an das Design der Internet-
angebote erstrecken sich demnach auf die Darstellung und den Inhalt, wobei
besonders die Human-Computer-Schnittstellen zugänglich programmiert werden
müssen. Als problematisch erweist sich, dass Formulare im Internet häufig mittels
Java Script gestaltet werden, das für die Nutzer von älteren Screenreadern unzu-
gänglich ist. Des weiteren stellen die bei Volltexten gängigen Portable Document
Formate (PDF) ein Problem dar, weshalb für die elektronische Verfügbarkeit von
Volltexten eine Alternative gewährleistet werden sollte (hier eignen sich Rich Text
oder HTML als öffentlich dokumentierte Formate).
50 Nutzerprofile für behinderte Internetsurfer wurden in einem Projekt der Fraunhofer Gesellschaft erarbeitet, dazu http://i2bn.server.de.
24
Die Zugänglichkeit von Online-Katalogen stellt ein weiteres Handlungsfeld für das
Informationswesen dar. So bieten viele wissenschaftliche Bibliotheken die Möglich-
keit, Literatur über das Web in Datenbanken zu recherchieren und zu bestellen. Ob-
gleich aus der BITV nicht eindeutig hervor geht, ob sich die Vorschriften über den
Internetauftritt hinaus auch auf angeschlossene Datenbanken erstrecken, erscheint
es sinnvoll, wenn dem Gesamtkonzept der Barrierefreiheit auch bei den elektro-
nischen Katalogen entsprochen wird. Jedwabski (2005) sieht hier ein Handlungsfeld
für Bibliothekarinnen, die im Sinne ihrer Klientel auf die Hersteller der Kataloge ein-
wirken sollten. In Mailinglisten wie INET-Bib können praktische Aspekte der Umset-
zung diskutiert werden. Ein Problem für die Informationswissenschaft ergibt sich aus
der aktuellen Tendenz, Portale zu entwickeln. Portale bergen im Hinblick auf die
Barrierefreiheit besondere Schwierigkeiten. Hier finden sich Überschneidungen mit
den Anforderungen der Usability. Komplexe Internetangebote führen unweigerlich
dazu, dass die Wahrnehmbarkeit und Bedienbarkeit für behinderte und ältere Men-
schen eingeschränkt sind. Am Beispiel von konkreten praktischen Projekten sollen
im folgenden Kapitel unterschiedliche Probleme und mögliche Lösungen andiskutiert
werden.
3.5 Zwei Praxisbeispiele: Vascoda und der Deutsche Bildungsserver
Das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) ist als
Stiftung öffentlichen Rechts im Jahr 2005 verpflichtet, seine Informationsangebote im
Hinblick auf ihre Zugänglichkeit zu prüfen und zu modifizieren. Aktuell sind beson-
ders zwei Produkte betroffen. Der Deutsche Bildungsserver, ein Webverzeichnis von
Quellen zum Bereich Bildung, wird im Rahmen eines Re-Designs neu gestaltet. Bei
Vascoda handelt es sich um ein Gemeinschaftsprojekt von Bibliotheken und Infor-
mationszentren mit dem Ziel, einen fächerübergreifenden Zugang zu (gebühren-
pflichtigen) Volltexten zu schaffen. Der Bildungsserver (http://www.bildungsserver.de)
ist mit seiner Geschäftsstelle am DIPF angesiedelt. Im Rahmen von
http://www.vascoda.de ist das DIPF als Projektpartner in der Qualitätssicherung
spezifisch mit der Barrierefreiheit befasst. In beiden Fällen handelt es sich um Ange-
bote, die von öffentlicher Hand finanziert werden (BMBF, DFG) und somit der BITV
unterliegen. Da die Angebote bereits bestehen, ist es nicht möglich, die Barriere-
25
freiheit im Entwicklungsstadium zu berücksichtigen51. In der folgenden Gegenüber-
stellung soll aufgezeigt werden, welche Probleme sich für die Umsetzung von
Zugänglichkeitskriterien ergeben. Es handelt sich um komplexe Angebote, die derzeit
(Sommer 2005) unterschiedliche Barrieren aufweisen.
