910 stilradar stuttgart

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Designers Saturday_ Jürgen Altmann_ eins:33_ Reiz_ Steffen Kuder_ Bohemian Rhapsody_ (se)arch_ Kurt Weidemann_ sichtbar_ Massive Töne_ Unternehmen Form_ Graffiti_ Digitalprint_ Daniela Wolfer Schutzgebühr: 5 Euro Nr. 02 Eine Publikation von stilradar

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Lifestyle Magazine for Stuttgart. 2nd issue.

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Page 1: 910  stilradar stuttgart

Designers Saturday_

Jürgen Altmann_

eins:33_

Reiz_

Steffen Kuder_

Bohemian Rhapsody_

(se)arch_

Kurt Weidemann_

sichtbar_

Massive Töne_

Unternehmen Form_

Graffiti_

Digitalprint_

Daniela Wolfer

Schutzgebühr: 5 Euro

Nr. 02

Eine Publikation von stilradar

Page 2: 910  stilradar stuttgart

Wer wollte nicht schon immer mal echte Designer sehen? So richtig echte! Menschen die ausgereifte Produkte ersinnen, dasArgument „Design“ dem Verkäufer in den Mund legen, Häuser ohne Türklinken bauen, und Papier so bedrucken lassen, daß manWörter schön angeordnet findet – obwohl alle Schriften gleich aussehen! Fragen schwirren dazu im Kopf herum: Tragen Designerimmer noch schwarz? Haben Architekten immer dünne Lippen und fahren Porsche? Muss man als Grafiker DJs kennen und Taschenaus LKW-Planen tragen? Essen Webdesigner den ganzen Tag Pizza-Salami? Dürfen Fotografen ihre, beim Tahiti-Shooting ange-sammelten Lufthansa-Bonusmeilen bei Ebay versteigern? Und: Gibt es ein Frisurengesetz, daß nur Glatze oder Britpop-Haarschnitterlaubt?Wer sich schon immer ein Bild von Menschen machen wollte, die sich den ganzen Tag Gedanken über Formen und Farben machen,kann dies beim Designers Saturday in Stuttgart tun. Der Designers Saturday wurde 2001 erstmalig in Stuttgart veranstaltet. Andiesem „Tag der offenen Tür“ präsentieren Gestalter ihre Arbeiten aus allen Designdisziplinen in ihren eigenen Büros. Gegründetwurde der Designers Saturday in New York. Anfang der 80er Jahre nahmen europäische Städte, wie London, Paris, Wien oderStockholm die Idee auf. 1985 fand der erste deutsche Designers Saturday in Düsseldorf statt, 2001 der Designers Saturday inStuttgart. In diesem Jahr hat der Designers Saturday Stuttgart Gestalter aus New York eingeladen, die aufgrund der Ereignisse im letztenJahr, ihren Designers Saturday in New York nicht austragen. In Kooperation mit ihren Stuttgarter Kollegen präsentieren sie hiergemeinsam ihre Arbeiten. Neben den einzelnen Präsentationen wird der Designers Saturday durch Vorträge, Sonderaus-stellungen und dem Verleihen des internationalen Designpreis des Landes Baden-Württembergs abgerundet. Der Designers Satur-day in Stuttgart wurde von Jochim Fischer und Silvia Olp initiiert. Der erste Designers Saturday fand 1967 in New York statt.Welche Grundidee statt Pate für diese Veranstaltung?Die Grundidee kam von den drei führenden Designschulen New Yorks und war das Präsentieren von Projekten und Arbeiten inForm eines Tags der offenen Tür. Zusammen nutzten sie diese Idee als Plattform für sich und ihre Schüler. Im Laufe der Jahreerkannten dann auch Unternehmen aus einem breiten Designumfeld die Notwendigkeit, sich einem breiten Publikum zu zeigen.Aus einer ursprünglichen Idee mit drei Teilnehmern ist ein Verein mit mittlerweile über 300 festen Mitgliedern in New York ent-standen.Die Idee des Designers Saturday wurde später dann auch von London, Paris oder Wien aufgegriffen. Seit 2001 findet derDesigners Saturday auch in Stuttgart statt. Hat Stuttgart die gleiche Designvielfalt anzubieten, wie große Metropolen?Ich denke ja. Die Designdisziplinen sind in allen Städten ähnlich. Es gibt sicherlich den einen oder anderen unterschiedlichenSchwerpunkt, der eine Stadt schnell interessant macht, aber die Vielfalt die in Stuttgart besteht, läßt sich nicht von der Handweisen. Letztendlich ist Stuttgart, unter anderem durch die frühe Gründung des Design Centers, auch immer eine Hochburg desDesigns gewesen. Man braucht sich nur vor Augen halten, dass über 30% aller deutschen Designstudios eine 7 in der Post-leitzahl haben. Dementsprechend ist die Ansiedlung von Designbüros und die Ausbildungsmöglichkeiten im Stuttgarter Umfeldim Vergleich zu anderen Städten überproportional hoch.Mit Stuttgart verbindet man aber automatisch nicht gleich eine Designhochburg, auch wenn die Zahlen dafür sprechen.Man liebäugelt eher mit Städten wie Berlin, Hamburg oder Frankfurt. Kann man diese Designkompetenz kommunizieren?Der Ruf der anderen Städte begründet sich, wie schon angedeutet auf eine Konzentration einzelner Disziplinen. Berlin steht fürdie New Economy, Hamburg für Verlage und Media, Frankfurt für Werbeagenturen. Stuttgart hat eine gesunde Mischung allerDisziplinen zu bieten, wie die derzeitige Krisensituation auch wieder eindrucksvoll beweißt. Auch wenn man es nicht auf den erstenBlick wahrnimmt, die Wirkung von Firmen wie Daimler-Chrysler, Porsche, Festo oder Bosch ist für die Region immens. Diese Unter-nehmen gehören zu den designlastigsten in Deutschland. Auch wenn deren Schwerpunkt im Produkt- und Industriedesign liegen,sind die Impulse für andere Designdisziplinen bedeutsam. Die Aufgabe vom Designers Saturday ist aber primär ein einheitlichesDesignbild der Stadt zu kommunizieren. Sowohl Konzerndesign mit seinem peripheren Umfeld als auch eine gewachsene subkul-turelle Designszene. Auch wenn viele meinen, dass sich solch eine Szene nur in Berlin oder Hamburg befinden kann. Stuttgart hatnoch eine spannende Entwicklung vor sich, da die Abwanderungstendenzen in die Großstädte nachlassen wird. Wir hoffen unse-ren Beitrag dazu zu leisten.Das Thema des Designers Forum „Stadt als Marke - Vision oder Illusion“ spricht dieses Problem an. Der kritische Untertondes Themas läßt vermuten, dass Stuttgart in der Kommunikation seiner Designkompetenzen noch Nachholbedarf hat.Themenstellungen wie diese haben immer etwas mit Unzufriedenheit zu tun. Es gibt kaum eine Stadt, die als Marke funktioniert.Es wird ja auch aufgezeigt, wie Frankfurt damit kämpft. Vielleicht funktioniert New York mit dem Begriff „Big Apple“ oder ansatz-weise Berlin mit seinem visuellen Erscheinungsbild. Es ist mir wichtig, dieses Problem anzusprechen. Hier sehe ich, das etwa„Stuttgart 21“ ein anderes Erscheinungsbild hat wie „Stuttgart Marketing“ oder die „Stadt Stuttgart“. Unter Corporate DesignAspekten ist dies überaus diskussionswürdig! Der Anspruch des Autor Matthias Beyrow „Mut zum Profil – Corporate Design fürStädte“, einem Referenten des Designers Dialog sorgt für Impulse in dieser Diskussion.Wird diese Notwendigkeit überhaupt als Problem erkannt, Stuttgart als Marke aufzubauen?Vielleicht ist es gar kein Problem. Was ich auf jeden Fall vermeiden möchte, ist mit dem berühmten erhobenen Zeigefinger winkenund der Stadt sagen, was alles falsch gemacht wird. Es soll gezeigt werden, warum Marken wie „Bosch“ oder „Porsche“ bekann-ter sind als die Marke „Stuttgart“. Es soll aber auch gezeigt werden, wie eine „Documenta“ positiv auf Kassel wirkt. In dieserDiskussion beim Designers Saturday bieten wir eine Plattform mit dem Ziel, über dieses Problem nachhaltig nachzudenken.In Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten, ist der Designers Saturday als Privatinitiative ein schwieriges Unterfangen.Sollte die Stadt die Veranstaltung, stärker finanziell unterstützen, auch in Hinsicht der überregionalen Präsenz, die damiterreicht wird?Ich glaube die Stadt muß es nicht. Man wünscht es sich zwar, aber die Idee, daß etwas von Stuttgartern für Stuttgarter getan wirdhat mit der Stadt als übergeordnetete Institution nur bedingt zu tun. Wir fordern und fördern Eigeninitiative, die ja von denGestaltern auch so aufgegriffen wird. Ein Vorteil ist, wenn man nicht so auf Fördertöpfe angewiesen ist, daß man freier in seinenEntscheidungen ist und schneller auf Begebenheiten reagieren kann. Aber eine starke Unterstützung seitens der Wirtschaftsför-derung, das würde passen und gut tun.Sollte die Wirtschaft nicht verstärkt das Kultursponsoring der Stadt übernehmen?Sponsoring wäre für uns eine Erleichterung. Es würde eben auch für einen dauerhaften Betrieb sorgen. Vor allem, da das prä-sentierte Design der betreffenden Firmen ein Alleinstellungsmerkmal ist. Ich bedauere es, daß auch im zweiten JahrUnternehmen wie Porsche, Nimbus oder Festo nicht teilnehmen. Allein deren Teilnehmergebühr wäre eine echte Förderung desDesigners Saturday gewesen.Braucht der Designers Saturday eine längere Anlaufphase, um in den Köpfen verankert und ernster genommen zu wer-den?Ja, auch der Designers Saturday benötigt seine Zeit um sich in den Köpfen zu verankern. Selbst Dietmar Henneka sagte, daß manNew Yorker braucht, um auf Stuttgart und die Veranstaltung aufmerksam zu machen. Die Teilnahme von New York wird diesbeschleunigen, dennoch braucht es eine jährliche Kontinuität, um sich zu etablieren. Diesen Entwicklungsprozeß finde ich abernicht schlecht, da es uns Veranstaltern Raum läßt sich weiter zu entwickeln. Ein Problem ist nur, daß wir mit anderen Ver-anstaltungen verglichen werden, die es seit über Jahrzehnte gibt und bereits aus den Kinderschuhen rausgewachsen sind. Wirsind erst im zweiten Jahr und haben Fehler gemacht. Diese werden wir beheben und werden auch wieder neue Fehler machen.Wir wünschen uns, daß die Besucher und Teilnehmer uns Raum für diesen Entwicklungsprozeß lassen.Was war Deine persönliche Intention den Designers Saturday nach Stuttgart zu holen?Unerfahrenheit! (lacht) Nein, uns war es wichtig eine Plattform zu schaffen, wo Gestalter aus verschiedenen Disziplinen sich undihre Produkte vorstellen, um die Designkompetenz, die wir in Stuttgart haben, zu präsentieren. Die Lücke war da und wir versu-chen sie zu schließen. Wir haben den Zug auf die Schiene gesetzt und feuern jetzt kräftig die Lokomotive an. Wir haben denAnspruch, den Designers Saturday jedes Jahr besser zu machen, als den vorherigen. Wenn aber erkennbar wird, daß die Gefahrdroht, sich totzulaufen oder bloß noch ein Abklatsch seiner selbst wird, dann muß man ans Aufhören denken. Ich bin aber zuver-sichtlich, daß wir aufgrund der Vielfalt der Stadt keine Probleme haben werden, spannende Positionen in Stuttgart weiterhin zei-gen zu können.Dieses Jahr nehmen ausgewählte New Yorker Gestalter am Stuttgarter Designers Saturday teil. Besteht nicht die Gefahr,daß die heimische Designszene aufgrund der amerikanischen Qualitätsdichte an die Wand gespielt wird?Stuttgart hat ebenso Schwergewichte wie New York zu bieten. Produktdesigner von Daimler, Persönlichkeiten wie KurtWeidemann und andere. Nur leider machen diese nicht mit oder sind auf den ersten Blick nicht sichtbar. Es ist aber sehr span-nend wie sich die Kombination aus etablierten New Yorker Persönlichkeiten und der heimischen, jungen Szene entwickelt. Ich binzuversichtlich, das die Stuttgarter Szene den New Yorkern qualitativ und kreativ Paroli bieten kann. Aber es geht auch nicht umKonkurrenz, sondern um Kooperationen. Das Interesse der New Yorker an Stuttgart und dem Umfeld, der Infrastruktur und demNachwuchs verblüffte mich und verspricht ein gegenseitiges entspanntes Umgehen. Unsere Aufgabe ist es, daß für die Teilnehmerinteressante Kontakte, daraus Geschäfte entstehen und wir die Veranstaltung so positionieren, das deutschlandweites Interessean Stuttgart entsteht. Mit dieser Veranstaltung wollen wir dazu beitragen, was sich jeder für Stuttgart wünscht:Metropolencharakter und Lebensqualität.

Stuttgart-Süd. Lehenviertel. Rechts, die kitschige, von außen rosa deko-rierte Animierwohnung, links gegenüber die riesige Klinkerwand mitdem öffentlichen Schild: „Vorsicht Einsturzgefahr. Begehen auf eigeneGefahr.“ Als ob libidogesteuertes Verhalten durch statische Unausge-wogenheiten aufgehalten werden könnte. Sonst scheint alles normal.Hier im Hinterhof des neuentdeckten semi-hippen Lehenviertels ist dasFotostudio von Jürgen Altmann.19.00 Uhr, das Treppenhaus ist abgeschlossen, und Katrin Gruber diePraktikantin, kommt im Mantel herunter und schließt auf. Im Studio des4. Stocks telefoniert noch Jürgen Altmann mit einem finnischen Kunden.„Gruber!“, schreit Altmann gutgelaunt quer durch den Raum, nachdemer den Hörer aufgelegt hat: „Willst du schon gehen? Du musst noch diePräsentation vorbereiten.“ „Gruber“ trägts mit Fassung und stellt sich anden iMac.Auf die erste Frage, wie er zur Fotografie kam, folgt erstmal nichts,dann: „Für Rockstar mußte man zuviel Gitarre üben“. Nachdem sichseine Rockstar-Karriere nicht erfüllte, wurde Jürgen Altmann als Fashion-und Lifestylefotograf ernst genommen. Zahlreiche Kampagnen für inter-national bekannte Modehäuser und Editorials, wie z.B. dieZirkusaufnahmen für „Glamour“ mit dem Stylisten Michael Dye ausMailand, begründen seinen Ruf als Topfotograf. Stuttgart als Standortist aufgrund einer fehlenden Infrastruktur im moderedaktionellenBereich für einen Fotografen mit diesen Schwerpunkten zwar nicht deridealste, doch „ ob du deine Models und Stylisten von Mailand nachHamburg fliegen lässt oder nach Stuttgart, macht kaum einenUnterschied – genauso kann ein Fototeam von Stuttgart aus auch übe-rallhin kommen.“ So ist die Standortfrage nicht wesentlich. Weitaus ent-scheidender für die Qualität der Bilder ist sein künstlerischer Ansatz beider Herangehensweise. „Mein Stil definiert sich durch einen sehr klarenBildaufbau, der auf das Wesentliche fokussiert ist. Dennoch ist daswichtigste Moment meiner Bilder die Poesie.“ Dieser im erstenAugenblick erscheinende Widerspruch, die Kombination aus rationel-ler Komposition und der Verknüpfung emotionaler Elemente sind dieMerkmale einer oft skurril anmutenden Bildsprache. Jürgen Altmannhat seinen Stil gefunden, auch wenn er diesen nicht bewusst einsetzt,oder ihn stoisch weiterverfolgt. Dabei weiß er aber ganz genau was erwill. Vielmehr hat Jürgen Altmann ein neurotisches Verhältnis zur Sacheselber – den Shootings. Minutiös werden im Vorfeld Pläne erstellt undsämtliche Eventualitäten bedacht. Es wird abgewogen, wer, wann, wozu stehen hat, Beleuchtungsverhältnisse bei Außenshootings und dasStyling. Doch Jürgen Altmann wäre nicht Jürgen Altmann und seineBilder nicht die, die man kennt, wenn er sich aus diesem selbstaufer-legten Korsett nicht befreien würde. „Ein guter Plan ist die Voraus-setzung für entspanntes Herangehen an ein Shooting. Im Idealfall sinddann alle so entspannt, dass man den Plan nicht mehr braucht und auchein überraschendes Ergebnis entstehen kann.“ Dass manchmal diebesten Pläne nicht viel bringen, musste Jürgen Altmann bei einemShooting in Neuseeland feststellen. Das Team war wegen Snowboard-aufnahmen für ein Jeans-Label buchstäblich um die halbe Welt geflo-gen. Auf dem Tasman-Gletscher stellte sich dann heraus, dass eines derModels seine Snowboard-Kenntnisse überschätzt hatte. „Wir musstenunser Konzept in Richtung lustiges Purzeln in pittoresken

Der „Modulor“ ist ein Maßwerkzeug, das von der menschlichen Gestalt und der Mathematikausgeht. Ein Mensch mit erhobenem Arm liefert in den Hauptpunkten der Raumverdrängung -Fuß, Solarplexus, Kopf, Fingerspitze des erhobenen Arms - drei Intervalle, die eine Reihe vonGoldenen Schnitten ergeben, die man nach Fibonacci benennt. Die Mathematik andererseits bie-tet sowohl die einfachste wie die stärkste Variationsmöglichkeit eines Wertes: die Einheit, dasDoppel, die beiden Goldenen Schnitte.

1947 geht deshalb Le Cobusier umgekehrt von 6 engl. Fuss mit 1828,8 mm als Körpergröße aus.Durch die Goldene-Schnitt-Teilung bildet er eine rote Reihe nach oben und unten. Da die Stufendieser Reihe für den praktischen Gebrauch viel zu groß sind, bildet er noch eine blaue Reihe,ausgehend von 2,26 m (Fingerspitze der erhobenen Hand), die doppelte Werte der roten Reiheergibt. Die durch die mathematische Goldene-Schnitt-Teilung sich ergebenden Bruchzahlen wer-den rigoros aufgerundet, bis zu Differenzen von 7 mm auf volle Zentimeter nach oben oderunten, zu sogenannten Gebrauchswerten. Bei der Übersetzung dieser Grundwerte in dasZollsystem erfolgt dann eine weitere, von der ersten unabhängige Grundreihe... Basierend auf Le Corbusiers Entdeckungen, die noch heute Bestand haben und der Tatsache, daßLe Corbusier einer der ersten war, der konsequent im Maßstab 1:33 seine architektonischenEntwürfe erstellte, stand der französische Architekt neben anderen Pate für das 1998 vonHendrik Müller und Patrick Batek gegründete Stuttgarter Büro eins:33. Dieser Maßstab ist dereinzige, der in der Lage ist sowohl Architektur als auch Innenarchitektur gleichberechtigt abzu-bilden. Auch der eigenen Vita wegen, eignete sich dieser Name. An der Staatlichen Akademie derbildenden Künste studierten Hendrik Müller und Patrick Batek Architektur und Design und kamenaufgrund der räumlichen Nähe zur Weißenhof-Siedlung schnell in Kontakt zu Le CorbusiersArbeiten und der Bauhaus-Bewegung. Nach anfänglichen eigenen Projekten, arbeitete manschnell gemeinsam an Konzepten und gründete noch im Studium das Innenarchitekturbüroeins:33. Ende der 90er Jahre orientierte man sich noch stark am strengen Minimalismus mit sei-nen Materialien wie Stein, Holz oder Metall. Alle Farbnuancen entstehen durch den bewusstenEinsatz von Licht. Doch die Entwicklung ging zum Neuinterpretieren und zum Aufweichen derStrukturen. „Wir versuchen durch Materialien und Farben eine atmosphärische Dichte zu schaf-fen, die softer und harmonischer ist, als die der klassischen, minimalistischen Architekten,“erläutert Hendrik Müller. Der gefestigte Stil basiert aber nach wie vor auf der klarenFormensprache. „Wir haben uns dahingehend entwickelt, dass alle Projekte in einem Bezug zuei-nander stehen. Die formale Erscheinung von Möbeln, Leuchten und wie wir mit Räumen umgehenist gefestigt. Dies interpretieren wir aber nicht als Schwäche, sondern als bewusstes Handeln undals Stilfrage. Gerade am Anfang muß man einen eigenen Stil entwickeln, um sich klar zu definie-ren.“ Dennoch sind eins:33 an einem Punkt angelangt, wo über eine Neuinterpretation ihres Stilsnachgedacht wird, um sich weiterzuentwickeln. Dabei sind zum einen Einflüsse aus Kunst, Musik,Film und Grafik-Design als wichtigste Inspirationsquellen und zum anderen das intensive Auseinan-dersetzen mit dem Bauherren und seiner räumlichen Struktur die Basis für den Umgang mitArchitektur. Obwohl wir uns sehr stark mit Architektur beschäftigen, ist die Auseinandersetzungmit Arbeiten, die in Architekturzeitschriften veröffentlicht werden, eher nicht unsere Sache. Wirversuchen unsere eigenen Erfahrungen mit einfließen zu lassen.“ so Patrick Batek. Das junge Büro,daß mittlerweile eine Dependance in Berlin hat, interpretiert den Minimalismus im Kontext zurModerne und Postmoderne. Die Befreiung vom Ornament und der additiven Art der Gestaltungin der Architektur hatte bereits in der Moderne ihren Höhepunkt und wurde im Minimalismus wie-der aufgegriffen. Die Reduktion auf das Wesentliche, die Spürbarkeit von Räumen und der Stel-lenwert von Licht als gestalterisches Element, sind Verdienste der Moderne und später desMinimalismus. Die Art der Materialien und die sorgfältige Abwägung beim Einsatz sind immernoch Qualitäten, die das Büro schätzt und bei ihren Planungen mit einbezieht. Die Fortführung der zweidimensionalen Planung in die Dreidimensionalität ist ein wichtigesThema bei eins:33. Das Entstehen eines Raumkonzeptes, das auch die dritte Dimension erfasst,muss als Idee erkennbar sein. So muss eine Wand nicht zwangsläufig mit dem Boden verhaftetsein. Wenn es die Korrespondenz zu anderen Raumelementen bedingt und der Aspekt derLeichtigkeit gefordert ist, wird diese „Tektonik“-Frage entscheidend. Der Kern des BegriffsTektonik bezieht sich auf das Verhältnis zwischen der Fügbarkeit und der Anschaubarkeit derDinge und der Struktur unserer Wahrnehmung. Dieser Zusammenhang zwischen dem, wie etwasgebaut erscheint, und dem, was wir bei seinem Anblick empfinden, hat seine eigene Dialektik.Nicht alles, was sich technisch-konstruktiv bauen lässt und nützlich sein mag, empfinden wir alsangenehm oder gar schön. Der Ansatz des Versteckens von notwendigen, aber unangenehmempfundenen Dingen, wie z.B. technische Vorrichtungen wird bei eins:33 konsequent umge-setzt. Der Umgang mit Tektonik wurde beim Projekt „Sauter Beautypool“ so umgesetzt, daß eineLeichtigkeit der miteinander korrespondierenden Elemente suggeriert wird. Zusammen mitmori:projects entwarfen eins:33, ein Konzept, das durch den langen Korridor den atmosphärischenEinstieg in die Welt der Schönheit schafft. 320 Quadratmeter Zeitgeist – lavendelblaue Tresen,grüne Sideboards, ein zebranofurnierter Loungetisch und kubische Leuchtkörper. DieGrundsubstanz der Räumlichkeiten war so gut, dass versucht wurde, nichts zu verbauen, sondernzu erhalten. Alle bestehenden Elemente sind in weiß belassen worden, während dieVeränderungen farbig wurden. Die bestehenden Elemente wurden so restauriert, dass ein„Klassenunterschied“ zwischen neu und alt nicht zu erkennen ist. Nicht eine überfrachtete„Kulissenarchitektur“, sondern der sensible Umgang mit Ressourcen und die ästhetisch-intelligen-te Innenarchitektur machen „Sauter Beautypool“ zum raümlichen Erlebnis. Die Newcomer wurdennach dieser Realisierung schnell weitergereicht: Ob Restaurant „Gensfleisch“ im Bosch-Areal, woder Spagat zwischen englischem Bibliotheken-Charme und strenger Formensprache gelungenist, Frisierbar, La Coupe oder Werbeagentur Eberle Ästhetik hat einen Markt und seine Kenner.Der eigene Stil ist in allen gestalteten Objekten zu erkennen. Querverweisend auf andereProjekte, aber nicht kopierend. Trotzdem individuell und nicht manufakturiert – so könnte dasMotto der beiden lauten. Die Querverweise entstehen in erster Linie durch die eingesetzte Möblierung. Die stets inEigenentwicklung gestalteten Elemente, wirken als Objekte im Raum und geben ihre eigentlicheBedeutung nicht Preis. Möbelgestaltung ist für Hendrik Müller und Patrick Batek ein wichtigerPunkt, da sie im räumlichen Kontext zum Boden, Wänden und sonstigen Faktoren gleichbe-rechtigt stehen und eine weitere Gestaltungsebene sind. Es ist geplant, mit den bereits beste-henden Möbeln und Leuchten und einer Serie weiterer Produkte eine eigene Home-Collectionzu entwickeln, um der steigenden Nachfrage gerecht zu werden. Die Fortführung von eins:33wird vermutlich das langsame Aufgehen in einem Kreativ-Pool aus Grafik-Designern und Textil-Designern sein, so dass ein gesamtkonzeptioneller architektonischerAnsatz nicht nur auf die Innenarchitektur beschränkt ist.

