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Algebra in der Grundschule Auf der Suche nach einer verlorenen Kunst Christian Siebeneicher 1 ur die zum Rechnen geh¨ orende Mathematik interessiert sich heute kaum noch jemand, denn offene m a t h e m a t i s ch e Fragen sieht anscheinend niemand mehr, und Stimmen wie die von Richard P. Feynman im Kapitel 22 ¨ uber Algebra in den Feynman Lectures on Physics und Liping Ma in Knowing and Teaching Elementary Mathematics sind leider seltene Ausnahmen. In dieser Situation h¨ orte ich 2006 von der f¨ ur den Sommer 2007 geplanten 5th European Summer University (ESU 5) in Prag, und um herauszufinden, welchen Beitrag ich als Mathematiker in meinem heutigen Interessenbereich zum Thema The History And Epistemology In Ma- thematics Education leisten k¨ onnte, startete ich eine Google Suche mit den Stichtworten Algebra ’ und ‘Elementary School ’. Google lieferte in 0,15 Sekunden mehr als eine Million Ein- tr¨ age, in denen die folgenden Stichworte vorkommen algebraic thinking algebraic concepts algebraic topics algebraic reasoning algebraic skills algebraic proficiency algebraic –symbolic notation algebraic understanding algebraic problem solving algebraic relations and notations patterns and algebraic thinking algebraic character of early math In zugeh¨ origen Publikationen wird nicht nur von Forschungsaktivit¨ aten und Erfahrungen mit den genannten Konzepten aus der Mathematikdidaktik berichtet; dar¨ uber hinaus wird nahegelegt, algebraic thinking, algebraic reasoning, algebraic understanding und so weiter in die Ausbildung zuk¨ unftiger Grundschullehrer und in den Mathematikunterricht der Grundschulen aufzunehmen. In meinen hier in’s Deutsche ¨ ubersetzten Teil des gemeinsam mit Frantiˇ sek Kuˇ rina ver- anstalteten ESU 5 Workshops ¨ uber Algebra and Geometry in Elemetary and Secondary School , ging es um die Frage, ob die zum Grundschulrechnen geh¨ orende Mathematik wirklich so wohl- verstanden ist, wie es den Anschein hat, und Hand in Hand damit dann auch um die f¨ ur den Mathematikunterricht wichtigste Frage: Was bedeutet es eigentlich, Mathematik zu lernen? Vorbemerkungen : Weil beim Rechnen die Mathematik in statu nascendi in’s Spiel kommt, ha- be ich meinem Aufsatz zum Rechnen ganz bewußt den Charakter eines sich entwickelnden Pro- zesses gegeben: Die in den Text eingestreuten Rechenaufgaben wird der Leser als willkommene Herausforderung betrachten, selbst herauszufinden, was Konzepte aus Math–Education wie ‘al- gebraic problem solving’, ‘patterns and algebraic thinking’, ‘algebraic understanding’, ‘algebraic character of early math’, etc. etc. zur L¨ osung des jeweiligen m a t h e m a t i s c h e n Problems beitragen. Der Kontext eines Zitats — etwa aus den Richtlinienien des Landes Nordrhein– Westfalen — wird ¨ uber das Internet sichtbar, wenn der markierte Text angeklickt wird. 1 Leonhard Euler zum Rechnen und zur Algebra Was also ist die zum Rechnen geh¨ orende Mathematik? Nach heute g¨ angiger Meinung — gerade auch von Mathematikern — beginnt die Mathematik erst n a c h dem Rechnen, und so gehe ich f¨ ur eine Antwort auf diese wichtige Frage zweihundertf¨ unfzig Jahre zur¨ uck und betrachte die Einleitung zur Rechen–Kunst 2 , die Leonhard Euler (1707–1783) f¨ ur den Unterricht an russischen Schulen geschrieben hat. An Euler’s Buch f¨ allt sofort auf, daß die im heutigen Rechenunterricht unverzichtbaren Rechensymbole 3 + - · : nicht vorkommen, genauso wenig wie =, das sechsj¨ ahrigen 1 c 2008 Christian Siebeneicher, Universit¨ at Bielefeld, Fakult¨ at f¨ ur Mathematik, D 33 501 Bielefeld, e–mail: [email protected]–bielefeld.de Home–Page: http://www.math.uni-bielefeld.de/˜sieben 2 St. Petersburg, 3 Spezifisch f¨ ur mathematisches Arbeiten ist der Gebrauch besonderer Symbole und Symbolketten. In 1

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Algebra in der Grundschule

Auf der Suche nach einer verlorenen Kunst

Christian Siebeneicher1

Fur die zum Rechnen gehorende Mathematik interessiert sich heute kaum noch jemand, dennoffene m a t h e m a t i s c h e Fragen sieht anscheinend niemand mehr, und Stimmen wie die vonRichard P. Feynman im Kapitel 22 uber Algebra in den Feynman Lectures on Physics undLiping Ma in Knowing and Teaching Elementary Mathematics sind leider seltene Ausnahmen.In dieser Situation horte ich 2006 von der fur den Sommer 2007 geplanten 5th European SummerUniversity (ESU 5) in Prag, und um herauszufinden, welchen Beitrag ich als Mathematiker inmeinem heutigen Interessenbereich zum Thema The History And Epistemology In Ma-thematics Education leisten konnte, startete ich eine Google Suche mit den Stichtworten’Algebra’ und ‘Elementary School ’. Google lieferte in 0,15 Sekunden mehr als eine Million Ein-trage, in denen die folgenden Stichworte vorkommenalgebraic thinkingalgebraic conceptsalgebraic topics

algebraic reasoningalgebraic skillsalgebraic proficiency

algebraic–symbolic notationalgebraic understandingalgebraic problem solving

algebraic relations and notationspatterns and algebraic thinkingalgebraic character of early math

In zugehorigen Publikationen wird nicht nur von Forschungsaktivitaten und Erfahrungen mit dengenannten Konzepten aus der Mathematikdidaktik berichtet; daruber hinaus wird nahegelegt,algebraic thinking, algebraic reasoning, algebraic understanding und so weiter in die Ausbildungzukunftiger Grundschullehrer und in den Mathematikunterricht der Grundschulen aufzunehmen.

In meinen hier in’s Deutsche ubersetzten Teil des gemeinsam mit Frantisek Kurina ver-anstalteten ESU 5 Workshops uber Algebra and Geometry in Elemetary and Secondary School ,ging es um die Frage, ob die zum Grundschulrechnen gehorende Mathematik wirklich so wohl-verstanden ist, wie es den Anschein hat, und Hand in Hand damit dann auch um die fur denMathematikunterricht wichtigste Frage: Was bedeutet es eigentlich, Mathematik zu lernen?

Vorbemerkungen: Weil beim Rechnen die Mathematik in statu nascendi in’s Spiel kommt, ha-be ich meinem Aufsatz zum Rechnen ganz bewußt den Charakter eines sich entwickelnden Pro-zesses gegeben: Die in den Text eingestreuten Rechenaufgaben wird der Leser als willkommeneHerausforderung betrachten, selbst herauszufinden, was Konzepte aus Math–Education wie ‘al-gebraic problem solving’, ‘patterns and algebraic thinking’, ‘algebraic understanding’, ‘algebraiccharacter of early math’, etc. etc. zur Losung des jeweiligen m a t h e m a t i s c h e n Problemsbeitragen. Der Kontext eines Zitats — etwa aus den Richtlinienien des Landes Nordrhein–Westfalen — wird uber das Internet sichtbar, wenn der markierte Text angeklickt wird.

1 Leonhard Euler zum Rechnen und zur Algebra

Was also ist die zum Rechnen gehorende Mathematik? Nach heute gangiger Meinung —gerade auch von Mathematikern — beginnt die Mathematik erst n a c h dem Rechnen,und so gehe ich fur eine Antwort auf diese wichtige Frage zweihundertfunfzig Jahre zuruckund betrachte die Einleitung zur Rechen–Kunst2, die Leonhard Euler (1707–1783) furden Unterricht an russischen Schulen geschrieben hat.