Informationsangebot Problem für die Barrierefreiheit, Lösungs-
vorschlag
Deutscher Bildungsserver
http://www.bildungsserver.de
Komplexität der Seiten (über 200 Links)
Schaffung von Navigationsblöcken,
Reduzierung der Links, thematische
Strukturierung
Tabellen mit hohen Ladezeiten
Style Sheets
Vascoda
http://www.vascoda.de
Schriften teilweise nicht skalierbar (Seite
ursprünglich optimiert auf Auflösung von
1024x768)
Stylee Sheets
Frames nicht skalierbar
Mit Rollbalken versehen, bis eine
Lösung ohne Frames möglich ist,
Frames eindeutig beschriften
Java Script-Formulare
Style Sheets, öffentlich dokumen-
tiertes Formularformat
Tabelle 1: Probleme der Barrierefreiheit beim Bildungsserver und Vascoda
Die Tabelle zeigt den Stand vom Juni 2005, als Vascoda gegen die Wahrnehmbar-
keitsprinzipien verstieß.
Schwierigkeiten hinsichtlich der Umsetzung der Barrierefreiheit ergeben sich aus
pragmatischen, aber auch aus rechtlichen Aspekten. So ist bei „Vascoda“, einem
Portal, dem zahlreiche Bibliotheken angegliedert sind, unklar, ob für alle ange- 51 Da es wesentlich kostengünstiger und einfacher ist, ein Internetangebot von vornherein barrierefrei zu gestalten, wäre die Überlegung sinnvoll, das Kriterium „Barrierefreiheit“ künftig in Pflichtenhefte aufzunehmen.
26
schlossenen Institute die BITV anzuwenden ist, da einige in Trägerschaft einzelner
Bundesländer sind. Im Juni 2005 wurden erste Optimierungen in Vascoda vorge-
nommen. Die Schriftgröße war noch im Frühjahr 2005 auf einen absoluten (sehr
kleinen) Schriftgrad festgelegt. Seit einer Testempfehlung durch das DIPF lassen
sich die Schriften auf der Startseite beliebig vergrößern. Auf nachfolgenden Seiten
sowie der Navigationsleiste wurde noch keine Skalierbarkeit umgesetzt. Im Sinne
einer besseren Nutzbarkeit wäre es sinnvoll, deutlicher zu kennzeichnen, wann sich
die Nutzerin innerhalb des Portals selbst bewegt, und wann es über eine Treffer-
anzeige verlassen wird. Wie Nordbrock et.al. (2003) berichten, haben ältere
Menschen Schwierigkeiten mit der Orientierung in Portalen. Auch die Dokumente
selbst sind nicht barrierefrei zugänglich. Angezeigte Dokumente sind nur im PDF-
Format vorhanden und es wäre schwierig, alternativ in einem öffentlich dokumen-
tierten Format zu liefern.
Für den Deutschen Bildungsserver wurde im August 2005 ein Entwurf entwickelt,
der auf (X)HTML 1.0 und CSS basiert. Eine erste Prüfung ergab, dass die
Linkinformationen als unstrukturierte Listen vorliegen. Durch den Einsatz von
"Textankern" soll hier nachgebessert werden, um Nutzern von Screenreadern die
Möglichkeit zum Ansteuern von Navigationsblöcken zu gewähren. Ein
überraschender Effekt der Vorgaben durch die BITV war, dass die Webdesigner
sehr lange Alternativtexte für grafisch gestaltete Elemente implementiert hatten. Das
wiederholte Auslesen der Grafikbeschreibung ("Ein grauer Pfeil, der auf einen Link
zeigt") ist angesichts der Fülle von Informationen, die der Screenreader dem Nutzer
auf den vollen Seiten ohnehin vermittelt, störend. Die grafische Darstellung (Pfeil)
transportiert keinerlei Information und sie wäre verzichtbar. Dies würde aber einen
Verstoß gegen die Anforderung 1 der BITV bedeuten, so dass nach einem
"Mittelweg" gesucht werden muss. Das Beispiel verdeutlicht die Relevanz von
Nutzerbefragungen: die Webdesigner können Sinn und Nutzen eines Alternativtextes
nur einschätzen, wenn sie dazu eine Rückmeldung der Anwender erhalten, für die
der Text bestimmt ist. Aus der Komplexität des Internetauftritts ergibt sich eine
Vielzahl Probleme, die hier nur angerissen werden können.