Stil muss schon dabei sein. Aber dass Ihr euch gleich ums ganze Radarsystem kümmernmüsst.Stimmt doch gar nicht. Wir wollen lediglich die Koordinaten bestimmen.Ist dein Schwager nicht Mathematiker?Doch, wieso.Na, ob der das nicht besser könnte?Wie, ein Naturwissenschaftler soll sich mit der Stilfrage beschäftigen?Nein, natürlich nicht. Du weißt doch. Heutzutage hängt alles miteinander zusammen.Besonders im Design. Da stellen sich Naturwissenschaftler vielleicht gar nicht so blöd an.Ich weiß nicht – guck Dir Philipp Starck an. Der sagt zwar, dass Design für jeden ersch-winglich sein soll, dass man keine Wegwerfmöbel produzieren soll und trotzdem macht eralles allein. Macht Stühle in der Form seines Hinterteils. Aus Plastik. Wenn das nicht schonalles heißt. Er sagt ja, er wär ein Egomane. Also nichts mit Vernetzung.Na, dann denk mal an – sagen wir ...Jetzt sagst du bestimmt Walter Gropius!Nein, ich wollte eigentlich etwas über Le Corbusier erzählen.Bist du sicher, dass Du dich nicht doch auf dieses Gespräch vorbereitet hast? Ich dachte,wir machen einfach mal ein brainstorming über unser Magazin. Dann fänd ich’s nämlichlangweilig. Ist mir zu besserwisserisch.Nein wieso, dann also Gropius. Der war Leiter vom Bauhaus und der hat sich natürlichDirektorenmöbel für sein Büro entwerfen lassen. Mit Spieltisch. Ist doch klar, dass er abund zu eine Runde Skat dreschen wollte. Du musst im Design einfach auch an den Alltagdenken! Form follows function. Und dass Starck gut sitzen möchte und Gropius gut spie-len, das kann man ihnen nicht vorwerfen, das will die Hälfte der Menschheit sicher auch. Du meinst, ein Designer sollte zuerst einen Kompass rausholen?Ja, klar. Wie sonst willst du wissen, wie man beim Spielen gut sitzt. Ich meine natürlich,ob man beim Spielen seines Spiels den richtigen Sitzplatz hat. Formschön gestaltet.Aha. Und wie soll das gehen? Hier in Stuttgart – wo willst du hier den Kompass peilen las-sen? Etwa im suite 212 oder in der Weinstube Fröhlich?Dein Vorschlag ist gar nicht so schlecht. Weil, im suite 212 sitzt man ja auf Blöcken, in derWeinstube Fröhlich auf Bänken oder einfachen Stühlen. In der Schnittmenge bedeutetdas, dass alle Besucher dieser Orte auch bereit wären, auf runden Hockern Platz zu neh-men. Wenn du das multiplizierst mit der Anzahl an Clubs und Weinstuben in Stuttgart,dann wäre sogar auf Anhieb ein Großteil deines Koordinatensystems ausgefüllt. Hmm – muss ich mal drüber nachdenken. Zumindest wärs ein Anfang für unsere stilisti-sche Standortfrage. Vielleicht solltest du Radarfallen aufstellen!Also, jetzt übertreibst du! Wieso, wenn du empirisch genau herausbekommen willst, welchen Stil die Menschen hierbevorzugen, dann musst du schon Fallbeispiele rausziehen.Und soll ich dann Bußgeld verlangen, wenn einer statt `nem Hocker doch `nen PhilippStarck-Stuhl möchte?Nein, eine schriftliche Mahnung täts auch. Die sollen dann alle euer Magazin lesen. Dannwissen sie Bescheid über Stil und Radar.

Der Anruf von Franz Reutter auf dem Handy erzeugte ein Schmunzeln: „Wennihr nachher Kaffee wollt, bringt bitte eine Milch mit. Wasser ist da, Musik undwir auch“ . Aha, die international operierenden Brillendesigner aus Wernauoffenbaren sich einem genauso, wie man sich junge Designer vorstellt: Immer„nobel“ durchs Leben. Qualität ist alles - Qualität im Produkt ebenso wie in derLebensgestaltung. Es muss schön anzusehen sein und sich vor allem extrem gutanfühlen.

Im Büro werden wir von den zwei Geschäftführern Franz Reutter und JochenGutbrod erstmal auf ein Rennen mit den neu erworbenen ferngesteuerten Mini-Cars aus Fernost eingeladen. Die kleinsten ferngesteuerten Autos der Welt:Fundstücke der letzten Geschäftsreise nach Tokio. Die Rennbahn „made byREIZ“ aus Stücken eines Brillen-Präsentationssystems nimmt ungefähr dieHälfte ihrer Werkstatt ein. Während die selbstgebrachte Milch sich mit demKaffee vermischt - wird sich so also im Hause REIZ für das anstehende Meetingwarm gemacht. Wir meinen: Das kann was! ...und, was wir später blindunterschreiben würden, zuvor allerdings schon schwer ahnten: Die können was!Ihren internationalen Ruf als Brillengestalter verdankt das GespannGutbrod/Reutter der zukunftsorientierten Andersartigkeit. Das Machbaresowie Nichtmachbare wurde ausgelotet. Auf internationalen Messen wurdenexotische Brillenformen in einer neuen, unerwartet stylishen Undercover-Aktion, dem Verkauf aus einer Art Bauchladen, vertrieben.Nach der gesunden Phase des Experimentierens besann man sich 1996 auf eineam Markt bisher ebenso neuartige Formsprache - die Idee der formalenReduktion. Eine Brillenfassung betrachtend wird klar, dass dieser Gegenstandgenauso simpel wie genial funktioniert. Ein Mittelteil, zwei Bügel, die Fassung derGläser und der hohe Anspruch, diese Elemente harmonisch zu kombinieren.Wenige Bestandteile gepaart mit einem ausgefeilten Zusammenspiel vonMaterial, Form und Farbe.Ein weiteres wichtiges Merkmal ihrer Brillen ist der extrem ausgeprägteQualitätsanspruch an die Produktion. Ausschließlich der direkte Kontakt zu natio-nalen Herstellern sichert diese hohe Verarbeitungsqualität. Das eigenhändigeAussuchen der Acetatplatten und die Bestimmung der Platzierung auf der Platte,gewährleistet die optimale Nuancenverteilung der unterschiedlichenFarbschichten. Von der Idee bis zur Produktion ist alles „made in Germany“.Durch den hohen Fertigungsanspruch und dem Designbewusstsein gelang es REIZden Werkstoff Acetat neu zu interpretieren. Das hochwertige, gepresste, aufwen-dig veredelte Material wurde in der Brillenindustrie zu dem, was der einst ver-nachlässigte Basisstoff bei sachgemäßem Umgang eigentlich ist - ein exklusiverTräger für optische Gläser. „Nicht dass wir die Erfinder von Acetat wären, aber1996 war der Markt derartig verknöchert und festgefahren, dass wir, eine neueGeneration von Brillendesignern gar nicht anders konnten...“ meint FranzReutter. Er steht am Fenster, den Blick auf den energiegeladenen, rotenSturmhimmel gerichtet und raucht eine Parisienne. – Der Gedanke an denAnspruch der Qualität, der stets „noblen“ Lebensform keimt wieder auf... „UnserAnspruch ist das in den Köpfen immer noch gefestigte Bild der Brille als notwendi-ges Übel aufzuweichen. Brille ist das wohl charakterstärkste Accessoire, das alserstes an einem Menschen wahrgenommen wird. Und dementsprechend versuchenwir das bewußte Tragen von Brillen zu manifestieren“ erklärt uns Jochen Gutbrod.REIZ zeigt uns, dass die Auseinandersetzung mit brillenunabhängigen Formen undder Einfluss haptischer Reize aus unserem Alltag für die Produktfindung entschei-dend sind. Dass zuerst die innere Haltung kommt und dann die Form, weiß manspätestens seit Konfuzius. Dass man die innere Haltung leben muss, um „Reiz“-spezifische Formen entwickeln zu können, wissen wir spätestens seit REIZ.

Der gelernte Goldschmied und Schmuckdesigner arbeitet – anders als die Berufs-bezeichnung vermuten würde - hauptsächlich mit Platin, weissen und schwarzenDiamanten. Platin ist ein sehr seltenes Metall, das erst im 17. Jahrhundert vonGoldsuchern in Kolumbien entdeckt und aufgrund seiner silbernen Farbe, abfälligals „platma“ („Silberchen“) tituliert wurde. Erst hundert Jahre später wurde fest-gestellt, dass es sich um ein bis dato unbekanntes Element handelt. Platin kamerstmals 1850 von Louis Cartier zu Schmuckehren. Es besitzt individuelleEigenschaften, die kein anderes Schmuckmetall aufweist – Eigenschaften diees von Gold und Silber unterscheiden. Außerdem ist Platin fester, zäher undschwerer in der Verarbeitung. Deswegen hat das handwerkliche Können höch-sten Stellenwert in Steffen Kuders Philosophie. „Der Anspruch des Materials inseiner Formgebung ist enorm. Die perfekte Ausführung steht im Resultat zumObjekt.“ Die handwerkliche Perfektion ist zwar die Basis für die Auseinander-setzung mit dem Metall, sie soll aber nicht bestimmend für die Gestaltung sein.Kuders Entwürfe werden nicht in Formen gegossen, sondern durch stunden-langes Kaltschmieden gebändigt. Dadurch erhöht sich die Dichte des Materialsund der Schmuck, gewinnt an Härte und Wertigkeit. Wenn Steffen Kuder in sei-ner Werkstatt steht, entwickelt sich ein Zwiegespräch zwischen ihm und demMaterial. Ein Gerangel zwischen Widerspenstigkeit und Zähmung, einem stoi-schen Desinteresse des Leblosen und der Idee der Formgebung. Diese Ausein-andersetzung lohnt sich, denn Steffen Kuder bleibt meist Sieger. „Platin istzwar schwierig, aber faszinierend. Es hat nicht die geschichtliche, vonAlchimisten geprägte, mystische Eigenart von Gold, sondern durch seine mattenund seidenen Oberflächen strahlt es Strenge und Klarheit aus.“ Der Schmuckvon Steffen Kuder versöhnt die in Form geschmiedete, eigenwillige Königin derMetalle. Klare, reduzierte Formensprache unterstreichen die Besonderheiten.Das Korsett der Form verliert sich und schmeichelt dem Charakter. Gekröntwird die Schöne durch die Krone der schwarzen Diamanten. Steffen Kuders Stilist durch den Bauhauscharakter geprägt. Schlicht, aber nicht durch die Hysterie desMinimalismus beeinflusst. „Die maschinelle Optik mit futuristischen und scharf-kantigen, geradlinigen und unterkühlten Attributen ist nicht dass, was ich vonreduzierter Gestaltung verstehe. Die feminine Komponente muß im Detailerkennbar sein, darf sich jedoch nicht aufdrängen“. Diese Gratwanderung zwischen femininer Sinnlichkeit und dem Vermeiden arche-typischer Formen, spiegelt sich in seinen Ringen wider. Nicht die klassisch-rundenFormen, sondern ein von ihm aufgenommenes Detail der Fingeranatomie war ent-scheidend für die Kuderschen Ringe. Es war nicht sein Wunsch, auf Biegen undBrechen eine andere Ringform zu gestalten. Doch aufgrund der Unebenheiteneines Fingers bot es sich an, den Ring unten rund und zu den Aufbauten hinkonisch zu gestalten. Die Seitenflächen werden durch die angrenzenden Fingergestützt und verrutschen so nicht. Dass Kuder bei seinen exakten geometrischenSchmuckstücken nur wenig poliertes Material benutzt, unterstreicht seineAuffassung von reduzierter Gestaltung. Wie zum Beispiel der Platin Ring mit einemDiamant im Emerald-Cut. „Dramatisch“ eingesprengt in Profilen, die sich logischaus der Ringform entwickeln. Es heißt, dass Schmuck ein Ausdruck der Seele sei undetwas beim Träger bewirke. Steffen Kuder ist sich sicher, dass ein Wechselspielzwischen Träger und Getragenem stattfindet. „Nicht dass ich jetzt auf die esote-rische Schiene abdriften will, aber es ist beobachtbar, dass tendenziell labilereMenschen mit einem Schmuckstück sicherer werden. Dieser ursprünglicheTalisman-Charakter ist auch heute noch spürbar. Viele manufakturierte Stückegroßer Labels sind aber austauschbar und ich würde es ablehnen von einer Aurazu sprechen.“ Sicherlich ist industrieller Schmuck mit den Werken von SteffenKuder nicht vergleichbar. Aber wer will auch einen Kunstdruck von Ikea miteinem Original vergleichen. Und dass es Unterschiede

, die sich sicher ein gutes Menü und ihren ganz persönlichen Schmuck (von S.Kuder) gönnten

Fertighäuser sind für viele junge Familien oftmals die einzige Alternative,sich den vielzitierten Traum vom Eigenheim leisten zu können. Ein Hausvon der Stange ist zwar günstiger, aber das Risiko bleibt, dass die Seele desHauses, die Architektur, verschwindet.

Stephan und Stefanie Eberding von (se)arch beweisen, das Ästhetik inder Architektur nicht zwingendermaßen einen dicken Geldbeutel bedarf.Das junge Architekturbüro im Stuttgarter Heusteigviertel realisierte einWohnhaus in Riederich mit enggestecktem finanziellen Rahmen. DasWohnhaus am Fuße der schwäbischen Alb zeichnet sich durch seineoffene Struktur im Wohn- und Alltagsbereich aus, der sich über zweiEbenen verteilt und so den Übergang von Erdgeschoss in den oberen pri-vaten Bereich ermöglicht. Variable Schiebewände ermöglichen offene wieauch geschlossene räumliche Situationen für die Privatsphäre. DiesesKonzept der wandelbaren Räume und der klaren Ausrichtung nach derSonne charaktisiert dieses Haus. Der große Dachüberstand lässtSonneneinstrahlung im Winter ungehindert durch die großzügigenVerglasungen, während im Sommer dadurch einer Überhitzung vorge-beugt wird. Aufbauend auf Bauelementen der klassischen Moderne ent-stand eine Raumfolge, die mit höchster Präzision im Detail und einemfein abgestimmten Materialkonzept eine sehr spezifische Wohn-vorstellung von hohem ästhetischen Anspruch erfüllt. Dabei war derAspekt der Kostenminimierung entscheidendes Kriterium für dieRealisierung. Die Bebauung der Nutzfläche von 250 qm, wurde für unter250 Euro/m3 ermöglicht. Vor allem in der Stilfrage lassen sie sich nicht festlegen. Es erfüllt sie mitGenugtuung, dass die bereits realisierten Projekte keine offensichtlichenSelbstzitate sind, sondern dass jeder Bau auf die individuellenBedürfnisse der Bauherren zugeschnitten ist. Schnell könnte man argu-mentieren, dass dies ein Versuch ist, bauliche Beliebigkeit undUnentschlossenheit zu tarnen, doch die Liebe zum Detail undAusgereiftheit ihrer Entwürfe, jenseits von Trauter-Heim-Idylle undBauträgerhäusern, verhindert diese gedankliche Fortführung.

Ist aber dennoch eine Philosophie oder ein Eberding-Stil auszumachen?Am ehesten die subtile Vermittlung von Formensprache beim genauerenBetrachten von Details und dem Versuch der Zusammenführung von indi-viduellen Bedürfnissen, Grundstücksstruktur, städtebaulichenMöglichkeiten und der persönlichen Note. „Es wird mit jeder Handlungeine formale Aussage getan, doch sollte nicht derSelbstverwirklichungswille im Vordergrund stehen, sondern lediglich einBestandteil einer Schnittmenge dieser vier Faktoren sein“, so StefanieEberding. Die Denkweise der beiden Architekten versinnbildlicht StephanEberding : „Alte Bauernhäuser sind aufgrund ihrer gewachsenen StrukturVorbilder, da die verschiedenen Funktionen und Abläufe ideal aufeinanderabgestimmt sind. Diese Häuser sind ästhetisch, da das Haus die Formgefunden hat. Ich will jetzt aber nicht Bauernhäuser kopieren, sonderndiese Findung aus einem gewachsenen Umfeld aufnehmen.“ Diese subtile Herangehensweise erfordert eine starkeAuseinandersetzung mit dem Bauherren und der Diskussion zum Teil kon-trärer Vorschläge. Dieser zeitintensive Ansatz wird auch von ihrenBauherren abverlangt, um dem Grundsatz gerecht zu werden, ein Hausnoch in 50 Jahren sehen zu können. Die Reduktion aufs Wesentliche inKombination mit Qualitäten, die erst auf den zweiten Blick erkennbarwerden, prägen zwar die Bauten der beiden Architekten, doch sind siesich bewusst, daß nicht die reine Schlichtheit und Reduktion derEntwürfe, der Grund für ihre Qualität ist, sondern die Kombination ausArchitektur und Innenarchitektur, welche Räume schaffen, die Bestandhaben. Das Ziel ist immer eine Einfachheit zu erreichen, die eine Tiefe hat,ohne austauschbar und reizarm zu wirken. Bedingt durch unterschiedli-che Einflüsse, würde ein Projekt schnell überfrachtet wirken. Den Mutauch einen Schritt zurückzugehen und das völlige Verwerfen von Ideengehört zum Arbeitsprozeß. Einen Schritt vorwärts und zwei zurück – undbeim nächsten Ansatz drei Schritte vorwärts und nur einen zurück. DieSumme muß aber stets positiv sein, sprich: es müssen Schritte vorwärtsgegangen werden. Die intensive Auseinandersetzung mit der Mensch-Architektur Beziehung ist geprägt durch die Betrachtungsweise desamerikanischen Architekten Richard Neutra. Stephan Eberding lebte ineinem Haus des wegweisenden Architekten und setzte sich intensiv mit sei-ner Gedankenwelt auseinander. „Anfangs war mir diese Architekturbefremdlich, doch es verhält sich wie mit klassischer Musik. Erst nachgenauer Einarbeitung offenbaren sich die Nuancen und die Qualitäteneines Werkes. Nicht die erste Schönheit, sondern die zweite Betrachtungist entscheidend“.