An Euler’s Buch fallt sofort auf, daß die im heutigen Rechenunterricht unverzichtbarenRechensymbole3 + − · : nicht vorkommen, genauso wenig wie = , das sechsjahrigen

1 c©2008 Christian Siebeneicher, Universitat Bielefeld, Fakultat fur Mathematik, D 33 501 Bielefeld,e–mail: [email protected]–bielefeld.de Home–Page: http://www.math.uni-bielefeld.de/˜sieben

2St. Petersburg, 3Spezifisch fur mathematisches Arbeiten ist der Gebrauch besonderer Symbole und Symbolketten. In

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Kindern in der Grundschule schon wahrend der ersten Wochen im Rechenunterricht bei-gebracht wird. Daher stellt sich zuallererst die Frage, ob es denn uberhaupt moglich ist,ohne Symbole zu rechnen.

�Lisez Euler�, empfahl Pierre–Simon Laplace seinen Schulern, �c’est notre maı-tre a tous�4,5, und so lesen wir zum Rechnen und zur Mathematik nicht die Richtliniendes Landes Nordrhein–Westfalen sondern Leonhard Euler’s Vorbericht zu seiner Ein-leitung zur Rechen–Kunst :

Da nun die Erlernung der Rechenkunst ohne einigen Grund weder hinreichend ist,alle vorkommenden Falle aufzulosen, noch den Verstand scharfet, als dahin die Ab-sicht insonderheit gehen sollte; so hat man sich bemuhet, in gegenwartiger Anleitungvon allen Regeln und Operationen den Grund so vorzutragen und zu erklaren, dassdenselben auch solche Leute, welche in grundlichen Abhandlungen noch nicht geubetsind, einsehen und verstehen konnen: dabei aber hat man gleichwohl die Regeln undVortheile, welche im Rechnen zustatten kommen konnen, ausfuhrlich beschriebenund mit Exempeln genugsam erlautert.

Durch diese Einrichtung verhofft man also diesen Vortheil zu erlangen, dass dieJugend ausser der gehorigen Fertigkeit im Rechnen den wahren Grund von einerjeglichen Operation immer vor Augen habe, und dadurch zu grundlichem Nachden-ken nach und nach angewohnet werde. Dann wann man auf diese Art nicht nur dieRegeln begreift, sondern auch den Grund und Ursprung derselben deutlich einsieht,so wird man einigermassen in Stand gesetzt, selbsten neue Regeln zu erfinden undvermittelst derselben solche Aufgaben aufzulosen, zu welchen die sonst gewohnlichenRegeln nicht hinreichend sind.

Man hat auch im geringsten nicht zu befurchten, dass die Erlernung der Arith-metik auf diese Art schwerer fallen und mehr Zeit erfordern werde, als wann mannur die blossen Regeln ohne einigen Grund vortragt. Dann ein jeder Mensch begreiftund behalt dasjenige im Gedachtnis viel leichter, wovon er den Grund und Ursprungdeutlich einsieht; und weiss sich auch dasselbe bei allen vorkommenden Fallen weit

der Grundschule beschrankt sich die Symbolik im wesentlichen auf Ziffern und Ziffernketten als Zahl-zeichen, auf die Rechenzeichen + , − , · , : , auf die Relationszeichen > , = , < und auf Variable, die alsgeometrische Figuren �,4, ©, . . . oder als Buchstaben a, b, x, . . . notiert werden. Von Klasse 1 an sol-len die Kinder an den Gebrauch von Variablen gewohnt werden, ohne daß thematisiert wird, was eineVariable ist. [. . . ] So fruh wie moglich muß das Rechnen unter den folgenden Aspekten weiter ausge-baut werden: das Zeichen = nicht nur als ”ergibt“, sondern auch zunehmend als Zeichen fur gleichenWert auf beiden Seiten deuten; [. . . ] — Rund Erlass des Kultusministers vom 2.4.1985, Auszug aus demGemeinsamen Amtsblatt des Kultusministeriums und des Ministeriums fur Wissenschaft und Forschungdes Landes Nordrhein–Westfalen 5/85, S. 282, Grundschule — Richtlinien und Lehrplane, Mathematik,unveranderter Nachdruck 1996.

Ubrigens: In seiner Hamburger Antrittsvorlesung vom 20. Januar 1959 nennt Helmut Hasse einenwichtigen Gesichtspunkt, der — mutatis mutandi — fur jede Form von Mathematik gilt: �Auch ein inder Sprache der Mathematik geschriebener Beweis, bei dem alle Regeln des Schließens und Rechnensgetreulich eingehalten sind, braucht noch lange keine Mathematik im echten Sinne des Wortes zu sein. Inder Ausdrucksweise der Mathematik selbst formuliert: Dafur, daß eine solche Komposition Mathematikist, ist ihre logische Richtigkeit zwar notwendig aber keineswegs hinreichend.�

4Lesen Sie Euler, er ist in alllem unser Meister.5Und Carl Friedrich Gauss erganzt: Das Studium der Werke Eulers bleibt die beste Schule in den

verschiedenen Gebieten der Mathematik und kann durch nichts ersetzt werden — Brief an P.H. vonFuss, 16. September 1849.

In einer ”vollstandigen Liste von Eulers Werken“, die Gauss in sein Exemplar der ‘Arithmetik und Alge-bra zum Gebrauch bey dem Unterrichte’ von Christian Leiste nach dem Inhaltsverzeichnis eingetragenhat, findet sich naturlich auch die �Einleitung zur Arithmetik�, Petersb. 1738.

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besser zu Nutz zu machen.Uber das wer eine jegliche Kunst und Wissenschaft aus dem Grunde erlernet, der

sieht auch ohne Anleitung von selbsten viele Sachen ein, welche in Ermanglung desGrunds demselben mit grosser Muhe beigebracht werden mussen.

Insonderheit aber ist eine solche grundliche Anleitung zur Arithmetik zur Unter-richtung der Jugend um so viel nutzlicher und nothiger, da dieselbe eine ziemlichlange Zeit in Sprachen und anderen Stucken, bei welchen eine grundliche Erkennt-nis nicht einmal stattfindet, unterwiesen, dabei aber im geringsten nicht angefuhretwird, einer Sache grundlich nachzusinnen; woraus nachgehends bei allen Unterneh-mungen nicht geringe Hindernisse entstehen. Diesem Fehler kann nicht wohl fugli-cher abgeholfen werden, als dass man der Jugend die Arithmetik, welche ohne dasin diesen Jahren erlernet werden muss, auf das grundlichste vortrage, und dadurchdie Gewohnheit, richtig zu denken, beibringe.

Zu diesem Endzweck ist auch kein Studium bequemer als die Mathematik, danndarinn wird alles aus den ersten Grundsatzen unserer Erkenntnis auf das deutlichstehergeleitet und auf das grundlichste bewiesen, dahingegen in den anderen Wissen-schaften sich noch sehr viel Undeutliches und Unrichtiges befindet, auch sogar oftersfalsche Sachen fur Wahrheiten ausgegeben werden.

Um dieser Ursachen willen hat man in gegenwartiger Abhandlung die arithmeti-schen Regeln und Operationen aus der Natur der Zahlen selbst und der Beschaffen-heit der gebrauchlichen Charactere so hergeleitet, dass ein jeder auch ohne besondereAnfuhrung sowohl die Operationen begreifen und darinn eine Fertigkeit erlangen, alsauch den Grund davon verstehen kann.

Man hat zu diesem Ende die ganze Anleitung in Satze verfasst, in welchen ent-weder die Regeln selbst, oder was zum Begriff derselben dienet, kurz und deutlichvorgetragen wird. Diesen Satzen sind ferner ausfuhrliche Erklarungen beigefuget,worinn dasjenige, was in einem jeglichen Satze enthalten ist, genugsam erlautertund der Grund davon angezeiget wird: und endlich hat man einer jeden Operationeinige Exempel angehangt, aus welchen der Nutzen und Gebrauch derselben ersehenwerden kann.