Hinsichtlich des Webangebotes Vascoda wurde erörtert, ob anstelle eines neuen
Designs eine „alternative Textversion“ entwickelt werden soll. Diese ist in der BITV
27
nicht vorgesehen und widerspricht dem Ansatz, ein universelles Design zu schaffen,
das von allen genutzt werden kann (vgl. Anforderung 11, Bedingung 3, wonach
„Zweitversionen“ nur im äußersten Notfall zuzulassen sind52. Befürworter
argumentieren, dass eine Textversion bis zum 31.12.2005 eine Möglichkeit wäre,
eine zugängliche Oberfläche anzubieten, da bei einem kompletten Re-Launch die
Einhaltung der Frist gefährdet ist. Eine „alternative Textversion“ scheint gerade bei
einem textbasierten Angebot kaum zu rechtfertigen, zumal sie nicht das Problem
lösen würde, dass die Dokumente im PDF-Format angeboten werden. Aktuell würde
eine Umstellung der Website „Vascoda“ von Frames auf Style Sheets einen hohen
Aufwand bedeuten. Da für das Frühjahr 2006 ein Re-Launch anvisiert ist,
beschränken sich die Gestaltungsarbeiten derzeit auf die Einhaltung von
Minimalstandards. Grundlage ist der BITV-Kurztest, begleitende Nutzerstudien sind
wegen ihres Aufwands nicht fristgerecht realisierbar. Die BITV-Testergebnisse
werden gemeinsam mit Informationen zu Prüftools und Rechtsgrundlagen im
Vascoda-Intranet dokumentiert.
4 Kosten und Qualitätssicherung
Im Sommer 2004 verkündete der Städte- und Gemeindebund NRW in einer Presse-
mitteilung, das Landesgleichstellungsgesetz NRW und die Landes-BITV auf den
Prüfstand zu stellen. Die Anforderungen an ein barrierefreies Webdesign seien
maßlos überzogen und würden die Kommunen finanziell schwer belasten. Es sei
davon auszugehen, dass die Kommunen bis zum Ablauf der Frist 2009 ihre E-
Government-Angebote erheblich reduzierten, um Klagen zu vermeiden. Die Argu-
mentation richtet sich gegen die in der NRW- Landesverordnung vorgeschriebene
Zukunftsfähigkeit von Webangeboten. Die Aussage löste in den Verbänden der
Behindertenselbsthilfe große Empörung aus, einzelne Vertreter warfen dem Städte-
bund vor, er wolle nichtbehinderte und behinderte Bürger gegen einander
ausspielen53. Ein Gegenargument der Behindertenselbsthilfe war, dass Kommunen
durch die Verlagerung von Verwaltungsaufgaben ins Internet Personal reduzieren
52 Eine derzeit zulässige „Zweitversion“ ist bei elektronischen Signaturen denkbar, da es bisher noch keine barrierefreie Möglichkeit der Übermittlung von verschlüsselten Daten gibt (s. Handbuch barrie-refreies E-Government, S. 96 ff.) 53 Eine Zusammenfassung aller Standpunkte findet sich in der Sendung „Computer und Karriere“ des Deutschlandfunks vom 14. August 2004, Skript siehe http://www.dradio.de/dlf/sendungen/computer/294343/
28
und somit Kosten einsparen. Die Diskussion verdeutlicht ein akutes Problem,
nämlich die Frage, ob und wie sich Barrierefreiheit wirtschaftlich rechtfertigen lässt.