Ihr neuestes fertiggestelltes Projekt, ist ein Ensemble aus Eingangs- undWohntrakt, sowie Wohn- und Kochbereich, die sich ebenerdig um einenGartenhof gruppieren. Dieses Haus in Fischbachtal, das sich an einenBachlauf schmiegt, nimmt nicht die kompakte und blockige Bauweise desHauses in Riederich auf, sondern wirkt eigenständig und nicht vergleichbarmit diesem Entwurf. Aber nur auf den ersten Blick. Neben Reduziertheit fin-den sich auch hier innenarchitektonische Lösungen, die mit dem Gesamt-entwurf korrespondieren. Neben soviel Akribie gehört das Loslassen unddas Entlassen in die Selbständigkeit dazu. Ansonsten würden sichStephan und Stefanie Eberding bei privaten Wohnprojekten schnell inGefahr begeben, Bilder für die Wände, sowie die Möbel auszusuchen undsich in einem Geflecht aus benutzertypischen Vorlieben und gesamtkon-zeptionellem Ansatz verlieren. „Man gibt die Hülle und diese muss durchden Besitzer belebt werden.

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Inhalt

06 _DESIGNERS SATURDAY

Das Wochenende der Formen und Farben

12 _JÜRGEN ALTMANN

Der neurotische Poet

18 _EINS:33

Minimalistischer Maßstab

24 _910 STILRADAR

1 spricht mit 2 über das Magazin 910 stilradar

26 _REIZ

Der noble Blick

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Das Unangenehme am Neuen ist, daß es neu ist. Das Neue macht zunächst äng-stlich, macht unsicher. Das Neue verlangt womöglich, Gewohntes abzulegen,Gekonntes zu vergessen, verlangt neues Denken. Lieber richten wir uns mit unseren Notständen, mit unseren Not-Zuständenein, als daß wir sie wenden. Wir kennen die Redewendungen: „So ist das nunmal“, „Da läßt sich nichts ändern“, „Damit müssen wir leben“, Das warschon immer so“. Das ist eine resignative Haltung. In kreativen Berufenmacht das mutlos. Auf die Dauer ist das tödlich.Das amerikanische Prinzip des Handelns über trial and error (Versuch undIrrtum) an das Neue zu gelangen, greift bei uns nicht. Fehler darf man nichtmachen, Irrtümer nicht korrigieren. Dabei bewegt sich der Fortschritt aller-dings auf schmaler Bahn. Die ständigen Rufe nach Kreativität undInnovation verhallen vor der Wand der Bedenkenträger. Die Folge:Unsicherheit und Unentschlossenheit bremsen bis zum Stillstand.In den gestaltenden Berufen gehen Informationen, verbale und nonverbale –nicht wie in den meisten anderen Berufen – vom Mund zum Ohr, sondern häu-figer vom Auge ins Herz, in die Seele. Oder in den Bauch. Der Verstand wirdoft erst hinterher als Kontrollorgan eingesetzt. Deshalb sind Anblick,Anschauung und Voraussicht die Kriterien des Qualitätsbewußtseins undUrteilsvermögens. Prozesse des langsamen und gründlichen Denkens habengelegentlich zur Weisheit geführt. Aber selten zu Veränderungen. DasSprichwort „Dieweil die Weisen grübeln, stürmen die Dummen die Festung“hat seine Gültigkeit bewahrt. In Zeiten rascher Veränderungen und großerUnausgeglichenheiten haben wir Weisheit durch Cleverneß ersetzt und weg-gekürzt. Der Gerissene und Listige nimmt fix seinen Vorteil wahr. DerSchnäppchenjäger braucht keine Schonzeiten zu beachten, das macht ihn soraffig. Und oft hat er dafür einen voll funktionierenden Antrieb: Den Neid,die Chance, was andere geschafft – oder besser angeschafft – haben, selbstauch zu erreichen.Wir bilden uns zwar ein, andauernd im Streß, gehetzt und überfordert zu sein,aber die Elbe hat uns – unter unserer freundlichen Begradigungshilfe – mitzwei Metern Fortschritt pro Sekunde beigebracht, was Tempo ist und was alsReaktionsgeschwindigkeit von uns verlangt wird. Wir bleiben aber immernoch gründlich und bürokratisch, weitschweifig und wortreich: Wir habenden scharfen Blick für das Unwesentliche. In den gestaltenden Berufen glaubt man, den Notwendigkeiten am bestenzu entkommen, wenn man dem Prinzip „Selbstverwirklichung“ folgt. Wennman sich dem Leistungsdruck, den gesellschaftlichen Zwängen, den familiä-ren Bindungen, notfalls auch der Moral, entzieht, aus dem Weg geht. Wennman sein Selbst, seine Interessen, seine Gefühle erforscht und erfüllt. Wennman jenseits von Gut und Böse, von dem, was erlaubt oder verboten ist,herumlaviert. Leider werden die Risiken und Nebenwirkungen diesesSelbstverwirklichungstriebes nicht bedacht. Selbstverwirklichung fördert denrückhaltlosen, rücksichtslosen Egoismus, die Maßlosigkeit, Launenhaftigkeitund Eitelkeit. Nicht jeder kann seine Talente entfalten, wenn keine Anlagendafür vorhanden sind. Die Nabelschau entfremdet, macht handlungsunfähig,selbstfixiert. Die Not ist nicht wendig genug, um diesen Risiken undNebenwirkungen Einhalt zu gebieten und ihre Entfaltung zu verhindern. Wirhaben Grund genug, etwas gelassener unser Schicksal zu handhaben. Dabeireicht ein Zufriedensein mit seinem Dasein und Hiersein bereits aus, umVertrauen und Selbstsicherheit zu gewinnen, um dem Notwendigen die Notzu wenden. Aber das scheint uns wohl zu selbstverständlich. Was uns von anderen Säugetieren unterscheidet, ist die Tatsache, daß wiruns unserer Gegenwart bewußt sind, über unsere Vergangenheit etwas wis-sen und unsere Zukunft zu erforschen versuchen. „Voraussagen zu treffen,ist schwierig“, meint Herr Chirac, „besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“Mit solchen Weisheiten kann man französischer Staats-Präsident werden. DasImage der Politiker, der Regierenden, hat weltweit erschreckende Defizite.Einen Gefallen tun sie uns ständig: Sie decken unseren Bedarf an Spott,Schadenfreude und Verachtung gut ab. Kreative und Innovative sind nicht handzahm und nicht vorauseilend abruf-bereit. Nur das Mittelmaß ist ständig in Hochform und die Dummen sind stän-dig geistesgegenwärtig. Begriffe wie Treu und Glauben, Sitte und Moral, Gottund Güte findet man allenfalls noch als Kreuzstichmuster auf den Sofakissender Urgroßeltern. Diese Tugenden kann man leicht abtun mit derBegründung, daß Konventionen es an sich haben, in die Erstarrung, in denStillstand zu führen. Kreativität, Innovationsfreude, Mut, sind überall gefor-dert in einer Zeit, in der die Angst die höchsten Wachstumsraten hat. Wiesollen auch Recht und Gleichheit noch gewahrt werden, wenn einHandwerker, der pleite geht, mit Haus und Hof, Weib und Kind haftet, wäh-rend ein Vorstand, der ein Unternehmen an die Wand fährt, noch die Kasseplündert und sich mit selbstgefüllten Geldkoffern auf seine Finka in Mallorcazurückzieht. Die selektive Wahrnehmung verengt sich auf die Rettung dereigenen Haut: Beim Handwerker genauso wie beim Manager. Nur, dieVerhältnisse erlauben dem einen nichts und dem anderen alles. Rechtsstaatund Gleichberechtigung sind dann nur noch Papiertiger. Das ist nicht nurunappetitlich, sondern zum Kotzen. Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten sind nicht dreierlei Sorte Mensch, die manentweder zuvorkommend oder beflissen oder hochnäsig behandelt. DerMensch – ist als wer oder was auch immer – zuerst ein Mensch. Wenn ich in einem Unternehmen, noch dazu eines, in dem das Mobbing involler Blüte steht, den Satz höre: „Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt“,dann entsichere ich meine Kalaschnikow. Der Mensch ist ein Mängelwesen.Ihm fehlt das Fell, um zu überwintern, die Laufkraft, um fliehen zu könnenund die Kampfkraft, um überleben zu können. Die Instinkte sind imNichtgebrauch entschlummert, verkümmert. Was ihn schützt und stützt undihm nützt: Es wird ihm alles angeboten und zugebracht. Er ist rundum ver-sorgt und so abhängig wie nie zuvor. Ein Berater ist nur so gut wie die Wahrheit, die er nicht gesagt bekommt,sondern die er selbst findet. Der frühere Utopist lebt heute in der virtual rea-lity: Was er sich früher vorstellen aber noch nicht herstellen und gebrauchenkonnte, kann er heute herstellen, aber er weiß nicht mehr, wofür er esgebrauchen soll. Mit dem Eintritt in das elek-tronische Millennium hat sichgewaltig viel mehr geändert als nur das Datum. Die Zerlegung der Welt undihrer Schöpfungsgeschichte in ihre Komponenten und Mikrodetails führt zuVeränderungen mit unabsehbaren Folgen. Je kleiner und schneller dieInstrumentarien werden, desto leistungsfähiger und umfassender werdensie. Wenn man heute unter einer Nadelspitze ein Gebirge von Daten unter-bringen kann, müssen wir uns darüber im Klaren sein, daß unser Wissenimmer weiter zurückbleibt, daß wir von immer mehr immer weniger wissen.Das jeweils neueste Wissen hält uns sein Verfalldatum bereits entgegen. Wer20 Jahre Falschgemachtes als Erfahrung verkauft, ist dann schlimmer, als nurein Störfaktor. Er gehört in die Leichtlohngruppen des Denkbetriebes. Die Wirtschaft läßt sich von der Politik nichts mehr sagen. UnsereGroßkonzerne haben Jahresumsätze, die den Haushalten mittlerer europäi-scher Staaten entsprechen. Sie sind Selbstversorger und Selbstentscheider.Der Haifischkapitalismus kennt in der Vernichtung von Geld undArbeitsplätzen kein Bedauern. Gewissensbisse kann es dort nicht geben, wokein Gewissen vorhanden ist. Treue und Vertrauen wechseln wie derWetterbericht. Wenn man jemandem in den Rücken fallen will, muß manzunächst erst einmal hinter ihm stehen. Unser Sprachgebrauch verrät unsere Unaufrichtigkeit. Ein paar unfallfreiüber die Bühne gebrachte Sätze, die nicht gerade mit Umsatz oder Gewinnzu tun haben, werden gleich als „Unternehmensphilosophie“ geadelt. Washat ein im Konkurrenzkampf stehendes Unternehmen mit Weisheitsliebe (=Philosophie) zu tun? Aber die „Unternehmensphilosophie“ gehört nun malzur „Unternehmenskultur“. Und Kultur ist alles: Angebotskultur,Präsentationskultur, Produktkultur, Informationskultur, selbst im Streitbewahrt man sich noch seine Kultur, die Streitkultur beim Hauen undStechen. Die Worte lügen, aber sie haben einen hohen Gebrauchswert undverlieren dabei ihre Unaufrichtigkeit. „Soziale Gerechtigkeit“ sagt Wolfgang Erbe, „ist erst dann erreicht, wennjeder das hat, was der andere nicht hat.“ Und wenn jeder nicht mehr ver-steht, was der andere sagt, darf man noch ergänzen. Beim Turmbau zu Babelbegann, was heute noch gilt. Der Herr sprach: „Siehe ein Volk sind sie undeine Sprache haben sie alle, und dies ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetztwird ihnen nichts mehr unmöglich sein.“ Dann fährt er aber fort zu sagen,was heute erst recht gilt: „Laßt uns herabfahren und dort ihre Sprache ver-wirren, daß sie einer des anderen Sprache nicht mehr verstehen.“ Das isteine Aufgabe und Herausforderung, der christlich zu begegnen wir unsbemühen, solange wir denken können. Das Wort „Glück“ ist in derSchöpfungsgeschichte nicht vorgesehen. Die babylonische Sprachverwirrungbesteht aber noch. Nicht selten sogar zwischen den Generationen gleicherZunge. John Adams (1735 – 1828) war der zweite Präsident der Vereinigten Staaten,Farmersohn, Philosoph, Rechtsanwalt, Schriftsteller und General in denUnabhängigkeitskriegen. Er schrieb 1780 in einem Brief an seine Frau: „Ichmuß Politik und Kriegsgeschichte studieren, damit meine Söhne die Freiheithaben, Mathematik und Philosophie zu studieren. Sie sollen Mathematik undPhilosophie, Geographie, Naturgeschichte und Schiffbau, Navigation,Handel und Landwirtschaft studieren, damit ihre Kinder das Recht haben,Malerei, Poesie, Musik, Architektur, Bildhauerei, Weberei undPorzellanmanufaktur studieren zu können.“ Auf der Stufe der drittenGeneration sind wir auch nach über zweihundert Jahren noch nicht ange-kommen. Die künstlerischen Berufe stehen nicht im Mittelpunkt dieser Welt,sondern führen ein existenzbedrohtes Randdasein auf dem Rand einerimmer schneller rotierenden Scheibe. Die Design-Berufe und Design-Interessierten würden mit unter fünf Prozent der Stimmen in keinemParlament Sitz und Stimme bekommen. Das Werken mit der Hand verkommt. Einige Hundert Vasenformen kann ich mirkurzfristig auf dem Computer herunterladen. Der an der Töpferscheibegeschulte Formensinn ist verlorengegangen. Ein Viertel der über 200Knochen, die unseren Körper aufrecht und in Bewegung halten, sind allein inden Händen untergebracht: genau sind es 54. Sie benötigen etwa ein Drittelunserer Gehirnmasse, um all das zu erschaffen, was von derSchöpfungsgeschichte aus ihrer Kreativabteilung in die Welt gesetzt wordenist. Um sogar noch Spaß an ihrem Gebrauch zu finden: Was einZauberkünstler, ein Bildhauer, Teppichknüpfer, ein Schönschreibkünstleroder ein Zahnarzt mit diesen 54 Knochen zustande bringt. DieseUnermüdlichkeit hält an bis zum Grab, solange Auge und Gehirn noch sehen,steuern und kontrollieren können, was zu vollbringen ist.Nun legen wir diese Fähigkeiten und Tätigkeiten immer mehr brach. DieHand rutscht mit zusammengewachsenen Fingern über der Maus hin undher, tastet Schalter, die in der Lage sind, Wasser, Erde, Feuer und Luft perTasten in unserer Dienste zu stellen. Oder diesen Erdball ins Universum zusprengen. Für die miniaturisierten elektronischen Gerätschaften sind dieHände zu klobig, die Stimme muß mehr und mehr als Kommandozentrale ihreManipulationen übernehmen. Das für die Funktionen der Hand befehligendeGehirndrittel wird nicht veröden, sondern Aufgaben übernehmen, von denenwir noch nichts wissen und für Befähigungen, die wir noch nicht kennen.Was uns aber nachdenklich machen sollte, ist die immer weiter voneinanderabweichende Geschwindigkeit, mit der einerseits wissenschaftlich-technolo-gische Entwicklungen vorangetrieben werden; und andererseits dieBeharrung des Menschen in seinen schöpfungsgeschichtlichen Anlagen undMöglichkeiten. Programme können die Initiative beleben, Zeit für ein Leben aus erster Handzu gewinnen. Nur meistens wird das nicht genutzt: Jede Erfindung kann ander Möglichkeit ihres Mißbrauchs in Frage gestellt werden. Ein Hammerkann nicht nur einen Nagel einschlagen, sondern auch einen Schädel.Millionen Computer können in Stunden lahmgelegt werden. Brauchenmoderne Technologien einen Sicherheitsstaat? Einige HundertmillionenInternetbenutzer bedienen sich der offensichtlichen Vorteile dieses Netzes,sonst würde ihre urknallartige Ausbreitung nicht das Vielfache unsererGeburtenrate betragen. Man kann aber auch lernen, Bomben zu bastelnoder Terrorgruppen zu vernetzen. Eine gegebene Freiheit hat aber immerauch ihren Mißbrauch im Gefolge.Die phantastischen elektronischen Geräte und Möglichkeiten sind weder gutnoch böse. Sie können nur das, wozu der Mensch sie gemacht hat, wozu ersie anstiftet und was er ihnen gebietet. Das allerdings kann gut und kannauch böse sein. Anonymität und absolute Freiheit rufen die Fischer imTrüben und andere Unlichtgestalten auf den Plan. „Was einst wir aus derEthik nahmen“, sagt ein moderner Sinnspruch, „macht heut‘ die Kypernetik.– Amen.“Eine neue Denk- und Annäherungsweise an unsere Arbeit bedarf nicht nureiner höheren Intelligenz, sondern auch der Ausbildung einer Haltung, einesSinn- und Wertebewußtseins gegenüber unserem Tun und Wollen. Unsere Ge-sellschaft bietet diesen Notwendigkeiten gegenüber keine überzeugendenAnsätze. Auch wenn wir Dienstleister sind, brauchen wir den Mut für dasMachbare und Sinn für das Denkbare, brauchen wir Überzeugungskraft undÜberzeugungstäterschaft, brauchen wir Kreativität, keine gelegentliche,vagabundierende sondern eine abrufbereite, verfügbare, sinnstiftende. Undkeine Resignation. In einer Gesellschaft, die von allem nur den Preis und von nichts den Wertkennt, in der die Wertschöpfungskette nur aus Umsatz und Gewinn ihrenWert bezieht, in der ein Kollege nur als Konkurrent angesehen wird, in dieserGesellschaft bleiben viele schwach und ängstlich, schlimmerenfalls feige undverlogen. Kaum sagt noch jemand etwas auf die Gefahr hin, daß es so ver-standen wird, wie es gemeint ist. Die Designberufe sind nicht dazu angetan und auch nicht so besetzt, daß sieeinen „Ruck durch die Republik“ auslösen können. Wenn es gilt, Not und Nötezu wenden, geht es nicht um die beliebten Prognosen, mit denen man pro-blemlos Schrecken verbreiten kann. Klimakatastrophe, Waldsterben, Ozonloch,Eiszeit oder Abschmelzen der Polkappen, das scheint unabwendbar. Alkohol,Zigaretten und Benzinpreise füllen die Staatskasse. Das macht manchen über-fressenen und bewegungsfaulen Bürger übellaunig.Zu keiner Zeit seiner Geschichte waren ein gewisser Wohlstand und einegarantierte Meinungsfreiheit den Deutschen so beschert wie jetzt und heute.Nie war es leichter, Freiheit durch Mut zu korrigieren.

Wenn das Gerberviertel in Stuttgart Brooklyn wäre,hätte Wayne Wang sicherlich seinen Film „Blue in theFace“ nicht in Auggie Wrens Zigarrenladen „CigarCompany“ gedreht, sondern in dem kleinenBrillenladen an der Ecke. Gemeinsam mit demZigarrenladen aus dem Film hat die sichtbar dieUnverkrampftheit und den Charme eines Treffpunktes,in dem alle Protagonisten den gleichen Stellenwerthaben und alle zu Hauptdarstellern werden. In dersichtbar treffen sich Leute, die mit ihren BesitzernHans und Angela Schneider rund ums Thema Brillephilosophieren wollen und dabei oft diese eigentlicheIdee verwerfen. Das sich gesetzte Drehbuch wirdunweigerlich erweitert und der eigentliche Besuchwird durch kurzweilige Themen aufgelockert. Der Schauplatz sichtbar ist Mittelpunkt einesMikrokosmos, wo man sich trifft – aber der Gedankedes Gesehenwerdens nicht im Vordergrund steht undwo Qualität und Service entscheidend ist. Zwar ist dasGerberviertel nicht Brooklyn, die „Cigar Company“kein Optiker und Auggie Wren nicht Hans Schneider.Doch wie im Film laufen auch hier viele Fäden zusam-men und das Konzept ist unkonventionell. Brille wirdhier nicht als Konsumartikel verstanden. Auch nicht alsdas, was man landläufig als Brille betrachtet. DasZelebrieren von unterschiedlichenProduktphilosophien und individueller Beratung sinddie Hauptaugenmerke von der sichtbar. „Eine Brillemuß in Formgestaltung, Qualität und der Farbgebungästhetisch und intelligent gelöst sein“, so HansSchneider. Scharfkantige und unhaptische Stücke wer-den nicht in das Portfolio aufgenommen. Auch nichtgesamte Kollektionen bekannter Marken, sondern nureinzelne Exemplare und kleine Hersteller finden denWeg in den Laden. „Boutique“, „nobel“, und „exqui-sit“ sind vielleicht die falschen Wörter, da das affek-tierte Brimborium und die unterkühlte Atmosphäre,die man mit solchen Begriffen verbindet, fehlen. Es isteher vergleichbar mit einem Zigarrenladen und einemZigarettenautomaten. Das Ware-gegen-Geld Prinzipohne Eingehen auf die Person und persönlicheVorlieben sind nicht die Herangehensweisen von demkleinen Laden an der Ecke. Dabei wird aber keinSeelenstriptease verlangt. Vielmehr ist das unver-krampfte Gespräch, jenseits vom aufgesetzten, ein-studiertem Verkaufsgespräch die Basis für gutenSevice. „Mit einer Brille muß man sich wohlfühlen. Daeine Brille das als erstes wahrgenommenesAccessoire an einem Menschen ist, muss sie zu dereigenen Persönlichkeit unabhängig vonModeströmungen passen,“ erkärt Hans Schneider. EineBrille darf nicht verkleiden, sondern ist oft eineSpiegelung einer inneren Haltung, wie z.B. schwar-zumrandete Brillen mit eckigen Formen, die dasKlischee der Existentialisten bedienen. Es ist abernicht so, dass Hans Schneider jedem der sich von Gottverlassen fühlt und die Verantwortung für sein eige-nes Sein trägt, eine Sartre-Brille empfiehlt. Nichtganz so philosophisch ist der Umgang mit dem Gut„Brille“ und seinem zukünftigen Träger. Eher der Ein-klang von Typus, Qualität, und zufriedenerKundschaft. Dass dabei aber eine gewisse Philosophiezum Tragen kommt, ist erkennbar. Man könnte Sartrezitieren und Hans und Angela Schneiders Denken soausdrücken: „Das Tragen der Verantwortung für dasSein beinhaltet zugleich die Verantwortung für dasSein des Anderen“. Wie gesagt: Man könnte... wennman dadurch nicht gleich eine ganze Lawine weitererFragen aufwerfen würde. Um aber den Konjunktiv zuverlassen und sich nicht auf das Glatteis philosophi-scher Vergleiche zu begeben, sind die Tatsachen derpersönlichen Beratung, der Auswahl und des Wohl-fühlfaktors in der sichtbar viel entscheidender. Einsist aber sicher: Wenn Auggie Wren, der Tabak-warenbesitzer aus Brooklyn, eine Brille bräuchte,würde er mit Lou Reed zusammen in der sichtbar beieiner guten Zigarre über Sartre, Existentialismus unddem Bezug zu Brillen philosophieren.