Der Leser der Rechenkunst — die mit dem systematischen Zahlen und dem damit ver-bundenen Aussprechen und Schreiben der Zahlen beginnt, und bis hin zum Rechnen mitBruchen fuhrt — merkt schnell, daß diese außerordentlich klare und lesbare Einfuhrungin die Mathematik und das Rechnen vom Geist der Algebra getragen wird. Daher mag esuberraschen, daß Euler die heute beim Rechnen ubliche algebraisch–symbolische Notationn i c h t verwendet: Anstelle von Symbolen benutzt er Worte der Umgangssprache.

Zum besseren Verstandnis der Rolle von Symbolen beim Rechnen ist es nutzlich, dieRechenkunst mit ihrer Fortsetzung, der Vollstandigen Anleitung zur Algebra von ,zu vergleichen. Leonhard Euler, der zu dieser Zeit bereits erblindet war6, widmete sie

”denen Liebhabern der hohern Rechenkunst“ — Leuten also, die schon gelernt haben,

”was gemeiniglich von den Rechenmeistern gelehret zu werden pflegt, und in dem gemeinen

Leben unentbehrlich ist“.Nach einer kurzen Einleitung definiert Euler die Zeichen + − und · (ein Zeichen

fur die Division fehlt!) und diese Symbole werden in der Folge dann als W e r k z e u g ebenutzt, die beim Rechnen mit Papier und Bleistift nutzliche Dienste leisten. Das sollheißen: Mit den Symbolen als Abkurzungen fur die arithmetischen Operationen, ist es

6Norbert Schappacher gibt einem Vortrag im Euler Jahr 2007 den Titel: Eulers Algebra: Derblinde Seher lehrt den Schneidergesellen Kunstgriffe

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von nun an moglich, nicht mehr nur mit den Zahlen selbst zu rechnen, sondern auch mitSummen von Zahlen, Differenzen, Produkten, Potenzen und Wurzeln, dann mit Summenvon diesen, Differenzen, Produkten, Potenzen und Wurzeln, und so weiter. Solche Aus-drucke, die sich zusammensetzen aus den Ziffern und den Symbolen der Arithmetik (undKlammern um die Reihenfolge der Operationen festzulegen), andern immer dann ihrenWert nicht, wenn die Bestandteile u n t e r B e a c h t u n g d e r R e c h e n g e s e t z ehin und her geschoben oder abgeandert werden. Auf diese Weise konnen Rechnungen al-gebraisch ausgefuhrt werden, und beim numerischen Rechnen zeigt es sich, daß es fastimmer vorteilhaft ist, n i c h t sofort alles auszurechnen, was sich zum Ausrechnen an-bietet. Die Auseinanderseztung mit der folgenden Ubungsaufgabe kann zeigen, was damitgemeint ist: Man bestimme den Wert des Produkts 47 · 47 algebraisch, d.h. ohne denbekannten Multiplikationsalgorithmus der Grundschule. Wie immer beim Rechnen gibtes dafur naturlich viele Moglichkeiten.

In den ersten neunzehn Kapiteln von Eulers Algebra taucht das in heutigen Schul-buchern allgegenwartige Gleichheitszeichen nicht auf, und erst in der Nummer 206 des20. Kapitels, Von den verschiedenen Rechnungs–Arten und ihrer Verbindung uberhaupt, istvon ihm die Rede. Zur weiteren Klarung der Bedeutung algebraisch–symbolischer Notationund insbesondere des Gleichheitszeichens ist es daher nicht unangebracht zu lesen, wasEuler an dieser Stelle sagt:

Wir haben bisher verschiedene Rechnungs–Arten als die Addition, Subtracti-on, Multiplication und Division, die Erhebung zu Potestaten, und endlich dieAusziehung der Wurzeln, vorgetragen.

Daher wird es nicht wenig zu besserer Erlauterung dienen, wenn wir denUrsprung dieser Rechnungs–Arten und ihre Verbindung unter sich deutlich er-klaren, damit man erkennen moge, ob noch andere dergleichen Arten moglichseyn oder nicht.

Zu diesem Ende brauchen wir ein neues Zeichen, welches anstatt der bisherso haufig vorgekommenen Redens–Art, i s t s o v i e l a l s, gesetzt werdenkann. Dieses Zeichen ist nun = und wird ausgesprochen i s t g l e i c h .Also wenn geschrieben wird a = b, so ist die Bedeutung, daß a eben so viel seyals b, oder das a dem b gleich sey; also ist z. E. 3 · 5 = 15.

Mit diesem neuen Zeichen konnen jetzt auch ganz unterschiedliche Erscheinungsformenein und derselben Zahl in der schriftlichen Buchfuhrung einer Rechnung direkt nebenein-ander gesetzt werden, und damit wird dann = zum eigentlichen Dreh– und Angelpunktdes Rechnens mit Papier und Bleistift.

Fur denjenigen, der beim Durcharbeiten der vorangegangenen neunzehn Kapitel schoneine Kunstfertigkeit im Rechnen erworben hat, die fur Grundschulkinder genauso uner-reichbar ist wie fur die Mehrzahl der Grundschullehrerinnen und –lehrer, wird das Gleich-heitszeichen schnell zu einem neuartigen und außerst effektiven Werkzeug.

Wer schon w e i ß, daß =7 den Kindern moglichst fruh im Rechenunterricht beige-

7Wer = als geeignet fur Grundschulkinder betrachtet, der sollte in einem Selbsttest einmal dessenGefahrten ≡ aus der hoheren Arithmetik beim Rechnen benutzen ! Carl Friedrich Gauss hat dieNotation ≡ auf der ersten Seite seiner Disquisitiones Arithmeticae in die Arithmetik eingefuhrt und sagt:

”Dieses Zeichen habe ich wegen seiner großen Analogie, die zwischen der Gleichheit und der Congruenzstattfindet, gewahlt“. Aufgabe: Mit dem Konzept der Kongruenz im Hinterkopf bestimme man mit demTaschenrechner die Periode von 1/17, und anschließend dann auch die von 2/119. Als Aufwarmubungbenuzte man die Gleichheit, um die Anzahl der Stunden in einem Jahr algebraisch zu bestimmen.

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bracht werden muß, sollte sich einmal ganz bewußt fragen, welche Schwierigkeiten sich imRechenunterricht ergeben, wenn man auf = verzichtet, und ob das Gleichheitszeichen furdie

”E r l e r n u n g d e r R e c h e n k u n s t“ wirklich so zwingend erforderlich8 ist, wie

die Grundschul–Richtlinien es glauben machen.Und weil die abstrakten algebraischen Symbole des heutigen Grundschul–Rechnens

nichts anderes sind als Abkurzungen der beim Zahlen und Rechnen ohnehin benutztenWorte der Umgangssprache, stellt sich ganz von selbst die Frage, welche Grunde es dafurgibt, kleinen Kindern so fruh wie moglich abstrakte algebraische Symbolik aufzudrangen.Eine Antwort konnte fur den Rechenunterricht nutzlich sein.

2 Einsicht soll das Rechnen liefern, nicht Zahlen ! 9

Was die Algebra in der Grundschule leisten konnte, wird am besten durch eine konkreteRechenaufgabe klar, die einfach genug fur ein Grundschulkind ist — etwa das

Problem 33 : Berechne 1 + 2 + 3 + 4 + · · ·+ 98 + 99 + 100

auf der Seite 13 der Algebra von Israel M. Gelfand und Alexander Shen10.Die Autoren merken an: Einer Legende zufolge hat Carl Friedrich Gauss (spater ein großerdeutscher Mathematiker) als Schulkind seinen Lehrer dadurch verblufft, daß er diese Auf-gabe augenblicklich loste (als der Lehrer plante, sich ein bißchen zu entspannen, wahrenddie Kinder mit dem Zusammenzahlen11 der hundert Zahlen beschaftigt waren). Weil dieGeschichte vom kleinen Gauss inzwischen zum Allgemeingut geworden ist und ich zumThema The History And Epistemology In Mathematics Education auch Er-gebnisse aus eigener Forschung vorzeigen mochte, offne ich nun die zweite Auflage vonChristian Stephan Remers Arithmetica theoretico–practica von auf der Seite64. Dort befindet sich in Caput 2 vom Addieren in ganzen Zahlen das 270 Jahre altePendant

zum modernen Problem 33. Bereits als Kind von acht Jahren besaß Carl FriedrichGauss (1777–1855) Remers Arithmetica12, und wie man bei Philipp Maennchen nachle-

8Bei �zwingend erforderlich� denke man einmal an die fruhe Forderung der fein–motorischen Koor-dination und die Rolle, die eine Rasierklinge in der Hand eines kleinen Kindes dabei spielen konnte.