Aus der Literatur geht hervor, dass die Kosten für die Schaffung eines barrierefreien
Internetauftritts zu vernachlässigen sind, wenn die Barrierefreiheit in den Entwick-
lungsprozess eines Angebotes einbezogen wird. Zusatzkosten entstehen durch
Schulungen für Mitarbeiter und Testverfahren54. Ungleich schwieriger und aufwän-
diger ist es dagegen, bestehende Internetangebote zu „aktualisieren“, so dass sich
dies besonders dann lohnt, wenn ein Re-Launch geplant ist. Beispielhaft sind die
Zeitschrift „Stern“ und die Postbank, die beide ihre Webauftritte im Rahmen eines
Re-Designs auf CSS- Layouts umgestellt haben55. Beim „Stern“ war der Wechsel
von Tabellenlayouts zu CSS primär damit begründet, dass die Ladezeiten der Seiten
verkürzt werden sollten, damit Nutzer innerhalb der auf der Site verbrachten Zeit
mehr Seiten (und damit mehr Werbung) wahrnehmen können56. Die bessere
Zugänglichkeit für assistive Technologien stellt somit einen positiven Nebeneffekt
dar. Weiter ist positiv zu vermerken, dass die Seiten eine hohe Akzeptanz bei den
Nutzern fanden und das Vorurteil widerlegt werden konnte, barrierearme Sites seien
unattraktiv. Die Postbank hat mit der „Aktion Mensch“ eine Sozialpartnerschaft
geschlossen und die Barrierefreiheit ist Teil ihrer Werbepolitik57 . Für die Postbank
bedeutete das Re-Design im Dezember 2004 den Sieg im „BIENE“-Wettbewerb58.
Wichtige betriebswirtschaftliche Faktoren sind der Return on Investment (ROI) und
der Total Benefit of Ownership (TBO). Für den ROI ist entscheidend, wann sich die
Investition in ein barrierefreies Informationsangebot auszahlt. Hier sind wenige
konkrete Zahlen zu finden, der „Stern“ konnte jedoch seine Serverkapazitäten und
die damit verbundenen Kosten auf rund ein Drittel reduzieren.
54 Duncker und Jüptner (2004: 32) zitieren eine Umfrage unter Webdesignern, wonach die mit 40% größte Gruppe der Befragten die Mehrkosten eines von vornherein barrierefreien Auftritts auf 10% schätzt. 55 http://www.stern.de und http://www.postbank.de 56 Zu Gründen und Folgen des Re-Designs bei „Stern“ im Dezember 2002 http://www.barrierefreies-webdesign.de/knowhow/css-design/stern.php. 57 Weitere Motive der Postbank: verbesserte Nutzbarkeit für Mobiltelefone, siehe http://www.einfach-fuer-alle.de/award2005/experten/e-business/58 Der BIENE-Award wird seit 2003 für barrierefrei gestaltete Webseiten von der Aktion Mensch und der Stiftung Digitale Chancen verliehen, siehe auch http://www.biene-award.de
29
Ohlsen (2005) bezeichnet den Return on Investment als veraltetes Verfahren der
Ermittlung von Rentabilität, er plädiert für den Einsatz des „Total Benefit of
Ownership“ (TBO). Neben den harten Zahlen, die sich aus Kosten und Gewinn bzw.
Einsparungen ergeben, werden hier auch „weiche“ Faktoren einbezogen, beispielhaft
sind Imagegewinne und eine positive Presse. So liegt es derzeit im Trend, Produkte
über soziales Engagement zu vermarkten59.
Barrierefreiheit kann sich demnach in mehrfacher Hinsicht als Investition lohnen,
auch wenn die Rentabilität nicht kurzfristig messbar ist. Zunächst bedeutet die
Erhöhung der Zugänglichkeit von Webangeboten immer auch eine Maximierung der
Kundenschichten. Papst (2005) argumentiert, dass die Kaufkraft blinder Internet-
nutzer größer sei, als dies viele annehmen. Vor allem ältere Menschen stellen eine
kommerziell interessante Nutzerschicht dar. Die Zahl der „silver surfer“ steigt. Diese
sind nicht an das Medium Internet gewöhnt und erwarten einfach strukturierte, über-
sichtliche Webseiten. Studien belegen, dass eine hohe Zahl an Einkäufen im Internet
kurz vor dem Abschluss des Bestellvorgangs abgebrochen wird60. Einfach struktu-
rierte Formulare, die sich intuitiv bedienen lassen, nutzen allen Anwendern und
erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Kunden eine Bestellung bis zum Ende durch-
führen.
Wie oben festgestellt wurde, sind neben den „kalkulierbaren Fakten“ auch langfristig
wirksame Faktoren bei der Frage der Wirtschaftlichkeit entscheidend. So sind aus
makroökonomischer Sicht Rehabilitation und Integration bedeutend. Behinderte
Menschen, die in der Medien- und Informationsbranche arbeiten, profitieren von
barrierefreien Internetpräsenzen. Das Geld, das sie verdienen, fließt seinerseits in
die Volkswirtschaft ein (und somit auch in Online-Käufe). Hier decken sich die
normativen Vorschriften des SGB IX (Rehabilitation) mit ökonomischen Fakten.