Ein etwas persönlicherer Zug durch die Vergangenheit der erfolgreichen StuttgarterHipHop-Posse „Massive Töne“ Als wir uns zum Gespräch über die Massiven Töne verabredeten, ging es zunächsteine Weile ratlos hin und her, schließlich schlug Schowi das Locanda vor. „Damitsind meine Jungs auch down", meinte er. Jean Christoph – „Schowi" und Joao – „Ju" kommen allein, Alex – „DJ Fünfter Ton"muss renovieren! Das Locanda, ein kleines italienisches Lokal, ist für viele StuttgarterMCs und DJs eine Institution. „Damit sind meine Jungs auch down!" Dieser Satz gei-stert mir seither durch den Kopf. Ein Klassiker unter den HipHop Termini! Und den-noch fällt er nur noch selten. HipHop war in den USA eine Minderheitenmusik. So wares anfangs auch in Deutschland, „Es war das Ding der Ausländer“, erklärt Schowi,„denn HipHop ist universell, das kann jeder machen und man tat und tut etwas Ge-meinsames über kulturelle und geistige Unterschiede hinweg“. Seit Mitte der 90er ist deutscher HipHop sehr populär. Die große HipHop Welle istseither wie ein Tsunami über das Land geschwappt, hat vieles nach oben gespült undnun die große Krise hinterlassen – behaupten viele! Vor allem die Pop-Medien, tritt-brettfahrende Nutznießer und eine kränkelnde Musikindustrie.“Das stimmt einfachnicht", so Schowi, „es gibt keine Krise, nur der Hype ist vorbei!" Es ist etwas ruhi-ger geworden um den deutschen HipHop. Und dennoch kommen regelmäßig guteoder gar herausragende Produktionen auf den Markt. Meist von den üblichenVerdächtigen. Eben jenen, die schon sehr früh dabei waren und seit jeher Wert aufEigenständigkeit und Qualität legten.Früh dabei waren die Massiven Töne sowieso! Aber sie hatten anfangs schwer zukämpfen: Als Stuttgarter mussten sie gegen das Pop-Image ankämpfen, das derErfolg der Fanta 4 in den Köpfen der anderen deutschen MCs, DJs und Fans hervor-rief, da musste um jeden Funken Anerkennung doppelt gekämpft werden. Aber eswar Ju, Alex, Schowi und Wasi sehr ernst! Ihr erstes Album, „Kopfnicker", ist aner-kanntermaßen ein Meilenstein des deutschen HipHop und ist bis heute rund 40.000Mal verkauft worden. Ohne Major-Deal wohlgemerkt! Alles Homegrown! „1995, mit der ersten deutschen Welle, wollten uns alle großen deutschen Majorssignen – als Fanta-Klon! Da zogen wir nicht mit", erläutert Schowi den Alleingangund ergänzt ironisch: „In der Zeit haben wir jede Menge Restaurants in Stuttgartkennen gelernt!" Heute sind sie bei EastWest, mit denen der Kontakt von Anfangan offen, freundschaftlich und fair war.Für die meisten Plattenfirmen zählt damals wie heute der schnelle Erfolg. FürSchowi eine der Ursachen für die großen Probleme der deutschen Plattenindustrie:„Der deutsche Markt ist ein Single Markt. Alben werden zwar herausgebracht unddamit wird eigentlich auch das Geld verdient, aber die Industrie im Land geht liebereinen risikoarmen Weg – erst eine Single, wenn die erfolgreich war, schnell eine hin-terher schieben, dann das Album." Ju nickt: „Hier werden Künstler nicht in Ruhe auf-gebaut, um langfristig mit Ihnen erfolgreich zu sein." Für die beiden ist diesesProblem ein hausgemachtes. Singles und Sampler brächten die schnelle Mark, aberkeine längere Bindung. Hinzu kommen geändertes Freizeitverhalten und die Art undWeise der Präsentation: „Die Kids geben heute mehr Geld für Handies und PC-Spieleaus, weniger für Musik", erläutert Schowi.Kennengelernt haben sich die Jungs förmlich auf der Straße: Ju und Schowi sind imselben Stadtviertel aufgewachsen und gemeinsam zur Schule gegangen. Alex lerntensie über einen Sprayer kennen, der in ihr Viertel zog und der ihnen zunächst einmalvernünftiges Taggen, also Graffiti sprayen, beibrachte. Wasi kannten sie von denParties, die es seinerzeit in der Tanzschule Haag auf der Königstraße gab. Dort hin-gen die unterschiedlichen Stadtteil-Posses ab. „Da durfte niemand rein, der älter als18 war, man musste sogar einen Ausweis zeigen, wenn Zweifel aufkamen. Das hatzu der kuriosen Situation geführt, dass Leute ihre Ausweise gefälscht haben, umsich jünger zu machen," erläutert Schowi. Aufgelegt hat dort seinerzeit Thomilla,heute die eine Hälfte der Turntablerocker. Im Musicland – damals DJ Friction’s Home-base kam Wasi schließlich auf sie zu und man begann gemeinsam zu Texten undMusik im Studio von Adone, einem gemeinsamen Freund, zu machen. Den erstenAuftritt gab es schließlich bei der Abschlussfeier von Ju’s Schule. Über dieNamensfindung finden Ju und Schowi keine Einigkeit: „Dass war im Auto vor Wasi`sBude", Ju unterbricht ihn: „Nö, das war im Studio!“ So geht es eine Weile hin undher. Alex, der vielleicht für Aufklärung sorgen könnte, tapeziert lieber! Über Agressivelandeten sie letztendlich bei Massive Töne. Davor nannten sich Ju und Schowi jeweilsJC Joy und JC Jam. Die hatten sie von ihren Initialen abgeleitet: Jóao Caiola und JeanCristoph.Heute wird vornehmlich auf Autofahrten getextet. Sie hatten irgendwann keine Ruhemehr im Studio, dort hingen ständig zu viele Leute ab. Mittlerweile werden die Texteauf Cruises durch Europa geschrieben. Da werden Besuche abgestattet, Kontakte zurschweizerischen und französischen Szene gepflegt und auch mal das ein oder ande-re Kulturdenkmal begutachtet. Keine schlechte Methode, um einen Top-5-Hit mit „Cruisen" zu landen!

Zerschredderte DM-Scheine als Grillanzünder, Taschen aus Gummibooten, aber auch Stelton Kaffeekannen und IngoMaurer Leuchten finden sich kombiniert mit einer großen Auswahl an Tonträgern in einer unspektakulären Lage imGerberviertel wieder. Pünktlich zum Designers Saturday im Oktober feiert der Zusammenschluß von Pauls Musiqueund Unternehmen Form ihr einjähriges Bestehen. Das Konzept der Symbiose zwischen elektronischer Musik undWohnaccesoires nebst Moebeln ist in Stuttgart einzigartig. Die formale Trennung ist aufgehoben und es ist nicht klar,wo Form anfängt und Musik aufhört. Einzig an den zwei getrennten Kassen wird eine Differenzierung erkennbar. DenBetreibern des „Musique Form Kollektivs“, Alex Seifried für Unternehmen Form und Tobi Ettle für Pauls Musique wardiese Verschmelzung bewusst. Durch die Zusammenlegung der nach wie vor unabhängigen Labels zu einem gemein-samen Laden ist diese ganz eigene Atmosphäre entstanden. Sag aber niemals „chillig“ oder „Lounge“, bekrätigen dieBetreiber mit einem Schmunzeln. Der ursprüngliche Ansatz von Unternehmen Form war eine Plattform für Produkte zuschaffen, die sehr gut gestaltet sind, aber trotzdem bezahlbar bleiben. Diese Idee funktionierte aber nur bedingt, dader Anspruch des Klientels sehr hoch war. So wurde das Portfolio durch Newcomer mit niedrigen Stückzahlen ergänztund mit Designklassikern abgerundet. „Wichtig ist, dass wir relativ unbekannte Produkte aus etablierten Linien vor-stellen und junge Produktdesigner die ansonsten nicht in der Stadt zu finden sind.“ Nicht jung oder klassisch sind dieKriterien, um von ihm aufgenommen zu werden, sondern die Formgebung der Produkte und die Exquisität. Nachdemerste Anfragen zur räumlichen Gestaltung aufkamen, entwickelte Alex Seifried eine eigene Möbelkollektion. „DerWunsch eines Kunden war, sein Haus aus den 50er Jahren dem Stil entsprechend einzurichten. Da ich aber Schwierig-keiten hatte, solche Möbel zu finden, die diesen Geist widerspiegeln, ohne lediglich ein Replikat der Zeit zu sein undden heutigen Zeitgeist aufnehmen, war es die logische Konsequenz eine eigene Linie zu entwerfen.“ Die Kollektion„ U N T E R N E H M E N F O R M M O D U L S Y S T E M E “ bezieht ihre Proportionen, völlig untypisch für die50er jahre, aus dem Microsoft Programm Excel. Der Excel Freak erkannte eines Nachts, dass die kleinste Einheit desTabellenkalkulationsprogrammes, die Zelle, eine harmonische Proportion hat und sich für ein Sideboard ideal anbietenwürde. Trotz dieses Einflusses, zitiert Seifried die Formen- und Materialsprache der 50er Jahre. „Die Zeit war extremspannend. Es ging los mit organischen Formen und Kunststoff, aber war noch nicht so extrem wie in den 60er- und70er Jahren. Diese Umbruchphase basierte aber noch auf der Formensprache vergangener Tage, deswegen glaube ich,dass dieser Stil das Denken heute gut widerspiegelt. Doch meine Kollektion ist ein Produkt aus heutiger Zeit, wasVerarbeitungsqualität und Farbpalette angeht.“D e r P l a t t e n l a d e n a m k l e i n e n S c h l o s s p l a t z , in direkter Nähe zum namentlich ähnlich klin-gendem Gastronomiekonzept, war mitverantwortlich für die Belebung des von den Stadtvätern in Ungnade gefallenenPlatzes. P a u l s M u s i q u e i s t m e h r f a c h a l s e i n e r d e r b e s t e n P l a t t e n l ä d e nE u r o p a s a u s g e z e i c h n e t w o r d e n . So ist es nicht weiter verwunderlich, daß diese Lokalität gernbesucht wurde. In den Pre-Abriss-Zeiten wurde Pauls Musique noch von Tobi Ettle und Mischa Harrer betrieben.Mittlerweile wird Pauls Musique alleine von Tobi Ettle im Gerberviertel geleitet. „Unsere Standleitung zu PaulsBoutique war schon von Vorteil“ schwärmt Ettle, „die lümmelnde Robbenkolonie hörte den Sound und konnte ihngleich kaufen. Aber die jetzige Geschichte mit „Musique Form Kollektiv“ hat sehr viele Synergieffekte.“ Tobi Ettle akaBlackTrane aka Jaeger & Sampler ist auch Garant für die Qualität des Labels „Pauls Boutique Recordings“. Bis datosind 20 Tonträger veröffentlicht. Obwohl es ein Jahr keine Neuerscheinungen mehr gab, sind für die Zukunft weitereProduktionen geplant. Der DJ, Produzent und Artist kümmert sich um ein weiteres eigenes Label und ein Schwesterlabel.Die Deephouse Division von Pauls Musique „Philpot“„ und in Berlin das Label „No.9“ für Elektropop. Zurück zu denSynergieeffekten: Geplant sind im Musique Form Kollektiv die Entwicklung eines Hi-Fi Möbelsystems, jenseits vonherkömmlichen Boxen. Wie man sich so etwas vorstellen kann, ist zwar den Betreibern noch unklar, aber dieKombination aus Musik und Möbel soll stärker manifestiert werden. Zudem soll es eine stärkere Ausrichtung imGastronomiebereich geben, um die Wohnzimmeratmosphäre zu verstärken, sprich „Musique Form Kollektiv“ soll„chilliger“ und „loungiger“ werden. Auch wenn man dies nicht sagen darf.

Dabei sieht die Stadt illegale Graffiti als eines der größten zu bekämpfenden Probleme an, dielaut Monica Wüllner, Geschäftsführerin der CDU-Gemeinderatsfraktion, jährlich 120.000 Euroan Kosten verursachen. „Mit diesem Geld könnten, beispielsweise im sozialen Bereich, einigezusätzliche Stellen geschaffen werden, oder aber man könnte es angesichts der schlechtenWirtschaftslage einsparen“, so Wüllner. Immerhin sieht sie ein, dass „es vielen Jugendlichenein Bedürfnis ist, ihre Kreativität durch Graffiti-Kunst zu entfalten.“ Und darum unterstützedie Stadt auch die Bereitstellung öffentlicher Flächen. Was bei einer einzigen ernstzunehmen-den Fläche in Bad Cannstatt in den Ohren aktiver Sprüher wie blanker Hohn klingen muss. Eines wird jedoch bei der Diskussion um öffentliche Flächen häufig übersehen. Dass Graffiti inseiner ganzen Bandbreite nicht durch wenige legale Flächen kanalisiert werden kann, dennGraffiti ist nicht nur die Kunst des WAS, sondern auch die des WO und des WIE. BestimmteWände bedeuten bestimmte Öffentlichkeiten und letztendlich geht es dem „Writer“ auch da-rum, in welchem räumlichen Kontext sein „Piece“ zu sehen ist und welche Herausforderungener beim „Bomben“ auf sich genommen hat. Für viele ist das „Tag“ an einem öffentlichenGebäude gleichzeitig ein Faustschlag ins Gesicht des Staates, der nicht mehr in Graffiti sehenwill als eine bloße Gesetzesübertretung, als Schmiererei und Beschädigung von Privateigen-tum. Somit erscheint Graffiti – vor allem in Stuttgart – als Protest gegen den Unwillen, Protestüberhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Ein erstaunliches Beispiel hierfür ist die Stuttgarter C2G-Crew (Close2God). Überall in der Stadt sind die schwarz-weiß-silbernen Wide-Bombings zusehen. Über ihren künstlerischen Wert kann man sich streiten, über ihr Ziel, Aufmerksamkeit zuerregen und, wenn möglich, eine Botschaft in die Öffentlichkeit zu tragen, jedoch nicht, wieman zum Beispiel an dem mit „Widerstand“ versehenen C2G-Tag sehen kann. Am augen-scheinlichsten bei C2G scheint jedoch das Risiko zu sein, dass sie beim Sprühen eingehen.Einige Bombings sind an Stellen, an denen man es für unmöglich hält, dass nicht alle 10 Minuteneine Streife vorbeifährt. Doch Graffiti in Stuttgart bedeutet auch schweigende Ästhetik, diesich nicht durch ihre Größe definiert. Besonders neuartig sind die Werke von Sturm. Er ver-sucht das klassische schriftorientierte Graffiti durch einen Ansatz zu ergänzen, der zuweilenüber den zweidimensionalen Rahmen hinausgeht. Seine Bilder gehen eine angenehme Symbiosemit dem Untergrund ein, auf dem sie abgebildet sind. Es gibt noch viele weitere Crews undKünstler, die hier erwähnt werden müssen. Leider geht es auf Grund des Platzes natürlichnicht. Alle haben jedoch eines gemein. Die krasse Verfolgung durch die Stuttgarter Polizei.Und damit sei eine weitere sehr typische Stuttgarter Eigenschaft erwähnt, denn in kaumeiner anderen deutschen Großstadt ist das Polizeiaufgebot ähnlich hoch wie in der Baden-Württembergischen Landeshauptstadt. Die Verfolgung von Graffiti ist hier an einemHöhepunkt angekommen. Die hohe Polizeidichte lässt kaum Platz für Aktionen, was aus Sichtder Behörden, Senioren und Unternehmern positiv, aus Sicht der Jugendkultur jedoch nega-tiv ist. Denn Alternativen werden zwar angedacht, aber nicht geboten. Dieser Widerspruchzwischen „Kunst ja, Vandalismus nein“ und dem Mangel an legalen Plätzen spricht klareWorte: Graffiti als unkontrollierbare Kunstform soll klein gehalten werden. Stuttgart hatAngst vor Querdenkern, Künstlern und kritischen Köpfen, die es wagen, ihrem ProtestAusdruck zu verleihen. Egal, ob mit Dose oder Mikrofon. Graffiti in Stuttgart, das ist immerauch Schock-Therapie für lahmende Geister. Die Menschen in New York, Paris, Berlin oderRio sind daran gewöhnt. Dort gehören die bunten Zeichnungen und Kritzeleien bereits zumStadtbild. Sie prägen die kulturelle Perspektive auf die Stadt und verkörpern selbst be-stimmte Werte und Lebensstile. Denn schon immer war die Wand das Forum derjenigen, dienicht nach ihrer Meinung gefragt werden. Und darum wären mehr legale Wände in Stuttgart

Die visuelle Wahrnehmung ist ein wichtiges Mittel der heutigen Kommunikation. Bilder prägen unsere Sinne,wer die Bilder beherrscht, beherrscht auch die Erscheinung eines Produktes. Ob das Entfernen von kleinenMakeln im Teint eines Models oder komplette Bildmontagen digitale Retuschen sind seit der Verbreitung vonBilbearbeitungssoftware Standard am heimischen Computer. Doch der professionellen Retusche und Bildbe-arbeitung für die Werbebranche bedarf es mehr als das „Nach-Feierabend-Gepfriemele“ an Urlaubsfotos ausder Toskana. Stefan Kessler und Peter Käß von Digitalprint haben sich auf die professionelleBildbearbeitung mit angegliedertem Offsetdruck spezialisiert. 1993 realisierten die beiden, die schon jahre-lang Erfahrung an den ersten elektronischen Bildverarbeitungsanlagen (ChromaCom) hatten, daß dasAufkommen von DTP das grafische Gewerbe verändern wird. 1993 entschlossen sie sich, einen vollstufigengrafischen Betrieb aufzubauen und Satz, Repro und Druck zu vereinen. Heute ist dies bei größeren Drucker-eien eigentlich normal, vor fast 10 Jahren war es noch eher ungewöhnlich. Bei kleineren Firmen wieDigitalprint ist die Mischung aus Highend-Repro und Highend-Offsetdruck auch heute noch selten. Kundenaus der Automobilindustrie, Mode, Sport oder aus der Kosmetikindustrie lassen sich ihr Bildmaterial „run-derneuern“ und optimieren. Die Bildauswahl und das Image legen die Fotografen, die Werbeagenturen undder Kunde fest, doch die technischen Umsetzungen liegen in den Händen von Digitalprint. Das Ziel ist, in derRepro das Optimale rauszuholen, der Kunde bekommt dafür farbverbindliche Proofs vorgelegt. An-schließend können die Seiten auf der nagelneuen Heidelberg Speedmaster 52-4 mit CPC gedruckt werden,wobei das Druckergebnis dank Inhouse-Produktion dem Proof dann auch wirklich entspricht. „Wobei zusagen ist, dass jeder Drucker, der nach PMS-Standart druckt, auch problemlos an unser Proof herankom-men muss. Eine Druckmaschine kann sich jeder kaufen, doch nach wie vor ist das Können vonEntscheidung, um eine optimale Qualität im Druck zu erreichen“, so Stefan Kessler. Der Vorteil des kleinenUnternehmens ist das individuelle Betreuen von Kunden. „Wir gehören nicht zu den Firmen, die sagen, dassdie Daten noch so und soviele Fehler haben und zusätzlich Bearbeitungskosten anfallen. Es gehört zu unse-rem Service, Dokumente druckreif aufzubauen und wir versuchen bereits bei der Datenübernahme evtl. Pro-bleme mit dem Kunden abzuklären. Aufgrund unserer überschaubaren Größe ist uns nicht das Füttern derMaschine und die kompromisslose Auslastung am wichtigsten, sondern ein optimales Ergebnis“, so PeterKäß. Es kam schon oft vor, dass die Druckplatten erneut belichtet wurden und die Maschine stillstand,obwohl der Kunde die Proof freigab. Doch wenn das Ergebnis nicht gefällt oder doch noch eine belichteteHaarlinie zu finden ist, wird das Prozedere von Peter Käß wiederholt. Auch wenn sein Drucker Hartmut laut