9The purpose of computing is insight, not numbers — Richard Hamming.10I.M. Gelfand, A. Shen, Algebra. In einer Besprechung dieses Buches erklart H. Wu in The Mathe-

matical Intelligencer, 17(1995): “. . . In fact, given the long tradition of mistreating algebra as a disjointedcollection of techniques in the schools, there should even be some urgency in making this book compulsoryreading for anyone interested in learning mathematics. They would discover, perhaps for the first time,that algebra is a logically coherent discipline and at the same time, that its formalism is a product borneof good sense and sensible conventions. Both may come as a surprise.”

11Kann Rechnen mit Verstand durch Einuben befordert werden?12Mehr zu diesem großartigen Buch findet man in Ludwig Schlesingers und Philipp Maeenn-

chens Artikeln in Gauss’ Werken, Band X2 und in der Methodik des mathematischen Unterrichts vonPhilipp Maennchen: Schlesinger berichtet, daß Remers Buch die Inschrift tragt ”Johann FriedrichKarl Gauss, Braunschweig, 16. December Anno “ und Maennchen erganzt, daß Gauss ‘in echtkindlicher Weise auf die Innenseite des Deckels schrieb: ”Liebes Buchlein.“’ In Carl Friedrich Gaussund seine Welt der Bucher, (Gottingen, 1979) stellt Martha Kussner dann allerdings fest: ‘Die GaussBibliothek enthalt noch ”Das kleine Rechenbuch“ von J. Hemeling des Schulers Gauss; dagegen fehlt das

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sen kann, hatte er ‘in echt kindlicher Weise auf die Innenseite des Deckels ’ geschrieben:

”Liebes Buchlein“. Beim genaueren Betrachten des Buches merkt man schnell, daß der

kleine Johann hierfur einen gutem Grund hatte: Sein Liebes Buchlein enthalt namlich eineschier unerschopfliche Sammlung von Rechenaufgaben, eine Schatzkiste voll mit Spielzeugfur ein am Rechnen interessiertes Kind13. Zusammen mit Leonhard Eulers Einleitungzur Rechenkunst enthalt es aus dem Erbe der Aufklarung die wesentlichen Elemente einerKunst, die heute langst in Vergessenheit geraten ist.

Schon Philipp Maennchen fragte sich 1928 in seiner Methodik des mathematischenUnterrichts (p. 1 und p. 8–10), weshalb die Rechenkunst von der Bildflache verschwand,und auch heute noch sind seine Antworten zu dieser Frage nicht uninteressant, denn ineiner Situation, in der die Schulmathematik den freiheitlichen Charakter der Mathema-tik14 noch immer nicht fur sich entdeckt hat, dekretiert heute namlich Expertenwissen15

auf der Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen16 aus Psycholgie und Padagogik inRichtlinien und Lehrplanen, was das Rechnen ist und wie gerechnet werden muß. Daß aufdiese Weise ein wertvolles Kulturgut17 schon seit langem nicht mehr an die Kinder dernachsten Generation weitergegeben wird, fallt in einer Gesellschaft nicht auf 18, in der so

Buch von C.S. Remer, das Schlesinger mit der Namenseintragung noch gesehen hat.’Schade, denn Schlesinger weist in seinem Artikel darauf hin, daß ‘das Buch Spuren starker Beutzung

und zwischen dem Text einige von Gauss’ kindlicher Hand ausgefuhrte elementare Rechnungen zeigt.’Weil es auf den Seiten 259–261 aber um eine nicht allgemein bekannte Eigenschaft der Division geht,ware es naturlich interessant zu wissen, ob der kleine Johann an dieser Stelle etwas in sein �LiebesBuchlein� geschrieben hat: Beim Lesen der Paragraphen 80–82 kommen namlich ganz von selbst der ersteAbschnitt der Disquisitiones Arithmeticae mit dem Kongruenzbegriff und der dritte mit den Potenzrestenund dem ‘Kleinen Fermatschen Satz ’ in den Sinn.

13Es gibt noch ein anderes, zweihundert Jahre alteres Rechenbuch, das fur ein am Rechnen interessiertesKind wichtig wurde: Nach Emil Fellman (Leonhard Euler, rororo, 1995, p. 11), berichtet LeonhardEuler in einer kurzen biographischen Notiz: . . . vo ich bey Zeiten von meinem Vater den erstenUnterricht erhielt; und weil derselbe einer von den Discipeln des weltberuhmten Jacobi Bernoulli gewesen,so trachtete er mir sogleich die erste Grunde der Mathematic beizubringen, und bediente sich zu diesemEnd des Christophs Rudolphs Coss mit Michaels Stiefels Anmerckungen, wo rinnen ich mich einige Jahrmit allem Fleiss ubte.

14Das Wesen der Mathematik liegt gerade in ihrer Freiheit — Georg Cantor.15Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben,

Sucht erst den Geist heraus zu treiben,Dann hat er die Teile in seiner Hand,Fehlt, leider! nur das geistige Band. Johann Wolfgang von Goethe, Faust I

16Zur Frage wissenschaftlicher Erkenntnis findet man in Eulers Vorbericht nutzliche Gedanken.17Wir nehmen fur die Mathematik nicht das Prarogativ einer Konigin der Wissenschaften in Anspruch;

andere Gebiete sind fur Bildung und Forschung ebenso wichtig oder wichtiger. Aber die Mathematik setztden Standard objektiver Wahrheit fur jedes intellektuelle Unternehmen; Naturwissenschaft und Technikzeugen von der Macht ihrer Anwendungen. Neben der Sprache und der Musik ist sie eine der wesentlichenManifestationen des menschlichen Geistes, und sie ist das universelle Organ fur das Verstandnis der Weltdurch theoretische Konstruktion. Mathematik muß deshalb ein unerlaßliches Element der Kenntnisse undFahigkeiten sein, die wir die nachsten Generationen zu lehren, und ein wesentlicher Teil der Kultur, diewir weiterzugeben haben. Herman Weyl

18Im Gegenteil: Unter der Uberschrift, ”Der Unterricht hat sich kaum verandert“, stellt ein fur denBereich Mathematik mitverantwortliches Mitglied des internationalen Pisa–Konsortiums in einem Inter-view im Spiegel 50–2006 fest: ”Weiterhin steht viel zu sehr das reine Rechnen im Mittelpunkt. Nacheinem trainierten Schema Gleichungen zu losen ist aber noch keine richtige Mathematik !“ Doch wasist denn die ”richtige Mathematik“? Ist es schon ”richtige Mathematik“, wenn Richard Feynman inder Nachfolge Leonhard Eulers in seinen Lectures on Physics auf vierzehn Seiten die Eulersche Identitateiθ = cos θ+ i sin θ, ”eine der bemerkenswertesten, ja verbluffensten Formeln der gesamten Mathematik“,mit r e i n e m R e c h n e n aus der Addition ganzer Zahlen hervorzaubert?

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mancher nach leidvollen Erfahrungen mit der Schulmathematik als Erwachsener dann miteinem gewissen Stolz bekennt,

”In Mathe war ich immer schlecht !“ — und von Mathe

nichts mehr horen will.