Auch aus technischer Sicht ist Barrierefreiheit längerfristig vorteilhaft. Der Traffic
steigt auf Internetseiten, die schnell geladen werden. Frames und Tabellenlayouts
verbrauchen nicht nur mehr Speicherkapazität und sind somit kostenintensiver, sie
59 aktuell im Sommer 2005: Werbekampagnen von Schokolade- und Müsliherstellern für Schulen in Afrika und Postbank und „Aktion Mensch“. 60 Teil 2 des „Leitfaden“ vom Wertewerk nennt eine Studie der FAZ aus dem Jahr 2004, wonach 40% aller Online-Käufe vorzeitig abgebrochen wurden. (Leitfaden Teil 2: Kosten und Schnelltest, S.6) Ohl-sen (2005) nennt bis zu 70% Kaufabbrüche (a.a.O., Folie 4).
30
benötigen eine höhere Ladezeit. Es wurde bereits ausgeführt, dass dies für den
„Stern“ ein Motiv für die Umstellung auf CSS war. Wenn dies angesichts der immer
geringeren Kosten für Speicher aktuell kein großes Problem für die Nutzer von
stabilen, schnellen Leitungen darstellt, so ändern sich die Nutzungsgewohnheiten
des Internet. Man kann nicht davon ausgehen, dass Internetseiten ausschließlich
vom heimischen Schreibtisch über stabile Leitungen aufgesucht werden. Die Vielzahl
an Endgeräten (w-Lan, Mobiltelefone, PDA, Laptops ohne Maus) führt dazu, dass
Webseiten unabhängig von Browsern, Bildschirmauflösung oder Nutzerschnittstellen
angezeigt werden sollten. In diesem Sinn argumentieren Befürworter der
Barrierefreiheit, dass die Verwendung von W3C-konformem HTML und CSS zu einer
„Verschlankung“ sowie einer geräteunabhängigen Darstellung führt. Das „Universal
Design“ nutzt demnach nicht nur behinderten Surfern.
Zur Maximierung von Reichweiten trägt auch die Platzierung von Internetseiten in
Suchmaschinen bei. Der Bundesverband Mittelständischer Wirtschaft 61 sowie an-
dere Vertreter mittelständischer Unternehmen raten zu einer barrierefreien Gestal-
tung von Webauftritten. Suchmaschinen nutzen ähnlich wie blinde Surfer, die mit
Screenreadern arbeiten, den Quelltext von Dokumenten (HTML-Strukturelemente
und Texte) zum Ranking. Frames und programmierte Objekte wie JavaScript sind für
Suchmaschinen nicht sichtbar und „verstecken“ Inhalte, wie Bornemann-Jeske
erläutert. Da Anwender Webseiten über Suchmaschinen recherchieren und sich an
den zuerst angezeigten Treffern orientieren, ist das Ranking für die Auffindbarkeit
und den Traffic einer Seite entscheidend. Für die nachhaltige Qualitätssicherung von
Internetauftritten ergeben sich aus einem barrierefreien Design ebenfalls Vorteile.
Eine Grundvoraussetzung für Barrierefreiheit ist die Verwendung von standard-
konformen, validen (X)HTML-Codes. Die saubere Programmierung führt dazu, dass
Quelltexte nachvollziehbar sind, sie können leicht auf Fehler oder Änderungen hin
überprüft werden. Moderne Browser sind zwar fehlertolerant, die korrekte Verwen-
dung der Markup-Sprachen vermindert aber Absturzrisiken, zusätzlich wird Browsern
die Interpretationszeit erspart62. Die Verwendung von HTML und CSS führt dazu,
61 Siehe dazu die IT-Kommission des BVDW Nord: “Suchmaschinenoptimierung: Google ist blind“. http://www.bvmw-nord-it.de/it-themen/it-geschaeftsprozesse/suchmaschinenoptimierung62 Duncker/Jüptner (2004: 51).