Mit dieser Frage war Daniela Wolfer konfrontiert und sie ging in den brodelnden Stuttgarter Talkessel, wogefeiert, musiziert und am Puls der Zeit gelebt wird. Und da sie ein Ziel verfolgt und der pure Konsum desNachtlebens ihr zu einfach erschien, wurde aus der Kunststudentin die DJane Dirty Daniela, die sich mit Platten-auflegen und Partymachen nicht nur ihren Lebensunterhalt verdient, sondern auch eine neue Quelle der kün-stlerischen Inspiration erschließt.In der Hip-Hop- und Clubszene findet sie das Thema für ihre malerische Auseinandersetzung, die ihremAnspruch an Authentizität und Credibility gerecht wird und gleichzeitig ihre Vorstellungen von Kunst und Lebenerfüllt. Am Anfang stand, das Gesehene und Erlebte fotografisch festzuhalten. Es entstanden Fotos von Party-people beim Feiern, von Hip-Hop-Stars hinter der Bühne und immer wieder von DJ-Kollegen bei der Arbeit.Fotoserien von DJs zeigen vor allem die Hände bei der Arbeit am Plattenteller und Mischpult. Diese Fotos offen-baren den geschulten Blick für das Wesentliche, das für sie das Nichtfassbare ausmacht und werden Ausgangs-material für die weitere künstlerische Umsetzung. Dass es ihr nicht um das bloße malerische Abbild geht, wurdeklar, als die ersten Bilder im Verkaufsraum des Stuttgarter Skater- und Streetwear-Ladens „Firma Bonn“ buntverstreut zwischen dem Produktsortiment präsentiert wurden. Die Malerei auf Preßspanplatten zeigteStuttgarts DJ-Prominenz in ausgelassener Partypose hinter ihren Plattentellern, umgeben von mehr oder weni-ger furchterregenden Wesen aus SciFi- oder Horrorfilmen. Diese Verquickung von realen und fiktiven Momentenmacht sehr plakativ deutlich, daß es in diesen Bildern um die Darstellung von Stimmungen und Gefühlen geht, siesind aber keine emotionale Nabelschau junger Menschen, sondern zeigen ganz allgemeine Befindlichkeiten, diejeden beim nachmitternächtlichen Besuch einer „Monsterparty“ mit „Mörderstimmung“ beschleichen kann undjeder, der einmal so eine Nacht durchlebt hat, weiß, daß der Spaß, den man haben kann, nicht von dieser Weltist.Nach diesem ersten, eher spielerischen Ansatz, sich ihrem Thema zu nähern und einem längeren New-York-Aufenthalt, den Wolfer auch zum Fotografieren, Plattenauflegen und Kontakteknüpfen nutzte, entwickelt sie inzwei Serien auf Papier stringente Kompositionsschemata. Der eine Block bezieht sich inhaltlich auf die Gruppeder Clubbesucher, sprich dem Publikum ihres wöchentlichen Hip-Hop-Events im Inner Rhythm Club, die format-füllend in der sie umgebenden Location porträtiert werden. Diese farblich reduzierten Gouachen dokumentie-ren nicht nur das Styling von Partygängern und der Clubdekoration, sondern darüber hinaus den sozialenKontext, in dem sich Wolfer bewegt. In diesem Block tauchen dann auch erste Selbstporträts auf. Der andereBlock zeigt wiederum DJs, wobei hier eher grafisch abstrahiert die Porträts aus verschiedenen Blickwinkeln undPerspektiven ineinander verzahnt werden. Diese Blätter, in greller Farbigkeit und linearer Struktur gehalten, zei-gen sowohl die ausgeprägt konzentrierte Mimik des DJs, als auch – auf dem selben Blatt – dessen stark vergrö-ßerte und merkwürdig verzerrten Hände am Plattenspieler. Dazu kommen fokussierte Abbildungen von Ton-abnehmern und Reglern, die dem Porträtierten wie Cyborg-Extremitäten anhaften. So entstehen dynamischeKompositionen mit stark psychedelischer Wirkung. In beiden Blocks werden die Vitalität der sogenannten Ju-gendkultur thematisiert, präzise auf soziale Phänomenologien eingegangen und differenzierte visuelle Umsetz-ungen und Codes entwickelt. Diese wiederum läßt Wolfer ganz gezielt in ihr soziales Umfeld zurückfließen,indem sie dieses Bildmaterial als Flyer für ihre Hip-Hop-Veranstaltungen tausendfach reproduziert, in die Szenestreut oder für DJ-Kollege Thomilla die komplette Covergestaltung malerisch umsetzt. Dieser Umgang mit demeigenen künstlerischen Werk ist auch von anderen Künstlern bekannt, so hat zum Beispiel Raymond Pettibonfür die amerikanische Independent-Band „Blackflag“ Cover und Plakate gezeichnet. Durch das Verlassen destradierten Kunstkontextes erreichen Pettibon wie Wolfer eine gezielte Positionierung Ihrer Werke in einemKontext, der für die Rezeption der Arbeit von entscheidender Relevanz ist. Die Kunst nähert sich anderen Medienan, benutzt deren Strukturen und Mechanismen und führt so zu einem Crossover. Das heißt der selbst-referenzielle Umgang der Medien wird unterwandert und erweitert. Der subversive Ansatz in Wolfers Arbeitwird umso deutlicher, wenn man die Bilder näher betrachtet. Als Bildträger verwendet sie nicht etwa Papier oderLeinwand, sondern entscheidet sich für Aluminiumplatten. Diese halbglänzenden harten Oberflächen findet manoft als Gestaltungselement in Discos, vor allem Tanzflächen werden mit ihnen ausgelegt. Sie sind strapazierfähig,leicht zu reinigen und sehen sehr cool aus. Wie schon in den früheren Arbeiten sind DJs, Partygäste und sie selbstdie Protagonisten, man findet auch wieder Figuren aus Comics, der Sesamstraße oder B-Movies. Auffallend ist, dassalle Elemente in den einzelnen Bildern durch abstrakt-flächig angelegte Farbfelder verbunden scheinen, wobeidiese Flächen die Bildebene nicht komplett füllen, sondern Zonen bilden, Schwerpunkte setzen oder Klammernschaffen. Diese Flächen, die meist mit Sprühlack oder Effektfarben ausgeführt sind, schieben sich als Subkom-position zwischen die dargestellten Personen und Figuren und den Bildträger und verstärken so den scheinbarschwebenden Charakter der dargestellten Situation. Man fühlt sich an Benutzeroberflächen eines Computerserinnert, bei denen mehrere Ebenen des Systems hinter- und übereinander auf dem Bildschirm stehen. Die dar-gestellten Szenen operieren oft mit mehreren Fluchtpunkten und sequenzhaften Perspektiven, die den Effektder Dynamik noch verstärken. Raum und Zeit scheinen komplett aufgelöst; oben und unten, vorne und hin-ten, rechts und links, sprich: die zur Orientierung dienenden Parameter sind verschoben. Dies muß nichtzwangsläufig in großes Chaos führen, sondern birgt eine gewisse Freiheit und Großzügigkeit, die sich nicht zu-letzt im Duktus und Farbauftrag wiederspiegelt. Wolfer vermeidet jegliche Form von verkrampfter Pinsel-führung oder pingeliger Abklebetechnik. Diese Lässigkeit ist kein Ausdruck von Nachlässigkeit sondernbeschreibt vielmehr eine Haltung, die man mit dem Verhältnis von klassischem Eiskunstlauf und Rollerblade-Wettbewerben vergleichen könnte. Es geht bei beiden Sportarten um die Erfüllung von Pflicht und Kür. BeimEiskunstlauf findet man starre Normen und Regeln, um erbrachte Leistungen zu bewerten. Dementsprechendverkrampft wirken oft die Beiträge der Teilnehmer. Der psychische Druck entlädt sich oft in Tränen nach derDarbietung. Betrachtet man sich im Gegensatz dazu die Veranstaltungen der „X-Games“, werden auf Skate-boards und Inlineskates in der Halfpipe oder auf dem Freestyle-Parcours ganz entspannt Höchstleistungenvollbracht. Die olympischen Prinzipien „schneller, höher, weiter“ werden hier durch „hang loose“ und „havefun“ konterkariert. Es wird gezeigt, daß Leistung respektiert wird, aber sicherlich nicht alles ist. DiesesBewußtsein strahlen auch die Bilder von Daniela Wolfer aus. Sie entspringen einer Welt, in der MTV und Vivadie Funktion von Zentralorganen übernommen haben, in der Computer sowohl Werkzeug als auch Spielzeugsind, in der single gelebt, aber sozial gedacht und gefühlt wird. Wolfer collagiert in ihren Bildern Dinge undBegebenheiten, die für die Generation des 70er Jahrgangs wichtig und prägend sind. Sie kombiniert Trivialesmit großen Gesten und Gefühlen, setzt ausgewogene Flächen in Bezug zu exaltierten Bewegungen. In denFarben, die eigentlich der Mode vorbehalten sind, zeigt sie uns die tiefere Bedeutung des Werbeslogans „Just be“.

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32 _STEFFEN KUDER

Im Disput mit der Königin

38 _BOHEMIAN RHAPSODY

Bohemian Rhapsody

46 _(SE)ARCH

Suche nach Architektur

52 _KURT WEIDEMANN

Weshalb läßt sich unsere Not so schlecht wenden?

56 _SICHTBAR

Brillen, Tabakwaren und Sartre

60 _MASSIVE TÖNE

Cruisen

66 _UNTERNEHMEN FORM

Excel Tabellen und Robbenkolonien

68 _GRAFFITI

Tags, Bombs, Styles und die Stadt

74 _DIGITALPRINT

Bildertuning für die Perfektion

76 _DANIELA WOLFER

Daniela Wolfer

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DAS WOCHENENDE DER FORMEN UND FARBEN

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06 07

Wer wollte nicht schon immer mal echte Designersehen? So richtig echte! Menschen die ausge-reifte Produkte ersinnen, das Argument „Design“dem Verkäufer in den Mund legen, Häuser ohneTürklinken bauen, und Papier so bedrucken las-sen, dass man Wörter schön angeordnet findet– obwohl alle Schriften gleich aussehen! Fragenschwirren dazu im Kopf herum: Tragen Designerimmer noch schwarz? Haben Architekten immerdünne Lippen und fahren Porsche? Muss man alsGrafiker DJs kennen und Taschen aus LKW-Planentragen? Essen Webdesigner den ganzen Tag Piz-za-Salami? Dürfen Fotografen ihre beim Tahiti-Shooting angesammelten Lufthansa-Bonus-meilen bei Ebay versteigern? Und: Gibt es ein Fri-surengesetz, das nur Glatze oder Britpop-Haar-schnitt erlaubt?Wer sich schon immer ein Bild von Menschenmachen wollte, die sich den ganzen Tag Gedan-ken über Formen und Farben machen, kann diesbeim Designers Saturday in Stuttgart tun. DerDesigners Saturday wurde 2001 erstmalig in

Stuttgart veranstaltet. An diesem „Tag der offe-nen Tür“ präsentieren Gestalter ihre Arbeiten ausallen Designdisziplinen in ihren eigenen Büros.Gegründet wurde der Designers Saturday inNew York. Anfang der 80er Jahre nahmen euro-päische Städte, wie London, Paris, Wien oderStockholm die Idee auf. 1985 fand der erstedeutsche Designers Saturday in Düsseldorfstatt, 2001 der Designers Saturday in Stuttgart.

In diesem Jahr hat der Designers Saturday Stutt-gart Gestalter aus New York eingeladen die auf-grund der Ereignisse im letzten Jahr, ihren De-signers Saturday in New York nicht austragen. InKooperation mit ihren Stuttgarter Kollegen prä-sentieren sie hier gemeinsam ihre Arbeiten.Neben den einzelnen Präsentationen wird derDesigners Saturday durch Vorträge, Sonderaus-stellungen und der Verleihung des internationa-len Designpreis des Landes Baden-Württembergabgerundet. Der Designers Saturday in Stuttgartwurde von Jochim Fischer und Silvia Olp initiiert.

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Der erste Designers Saturday fand 1967 in New York statt. WelcheGrundidee stand Pate für diese Veranstaltung?

Die Grundidee kam von den drei führenden Designschulen New Yorks undwar das Präsentieren von Projekten und Arbeiten in Form eines Tags deroffenen Tür. Zusammen nutzten sie diese Idee als Plattform für sich undihre Schüler. Im Laufe der Jahre erkannten dann auch Unternehmen aus ei-nem breiten Designumfeld die Notwendigkeit, sich einem breiten Publikumzu zeigen. Aus einer ursprünglichen Idee mit drei Teilnehmern ist ein Vereinmit mittlerweile über 300 festen Mitgliedern in New York entstanden.

Die Idee des Designers Saturday wurde später dann auch von London,Paris oder Wien aufgegriffen. Seit 2001 findet der Designers Saturdayauch in Stuttgart statt. Hat Stuttgart die gleiche Designvielfalt anzu-bieten wie große Metropolen?

Ich denke ja. Die Designdisziplinen sind in allen Städten ähnlich. Es gibtsicherlich den einen oder anderen unterschiedlichen Schwerpunkt, dereine Stadt schnell interessant macht, aber die Vielfalt die in Stuttgartbesteht, lässt sich nicht von der Hand weisen. Letztendlich ist Stuttgart,unter anderem durch die frühe Gründung des Design Centers, auch immereine Hochburg des Designs gewesen. Man braucht sich nur vor Augenhalten, dass über 30% aller deutschen Designstudios eine 7 in der Post-leitzahl haben. Dementsprechend ist die Ansiedlung von Designbürosund die Ausbildungsmöglichkeiten im Stuttgarter Umfeld im Vergleich zuanderen Städten überproportional hoch.

910 im Gespräch mit Joachim Fischer

New York

London

Paris

Stockholm

BrüsselDüsseldorf

Stuttgart

WienLangenthal

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Mit Stuttgart verbindet man aber nicht gleich automatisch eine Design-hochburg, auch wenn die Zahlen dafür sprechen. Man liebäugelt ehermit Städten wie Berlin, Hamburg oder Frankfurt. Kann man dieseDesignkompetenz kommunizieren?

Der Ruf der anderen Städte begründet sich auf eine Konzentration einzelnerDisziplinen. Berlin steht für die New Economy, Hamburg für Verlage undMedia, Frankfurt für Werbeagenturen. Stuttgart hat eine gesunde Mischungaller Disziplinen zu bieten, wie die derzeitige Krisensituation auch wiedereindrucksvoll beweist. Auch wenn man es nicht auf den ersten Blick wahr-nimmt, die Wirkung von Firmen wie Daimler-Chrysler, Porsche, Festo oderBosch ist für die Region immens. Diese Unternehmen gehören zu den de-signlastigsten in Deutschland. Auch wenn deren Schwerpunkt im Produkt-und Industriedesign liegt, sind die Impulse für andere Designdisziplinenbedeutsam. Die Aufgabe vom Designers Saturday ist deshalb primär eineinheitliches Designbild der Stadt zu kommunizieren. Sowohl Konzerndesignmit seinem peripheren Umfeld als auch eine gewachsene subkulturelle De-signszene. Auch wenn viele meinen, dass sich solch eine Szene nur in Berlinoder Hamburg befinden kann. Stuttgart hat noch eine spannende Entwicklungvor sich, da die Abwanderungstendenzen in die Großstädte nachlassen wird.Wir hoffen unseren Beitrag dazu zu leisten.

Das Thema des Designers Forum „Stadt als Marke - Vision oder Illusion“spricht dieses Problem an. Der kritische Unterton des Themas lässt ver-muten, dass Stuttgart in der Kommunikation seiner Designkompetenzennoch Nachholbedarf hat.

Themenstellungen wie diese haben immer etwas mit Unzufriedenheit zutun. Es gibt kaum eine Stadt, die als Marke funktioniert. Es wird ja auchaufgezeigt, wie Frankfurt damit kämpft. Vielleicht funktioniert New Yorkmit dem Begriff „Big Apple“ oder ansatzweise Berlin mit seinem visuellenErscheinungsbild. Es ist mir wichtig, dieses Problem anzusprechen. Hiersehe ich, dass etwa „Stuttgart 21“ ein anderes Erscheinungsbild hat wie„Stuttgart Marketing“ oder die „Stadt Stuttgart“. Unter Corporate DesignAspekten ist dies überaus diskussionswürdig! Der Anspruch des AutorMatthias Beyrow „Mut zum Profil – Corporate Design für Städte“, einemReferenten des Designers Dialog, sorgt für Impulse in dieser Diskussion.

Wird diese Notwendigkeit überhaupt als Problem erkannt, Stuttgartals Marke aufzubauen?

Vielleicht ist es gar kein Problem. Was ich auf jeden Fall vermeiden möchte,ist mit dem berühmten erhobenen Zeigefinger winken und der Stadt sagen,was alles falsch gemacht wird. Es soll gezeigt werden, warum Marken wie„Bosch“ oder „Porsche“ bekannter sind als die Marke „Stuttgart“. Es sollaber auch gezeigt werden wie eine „Documenta“ positiv auf Kassel wirkt. Indieser Diskussion beim Designers Saturday bieten wir eine Plattform mitdem Ziel, über dieses Problem nachhaltig nachzudenken.

In Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten ist der Designers Saturdayals Privatinitiative ein schwieriges Unterfangen. Sollte die Stadt dieVeranstaltung stärker finanziell unterstützen, auch hinsichtlich der über-regionalen Präsenz, die damit erreicht wird?

PRODUKTDESIGNMÖBELDESIGNINTERIORDESIGNEVENTDESIGNAUSSTELLUNGSDESIGNMULTIMEDIADESIGNINTERFACEDESIGNGRAFIKDESIGNKOMMUNIKATIONSDESIGNMODEDESIGNSCHMUCKDESIGNARCHITEKTUR

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Ich glaube die Stadt muss es nicht. Man wünscht es sich zwar, aber die Idee,dass etwas von Stuttgartern für Stuttgarter getan wird hat mit der Stadtals übergeordnetete Institution nur bedingt zu tun. Wir fordern und fördernEigeninitiative, die ja von den Gestaltern auch so aufgegriffen wird. Ein Vor-teil ist, wenn man nicht so auf Fördertöpfe angewiesen ist, dass man freier inseinen Entscheidungen ist und schneller auf Begebenheiten reagieren kann.Aber eine starke Unterstützung seitens der Wirtschaftsförderung, das würdepassen und gut tun.

Sollte die Wirtschaft nicht verstärkt das Kultursponsoring der Stadtübernehmen?

Sponsoring wäre für uns eine Erleichterung. Es würde eben auch für einendauerhaften Betrieb sorgen. Vor allem, da das präsentierte Design der be-treffenden Firmen ein Alleinstellungsmerkmal ist. Ich bedauere es, dassauch im zweiten Jahr Unternehmen wie Porsche, Nimbus oder Festo nichtteilnehmen. Allein deren Teilnehmergebühr wäre eine echte Förderungdes Designers Saturday gewesen.

Braucht der Designers Saturday eine längere Anlaufphase, um in denKöpfen verankert und ernster genommen zu werden?

Ja, auch der Designers Saturday benötigt seine Zeit um sich in den Köpfenzu verankern. Selbst Dietmar Henneka sagte, dass man New Yorker braucht,um auf Stuttgart und die Veranstaltung aufmerksam zu machen. Die Teil-nahme von New York wird dies beschleunigen, dennoch braucht es eine

jährliche Kontinuität, um sich zu etablieren. Diesen Entwicklungsprozessfinde ich aber nicht schlecht, da es uns Veranstaltern Raum lässt sich weiterzu entwickeln. Ein Problem ist nur, dass wir mit anderen Veranstaltungenverglichen werden, die es seit Jahrzehnte gibt und die bereits aus den Kin-derschuhen rausgewachsen sind. Wir sind erst im zweiten Jahr und habenFehler gemacht. Diese werden wir beheben und werden auch wieder neueFehler machen. Wir wünschen uns, dass die Besucher und Teilnehmer unsRaum für diesen Entwicklungsprozess lassen.

Was war Deine persönliche Intention den Designers Saturday nachStuttgart zu holen?

Unerfahrenheit! (lacht) Nein, Silvia und mir war es wichtig eine Plattform zuschaffen, wo Gestalter aus verschiedenen Disziplinen sich und ihre Produktevorstellen, um die Designkompetenz, die wir in Stuttgart haben, zu prä-sentieren. Die Lücke war da und wir versuchen sie zu schließen. Wir habenden Zug auf die Schiene gesetzt und feuern jetzt kräftig die Lokomotivean. Wir haben den Anspruch, den Designers Saturday jedes Jahr besser zumachen als den vorherigen. Wenn aber erkennbar wird, dass die Gefahrdroht, sich totzulaufen oder bloß noch ein Abklatsch seiner selbst wird,dann muss man ans Aufhören denken. Ich bin aber zuversichtlich, dass wiraufgrund der Vielfalt der Stadt keine Probleme haben werden, spannendePositionen in Stuttgart weiterhin zeigen zu können.

Dieses Jahr nehmen ausgewählte New Yorker Gestalter am StuttgarterDesigners Saturday teil. Besteht nicht die Gefahr, daß die heimische

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Stuttgart ist der Nabel des wieder-

vereinigten Deutschland. Warum?

Weil hier der preußische Staatsphilo-

soph Georg Wilhelm Friedrich Hegel

geboren wurde. Und erkannt hat:

Was vernünftig ist, das ist wirklich;

und was wirklich ist, das ist ver-

nünftig. Die Bedeutung dieser Schluss-

folgerung für die Schwabenmetropole

wiederum hat der frühere Stuttgarter

Oberbürgermeister Manfred Rommel

klar umrissen: Ohne Hegel keinen

Marund keinen Lenin, ohne Lenin

keine russische Revolution, ohne

russische Revolution keinen Gorbat-

schow, ohne Gorbatschow keine

Perestroika, ohne Perestroika keine

Wiedervereinigung.

Designszene aufgrund der amerikanischen Qualitätsdichte an die Wandgespielt wird?

Stuttgart hat ebenso Schwergewichte wie New York zu bieten. Produkt-designer von Daimler, Persönlichkeiten wie Kurt Weidemann und andere.Nur leider machen diese nicht mit oder sind auf den ersten Blick nichtsichtbar. Es ist aber sehr spannend wie sich die Kombination aus etablier-ten New Yorker Persönlichkeiten und der heimischen, jungen Szene ent-wickelt. Ich bin zuversichtlich, dass die Stuttgarter Szene den New Yorkernqualitativ und kreativ Paroli bieten kann. Aber es geht auch nicht umKonkurrenz, sondern um Kooperationen. Das Interesse der New Yorker anStuttgart und dem Umfeld, der Infrastruktur und dem Nachwuchs verblüfftemich und verspricht ein gegenseitiges entspanntes Umgehen. Unsere Auf-gabe ist es, dass für die Teilnehmer interessante Kontakte, daraus Geschäfteentstehen und wir die Veranstaltung so positionieren, dass deutschland-weites Interesse an Stuttgart entsteht. Mit dieser Veranstaltung wollen wirdazu beitragen, was sich jeder für Stuttgart wünscht: Metropolencharakterund Lebensqualität.