3 Der Workshop

Um einen Eindruck davon zu geben, in welcher Weise Georg Cantors beruhmtes Mot-to Impulse fur den Rechenuterricht geben konnte, legte ich das Beispiel 33 aus RemersArithmetica auf einen Overhead Projektor und bat die Teilnehmer des ESU 5 Workshops,eigene Losungen auf eine leere Folie zu schreiben, die ich auf einen zweiten Projektorgelegt hatte. Nach einigen Momenten des Zogerns hatten wir zwei Folien mit den beidenfolgenden Rechnungen:

Weil es keine Fragen gab, hatte der Workshop jetzt zuende sein konnen. Also zeigte ichauf die linke Rechnung und fragte:

”Kann man die Summe der arithmetischen Progression

nicht noch ein bißchen geschickter — algebraischer, s p i e l e r i s c h e r ! — ausrechnen?“Was fur mich selbstverstandlich war, fur meine Mitstreiter war es das ganz und gar

nicht. Erst als ich vorschlug, die zwolf 48en mit in das Spiel aufzunehmen, hatte jemanddie Idee, die einsame 24 unter den letzten Eintragungen 23 und 25 in den beiden Spalten,in das Produkt 2 · 12 zu zerlegen. Dann passen 48 · 12 and 2 · 12 zusammen und dasDistributivgesetz liefert 50 · 12. Das kann leicht ausgerechnet werden und ergibt 600.

”Geht es noch besser?“ fragte ich.

”Klar, man multipliziert das Doppelte von 50 mit der Halfte von 12, also 100 mit 6. Dann

muß man die 6 nur noch zwei Stellen nach links schieben, und eine Rechnung ist nichtmehr notig!“

Viel ware gewonnen, wenn jeder, der etwas zur Verbesserung des ”schlechten Unterrichts an deutschenSchulen“ beitragen will, zunachst einmal f u r s i c h s e l b s t das geistige Band zwischen dem ”reinenRechnen“ und der ”richtigen Mathematik“ knupft, ein Band, das vor 200 Jahren noch ein selbstverstand-licher Bestandteil des Kulturgutes Mathematik war (Fußnote 17). Daß nichts gewonnen ist, wenn nichtauch diejenigen, die als Grundschullehrerinnen und –lehrer in staatlichem Auftrag Kindern das Rechnenbeibringen, bereit und auch fahig sind, in ihrem Mathematik–Unterricht ein derartiges Band stets auf’sNeue zu knupfen, legt Liping Ma in Knowing and Teaching Elementary Mathematics nahe: Anhandvon vier einfachen Rechenaufgaben macht sie klar, was vor allem anderen amerikanische und chinesischeGrundschullehrer bei ihrer Antwort auf die Frage unterscheidet: Was ist Mathematik?

In der Ara von TIMMS und PISA ist dann naturlich auch die Frage interessant, wo auf einer fiktivenSkala — mit Ma’s ”Profound Understanding of Fundamental Mathematics“ als Parameter — die deut-schen Grundschullehrer im Vergleich mit den amerikanischen und den chinesischen einzuordnen waren.

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Als das erledigt war, fragte ich nach einer Rechnung in der Reichweite eines Grund-schulkindes, also auf der Basis des gesunden Menschenverstandes und ohne irgendeinanspruchsvolleres Expertenwissen uber Muster, Summenformeln oder sonstwas.

Das war schnell bewerkstelligt (linke Folie).

Als die Rechnung fertig war, erganzte ich sie durch zwei Markierungen unter 21 und31 und eine Klammer, welche die Zahlen dazwischen zusammenfaßt.

”Aha“, war die prompte Reaktion,

”jetzt bilden die Ziffern 2,3,4,5,6,7,8,9,0,1 eine

kleinere arithmetische Progression, und diese hat man sogar zwei mal !“All das gehort zu dem wohlbekannten Spiel der Algebra, das manche Kinder schon

intuitiv und ganz von selbst s p i e l e n19 — b e v o r d i e B e s c h u l u n g e i n s e t z t.

”Wie war’s,“ schlug ich deshalb vor,

”wenn wir jetzt mit

den zwei Extra–Zahlen 47 und 64 das gleiche Spiel noch ein-mal machten, diesmal mit der konstanten Summe 111 ? !“Das fuhrte zu der Folie rechts.Frage:

”Gibt es etwas Interessantes in diesem Muster von Zah-

len?“Schweigen!Ich drangelte:

”Vielleicht gibt es ja ein interessantes Zah-

lenpaar?!“Nach einigen Minuten des Nachdenkens sagte jemand, erfande das Paar 37 74 interessant: 74 ist namlich geradedas Doppelte von 37!

Auf diese Weise konnte eine im ersten Teil von Beispiel 33 enthaltenen Besonderheitder Aufgabenstellung auch auf die zwei Extra–Zahlen 47 und 64 angewendet werden, mitder erstaunlichen Konsequenz, daß 1 · 37 + 2 · 37 = 3 · 37 = 111 ist.

Bemerkung : Schon an diesem einfachen Beispiel wird klar, daß die mentalen Prozesse,auf die sich ein Schuler beim Konjugieren und Deklinieren seiner Verben und Hauptwortestutzt, grundverschieden von denen beim Rechnen mit Verstand sind. Vielleicht konntediese Einsicht ja dazu anregen, uber die wechselseitige Beziehung zwischen dem Rechnenmit Verstand und dem Mantra der Grundschulmathematik, �Einuben bis zur Gelaufig-keit!�, einmal grundsatzlich nachzudenken.

19Sapere Aude — Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen ! — Immanuel Kant.

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Die Gleichung 3 · 37 = 111 — aufgetaucht aus dem Nichts beim Spiel mit den Zahlen !— besagt, daß 3 · 37 und 111 zwei unterschiedliche Erscheinungsformen ein und derselbenZahl sind. Diese Tatsache kann benutzt werden, um die Anzahl der Stunden in einemJahr — 365 · 24 = (370− 5) · 24 ! — algebraisch auszurechnen20.

Nach diesen einfachen Beispielen zur Addition und zur Multiplikation21 , kam ich zudem, was allem schriftlichen Rechnen vorangeht — den Zahlen selbst.

Durch das schriftliche Rechnen im Dezimalsystem sind wir so sehr daran gewohnt, unsdie Zahlen als mit den zehn Ziffern geschrieben vorzustellen, daß allein derGedanke uns unsinnig erscheint, man konne mit großeren Zahlen auch ohne die Ziffernrechnen.

Deshalb war das Rechnen ohne die Ziffern das nachste Thema des Workshops, und sozog ich — einem Vorschlag von Adam Riese folgend — Linien auf eine Folie:22

Ziehe Linien: Die erste vnd vnderste bedeut eins: die an-der ob jhr zehen, die dritt hundert, die vierdt tausent.Also hinfurt die nechst daruuber allweg zehen mal mehr,denn die nechste darunder; vnnd ein jegliches: spaciumgilt halb souiel, als: die nechst Linien daruber. Dann leg-te ich23 eilftausend, eilfhundert und eilf mit Cent Stuckenauf die Linien, eine interessante Zahl, die man am Endedes ersten Kapitels von Eulers Rechenkunst findet. Weilaber nach zwei Stunden meine Zeit abgelaufen war, wardamit auch der Workshop uber Algebra in der Grund-schule zuende.

20Wie schon gesagt, gibt es auch hier viele Wege zum Ziel, und wer sich auf die Besonderheit der Zahl37 nicht einlassen mag, wird vielleicht an der Gleichung (a+ b)(a− b) = a2 − b2 Gefallen finden. WeitereMoglichkeiten kommen jedem in den Sinn, der diese Aufgabe als willkommene Gelegenheit benutzt,unter Verwendung der Rechenregeln einmal mit Zahlen und Ziffern zu s p i e l e n. Systematisch geht esum vorteilhaftes Multiplizieren in Caput IV von Remers Arithmetica, wo im Rahmen der sogenannten‘Welschen Praktik ’ auf 66 Seiten vielfaltige Formen der Buchfuhrung fur die Multiplikation vorgefuhrtwerden.

21Zur Division heißt es in den Richtlinien von 1985: ”Die schriftliche Division stellt den hochsten An-spruch dar. Sie muß sorgfaltig vorbereitet und spatestens ab Mitte der Klasse 4 eingeubt werden.“ Dieneuen NRW–Grundschul–Richtlinien nach 2003 verfugen fur die Phase der Erprobung: ”Das Normalver-fahren der schriftlichen Division sollte von allen Schulerinnen und Schulern ‘verstanden’ werden, wasaber nicht die ‘gelaufige Beherrschung’ von allen erfordert. Dies entspricht dem Stand der gegenwartigenmathematikdidaktischen Diskussion.“ Die Frage, was genau unter ”von allen ‘verstanden’“ zu verstehenist, bleibt das Geheimnis der Richtlinien.