31
dass Websites geräteunabhängig dargestellt werden63. Die Internetauftritte sind
insgesamt leichter zu pflegen und unabhängig vom einzelnen Webdesigner nachvoll-
ziehbar. Eine Migration oder ein Re-Launch einer Website werden erleichtert.
Hellbusch (2005: 294 ff.) stellt fest, dass Internetauftritte im Durchschnitt alle zwei
Jahre ein Re-Design erfahren. Für die Umstellung eines Webangebots auf Barriere-
freiheit nennt er den Wechsel eines Redaktionssystems (CMS) als günstigen Zeit-
punkt für die Umstellung, ebenso sind größere Änderungen von Inhalten geeignet, da
hier ohnehin der Code „angefasst“ wird. Die einmalige Umstellung auf HTML-und
CSS-Layouts rentiert sich bei künftigen Re-Launches, wenn lediglich die CSS aus-
getauscht werden müssen und die Gesamtstruktur erhalten bleiben kann.
Die hier genannten positiven Effekte dürfen jedoch nicht darüber hinweg täuschen,
dass Barrierefreiheit zumindest für Einsteiger zunächst mit einem hohen Aufwand an
Einarbeitung verbunden ist, zumal die meisten Autorentools bisher die Barriere-
freiheit nicht berücksichtigen. Die „Rentabilität“ tritt daher nicht kurzfristig ein, son-
dern folgt einem längerem Prozess. Daher ist es sinnvoll, Barrierefreiheit in ein
Gesamtkonzept zu integrieren und als Bestandteil des Qualitätsmanagements zu
begreifen. Bedürfnisse von Nutzern und Anbietern müssen im Hinblick auf ihre
technische Umsetzbarkeit geprüft und abgestimmt werden.
Nicht zuletzt lässt sich mit Barrierefreiheit auch Geld verdienen, wie die neu entstan-
dene Branche der Beraterfirmen und Testverfahren zeigt. Hersteller von Autoren-
systemen und Designfirmen werben mit Barrierefreiheit , darunter befinden sich aber
auch schwarze Schafe, die während der Frühphase um 2002 die Gelegenheit ge-
nutzt haben, Kommunen einen „barrierefreien Webauftritt“ zu verkaufen (siehe Blanz
2004)64. Die vom BMGS und anderen öffentlichen Stellen geförderten Projekte wie
BIK oder ABI bieten behinderten Menschen Arbeitsmöglichkeiten. Sie werden aus
Ausgleichsabgaben finanziert, wobei die strukturellen Verflechtungen der Projekte
unklar bleiben und ein Mangel an Transparenz zu Vorwürfen geführt hat, die Betei-
ligten verfolgten eigennützige Zwecke.
63 Zur Inkompatibilität von älteren Browsern mit CSS vgl. Hellbusch (2005). 64 Hein (a.a.O.) stellt anlässlich der CEBIT im März 2005 einige Content Management Systeme vor, die gezielt mit Barrierefreiheit werben, und zieht eine nüchterne Bilanz.
32
Insgesamt lassen sich zur Wirtschaftlichkeit von Barrierefreiheit noch keine konkreten
Aussagen treffen. Seit Bestehen der gesetzlichen Rahmenbedingungen gestaltet
sich die praktische Umsetzung langsam. Zog Scheer bereits nach einem Jahr BITV
2003 das Resumé, dass der „Fortschritt eine Schnecke“ sei, so lässt sich drei Jahre
nach Beschluss der BITV feststellen, dass immerhin das Thema in das öffentliche
Bewusstsein gerückt wurde. Die Internetauftritte von Bundesbehörden sind mittler-
weile gut nutzbar. Mitunter bekommt man allerdings den Eindruck, dass es sich bei
den ausgewiesenen „Experten“ zum Thema Barrierefreiheit trotz der vielen Initia-
tiven, Projekte und Beratungsangebote um einen sehr intimen Kreis handelt. Große
Bereiche des Internet (E-Commerce, E-Learning) zeigen sich von dem Thema noch
völlig unberührt.65 Es hat drei Jahre gedauert, bis im Mai 2005 die erste „Musterziel-
vereinbarung“ veröffentlicht wurde. In der Literatur werden immer wieder die selben
Beispiele zitiert („Stern“ und Postbank), und die Beteiligung an Wettbewerben wie
dem „BIENE“-Award ist bisher nicht überwältigend66. Gerade das Instrument der
Zielvereinbarung ist aus Sicht der Autorin dieser Arbeit geeignet, für einzelne Wir-
kungsbereiche mit Unternehmen zu kooperieren. Dabei stellt Worseck bereits 2002
fest, dass Zielvereinbarungen ein wirksames Mittel sind, von Unternehmen aber nur
dann eingegangen werden, wenn diese sich einen ökonomischen Vorteil ver-
sprechen67. Dieses betriebswirtschaftliche Denken scheint auf Seiten der Behin-
derten ebenfalls erforderlich, wenn das Thema einen breiteren Konsens erreichen
soll68. Ein ziviles Antidiskriminierungsgesetz ist Anfang September 2005 gescheitert,
so dass wenig Aussicht auf einen umfassenden Rechtsanspruch auf Barrierefreiheit
besteht. Freiwillige Vereinbarungen im Sinne des § 5 BGG sind daher das einzige
realistische Mittel zur Umsetzung der Barrierefreiheit in der privaten Wirtschaft.