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Stuttgart-Süd. Lehenviertel. Rechts, die kitschige, von außen rosa dekorierte Animierwohnung, linksgegenüber die riesige Klinkerwand mit dem öffentlichen Schild: „Vorsicht Einsturzgefahr. Begehenauf eigene Gefahr.“ Als ob libidogesteuertes Verhalten durch statische Unausgewogenheiten aufge-halten werden könnte. Sonst scheint alles normal. Hier im Hinterhof des neuentdeckten semi-hippenLehenviertels ist das Fotostudio von Jürgen Altmann.

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19.00 Uhr, das Treppenhaus ist abgeschlossen, und Katrin Gruber die Prak-tikantin, kommt im Mantel herunter und schließt auf. Im Studio des 4. Stockstelefoniert noch Jürgen Altmann mit einem finnischen Kunden. „Gruber!“,schreit Altmann gutgelaunt quer durch den Raum, nachdem er den Höreraufgelegt hat: „Willst du schon gehen? Du musst noch die Präsentationvorbereiten.“ „Gruber“ trägts mit Fassung und stellt sich an den iMac.Auf die erste Frage, wie er zur Fotografie kam, folgt erstmal nichts, dann:„Für Rockstar mußte man zuviel Gitarre üben“. Nachdem sich seine Rock-star-Karriere nicht erfüllte, wurde Jürgen Altmann als Fashion- und Lifestyle-fotograf ernst genommen. Zahlreiche Kampagnen für international bekannteModehäuser und Editorials, wie z.B. die hier gezeigten Zirkusaufnahmenfür „Glamour“ mit dem Stylisten Michael Dye aus Mailand, begründen seinenRuf als Topfotograf. Stuttgart als Standort ist aufgrund einer fehlendenInfrastruktur im moderedaktionellen Bereich für einen Fotografen mit die-sen Schwerpunkten zwar nicht der idealste, doch „ ob du deine Modelsund Stylisten von Mailand nach Hamburg fliegen lässt oder nach Stuttgart,macht kaum einen Unterschied – genauso kann ein Fototeam von Stuttgartaus auch überallhin kommen.“ So ist die Standortfrage nicht wesentlich.Weitaus entscheidender für die Qualität der Bilder ist sein künstlerischerAnsatz bei der Herangehensweise. „Mein Stil definiert sich durch einen sehrklaren Bildaufbau, der auf das Wesentliche fokussiert ist. Dennoch ist das

wichtigste Moment meiner Bilder die Poesie.“ Dieser im ersten Augenblick er-scheinende Widerspruch, die Kombination aus rationeller Komposition undder Verknüpfung emotionaler Elemente sind die Merkmale einer oft skurrilanmutenden Bildsprache. Jürgen Altmann hat seinen Stil gefunden, auchwenn er diesen nicht bewusst einsetzt, oder ihn stoisch weiterverfolgt.Dabei weiß er aber ganz genau was er will. Vielmehr hat Jürgen Altmannein neurotisches Verhältnis zur Sache selber – den Shootings. Minutiöswerden im Vorfeld Pläne erstellt und sämtliche Eventualitäten bedacht. Eswird abgewogen, wer, wann, wo zu stehen hat, Beleuchtungsverhältnissebei Außenshootings und das Styling. Doch Jürgen Altmann wäre nichtJürgen Altmann und seine Bilder nicht die, die man kennt, wenn er sich ausdiesem selbstauferlegten Korsett nicht befreien würde. „Ein guter Plan istdie Voraussetzung für entspanntes Herangehen an ein Shooting. Im Ideal-fall sind dann alle so entspannt, dass man den Plan nicht mehr brauchtund auch ein überraschendes Ergebnis entstehen kann.“ Dass manchmaldie besten Pläne nicht viel bringen, musste Jürgen Altmann bei einemShooting in Neuseeland feststellen. Das Team war wegen Snowboard-aufnahmen für ein Jeans-Label buchstäblich um die halbe Welt geflogen.Auf dem Tasman-Gletscher stellte sich dann heraus, dass eines der Modelsseine Snowboard-Kenntnisse überschätzt hatte. „Wir mussten unser Kon-zept in Richtung lustiges Purzeln in pittoresken Eisformationen ändern“.

Beim Einlegen und Herausnehmen des Films aus der Kamera direktes Sonnenlicht vermeiden.

Für Blitzlichtaufnahmen Elektronenblitz, blaue Blitzleuchten oder Blitzwürfel verwenden.

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Der „Modulor“ ist ein Maßwerkzeug, das von der menschlichen Gestalt und der Mathematik ausgeht. Ein Mensch mit erhobenem Arm liefert in den Haupt-punkten der Raumverdrängung - Fuß, Solarplexus, Kopf, Fingerspitze des erhobenen Arms - drei Intervalle, die eine Reihe von Goldenen Schnitten erge-ben, die man nach Fibonacci benennt. Die Mathematik andererseits bietet sowohl die einfachste wie die stärkste Variationsmöglichkeit eines Wertes: dieEinheit, das Doppel, die beiden Goldenen Schnitte.

1947 geht deshalb Le Cobusier umgekehrt von 6 engl. Fuss mit 1828,8 mm als Körpergröße aus. Durch die Goldene-Schnitt-Teilung bildet er eine rote Reihenach oben und unten. Da die Stufen dieser Reihe für den praktischen Gebrauch viel zu groß sind, bildet er noch eine blaue Reihe, ausgehend von 2,26 m(Fingerspitze der erhobenen Hand), die doppelte Werte der roten Reihe ergibt. Die durch die mathematische Goldene-Schnitt-Teilung sich ergebendenBruchzahlen werden rigoros aufgerundet, bis zu Differenzen von 7 mm auf volle Zentimeter nach oben oder unten, zu sogenannten Gebrauchswerten. Beider Übersetzung dieser Grundwerte in das Zollsystem erfolgt dann eine weitere, von der ersten unabhängigen Grundreihe...

Minimalistischer Maßstab

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Basierend auf Le Corbusiers Entdeckungen, die noch heute Bestand haben und der Tatsache, daß Le Corbusier einer der ersten war, der konsequent imMaßstab 1:33 seine architektonischen Entwürfe erstellte, stand der französische Architekt unter anderem Pate für das 1998 von Hendrik Müller und PatrickBatek gegründete Stuttgarter Büro eins:33. Dieser Maßstab ist der einzige, der in der Lage ist sowohl Architektur als auch Innenarchitektur gleichbe-rechtigt abzubilden. Auch der eigenen Vita wegen, eignete sich dieser Name. An der Staatlichen Akademie der bildenden Künste studierten Hendrik Müllerund Patrick Batek Architektur und Design und kamen aufgrund der räumlichen Nähe zur Weißenhof-Siedlung schnell in Kontakt zu Le Corbusiers Arbeitenund der Bauhaus-Bewegung. Nach anfänglichen eigenen Projekten, arbeitete man schnell gemeinsam an Konzepten und gründete noch im Studium dasInnenarchitekturbüro eins:33. Ende der 90er Jahre orientierte man sich noch stark am strengen Minimalismus mit seinen Materialien wie Stein, Holz oderMetall. Alle Farbnuancen entstehen durch den bewussten Einsatz von Licht. Doch die Entwicklung ging zum Neuinterpretieren und zum Aufweichen derStrukturen. „Wir versuchen durch Materialien und Farben eine atmosphärische Dichte zu schaffen, die softer und harmonischer ist, als die der klassischen,minimalistischen Architekten,“ erläutert Hendrik Müller. Der gefestigte Stil basiert aber nach wie vor auf der klaren Formensprache. „Wir haben uns dahin-

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gehend entwickelt, dass alle Projekte in einem Bezug zueinander stehen.Die formale Erscheinung von Möbeln, Leuchten und wie wir mit Räumenumgehen ist gefestigt. Dies interpretieren wir aber nicht als Schwäche, son-dern als bewusstes Handeln und als Stilfrage. Gerade am Anfang muß maneinen eigenen Stil entwickeln, um sich klar zu definieren.“ Dennoch sindeins:33 an einem Punkt angelangt, wo über eine Neuinterpretation ihresStils nachgedacht wird, um sich weiterzuentwickeln. Dabei sind zum einenEinflüsse aus Kunst, Musik, Film und Grafik-Design als wichtigsteInspirationsquellen und zum anderen das intensive Auseinandersetzen mitdem Bauherren und seiner räumlichen Struktur die Basis für den Umgang mit

Architektur. Obwohl wir uns sehr stark mit Architektur beschäftigen, ist dieAuseinandersetzung mit Arbeiten, die in Architekturzeitschriften ver-öffentlicht werden, eher nicht unsere Sache. Wir versuchen unsere eigenenErfahrungen mit einfließen zu lassen.“ so Patrick Batek. Das junge Büro, daßmittlerweile eine Dependance in Berlin hat, interpretiert den Minimalismusim Kontext zur Moderne und Postmoderne. Die Befreiung vom Ornamentund der additiven Art der Gestaltung in der Architektur hatte bereits in derModerne ihren Höhepunkt und wurde im Minimalismus wieder aufgegriffen.Die Reduktion auf das Wesentliche, die Spürbarkeit von Räumen und der Stel-lenwert von Licht als gestalterisches Element, sind Verdienste der Moderne

Projekt: La Coupe Charlottenstraße 23 Stuttgart

Bauherr: Ahmet Bilir, Stefan Mall

Foto: Francis Koenig, Stuttgart

Waschanlage aus Schichtstoff HPGL Hochdrucklaminat, beige mit Sesseln aus braunem Kunstleder,

Leuchten mit Textilverspannung aus weissem Chinz, Entwurf von eins:33.

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und später des Minimalismus. Die Art der Materialien und die sorgfältige Ab-wägung beim Einsatz sind immer noch Qualitäten, die das Büro schätzt undbei ihren Planungen mit einbezieht. Die Fortführung der zweidimensionalen Planung in die Dreidimensionalitätist ein wichtiges Thema bei eins:33. Das Entstehen eines Raumkonzeptes,das auch die dritte Dimension erfasst, muss als Idee erkennbar sein. So musseine Wand nicht zwangsläufig mit dem Boden verhaftet sein. Wenn es dieKorrespondenz zu anderen Raumelementen bedingt und der Aspekt derLeichtigkeit gefordert ist, wird diese „Tektonik“-Frage entscheidend. DerKern des Begriffs Tektonik bezieht sich auf das Verhältnis zwischen der

Fügbarkeit und der Anschaubarkeit der Dinge und der Struktur unserer Wahr-nehmung. Dieser Zusammenhang zwischen dem, wie etwas gebaut erscheint,und dem, was wir bei seinem Anblick empfinden, hat seine eigene Dialektik.Nicht alles, was sich technisch-konstruktiv bauen lässt und nützlich sein mag,empfinden wir als angenehm oder gar schön. Der Ansatz des Versteckensvon notwendigen, aber unangenehm empfundenen Dingen, wie z.B. tech-nische Vorrichtungen wird bei eins:33 konsequent umgesetzt. Der Umgangmit Tektonik wurde beim Projekt „Sauter Beautypool“ so umgesetzt, daß eineLeichtigkeit der miteinander korrespondierenden Elemente suggeriert wird.Zusammen mit mori:projects entwarfen eins:33, ein Konzept, das durch den

Projekt: Kitchen for a non-cooking woman Charlottenstraße Stuttgart

Bauherr: Ellen Staudenmayer

Foto: Heiko Simayer Studio, Stuttgart

Beidseitig Küchenmöbel, Arbeitsplatte Resopal weiss, Türen und Schubladen MDF lackiert mit eingefrästen

Griffmulden, Ellen Staudenmayer mit grauer Hose und schwarzem Oberteil (Gucci).

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langen Korridor den atmosphärischen Einstieg in die Welt der Schönheitschafft. 320 Quadratmeter Zeitgeist – lavendelblaue Tresen, grüne Side-boards, ein zebranofurnierter Loungetisch und kubische Leuchtkörper. DieGrundsubstanz der Räumlichkeiten war so gut, dass versucht wurde, nichtszu verbauen, sondern zu erhalten. Alle bestehenden Elemente sind in weißbelassen worden, während die Veränderungen farbig wurden. Die bestehen-den Elemente wurden so restauriert, dass ein „Klassenunterschied“ zwischenneu und alt nicht zu erkennen ist. Nicht eine überfrachtete „Kulissenarchi-tektur“, sondern der sensible Umgang mit Ressourcen und die ästhetisch-intelligente Innenarchitektur machen „Sauter Beautypool“ zum raümlichen

Projekt: Sauter Beautypool Christophstraße 8 Stuttgart

Bauherr: Reiner Sauter

Foto: Heiko Simayer Studio, Stuttgart

Flur: Blick vom Eingang in Richtung Rezeptionstheke. Der Besucher betritt die Räume des Beautypools und be-

schreitet eine Strecke von 25 m, während er sich aus dem „hektischen Getümmel“ der Stadt ausgliedern und auf

die eigene Welt des Beautypools einstimmen kann. Der Raum öffnet sich Stück für Stück auf diesem Weg.

Frisiertische: Die weißen Frisiertische verfügen über versenkbare Spiegel, die im Bedarfsfall durch eine Gasdruck-

feder unterstützt aus der Arbeitsfläche hochgefahren werden können. Zusätzlich ist jeder Platz mit einer ver-

tikalen Plexiglasleuchte ausgestattet, die angenehmes und weiches Licht auf das Gesicht der Kundin wirft.

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Raum und geben ihre eigentliche Bedeutung nicht Preis. Möbelgestaltungist für Hendrik Müller und Patrick Batek ein wichtiger Punkt, da sie im räum-lichen Kontext zum Boden, Wänden und sonstigen Faktoren gleichbe-rechtigt stehen und eine weitere Gestaltungsebene sind. Es ist geplant,mit den bereits bestehenden Möbeln und Leuchten und einer Serie wei-terer Produkte eine eigene Home-Collection zu entwickeln, um der stei-genden Nachfrage gerecht zu werden. Die Fortführung von eins:33 wirdvermutlich das langsame Aufgehen in einem Kreativ-Pool aus Grafik-Designern und Textil-Designern sein, so dass ein gesamtkonzeptionellerarchitektonischer Ansatz nicht nur auf die Innenarchitektur beschränkt ist.

Erlebnis. Die Newcomer wurden nach dieser Realisierung schnell weiterge-reicht: Ob Restaurant „Gensfleisch“ im Bosch-Areal, wo der Spagat zwi-schen englischem Bibliotheken-Charme und strenger Formensprache ge-lungen ist, Frisierbar, La Coupe oder Werbeagentur Eberle Ästhetik hateinen Markt und seine Kenner. Der eigene Stil ist in allen gestalteten Ob-jekten zu erkennen. Querverweisend auf andere Projekte, aber nicht kopie-rend. Trotzdem individuell und nicht manufakturiert – so könnte das Mottoder beiden lauten. Die Querverweise entstehen in erster Linie durch die eingesetzte Möblierung.Die stets in Eigenentwicklung gestalteten Elemente, wirken als Objekte im

Projekt: Johannes Gensfleisch zur Laden, Restaurant, Bistro, Bar Literaturhaus Stuttgart Breitscheidstrasse 4 Stuttgart

Bauherr: Gascon 23. Gastronomie Betriebs- und Beteiligungsgesellschaft mbH, Klaus Morlock, Marc Tzschoppe

Foto: Heiko Simayer Studio, Stuttgart

Restaurant: Blick in den Restaurantbereich. Boden Räuchereiche geölt und gewachst, Tische Räuchereiche /

Edelstahl, Möbel Schichtstoff HPGL dunkelrot/Mercedes-Leder grau, Leuchtkästen Plexiglas PMMA weiss,

Stühle Eiche gebeizt, Mercedes-Leder dunkelgrau, Vorhänge Trevira CS, Gittergewebe.

Lounge: Natursteinverkleidung und Boden Muschelkalk (Bestand), Sessel Minotti Leder grau,Tische wie im

Restaurant, Leuchten Constanza, Rückseite Bar Räuchereiche gebeizt mit Sichtschlitz Plexiglas PMMA weiss.

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Stil muss schon dabei sein. Aber dass Ihr euch gleich ums ganze Radar-system kümmern müsst.

Stimmt doch gar nicht. Wir wollen lediglich die Koordinaten bestimmen.

Ist dein Schwager nicht Mathematiker?

Doch, wieso.

Na, ob der das nicht besser könnte?

Wie, ein Naturwissenschaftler soll sich mit der Stilfrage beschäftigen?

Nein, natürlich nicht. Du weißt doch. Heutzutage hängt alles miteinanderzusammen. Besonders im Design. Da stellen sich Naturwissenschaftler viel-leicht gar nicht so blöd an.

Ich weiß nicht – kuck Dir Philipp Starck an. Der sagt zwar, dass Design fürjeden erschwinglich sein soll, dass man keine Wegwerfmöbel produzierensoll und trotzdem macht er alles allein. Macht Stühle in der Form seinesHinterteils. Aus Plastik. Wenn das nicht schon alles heißt. Er sagt ja, er wärein Egomane. Also nichts mit Vernetzung.

Na, dann denk mal an – sagen wir ...

Jetzt sagst du bestimmt Walter Gropius!

1 spricht mit 2 über das Magazin 910 stilradar

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Nein, ich wollte eigentlich etwas über Le Corbusier erzählen.

Bist du sicher, dass Du dich nicht doch auf dieses Gespräch vorbereitethast? Ich dachte, wir machen einfach mal ein brainstorming über unser Ma-gazin. Dann fänd ich’s nämlich langweilig. Ist mir zu besserwisserisch.

Nein wieso, dann also Gropius. Der war Leiter vom Bauhaus und der hatsich natürlich Direktorenmöbel für sein Büro entwerfen lassen. Mit Spiel-tisch. Ist doch klar, dass er ab und zu eine Runde Skat dreschen wollte. Dumusst im Design einfach auch an den Alltag denken! Form follows function.Und dass Starck gut sitzen möchte und Gropius gut spielen, das kann manihnen nicht vorwerfen, das will die Hälfte der Menschheit sicher auch.

Du meinst, ein Designer sollte zuerst einen Kompass rausholen?

Ja, klar. Wie sonst willst du wissen, wie man beim Spielen gut sitzt. Ichmeine natürlich, ob man beim Spielen seines Spiels den richtigen Sitzplatzhat. Formschön gestaltet.

Aha. Und wie soll das gehen? Hier in Stuttgart – wo willst du hier denKompass peilen lassen? Etwa im suite 212 oder in der Weinstube Fröhlich?

Dein Vorschlag ist gar nicht so schlecht. Weil, im suite 212 sitzt man ja aufBlöcken, in der Weinstube Fröhlich auf Bänken oder einfachen Stühlen. Inder Schnittmenge bedeutet das, dass alle Besucher dieser Orte auch bereitwären, auf runden Hockern Platz zu nehmen. Wenn du das multiplizierstmit der Anzahl an Clubs und Weinstuben in Stuttgart, dann wäre sogar aufAnhieb ein Großteil deines Koordinatensystems ausgefüllt.

Hmm – muss ich mal drüber nachdenken. Zumindest wärs ein Anfang fürunsere stilistische Standortfrage.

Vielleicht solltest du Radarfallen aufstellen!

Also, jetzt übertreibst du!

Wieso, wenn du empirisch genau herausbekommen willst, welchen Stil dieMenschen hier bevorzugen, dann musst du schon Fallbeispiele rausziehen.

Und soll ich dann Bußgeld verlangen, wenn einer statt `nem Hocker doch`nen Philipp Starck-Stuhl möchte?

Nein, eine schriftliche Mahnung täts auch. Die sollen dann alle euer Magazinlesen. Dann wissen sie Bescheid über Stil und Radar.

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PARIS

NEW YORK

MAILAND

Fotograf: Jürgen Altmann Assistenz: Tom Mennemann | Katrin Gruber Styling: Julia Kessel Make up & Hair: Stefanie Trenz c/o spirit Model: Julia Sterk | Michael Peterec | Aschaeh Khodabakhshi c/o fischercasting

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Der Anruf von Franz Reutter auf dem Handy erzeugte ein Schmunzeln: „Wenn ihr nachher Kaffee wollt, bringtbitte eine Milch mit. Wasser ist da, Musik und wir auch“ . Aha, die international operierenden Brillendesigneraus Wernau offenbaren sich einem genauso, wie man sich junge Designer vorstellt: Immer „nobel“ durchs Leben.Qualität ist alles - Qualität im Produkt ebenso wie in der Lebensgestaltung. Es muss schön anzusehen sein undsich vor allem extrem gut anfühlen.

Der noble Blick

TOKIO

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Im Büro werden wir von den zwei Geschäftführern Franz Reutter und Jochen Gutbrod erstmal auf ein Rennen mit den neu erworbenen ferngesteuertenMini-Cars aus Fernost eingeladen. Die kleinsten ferngesteuerten Autos der Welt: Fundstücke der letzten Geschäftsreise nach Tokio. Die Rennbahn„made by REIZ“ aus Stücken eines Brillen-Präsentationssystems nimmt ungefähr die Hälfte ihrer Werkstatt ein. Während die selbstgebrachte Milchsich mit dem Kaffee vermischt - wird sich so also im Hause REIZ für das anstehende Meeting warm gemacht. Wir meinen: Das kann was! ...und, waswir später blind unterschreiben würden, zuvor allerdings schon schwer ahnten: Die können was! Ihren internationalen Ruf als Brillengestalter verdanktdas Gespann Gutbrod /Reutter der zukunftsorientierten Andersartigkeit. Das Machbare sowie Nichtmachbare wurde ausgelotet. Auf internationalenMessen wurden exotische Brillenformen in einer neuen, unerwartet stylishen Undercover-Aktion, dem Verkauf aus einer Art Bauchladen, vertrieben.