Uber die verschiedenen Spielarten des V e r s t e h e n s im Kontext der Mathematik findet man Be-merkenswertes im VII. Kapitel — Different Kinds of Mathematical Minds — von Jaques Hadamard’sAn essay on the psychology of invention in the mathematical field, New York 1954. Auch nach mehrals funfzig Jahren halt es noch so manche Uberraschung fur die ”gegenwartige mathematikdidaktischeDiskussion“ bereit.

22Adam Riese, , Rechenbuch auff Linien und Ziphren.23Eine gegebene Zahl kann in vielfaltiger Weise mit Rechenpfennigen (Centstucken) auf den Linien von

Adam Rieses Abakus ausgelegt werden — beispielsweise die Zwolf durch zwolf Rechenpfennige auf deruntersten Linie, oder: Zwei Pfennige auf der untersten Linie und einen auf der daruber:

Zwolf ••• ••• ••• ••• 12•••

Soll diese Zahl mit Ziffern geschrieben werden, dann verschwindet diese Freiheit: Endlich ist auch zu mer-ken, dass niemals von einer Sorte mehr als neun konnen geschrieben werden, indem 10 Stucke von einerSorte ein Stuck von der folgenden ausmachen und folglich dahin gehoren (Leonhard Euler, Einleitung

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Doch weil fur eine effektive Buchfuhrung beim Rechnen die Ziffern wesentlich sind,machte ich erst einmal mit einem Konzept von New Math weiter, zu dem RichardFeynman in “Surely You’re Joking, Mr. Feynman!” sagt:

Da war dann auch die Rede von verschiedenen Basen fur die Zahlen — funf,sechs, und so weiter — um die Moglichkeiten zu zeigen. Fur ein Kind, das dieBasis zehn verstanden hat, konnte das interessant sein — etwas, um seinenVerstand anzuregen. Aber was sie dann daraus machten, in diesen Buchern,war, daß jedes Kind eine andere Basis lernen mußte! Und dann kam der ubli-che Horror:

”Ubersetze diese Zahlen, die in der Basis sieben geschrieben wur-

den, in die Basis funf.“ Das Ubersetzen von einer Basis in eine andere ist einevollkommen nutzlose Sache. Kann man es, dann kann es unterhaltsam sein,kann es nicht, dann vergißt man es am besten sofort — es ist namlich volligunwichtig. (Vintage, 1985, p. 293)

Ubersetzen von der Basis 60 in die Basis 10 kann jeder, der die Uhr kennt und weiß, daßeine Stunde und vierzig Minuten nichts anderes sind als hundert Minuten24.

zur Rechenkunst , Kapitel 1). Diese Regel kann naturlich auch auf Pfennige auf den Linien angewendetwerden, und dann resultiert eine eindeutige Darstellung der gegebenen Zahl durch Rechenpfennige. An-ders als bei den Ziffern ist die Anwendung dieser Regel bei Rechenpfennigen aber nicht notig, und dieFreiheit, mit den Pfennigen nach Belieben hantieren zu konnen (und den Gang der Handlung mit Wor-ten der Umgangssprache zu beschreiben!), macht die Funktionsweise des dezimalen Stellenwertsystemshandgreiflich klar, und die elementare Arithmetik — das S p i e l m i t d e n Z a h l e n — erhalt so furden Lernenden von Anfang an eine auch sinnlich wahrnehmbare B e d e u t u n g.

Ubungsaufgabe: Man schreibe Euler’s Zahl eilftausend, eilfhundert und eilf mit Papier und Bleistift,und lege sie in mindestens drei verschiedenen Weisen mit Pfennigen auf den Linien aus.

Bemerkung : Seitdem es den Taschenrechner gibt, wird eine Division wie 1 : 7 durch Betatigen der Tasten�� ��1�� ��÷

�� ��7 und�� ��= erledigt. Beim Rechnen mit Papier und Bleistift habe ich wahrend meiner Schulzeit

gelernt, daß das Ergebnis ein periodischer Dezimalbruch ist, und so hatte ich damals mit Leichtigkeit dasErgebnis 0.142857142 des Taschenrechners um beliebig viele Stellen ubertreffen konnen; auf die Folge derals Reste auftretenden Zahlen 3 2 6 4 5 1 habe ich damals allerdings nicht geachtet.

Mit der Idee, als Erwachsener das elementare Rechnen noch einmal zu lernen, begann ich vor elf Jahrenmit dem Abakus zu spielen. Als ich dann zum Spaß einmal e i n s durch s i e b e n mit Pfennigen aufden Linien dividierte, fiel mir auf, daß die beim Teilen entstehenden Reste sich bei jedem Rechenschrittverdreifachen. In seiner Einleitung zur Rechenkunst erwahnt Leonhard Euler diese verbluffende Tat-sache nicht — und auch nicht in seiner Algebra. Aber Christian Stephan Remer berichtet in derBeschreibung einer Geometrischen Progression auf den Seiten 259–261 in Caput II seiner Arithmeticatheoretico–practica von diesem bemerkenswerten Phanomen. Weil bei Remer wesentliche Fragen aber of-fen bleiben, ergibt sich eine Fulle von neuartigen Fragestellungen — zunachst fur die Primzahl 7, und dannfur jede beliebige andere Primzahl. All das sprengt den Rahmen von Eulers elementarer Rechenkunstund fuhrt in die hohere Rechenkunst von Gauss.

Die ersten drei Abschnitte der Disquisitiones Arithmeticae von Karl Friedrich Gauss konnen dannals eine Einleitung in die hohere Rechenkunst verstanden werden, mit Remers �Beschreibung� als Aus-gangspunkt. Die aus dieser resultierenden Serien von sinnvollen Rechenaufgaben schlagen eine Bruckevom elementaren Rechnen der Grundschule zur Sek I–Mathematik, und durch das Rechnen mit Ver-stand wird dann das begrifflich–abstrakte Glasperlenspiel der Sekundarstufe I mit der Verwandlung vonBruchen in Dezimalbruche, Aussagen zur Periodizitat, dem Taschenrechner, Termen und Termumfor-mungen, Aquivalenzumformungen, Teilern, Vielfachen, ggT, kgV, Primzahlen, der Primfaktorzerlegung,dem Potenzbegriff, den Potenzgesetzen usw. mit Inhalt gefullt und kann fur die Lernenden — seien sienun Schuler der Sekundarstufe I oder Studenten fur das Lehramt der Primarstufe — in nachvollziehbarerWeise zu B e d e u t u n g kommen (vgl. etwa Eulers Vorbericht, die Fußnote 17, die Bemerkung auf derSeite 8 und die Fußnote 30).

24Fur die Multiplikation und die Division in der Basis 60 benutzten die Babylonier Serien von Tontafeln,

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Peter Damerow25 hat auf einer babylonische Tontafel vom Ende des dritten Jahr-tausend vor Christus eine Rechnung entdeckt, die ein fur das Rechnen in einem Stellen-wertsystem charakteristisches Phanomen enthalt. Sein Kommentar zu der Keilschrifttafelist es wert, genau gelesen zu werden, Zeichen fur Zeichen, Wort fur Wort:

�������������������������������� �������������������������������� �������������������������������� �������������������������������� ������������� ������������� ������������� ������������� ����������������������� ����������������������� ����������������������� �������������������������������� ��������� ��������� ��������� ����������������������� ����������������������� ����������������������� ����������������������� ������������� ������������� ������������� ������������� ������������������������ ������������������������ ������������������������ ������������������������ ���� ���� ���� ���� ���������� ���������� ���������� ���������������������������������� ������������������������ ������������������������ ������������������������ ������ ������ ������ ������ ���� ���� ���� ���� ������������������������������������������������������������������������������������������������ ������������������������������������������������������������������������������������������������ ������������������������������������������������������������������������������������������������ ������������������������������������������������������������������������������������������������ ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� ���������� ���������� ���������� ������������������������������ �������������������� �������������������� �������������������� �������� �������� �������� �������� ��� ��� ��� ��� ������������������� ������������������� ������������������� ������������������� ������������������������������� ������������������������������� ������������������������������� �������������������������������������������������������������������������� ������������������������������������������� ������������������������������������������� ������������������������������������������� �������������������������������������������������� �������������������������������������������������� �������������������������������������������������� ����������������������������������������������������������������������������� ��������������������������� ��������������������������� ��������������������������� ��������������������������� ��������������������������� ��������������������������� ������������������������������������������ ��������������� ��������������� ��������������� ����������� ����������� ����������� ����������� ������� ������� ������� ������� ���������� ���������� ���������� ���������� ���������� ���������� ���������� ����������1 40 a-r� 21 40 46 40100 mal 100 10.000=

Rekonstruktion und �bersetzung der beiden ersten Zeilen:

a-r� 41 40 37 46mal 100 1.000.000=

401002

1003

1004

1005

1006

1007

1008

1009

10010

21 26 29 37 46 40

Der Rechenfehler aufgrund der fehlenden Null:

Hier fehlt die Null

(richtig w�re: 21 26 ã0Ò 29 37 46 40)

35 44 9 22 46 40Diese Zahl ist falsch (wie auch alle folgenden), weil die Null nicht ber�cksichtigt wurde.