5 Schlussbemerkungen
Die Barrierefreiheit erweist sich als komplex und vielschichtig. Wegen der gesetzli-
chen Frist für den Bund und anhängige Behörden ist das Thema im Jahr 2005
65 Ein aktuelles Beispiel sind die Internetauftritte der für den Bundestag kandidierenden Parteien, die von BIK Anfang September 2005 getestet wurden. Hier zeigten sich durchgehend Barrieren, der Webauftritt der SPD war noch am zugänglichsten. 66 Allerdings verzeichnen die Initiatoren im August 2005 mit 323 Anmeldungen doppelt so viele Bewer-ber wie im Jahr 2004, die Medienpräsenz des Themas zeigt Wirkung. Vgl. http://www.einfach-fuer-alle.de/award2005/67 http://www.zielvereinbarung.stero.de/0712_position_unternehmen.php?auswahl= 68 Wie Kuhlen (2004c) feststellt, wird das Internet zunehmend von kommerziellen Angeboten domi-niert.
33
besonders aktuell. Diese Aktualität kann zum Anlass genommen werden, die Vorteile
eines barrierefreien Webdesigns einer breiteren Öffentlichkeit nahe zu bringen.
Obgleich auch kommerzielle Anbieter das barrierefreie Webdesign als Chance zur
nutzeroptimierten Gestaltung erkennen, erweist sich die praktische Umsetzung als
langwieriger, zäher Prozess. Das Argument, Barrierefreiheit sei kostspielig, lässt sich
nicht ohne Weiteres entkräften, hier muss mit langfristigen Effekten argumentiert
werden. Lobbyismus ist erforderlich, denn noch sind faktisch nur wenige Websites
barrierefrei, wie jede Nutzerin von assistiven Technologien feststellt.
Das Jahr 2005 bietet die Chance, das Thema „Barrierefreiheit“ in den Medien zu
positionieren. Multiplikatoren sind die Verbände mittelständischer Unternehmen , die
die Barrierefreiheit unterstützen. Eine tatsächliche Gefahr besteht darin, dass sich
Autorentools durchsetzen, die die Zugänglichkeitskriterien missachten. Hier kann
darauf hingewirkt werden, dass Unternehmen und Herstellern die Vorteile von Barrie-
refreiheit für alle Nutzer verdeutlicht werden. Eine Emotionalisierung des Themas ist
wenig geeignet, ein positives Klima für die Anliegen der Behinderten zu schaffen.
Auch ist es kaum möglich, stets allen Seiten gerecht zu werden. Ein Internetauftritt ist
daher in Hinblick auf potenzielle Nutzer zu optimieren.
Marktwirtschaftliche Argumente wie Zukunftssicherung, Reichweitenoptimierung und
Imagepflege dürfen das Thema jedoch nicht ausschließlich bestimmen. Aus dem
Grundgesetz, dem SGB IX und dem BGG ergibt sich für Träger öffentlicher Gewalt
eine sozialpolitische Verpflichtung, Behinderten eine gleichwertige Teilhabe am
öffentlichen Leben zu gewähren. Es besteht folglich ein fundamentaler Unterschied
zwischen Angeboten öffentlicher Träger und der Privatwirtschaft. Für Behörden exis-
tiert eine normative Verpflichtung zur Barrierefreiheit, sie können jedoch Synergien
nutzen, um Kosten zu sparen. Beispielhaft ist das Erstellen von Formularen, techni-
sche Informationen sind übertragbar und es können Best Practice- Verfahren ent-
wickelt werden. Informationswissenschaftliche Projekte wie Vascoda werden aus
öffentlichen Mitteln finanziert, so dass es nur logisch ist, dass sie auch der gesamten
Öffentlichkeit zugänglich sein müssen.