REIZ

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FARBE

FORM

MATERIAL

PLATZIERUNG

QUALITÄT

Nach der gesunden Phase des Experimentierens besann man sich 1996 auf eine am Markt bisher ebenso neuartige Formsprache - die Idee der formalen Re-duktion. Eine Brillenfassung betrachtend wird klar, dass dieser Gegenstand genauso simpel wie genial funktioniert. Ein Mittelteil, zwei Bügel, die Fassung derGläser und der hohe Anspruch, diese Elemente harmonisch zu kombinieren. Wenige Bestandteile gepaart mit einem ausgefeilten Zusammenspiel von Material,Form und Farbe.Ein weiteres wichtiges Merkmal ihrer Brillen ist der extrem ausgeprägte Qualitätsanspruch an die Produktion. Ausschließlich der direkte Kontakt zu natio-nalen Herstellern sichert diese hohe Verarbeitungsqualität. Das eigenhändige Aussuchen der Acetatplatten und die Bestimmung der Platzierung auf derPlatte, gewährleistet die optimale Nuancenverteilung der unterschiedlichen Farbschichten. Von der Idee bis zur Produktion ist alles „made in Germany“.

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Durch den hohen Fertigungsanspruch und dem Designbewusstsein gelang es REIZ den Werkstoff Acetat neu zu interpretieren. Das hochwertige, gepresste,aufwendig veredelte Material wurde in der Brillenindustrie zu dem, was der einst vernachlässigte Basisstoff bei sachgemäßem Umgang eigentlich ist - einexklusiver Träger für optische Gläser. „Nicht dass wir die Erfinder von Acetat wären, aber 1996 war der Markt derartig verknöchert und festgefahren, dasswir, eine neue Generation von Brillendesignern gar nicht anders konnten...“ meint Franz Reutter. Er steht am Fenster, den Blick auf den energiegeladenen,roten Sturmhimmel gerichtet und raucht eine Parisienne. – Der Gedanke an den Anspruch der Qualität, der stets „noblen“ Lebensform keimt wieder auf...„Unser Anspruch ist das in den Köpfen immer noch gefestigte Bild der Brille als notwendiges Übel aufzuweichen. Brille ist das wohl charakterstärkste Accessoire,das als erstes an einem Menschen wahrgenommen wird. Und dementsprechend versuchen wir das bewußte Tragen von Brillen zu manifestieren“ erklärt unsJochen Gutbrod. REIZ zeigt uns, dass die Auseinandersetzung mit brillenunabhängigen Formen und der Einfluss haptischer Reize aus unserem Alltag für dieProduktfindung entscheidend sind. Dass zuerst die innere Haltung kommt und dann die Form, weiß man spätestens seit Konfuzius. Dass man die innereHaltung leben muss, um „Reiz“-spezifische Formen entwickeln zu können, wissen wir spätestens seit REIZ.

ACCESSOIRE

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Pt Au

Ag

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195,08

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Pt196,9

107,8

1690 Fund in Kolumbien

Relative Atommasse: 195,08 g/mol

Atomradius: 138 pm

Kovalenzradius: 129 pm

Van-der-Waals-Radius: k.A. pm

Dichte: 21,45 g/cm3

Schmelzpunkt Celsius: 1772 °C

Siedepunkt Celsius: 3827 °C

SKSteffen Kuder

1969

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Schmuck ist wie die Gastronomie. Es gibt Meisterköche, die viel Gespür für Zubereitung und

Zutaten haben, durch ihre Kreationen ein Geschmacksfeuerwerk zünden und Kunstwerke

erschaffen und es gibt gefälliges Fast Food, kompatibel für den schnellen Hunger und nach-

haltig nicht sonderlich bemerkenswert. Steffen Kuder gehört sicherlich zu den ersteren. Nicht

leblose Auslagen mit Kilos von Gold und Edelsteinen, sondern das filigrane Zusammenspiel von

Material und Form beseelen seine Kollektionen.

Platin wird vorwiegend mit einem Feingehalt von 950/000 verarbeitet. Das heißt, von 1000 Gramm Schmuckmetall sind 950 Gramm, also 95 Prozent, reines Platin, dokumentiert im Stempel eines Schmuckstücks mit Pt 950.

Im Disput mit der Königin

FELLBACH

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gewinnt an Härte und Wertigkeit. Wenn Steffen Kuder in seiner Werkstattsteht, entwickelt sich ein Zwiegespräch zwischen ihm und dem Material.Ein Gerangel zwischen Widerspenstigkeit und Zähmung, einem stoischenDesinteresse des Leblosen und der Idee der Formgebung. Diese Ausein-

andersetzung lohnt sich, denn Steffen Kuder bleibt meist Sieger.„Platin ist zwar schwierig, aber faszinierend. Es hat nicht

die geschichtliche, von Alchimisten geprägte, mys-tische Eigenart von Gold, sondern durch seine mat-

ten und seidenen Oberflächen strahlt es Strengeund Klarheit aus.“ Der Schmuck von SteffenKuder versöhnt die in Form geschmiedete, ei-genwillige Königin der Metalle. Klare, reduzierte

Formensprache unterstreichen die Besonderhei-ten. Das Korsett der Form verliert sich und schmei-

chelt dem Charakter. Gekrönt wird die Schöne durchdie Krone der schwarzen Diamanten. Steffen Kuders Stil ist

durch den Bauhauscharakter geprägt. Schlicht, aber nicht durch die Hysteriedes Minimalismus beeinflusst. „Die maschinelle Optik mit futuristischenund scharfkantigen, geradlinigen und unterkühlten Attributen ist nichtdass, was ich von reduzierter Gestaltung verstehe. Die feminine Kompo-nente muß im Detail erkennbar sein, darf sich jedoch nicht aufdrängen“.

Der gelernte Goldschmied und Schmuckdesigner arbeitet – anders als dieBerufsbezeichnung vermuten würde - hauptsächlich mit Platin, weissen undschwarzen Diamanten. Platin ist ein sehr seltenes Metall, das erst im 17. Jahr-hundert von Goldsuchern in Kolumbien entdeckt und aufgrund seinersilbernen Farbe, abfällig als „platma“ („Silberchen“) tituliert wurde. Ersthundert Jahre später wurde festgestellt, dass es sich um einbis dato unbekanntes Element handelt. Platin kamerstmals 1850 von Louis Cartier zu Schmuckehren.Es besitzt individuelle Eigenschaften, die keinanderes Schmuckmetall aufweist – Eigenschaf-ten die es von Gold und Silber unterscheiden.Außerdem ist Platin fester, zäher und schwererin der Verarbeitung. Deswegen hat das hand-werkliche Können höchsten Stellenwert in SteffenKuders Philosophie. „Der Anspruch des Materials inseiner Formgebung ist enorm. Die perfekte Ausführungsteht im Resultat zum Objekt.“ Die handwerkliche Perfektion ist zwardie Basis für die Auseinandersetzung mit dem Metall, sie soll aber nichtbestimmend für die Gestaltung sein. Kuders Entwürfe werden nicht inFormen gegossen, sondern durch stundenlanges Kaltschmieden gebän-digt. Dadurch erhöht sich die Dichte des Materials und der Schmuck,

Emerald Cut

Englische Bezeichnung für Achtkanttreppenschliff. Da

dieser bei Smaragden angewendet wird, ergab sich die

Bezeichnung Emerald Cut. (Smaragdschliff). Charakter-

istisch sind die „Stufen“, d.h. die „treppenförmig“, mit

56 Facetten und 1 Tafel angelegte Form. Der Smaragd,

bekannt als „spröder Stein“, wird in der „Topqualität“,

immer im sogenannten „Achtkant-Treppenschliff“ =

„Emerald Cut“, geschliffen. Würde man Smaragde im

„Rechteck“ und nicht im „Stumpfeck“ schleifen, wür-

den Risse, Sprünge oder Absplitterungen entstehen.

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Diese Gratwanderung zwischen femininer Sinnlichkeit und dem Vermeiden archetypischer Formen, spiegeltsich in seinen Ringen wider. Nicht die klassisch-runden Formen, sondern ein von ihm aufgenommenes Detailder Fingeranatomie war entscheidend für die Kuderschen Ringe. Es war nicht sein Wunsch, auf Biegen undBrechen eine andere Ringform zu gestalten. Doch aufgrund der Unebenheiten eines Fingers bot es sich an,den Ring unten rund und zu den Aufbauten hin konisch zu gestalten. Die Seitenflächen werden durch dieangrenzenden Finger gestützt und verrutschen so nicht. Dass Kuder bei seinen exakten geometrischenSchmuckstücken nur wenig poliertes Material benutzt, unterstreicht seine Auffassung von reduzierter Ge-staltung. Wie zum Beispiel der Platin Ring mit einem Diamant im Emerald-Cut. „Dramatisch“ eingesprengtin Profilen, die sich logisch aus der Ringform entwickeln. Es heißt, dass Schmuck ein Ausdruck der Seele seiund etwas beim Träger bewirke. Steffen Kuder ist sich sicher, dass ein Wechselspiel zwischen Träger undGetragenem stattfindet. „Nicht dass ich jetzt auf die esoterische Schiene abdriften will, aber es ist

beobachtbar, dass tendenziell labilere Menschen mit einem Schmuckstück sicherer werden. Dieserursprüngliche Talisman-Charakter ist auch heute noch spürbar. Viele manufakturierte Stücke

großer Labels sind aber austauschbar und ich würde es ablehnen von einer Aura zusprechen.“ Sicherlich ist industrieller Schmuck mit den Werken von Steffen Kuder

nicht vergleichbar. Aber wer will auch einen Kunstdruck von Ikea miteinem Original vergleichen. Und dass es Unterschiede

zwischen Fast Food und einem

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komponierten mehrgängigen Menü gibt, ist unbestreitbar. Der Beruf desSchmuckdesigners ist in vielerlei Hinsicht eng mit dem Befinden und der Ge-schichte eines Menschen verwoben. Steffen Kuder ist froh von der erstenIdee bis hin zum perfekten Schmuckstück den ganzen Prozess zu gestaltenund die Qualität eines Schmuckstücks mit den Qualitäten eines Menschenin Einklang zu bringen. Die Positionierung von Schmuck ist in einer Phaseder Neuorientierung und einem Verlassen gewohnter Betrachtungsweisen.Weg vom „Klunker“-Image und Statussymbol hin zum bewussten Ausdruckder Persönlichkeit. Aber der Mythos des Glitzerns und die Einstellung, dassviel auch schön ist, gilt noch heute. „Je größer der Stein desto mehr werdeich von meinem Geliebten vereehrt“, bekräftigt Kuder. Auch wenn dieserGlaube, der in den 70ern kulminierte, sich langsam dem Ende neigt, sindarchaische Verhaltensweisen immer noch maßgeblich prägend für die Hand-habung mit Schmuck. Schmuck als Modeaccessoire und Ausdruck einerEinstellung wird noch wenig Bedeutung beigemessen. Frauen kaufen heut-zutage ihren Schmuck meist selbst. Sie machen sich Gedanken über ihreGarderobe und stellen fest, dass ihr Schmuck nicht mehr passt. Genauso

wie ihre Handtasche oder ihre Schuhe. Zum Kauf von neuen Schuhen undHandtaschen lassen sich die modebewussten Kundinnen gerne verführen,nur beim Schmuck bleibt es meist beim alten. Doch Steffen Kuder, derlange Jahre in New York und San Francisco sein Handwerk verfeinerte unddort wichtige gestalterische Impulse erlangte, sieht diese Problematikgelassen. „Das Thema des Sich-Schmückens ist in den USA praktisch nichtvorhanden, nur der Verlobungsring gehört zur Zeremonie der Braut-werbung. Aber auch da gilt: Großer Diamant, große Liebe. Doch langsamschwappt die europäische Tradition eines verstärkten Schmuckbewusst-seins auch nach Amerika. Wenn man meint, Schmuck ist in Deutschland einmarginaler Bestandteil der Modekultur, ist das im Vergleich zu den USAdennoch viel. Nur ein verschwindend kleiner Teil ist auf Qualität undGestaltung bedacht. Diese Klientel ist hart umkämpft.“ Kuder verinner-lichte den Wunsch nach Qualität und genauer Detailarbeit. Seinen Stilfestigte er bei einem der führenden Designer und Schmuckgaleristen. Dortfand er den Kontakt zu allerlei prominenten Kunden, die sich sicher eingutes Menü und ihren ganz persönlichen Schmuck (von S. Kuder) gönnten.

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FR AMES FOR YOU

G E R B E R S T R A S S E 17

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S T U T T G A R T

T E L E F O N

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T E L E F A X

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Photo: Jürgen Altmann Assistent: Tom Mennemann Styling: Michael Dye c/o Barbara Mierau Styling Assistent: Julia Kessel Make up: Heiko Palach c/o Barbara Mierau Hair: Carolyn O`Neill Model: Pamela c/o Riccardo

Gay

Bohemian Rhapsody

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Ne ckl a c e : Sty l i s t s own

S h ir t : Sportmax

Tro us er s : Missoni

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Ne ckl a c e : Sty l i s t s own

S h ir t : Sportmax

B elt : Marni

Ti e s : Sty l i s t s own

S kir t : Sportmax

B o o ts : iB lues

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Wa is tc o at : Missoni

S h ir t : Sportmax

S kir t : Sty l i s t s own

B o o ts : Sergio Ross i

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J a c k e t : S p o r t m a x

S h i r t : S p o r t m a x

D r e s s : G i a n F r a n c o F e r r e S t u d i o

B e l t : i B l u e s

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Bohemian Rhapsody

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Fertighäuser sind für viele junge Familien oftmals die einzige Alternative, sich den vielzitierten Traum vomEigenheim leisten zu können. Ein Haus von der Stange ist zwar günstiger, aber das Risiko bleibt, dass die Seeledes Hauses, die Architektur, verschwindet.

Stephan und Stefanie Eberding von (se)arch beweisen, das Ästhetik in der Architektur nicht zwingendermaßen einendicken Geldbeutel bedarf. Das junge Architekturbüro im Stuttgarter Heusteigviertel realisierte ein Wohnhaus inRiederich mit enggestecktem finanziellen Rahmen. Das Wohnhaus am Fuße der schwäbischen Alb zeichnet sichdurch seine offene Struktur im Wohn- und Alltagsbereich aus, der sich über zwei Ebenen verteilt und so den Über-gang von Erdgeschoss in den oberen privaten Bereich ermöglicht. Variable Schiebewände ermöglichen offenewie auch geschlossene räumliche Situationen für die Privatsphäre. Dieses Konzept der wandelbaren Räume und derklaren Ausrichtung nach der Sonne charaktisiert dieses Haus. Der große Dachüberstand lässt Sonneneinstrahlungim Winter ungehindert durch die großzügigen Verglasungen, während im Sommer dadurch einer Überhitzung vor-gebeugt wird. Aufbauend auf Bauelementen der klassischen Moderne entstand eine Raumfolge, die mit höch-ster Präzision im Detail und einem fein abgestimmten Materialkonzept eine sehr spezifische Wohnvorstellungvon hohem ästhetischen Anspruch erfüllt. Dabei war der Aspekt der Kostenminimierung entscheidendes Krite-rium für die Realisierung. Die Bebauung der Nutzfläche von 250 qm, wurde für unter 250 Euro/m3 ermöglicht.

Dieses mehrfach ausgezeichnete Haus ist aber nur bedingt stellvertretend für die Denkweise von Stephan und Stefanie Eberding.

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Vor allem in der Stilfrage lassen sie sich nicht festlegen. Es erfüllt sie mit Genugtuung, dass die bereits realisierten Projekte keine offensichtlichen Selbst-zitate sind, sondern dass jeder Bau auf die individuellen Bedürfnisse der Bauherren zugeschnitten ist. Schnell könnte man argumentieren, dass dies einVersuch ist, bauliche Beliebigkeit und Unentschlossenheit zu tarnen, doch die Liebe zum Detail und Ausgereiftheit ihrer Entwürfe, jenseits von Trauter-Heim-Idylle und Bauträgerhäusern, verhindert diese gedankliche Fortführung.

Ist aber dennoch eine Philosophie oder ein Eberding-Stil auszumachen? Am ehesten die subtile Vermittlung von Formensprache beim genaueren Betrachtenvon Details und dem Versuch der Zusammenführung von individuellen Bedürfnissen, Grundstücksstruktur, städtebaulichen Möglichkeiten und der persön-lichen Note. „Es wird mit jeder Handlung eine formale Aussage gemacht, doch sollte nicht der Selbstverwirklichungswille im Vordergrund stehen, sondernlediglich ein Bestandteil einer Schnittmenge dieser vier Faktoren sein“, so Stefanie Eberding. Die Denkweise der beiden Architekten versinnbildlichtStephan Eberding : „Alte Bauernhäuser sind aufgrund ihrer gewachsenen Struktur Vorbilder, da die verschiedenen Funktionen und Abläufe ideal aufeinanderabgestimmt sind. Diese Häuser sind ästhetisch, da das Haus die Form gefunden hat. Ich will jetzt aber nicht Bauernhäuser kopieren, sondern diese Findungaus einem gewachsenen Umfeld aufnehmen.“

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Haus Fischbachtal

Planung 1999 - 2002Fertigstellung 2002

Im Dorfkern einer Gemeinde im hessischen Odenwald entstand ein Wohnhaus an einem Bachlauf. Ein Ensemble aus Eingangs- und Arbeitstrakt, Wintergartensowie Wohn- und Kochbereich gruppiert sich ebenerdig um einen Gartenhof. Schlafbereich und Bad befinden sich auf der oberenEbene unter dem Steildach.Ein Pflanzwasserbecken bildet den Mittelpunkt des Hauses.

Das Haus verfügt über eine Erdwärmepumpe, eine Solaranlage zur Warmwasserbereitung sowie über eine kontrollierte Be- und Entlüftungsanlage mitWärmerückgewinnung und einen Erdkanal.

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des wegweisenden Architekten und setzte sich intensiv mit seiner Gedanken-welt auseinander. „Anfangs war mir diese Architektur befremdlich, doch esverhält sich wie mit klassischer Musik. Erst nach genauer Einarbeitung offen-baren sich die Nuancen und die Qualitäten eines Werkes. Nicht die ersteSchönheit, sondern die zweite Betrachtung ist entscheidend“.

Ihr neuestes fertiggestelltes Projekt, ist ein Ensemble aus Eingangs- undWohntrakt, sowie Wohn- und Kochbereich, die sich ebenerdig um einen Gar-tenhof gruppieren. Dieses Haus in Fischbachtal, das sich an einen Bachlaufschmiegt, nimmt nicht die kompakte und blockige Bauweise des Hauses inRiederich auf, sondern wirkt eigenständig und nicht vergleichbar mit diesemEntwurf. Aber nur auf den ersten Blick. Neben Reduziertheit finden sich auchhier innenarchitektonische Lösungen, die mit dem Gesamtentwurf korres-pondieren. Neben soviel Akribie gehört das Loslassen und das Entlassen indie Selbständigkeit dazu. Ansonsten würden sich Stephan und StefanieEberding bei privaten Wohnprojekten schnell in Gefahr begeben, Bilder fürdie Wände, sowie die Möbel auszusuchen und sich in einem Geflecht ausbenutzertypischen Vorlieben und gesamtkonzeptionellem Ansatz verlie-ren. „Man gibt die Hülle und diese muss durch den Besitzer belebt werden.

Diese subtile Herangehensweise erfordert eine starke Auseinandersetzungmit dem Bauherren und der Diskussion zum Teil konträrer Vorschläge. Dieserzeitintensive Ansatz wird auch von ihren Bauherren abverlangt, um demGrundsatz gerecht zu werden, ein Haus noch in 50 Jahren sehen zu können.Die Reduktion aufs Wesentliche in Kombination mit Qualitäten, die erst aufden zweiten Blick erkennbar werden, prägen zwar die Bauten der beidenArchitekten, doch sind sie sich bewusst, daß nicht die reine Schlichtheitund Reduktion der Entwürfe, der Grund für ihre Qualität ist, sondern dieKombination aus Architektur und Innenarchitektur, welche Räume schaffen,die Bestand haben. Das Ziel ist immer eine Einfachheit zu erreichen, die eineTiefe hat, ohne austauschbar und reizarm zu wirken. Bedingt durch unter-schiedliche Einflüsse, würde ein Projekt schnell überfrachtet wirken. DenMut auch einen Schritt zurückzugehen und das völlige Verwerfen von Ideengehört zum Arbeitsprozeß. Einen Schritt vorwärts und zwei zurück – undbeim nächsten Ansatz drei Schritte vorwärts und nur einen zurück. DieSumme muß aber stets positiv sein, sprich: es müssen Schritte vorwärtsgegangen werden. Die intensive Auseinandersetzung mit der Mensch-Architektur Beziehung ist geprägt durch die Betrachtungsweise des ameri-kanischen Architekten Richard Neutra. Stephan Eberding lebte in einem Haus

Das Ziel ist, eine Qualität zu schaffen,

die auch eventuelle Geschmacklosigkeiten verkraftet“, so Stefanie Eberding.

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Das aktuelle, von öffentlicher Hand getragene Projekt „Hahnenkammschule“– eine Schule für individuelle Lernförderung – liegt in der Stadt Alzenau,mitten im Grünen mit Blickbezug zur Burg. Sie bezieht sowohl das äußereErscheinungsbild als auch die innere Gestaltung mit ein. Dies bedeutet, daßvon der ersten Planung bis zur Schulkreide, alles bezugsfertig abgegeben wird.Diese Schule in Alzenau bildet einen Y-förmigen Baukörper mit drei Außen-bereichen: den Eingangshof, den Werkhof und den Pausenhof. Das Gebäudesetzt sich aus drei Schultypen zusammen, der Grundschule, der Hauptschuleund der Erziehungsschule. Die zentrale Halle und die Außenanlagen binden

Das helle Farbkonzept fördert die Lern-und Konzentrationsfähigkeit.

Die Anlage reagiert maßstäblich auf das kleinteilige Wohnumfeld und hält

angemessenen Abstand zur umliegenden Bebauung.