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c© Peter Damerow, Max Planck Institut fur Wissenschaftsgeschichte

Die Tafel zeigt die Potenzen vom babylonischen 1 40, und ein Pfeil zeigt auf die Stelleder Tafel mit dem relevanten Phanomen: Es ist der Zwischenraum zwischen babylonisch26 und 29 in der Zeile von 1006.

Demjenigen, der die Keilschriftzeichen in den weichen Ton eindruckte, war vermutlichnicht bewußt, daß bei einer korrekten Buchfuhrung auch das

”Nichts“ auf dem fur die

tatsachliche Rechnung moglicherweise benutzen Abakus durch ein”Etwas“ im Ton fixiert

werden muß. Wohl deshalb blieb diese Stelle der Tontafel unberuhrt26. Otto Neuge-

die zusammengenommen ein babylonisches Einmaleins ergeben. Auf meiner Web Page gibt es ein Bildmit drei Tontafeln — die beiden unteren sind die Vorder– und die Ruckseite einer Mal–Zehn Tafel, diedritte daruber zeigt ein auf einer seiner Ecken stehenden Quadrat mit den Keilschriftzeichen fur 30 nebeneiner der Seiten und dem Zeichen fur 42 25 35 unter der horizontalen Diagonalen (Klicken auf das Bildliefert eine Vergroßerung!). Aufgabe: Man gebe durch Rechnen diesen beiden Zahlen — und auch derdritten uber 42 25 35 — eine Bedeutung.

Das Bild links neben den drei Tafeln zeigt eine Fotomontage, in der eine ”Grundschulerin im Mathe–Unterricht“ (Spiegel 50–2006) und die Vorderseite der Mal–Zehn Tafel zusammengepaßt wurden. Zufallighat der Fotograf den Ausloser in genau dem Augenblick gedruckt, in dem die Schulerin schon 6 · 1 an dieTafel geschrieben hat und man fur den nachsten Moment erwartet, daß sie mit 6 · 10 = 60 weitermacht.Die rechts eingeblendete babylonische Tontafel soll andeuten, daß anstelle von 6 · 10 = 60 auch 6 · 10 = 1moglich ware: Wie man namlich auf dem Zifferblatt einer Uhr beobachten kann, ist 1 Minute vergangen,wenn der Sekundenzeiger 6 mal um 10 Sekunden vorgeruckt ist — und die Tontafel zeigt in der sechstenZeile das Ergebnis der zugehorigen Rechnung. Das in der Fußnote 16 erwahnte Spiegel–Interview wirdubrigens ganz unten sichtbar, wenn das Madchen an der Tafel durch Klicken vergroßert wird.

25H.J. Nissen, P. Damerow und R.K. Englund, Fruhe Schrift und Techniken der Wirt-schaftsverwaltung im alten Orient — Informationsspeicherung und –verarbeitung vor 5000 Jahren, Franz-becker, 1991, p. 195.

26Aufgabe: Um nachzuempfinden, welche Gefuhle ein Kind hat, das beim Rechnen im Dezimalsystemunsicher ist, berechne man einige der Potenzen vom babylonischen 1 40, insbesondere die, bei der es umdas Nichts auf dem Abakus geht.

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bauer27 berichtet, daß es erst ein Jahrtausend spater auf Tontafeln etwas gab, das zudem Nichts auf dem Abakus korrespondierte28.

In seiner Art of Computer Programming sagt Donald E. Knuth auf den Seiten196/197 auch etwas zum Gebrauch eines Abakus:

Weil das Schreiben nicht schon immer zu den gangigen Fahigkeiten gehorte, undweil Abakus Benutzer zum Rechnen weder das kleine Eins–Plus–Eins noch das kleineEin–Mal–Eins konnen mußten — wodurch das Rechnen dann wirklich einfach wurde— hatten Leute zu dieser Zeit allein schon den Vorschlag als albern empfunden, mansolle zum Rechnen lieber Papier und Bleistift benutzen, so ginge das besser!

Die Romer konnten also auch mit großeren Zahlen rechnen — und zwar ohne vorher Eins–plus–Eins und Ein–mal–Eins auswendig29 lernen zu mussen. Und mit ihren uns Heutigenso unpraktisch und altmodisch erscheinenden Ziffern brauchten sie noch nicht einmal einbesonders Zeichen, um ein Nichts auf dem Abakus beim Notieren des Rechenergebnissesrichtig zu berucksichtigen.

Es lohnt sich daher, einmal in die Zeit zuruck zu gehen, in der sowohl mit dem Abakusgerechnet wurde, wie auch schriftlich mit den Ziffern.

In dieser Zeit des Ubergangs lebte der deutsche Rechenmeister Adam Riese (1492–1559). Sein Rechenbuch auff Linien und Ziphren. enthalt Anweisungen, wie man mitRechenpfennigen auf Linien rechnet, und auch, wie es schriftlich mit Ziffern geht. Erfangt an mit den Linien des Abakus, und erst nachdem er mit den vier Grundrechenartenauf den Linien fertig ist, geht er zum Rechnen mit geschriebenen Zahlen uber — nichtohne Grund. In seiner ausfuhrlicheren ‘Rechnung nach der lenge auff den Linihen vndFeder ’ von sagt er warum:

Freundlicher lieber Leser, Ich habe befunden in under weisung der Jugent dasalle weg die, so auf den Linien anheben, des Rechnens fertiger und lauftigerwerden, denn so sie mit den Ziffern die Federn genant anfahen; In den Linienwerden sie fertig des zelen, und alle exempla der kauffhendel und hausrechnungschopfen sie einen besseren grund. Mugen als denn mit geringer muhe auffden Ziffern jre Rechnung vollbringen. Hierumb hab ich bey mir beschlossen,die Rechnung auf den linien zum ersten zu setzen. Wil dieselbe nach der lengerkleren. Hiemit ein jeder andere Rechnung, so in diesem buch nachuolgentkomen, nicht oberdrussig werd zu lernen. Sondern die mit lust und frolickeitbegreifen muge.

Seit langem ist das Rechnen in der Grundschule nur in der Kombination mit Papierund Bleistift denkbar, heißt es doch unmißverstandlich in den Richtlinien: �Spezifisch fur

27The exact sciences in antiquity, Princeton University Press, 1952.28Mehr zur Basis 60 findet man bei Donald E. Knuth, The Art of Computer Programming, Vol. 2,

third edition, Addison–Wesley, 1998, p. 196.29Zu diesem Thema heißt es im Rund Erlass des Kultusministers und des Ministeriums fur Wissen-

schaft und Forschung des Landes Nordrhein–Westfalen kategorisch: ”Mathematische Fertigkeiten sind aufgedachtnismassig verfugbares Wissen (Rechnen z. B. auf Basissatze des ”1+1“ und ”1×1“) angewiesen.Auch Problemlosen macht abrufbares Wissen notig. Deshalb mussen die Kinder einen Grundbestand anstandig verfugbaren Kenntnissen uber Zahlen. Formen und Großen erwerben.“ Der systematisch orga-nisierte Erwerb des � gedachtnismassig verfugbaren, abrufbaren Wissens� beginnt gleich in den erstenTagen des ersten Schuljahrs, wenn Arbeitsblatter in den Klassen verteilt werden. Diese Arbeitsblattersind nichts anderes als F o r m u l a r e, die von den Kindern ausgefullt werden mussen — mit der unaus-gesprochenen Verabredung: Je schneller, desto besser !