Angesichts der Dominanz kommerzieller Angebote im Internet sollte der Gedanke
erlaubt sein, auch die gewerbsmäßigen Betreiber von Webseiten zu verpflichten.
34
Das Grundrecht auf Informationsfreiheit als allgemein anerkanntes Menschenrecht
steht nicht im Widerspruch zu wirtschaftlichen Interessen, wie die zitierten Beispiele
beweisen. Die Wirkung normativer Vorschriften sollte auch nicht unterschätzt
werden- es ist zweifelhaft, ob der jetzige Stand der Barrierefreiheit auf Internetseiten
von Bundesbehörden ohne legislativen Druck erreicht worden wäre. Die Gesetz-
gebung in den angloamerikanischen Ländern zeigt, dass ein staatlich verordnetes
Diskriminierungsverbot nicht im Widerspruch zur unternehmerischen Freiheit stehen
muss. Ob eine „Zertifizierung“ sinnvoll ist, ließe sich kontrovers diskutieren. Wich-
tiger scheint mir, dass die Chance genutzt wird, über Information dazu beizutragen,
dass Hersteller und Anbieter die Barrierefreiheit als Optimierung ihrer Angebote
begreifen. Die aktuelle Popularität des Themas kann genutzt werden, Anbietern eine
möglichst rasche Umstellung nahe zu legen, um sich Wettbewerbsvorsprünge zu
sichern. Unternehmen, die als erste die Barrierefreiheit umsetzen, können sich einer
Medienwirkung gewiss sein. So werden die Zeitschrift „Stern“ und die Postbank in
fast allen einschlägigen Fundstellen zitiert. Auf diese Weise sichern sich die beiden
Unternehmen eine positive Presse69. Bereits in ein, zwei Jahren dürfte das Thema
„Barrierefreiheit“ durch andere Reizthemen ersetzt werden, so dass die momentane
Zeitnische von allen Interessengruppen genutzt werden muss.
Schließen möchte ich mit einem Zitat aus Hellbusch (2005: 302): „Spätestens wenn
die Barrierefreiheit nicht mehr als Sonderlösung verstanden wird, sondern als eine
selbstverständliche Aufgabe für das Qualitätsmanagement, sind die Forderungen der
Behindertenverbände erfüllt.“ Dies ist aus ethischer, rechtlicher und nicht zuletzt
langfristig aus ökonomischer Sicht sinnvoll, aus nüchterner Betrachtung heraus aber
Utopie - der Weg zu einer „inklusiven Informationsgesellschaft“ ist noch weit.
69 Wie umgekehrt negative Presse wirkt, zeigt das Beispiel AOL. Der Webgigant wurde in den USA vom Blindenverband NFB verklagt, weil der Browser von AOL für Blinde nicht bedienbar war. Um weitere Presseaufmerksamkeit zu verhindern, entschied sich American Online für eine außerge-richtliche Einigung und die Optimierung des Browsers im Sinne einer besseren Zugänglichkeit. Vgl. Pressemitteilung aus dem Jahr 2000, zit. nach http://www.dvbs-on-line.de/horus/content.php?id=2927&jahr=2000&nummer=5&men=n&pub=horus&f_search=AOL&startcount=0&zuordnung=newsletterhorus&z_ordnung=horus&woher=such. Auch Kuhlen (2004c) berichtet von Webanbietern, die um Anonymisierung gebeten hatten, nachdem ihre Seiten wegen ihres Man-gels an Barrierefreiheit kritisiert wurden.
35
6 Literatur
Die verwendete Literatur war überwiegend online verfügbar, da es bisher nur ein
deutsches Standardbuch zum barrierefreien Webdesign gibt. Links für die Online-
Ressourcen wurden am 10. September 2005 geprüft.
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