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mathematisches Arbeiten ist der Gebrauch besonderer Symbole und Symbolketten. In derGrundschule beschrankt sich die Symbolik im wesentlichen auf Ziffern und Ziffernkettenals Zahlzeichen, auf die Rechenzeichen + , − , · , : , auf die Relationszeichen > , = , < undauf Variable, die als geometrische Figuren �,4, ©, . . . oder als Buchstaben a, b, x, . . . no-tiert werden. Von Klasse 1 an sollen die Kinder an den Gebrauch von Variablen gewohnt30

werden, ohne daß thematisiert wird, was eine Variable ist.[. . . ] So fruh wie moglich mußdas Rechnen unter den folgenden Aspekten weiter ausgebaut werden: das Zeichen = nichtnur als

”ergibt“, sondern auch zunehmend als Zeichen fur gleichen Wert auf beiden Seiten

deuten; [. . . ]�31. Heutzutage w e i ß deshalb jeder — sei es aus eigener Erfahrung, seies durch die eigenen Kinder —, daß Grundschulkinder mit dem Beginn der Beschulungan diese spezifische Form des m a t h e m a t i s c h e n A r b e i t e n s �gewohnt� wer-den mussen32. Auch diese Lektion aus der Geschichte des Rechnens ist also nicht in derSchulmathematik angekommen — Unfortunately33, sagt Hans Freudenthal.

Wenn mein Essay den Anstoß geben konnte, auch dem Teil der Mathematik wiederWertschatzung entgegen zu bringen, der dem Grundschulrechnen zugrunde liegt — undwenn dadurch die Schulmathematik dem sapere aude der Aufklarung geoffnet wurde34 undgleichermaßen auch fur Georg Cantors Credo: �Das Wesen der Mathematik liegt geradein ihrer Freiheit !� — dann konnten zukunftige Schulkinder davon profitieren35.

30Man vergleiche diese Form des �Gewohnens� mit der Leonhard Eulers aus dem Vorbericht derRechenkunst: �Durch diese Einrichtung verhofft man also diesen Vortheil zu erlangen, dass die Jugendausser der gehorigen Fertigkeit im Rechnen den wahren Grund von einer jeglichen Operation immer vorAugen habe, und dadurch zu grundlichem Nachdenken nach und nach angewohnet werde.�

31Non ex notationibus sed ex notionibus, Carl Friedrich Gauss. Elementa doctrinæ Residuorum.32Weil dieses W i s s e n uber das m a t h e m a t i s c h e Arbeiten schon zum Beginn der Schulzeit

durch G e w o h n u n g erworben wird, kann es spater von kaum jemand noch bewußt in Frage gestelltwerden — am allerwenigsten von denen, die als als Grundschullehrerinnen und –lehrer Kinder im Rechnenunterrichten. Wahrend ihres Studiums hatten sie namlich die Gelegenheit, ihr W i s s e n uber die Ma-thematik und das Rechnen ein zweites Mal zu erwerben — diesmal auf der Basis von wissenschaftlichenErkenntnissen aus der Lernpsychologie, der Padagogik, der Mathematikdidaktik und neuerdings auch ausden Kognitionswissenschaften und der Gehirnforschung. Vor diesem Hintergrund muß im Schulbereichheute niemand mehr der Unsicherheit ausgesetzt werden, die aus Immanuel Kants aufklarerischem�Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen� resultiert, und so ist es kein Wunder, daß esauch neun Jahre nach der Publikation von Liping Ma’s Buch im Jahr 1999 kaum bekannt ist, daß Kno-wing and Teaching Elementary Mathematics ein gluhendes Manifest fur das sapere aude der Aufklarungist.

33Hans Freudenthal, Didactical Phenomenology of Mathematical Structures, p. 92.34Nichts setzt dem Fortgang der Wissenschaft mehr Hindernis entgegegen als wenn man zu wissen

glaubt, was man noch nicht weiß, Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799).35Durch Richtlinien und Lehrplane wird festgelegt, was Kinder und Jugendliche im Rechenuntericht zu

lernen haben, und so wird durch die Administration schon vorherbestimmt, welches Bild Heranwachsendevom Rechnen (und Hand in Hand damit naturlich auch von der Mathematik) beim ‘Mathematiklernen’in der Schule erwerben — ja erwerben sollen.

Fur einen von der Schulmathematik unabhangigen Zugang zum Rechnen habe ich die in meinem ESU 5Beitrag genannten Bucher — und auch andere — als Grundstock fur eine Digitale Bibliothek zum Rechnengescannt und auf meine Web–Page gestellt.

Bruno Bettelheim propagiert im Titel eines seiner Bucher: �Kinder brauchen Bucher — Lesen-lernen durch Faszination.� Meine Motto fur das Rechnenlernen und die damit verbundene elementareMathematik lautet: �Kinder brauchen Bucher — Rechnenlernen durch Faszination!�

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4 Schlußbemerkung

Das ist nicht alles, was eine tiefere Einsicht in die zum Rechnen gehorende Mathematikanzubieten hat — insbesondere denjenigen, die selbst Kinder in Mathematik unterrichtenwollen:In dem Kapitel uber Algebra in seinen Lectures on Physics, (Addison–Wesley, 1963,p. 22–1) fragt Richard P. Feynman,

”Was hat die Mathematik in einer Vorlesung

uber Physik zu suchen?“ und er antwortet:

Wir haben dafur verschiedene mogliche Rechtfertigungen: Erstens ist die Mathema-tik naturlich ein wichtiges Werkzeug; aber das liefert uns nur einen Vorwand, dieseFormel [eine der bemerkenswertesten, geradezu verbluffenden Formeln in der gesam-ten Mathematik] in zwei Minuten abzuhandeln. Andererseits entdecken wir in dertheoretischen Physik, daß alle unsere Gesetze in mathematischer Form ausgedrucktwerden konnen; und daß dies mit einer gewissen Einfachheit und Schonheit Handin Hand geht. Und so ist es letzten Endes fur das Verstehen der Natur notwendig,ein tieferes Verstandnis mathematischer Beziehungen zu haben. Aber der wirklicheGrund ist der, daß das Thema Freude bereiten kann, und obwohl wir Menschen dieNatur in unterschiedlicher Weise zerlegen, und unterschiedliche Kurse in unter-schiedlichen Fachbereichen dazu haben, sind solche Unterteilungen in Wirklichkeitunnaturlich, und wir sollten unsere intellektuelle Freuden dort entgegennehmen, wowir sie finden.

Fur die Vorkampfer von patterns and algebraic thinking folgt eine letzte Aufgabe zumr e i n e n R e c h n e n und zur Algebra:

Man gebe dem folgenden Muster von Ziffern, das Carl Friedrich Gauss vor mehr alszweihundert Jahren notiert hat36, einen S i n n !37

c© SUB Universitat Gottingen

Wahrlich, es ist nicht das Wissen, sondern das Lernen38,nicht das Besitzen, sondern das Erwerben,nicht das Da–Seyn, sondern das Hinkommen,das den grossten Genuss gewahrt.

Carl Friedrich Gaussin dem Brief vom 2. September 1808 an seinen Freund Wolfgang Bolyai.

36Eine Rechnung von Carl Friedrich Gauss, die ich in Christian Leiste, Die Arithmetik undAlgebra zum Gebrauch bey dem Unterrichte (Wolfenbuttel, 1790, Gauss Bibliothek in Gottingen), entdeckthabe.

37oder mit anderen Worten: Man knupfe ein geistiges Band zwischen den Bestandteilen des Musters!38Bitte vergiß alles, was Du auf der Schule gelernt hast; denn Du hast es nicht gelernt . Edmund

Landau, Grundlagen der Analysis (1929) — Vorwort fur den Lernenden.

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