Hahnenkammschule in Alzenau

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die Flügel ein. Die Anlage reagiert maßstäblich auf das kleinteilige Wohnumfeldund hält angemessenen Abstand zur umliegenden Bebauung. Die Halle, das Herzder Hahnenkammschule, dient als Klimapuffer zwischen Innen und Außen und istintegrativer Bestandteil einer natürlichen Klimatisierung, die es gestattet, dieKlassenräume je nach Jahreszeit mit vorgewärmter oder – gekühlter Frischluft zuversorgen. Helle freundliche Farben fördern die Lern- und Konzentrationsfähigkeit.Nachvollziehbare Kreisläufe (Jahreszeiten, Sonnenstand, Witterung) nehmen dieKinder über Elemente wie die Freiklassen oder das Regenwasserbecken wahr. Sokönnen sie leicht Bezüge zu ihrem Umfeld entwickeln.

Neubau einer Schule für

individuelle Lernförderung

Wettbewerb (1. Preis) 1997

Planungsbeginn 1998

Baubeginn Herbst 2000

Fertigstellung Januar 2003

Bauherr Landkreis Aschaffenburg

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Das Unangenehme am Neuen ist, daß es neu ist. Das Neue macht zunächst ängstlich, macht unsicher. Das Neue verlangtwomöglich, Gewohntes abzulegen, Gekonntes zu vergessen, verlangt neues Denken.

Lieber richten wir uns mit unseren Notständen, mit unseren Not-Zuständen ein, als daß wir sie wenden. Wir kennendie Redewendungen: „So ist das nun mal“, „Da läßt sich nichts ändern“, „Damit müssen wir leben“, Das war schonimmer so“. Das ist eine resignative Haltung. In kreativen Berufen macht das mutlos. Auf die Dauer ist das tödlich.

Das amerikanische Prinzip des Handelns über trial and error (Versuch und Irrtum) an das Neue zu gelangen, greift beiuns nicht. Fehler darf man nicht machen, Irrtümer nicht korrigieren. Dabei bewegt sich der Fortschritt allerdings aufschmaler Bahn. Die ständigen Rufe nach Kreativität und Innovation verhallen vor der Wand der Bedenkenträger. DieFolge: Unsicherheit und Unentschlossenheit bremsen bis zum Stillstand.

In den gestaltenden Berufen gehen Informationen, verbale und nonverbale – nicht wie in den meisten anderen Berufen– vom Mund zum Ohr, sondern häufiger vom Auge ins Herz, in die Seele. Oder in den Bauch. Der Verstand wird ofterst hinterher als Kontrollorgan eingesetzt. Deshalb sind Anblick, Anschauung und Voraussicht die Kriterien desQualitätsbewußtseins und Urteilsvermögens. Prozesse des langsamen und gründlichen Denkens haben gelegentlichzur Weisheit geführt. Aber selten zu Veränderungen. Das Sprichwort „Dieweil die Weisen grübeln, stürmen die Dummendie Festung“ hat seine Gültigkeit bewahrt. In Zeiten rascher Veränderungen und großer Unausgeglichenheitenhaben wir Weisheit durch Cleverneß ersetzt und weggekürzt. Der Gerissene und Listige nimmt fix seinen Vorteil wahr.Der Schnäppchenjäger braucht keine Schonzeiten zu beachten, das macht ihn so raffig. Und oft hat er dafür einenvoll funktionierenden Antrieb: Den Neid, die Chance, was andere geschafft – oder besser angeschafft – haben,selbst auch zu erreichen.

Wir bilden uns zwar ein, andauernd im Streß, gehetzt und überfordert zu sein, aber die Elbe hat uns – unter unsererfreundlichen Begradigungshilfe – mit zwei Metern Fortschritt pro Sekunde beigebracht, was Tempo ist und was alsReaktionsgeschwindigkeit von uns verlangt wird. Wir bleiben aber immer noch gründlich und bürokratisch, weit-schweifig und wortreich: Wir haben den scharfen Blick für das Unwesentliche.

In den gestaltenden Berufen glaubt man, den Notwendigkeiten am besten zu entkommen, wenn man dem Prinzip„Selbstverwirklichung“ folgt. Wenn man sich dem Leistungsdruck, den gesellschaftlichen Zwängen, den familiärenBindungen, notfalls auch der Moral, entzieht, aus dem Weg geht. Wenn man sein Selbst, seine Interessen, seineGefühle erforscht und erfüllt. Wenn man jenseits von Gut und Böse, von dem, was erlaubt oder verboten ist, herum-laviert.

Leider werden die Risiken und Nebenwirkungen dieses Selbstverwirklichungstriebes nicht bedacht. Selbstverwirklichungfördert den rückhaltlosen, rücksichtslosen Egoismus, die Maßlosigkeit, Launenhaftigkeit und Eitelkeit. Nicht jederkann seine Talente entfalten, wenn keine Anlagen dafür vorhanden sind. Die Nabelschau entfremdet, macht handlungs-unfähig, selbstfixiert. Die Not ist nicht wendig genug, um diesen Risiken und Nebenwirkungen Einhalt zu gebietenund ihre Entfaltung zu verhindern. Wir haben Grund genug, etwas gelassener unser Schicksal zu handhaben. Dabeireicht ein Zufriedensein mit seinem Dasein und Hiersein bereits aus, um Vertrauen und Selbstsicherheit zu gewinnen,um dem Notwendigen die Not zu wenden. Aber das scheint uns wohl zu selbstverständlich.

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Was uns von anderen Säugetieren unterscheidet, ist die Tatsache, daß wir uns unserer Gegenwart bewußt sind, überunsere Vergangenheit etwas wissen und unsere Zukunft zu erforschen versuchen. „Voraussagen zu treffen, istschwierig“, meint Herr Chirac, „besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“ Mit solchen Weisheiten kann man franzö-sischer Staats-Präsident werden. Das Image der Politiker, der Regierenden, hat weltweit erschreckende Defizite.Einen Gefallen tun sie uns ständig: Sie decken unseren Bedarf an Spott, Schadenfreude und Verachtung gut ab.

Kreative und Innovative sind nicht handzahm und nicht vorauseilend abrufbereit. Nur das Mittelmaß ist ständig inHochform und die Dummen sind ständig geistesgegenwärtig. Begriffe wie Treu und Glauben, Sitte und Moral, Gott undGüte findet man allenfalls noch als Kreuzstichmuster auf den Sofakissen der Urgroßeltern. Diese Tugenden kann manleicht abtun mit der Begründung, daß Konventionen es an sich haben, in die Erstarrung, in den Stillstand zu führen.Kreativität, Innovationsfreude, Mut, sind überall gefordert in einer Zeit, in der die Angst die höchsten Wachstums-raten hat. Wie sollen auch Recht und Gleichheit noch gewahrt werden, wenn ein Handwerker, der pleite geht, mitHaus und Hof, Weib und Kind haftet, während ein Vorstand, der ein Unternehmen an die Wand fährt, noch die Kasseplündert und sich mit selbstgefüllten Geldkoffern auf seine Finka in Mallorca zurückzieht. Die selektive Wahrnehmungverengt sich auf die Rettung der eigenen Haut: Beim Handwerker genauso wie beim Manager. Nur, die Verhältnisseerlauben dem einen nichts und dem anderen alles. Rechtsstaat und Gleichberechtigung sind dann nur noch Papiertiger.Das ist nicht nur unappetitlich, sondern zum Kotzen.

Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten sind nicht dreierlei Sorte Mensch, die man entweder zuvorkommend oder beflissenoder hochnäsig behandelt. Der Mensch – ist als wer oder was auch immer – zuerst ein Mensch.

Wenn ich in einem Unternehmen, noch dazu eines, in dem das Mobbing in voller Blüte steht, den Satz höre: „Bei unssteht der Mensch im Mittelpunkt“, dann entsichere ich meine Kalaschnikow. Der Mensch ist ein Mängelwesen. Ihmfehlt das Fell, um zu überwintern, die Laufkraft, um fliehen zu können und die Kampfkraft, um überleben zu können.Die Instinkte sind im Nichtgebrauch entschlummert, verkümmert. Was ihn schützt und stützt und ihm nützt: Es wirdihm alles angeboten und zugebracht. Er ist rundum versorgt und so abhängig wie nie zuvor.

Ein Berater ist nur so gut wie die Wahrheit, die er nicht gesagt bekommt, sondern die er selbst findet. Der frühereUtopist lebt heute in der virtual reality: Was er sich früher vorstellen aber noch nicht herstellen und gebrauchenkonnte, kann er heute herstellen, aber er weiß nicht mehr, wofür er es gebrauchen soll. Mit dem Eintritt in das elek-tronische Millennium hat sich gewaltig viel mehr geändert als nur das Datum. Die Zerlegung der Welt und ihrerSchöpfungsgeschichte in ihre Komponenten und Mikrodetails führt zu Veränderungen mit unabsehbaren Folgen. Jekleiner und schneller die Instrumentarien werden, desto leistungsfähiger und umfassender werden sie. Wenn manheute unter einer Nadelspitze ein Gebirge von Daten unterbringen kann, müssen wir uns darüber im Klaren sein, daßunser Wissen immer weiter zurückbleibt, daß wir von immer mehr immer weniger wissen. Das jeweils neueste Wissenhält uns sein Verfalldatum bereits entgegen. Wer 20 Jahre Falschgemachtes als Erfahrung verkauft, ist dann schlimmer,als nur ein Störfaktor. Er gehört in die Leichtlohngruppen des Denkbetriebes.

Die Wirtschaft läßt sich von der Politik nichts mehr sagen. Unsere Großkonzerne haben Jahresumsätze, die den Haus-halten mittlerer europäischer Staaten entsprechen. Sie sind Selbstversorger und Selbstentscheider. Der Haifisch-kapitalismus kennt in der Vernichtung von Geld und Arbeitsplätzen kein Bedauern. Gewissensbisse kann es dort nicht

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geben, wo kein Gewissen vorhanden ist. Treue und Vertrauen wechseln wie der Wetterbericht. Wenn man jemandemin den Rücken fallen will, muß man zunächst erst einmal hinter ihm stehen.

Unser Sprachgebrauch verrät unsere Unaufrichtigkeit. Ein paar unfallfrei über die Bühne gebrachte Sätze, die nichtgerade mit Umsatz oder Gewinn zu tun haben, werden gleich als „Unternehmensphilosophie“ geadelt. Was hat einim Konkurrenzkampf stehendes Unternehmen mit Weisheitsliebe (= Philosophie) zu tun? Aber die „Unternehmens-philosophie“ gehört nun mal zur „Unternehmenskultur“. Und Kultur ist alles: Angebotskultur, Präsentationskultur,Produktkultur, Informationskultur, selbst im Streit bewahrt man sich noch seine Kultur, die Streitkultur beim Hauenund Stechen. Die Worte lügen, aber sie haben einen hohen Gebrauchswert und verlieren dabei ihre Unaufrichtigkeit.

„Soziale Gerechtigkeit“ sagt Wolfgang Erbe, „ist erst dann erreicht, wenn jeder das hat, was der andere nicht hat.“Und wenn jeder nicht mehr versteht, was der andere sagt, darf man noch ergänzen. Beim Turmbau zu Babel begann,was heute noch gilt. Der Herr sprach: „Siehe ein Volk sind sie und eine Sprache haben sie alle, und dies ist erst derAnfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unmöglich sein.“ Dann fährt er aber fort zu sagen, was heute erstrecht gilt: „Laßt uns herabfahren und dort ihre Sprache verwirren, daß sie einer des anderen Sprache nicht mehrverstehen.“ Das ist eine Aufgabe und Herausforderung, der christlich zu begegnen wir uns bemühen, solange wirdenken können. Das Wort „Glück“ ist in der Schöpfungsgeschichte nicht vorgesehen. Die babylonische Sprach-verwirrung besteht aber noch. Nicht selten sogar zwischen den Generationen gleicher Zunge.

John Adams (1735 – 1828) war der zweite Präsident der Vereinigten Staaten, Farmersohn, Philosoph, Rechtsanwalt,Schriftsteller und General in den Unabhängigkeitskriegen. Er schrieb 1780 in einem Brief an seine Frau: „Ich mußPolitik und Kriegsgeschichte studieren, damit meine Söhne die Freiheit haben, Mathematik und Philosophie zu stu-dieren. Sie sollen Mathematik und Philosophie, Geographie, Naturgeschichte und Schiffbau, Navigation, Handel undLandwirtschaft studieren, damit ihre Kinder das Recht haben, Malerei, Poesie, Musik, Architektur, Bildhauerei,Weberei und Porzellanmanufaktur studieren zu können.“ Auf der Stufe der dritten Generation sind wir auch nachüber zweihundert Jahren noch nicht angekommen. Die künstlerischen Berufe stehen nicht im Mittelpunkt dieser Welt,sondern führen ein existenzbedrohtes Randdasein auf dem Rand einer immer schneller rotierenden Scheibe. DieDesign-Berufe und Design-Interessierten würden mit unter fünf Prozent der Stimmen in keinem Parlament Sitz undStimme bekommen.

Das Werken mit der Hand verkommt. Einige Hundert Vasenformen kann ich mir kurzfristig auf dem Computer herunter-laden. Der an der Töpferscheibe geschulte Formensinn ist verlorengegangen. Ein Viertel der über 200 Knochen, dieunseren Körper aufrecht und in Bewegung halten, sind allein in den Händen untergebracht: genau sind es 54. Sie be-nötigen etwa ein Drittel unserer Gehirnmasse, um all das zu erschaffen, was von der Schöpfungsgeschichte aus ihrerKreativabteilung in die Welt gesetzt worden ist. Um sogar noch Spaß an ihrem Gebrauch zu finden: Was einZauberkünstler, ein Bildhauer, Teppichknüpfer, ein Schönschreibkünstler oder ein Zahnarzt mit diesen 54 Knochenzustande bringt. Diese Unermüdlichkeit hält an bis zum Grab, solange Auge und Gehirn noch sehen, steuern undkontrollieren können, was zu vollbringen ist.

Nun legen wir diese Fähigkeiten und Tätigkeiten immer mehr brach. Die Hand rutscht mit zusammengewachsenenFingern über der Maus hin und her, tastet Schalter, die in der Lage sind, Wasser, Erde, Feuer und Luft per Tasten in

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unserer Dienste zu stellen. Oder diesen Erdball ins Universum zu sprengen. Für die miniaturisierten elektronischenGerätschaften sind die Hände zu klobig, die Stimme muß mehr und mehr als Kommandozentrale ihre Manipulationenübernehmen. Das für die Funktionen der Hand befehligende Gehirndrittel wird nicht veröden, sondern Aufgaben über-nehmen, von denen wir noch nichts wissen und für Befähigungen, die wir noch nicht kennen. Was uns aber nach-denklich machen sollte, ist die immer weiter voneinander abweichende Geschwindigkeit, mit der einerseits wissen-schaftlich-technologische Entwicklungen vorangetrieben werden; und andererseits die Beharrung des Menschen inseinen schöpfungsgeschichtlichen Anlagen und Möglichkeiten.

Programme können die Initiative beleben, Zeit für ein Leben aus erster Hand zu gewinnen. Nur meistens wird dasnicht genutzt: Jede Erfindung kann an der Möglichkeit ihres Mißbrauchs in Frage gestellt werden. Ein Hammer kannnicht nur einen Nagel einschlagen, sondern auch einen Schädel. Millionen Computer können in Stunden lahmgelegtwerden. Brauchen moderne Technologien einen Sicherheitsstaat? Einige Hundertmillionen Internetbenutzer bedienensich der offensichtlichen Vorteile dieses Netzes, sonst würde ihre urknallartige Ausbreitung nicht das Vielfache unsererGeburtenrate betragen. Man kann aber auch lernen, Bomben zu basteln oder Terrorgruppen zu vernetzen. Eine ge-gebene Freiheit hat aber immer auch ihren Mißbrauch im Gefolge.

Die phantastischen elektronischen Geräte und Möglichkeiten sind weder gut noch böse. Sie können nur das, wozuder Mensch sie gemacht hat, wozu er sie anstiftet und was er ihnen gebietet. Das allerdings kann gut und kann auchböse sein. Anonymität und absolute Freiheit rufen die Fischer im Trüben und andere Unlichtgestalten auf den Plan.„Was einst wir aus der Ethik nahmen“, sagt ein moderner Sinnspruch, „macht heut‘ die Kypernetik. – Amen.“

Eine neue Denk- und Annäherungsweise an unsere Arbeit bedarf nicht nur einer höheren Intelligenz, sondern auchder Ausbildung einer Haltung, eines Sinn- und Wertebewußtseins gegenüber unserem Tun und Wollen. Unsere Gesell-schaft bietet diesen Notwendigkeiten gegenüber keine überzeugenden Ansätze. Auch wenn wir Dienstleister sind,brauchen wir den Mut für das Machbare und Sinn für das Denkbare, brauchen wir Überzeugungskraft und Über-zeugungstäterschaft, brauchen wir Kreativität, keine gelegentliche, vagabundierende sondern eine abrufbereite,verfügbare, sinnstiftende. Und keine Resignation.

In einer Gesellschaft, die von allem nur den Preis und von nichts den Wert kennt, in der die Wertschöpfungskettenur aus Umsatz und Gewinn ihren Wert bezieht, in der ein Kollege nur als Konkurrent angesehen wird, in dieser Gesell-schaft bleiben viele schwach und ängstlich, schlimmerenfalls feige und verlogen. Kaum sagt noch jemand etwas aufdie Gefahr hin, daß es so verstanden wird, wie es gemeint ist.

Die Designberufe sind nicht dazu angetan und auch nicht so besetzt, daß sie einen „Ruck durch die Republik“ auslösenkönnen. Wenn es gilt, Not und Nöte zu wenden, geht es nicht um die beliebten Prognosen, mit denen man problemlosSchrecken verbreiten kann. Klimakatastrophe, Waldsterben, Ozonloch, Eiszeit oder Abschmelzen der Polkappen, dasscheint unabwendbar. Alkohol, Zigaretten und Benzinpreise füllen die Staatskasse. Das macht manchen überfressenenund bewegungsfaulen Bürger übellaunig.

Zu keiner Zeit seiner Geschichte waren ein gewisser Wohlstand und eine garantierte Meinungsfreiheit den Deutschenso beschert wie jetzt und heute. Nie war es leichter, Freiheit durch Mut zu korrigieren.

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Wenn das Gerberviertel in Stuttgart Brooklyn wäre, hätte Wayne Wang sicherlich seinen Film „Blue in the Face“ nicht in Auggie Wrens Zigarrenladen„Cigar Company“ gedreht, sondern in dem kleinen Brillenladen an der Ecke. Gemeinsam mit dem Zigarrenladen aus dem Film hat die sichtbar die Unver-krampftheit und den Charme eines Treffpunktes, in dem alle Protagonisten den gleichen Stellenwert haben und alle zu Hauptdarstellern werden. In dersichtbar treffen sich Leute, die mit ihren Besitzern Hans und Angela Schneider rund ums Thema Brille philosophieren wollen und dabei oft diese eigent-liche Idee verwerfen. Das sich gesetzte Drehbuch wird unweigerlich erweitert und der eigentliche Besuch wird durch kurzweilige Themen aufgelockert.

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Der Schauplatz sichtbar ist Mittelpunkt eines Mikrokosmos, wo man sichtrifft – aber der Gedanke des Gesehenwerdens nicht im Vordergrund stehtund wo Qualität und Service entscheidend ist. Zwar ist das Gerberviertelnicht Brooklyn, die „Cigar Company“ kein Optiker und Auggie Wren nichtHans Schneider. Doch wie im Film laufen auch hier viele Fäden zusammenund das Konzept ist unkonventionell. Brille wird hier nicht als Konsumartikelverstanden. Auch nicht als das, was man landläufig als Brille betrachtet.Das Zelebrieren von unterschiedlichen Produktphilosophien und indivi-dueller Beratung sind die Hauptaugenmerke von der sichtbar. „Eine Brillemuß in Formgestaltung, Qualität und der Farbgebung ästhetisch und intel-ligent gelöst sein“, so Hans Schneider. Scharfkantige und unhaptische Stückewerden nicht in das Portfolio aufgenommen. Auch nicht gesamte Kollektio-nen bekannter Marken, sondern nur einzelne Exemplare und kleine Herstellerfinden den Weg in den Laden. „Boutique“, „nobel“, und „exquisit“ sindvielleicht die falschen Wörter, da das affektierte Brimborium und die unter-kühlte Atmosphäre, die man mit solchen Begriffen verbindet, fehlen. Es isteher vergleichbar mit einem Zigarrenladen und einem Zigarettenautomaten.

Das Ware-gegen-Geld Prinzip ohne Eingehen auf die Person und persönli-che Vorlieben sind nicht die Herangehensweisen von dem kleinen Laden ander Ecke. Dabei wird aber kein Seelenstriptease verlangt. Vielmehr ist dasunverkrampfte Gespräch, jenseits vom aufgesetzten, einstudiertem Ver-kaufsgespräch die Basis für guten Sevice. „Mit einer Brille muß man sichwohlfühlen. Da eine Brille das als erstes wahrgenommenes Accessoire aneinem Menschen ist, muss sie zu der eigenen Persönlichkeit unabhängigvon Modeströmungen passen,“ erkärt Hans Schneider. Eine Brille darf nichtverkleiden, sondern ist oft eine Spiegelung einer inneren Haltung, wie z.B.schwarzumrandete Brillen mit eckigen Formen, die das Klischee der Exis-tentialisten bedienen. Es ist aber nicht so, dass Hans Schneider jedem dersich von Gott verlassen fühlt und die Verantwortung für sein eigenes Seinträgt, eine Sartre-Brille empfiehlt. Nicht ganz so philosophisch ist derUmgang mit dem Gut „Brille“ und seinem zukünftigen Träger. Eher der Ein-klang von Typus, Qualität, und zufriedener Kundschaft. Dass dabei abereine gewisse Philosophie zum Tragen kommt, ist erkennbar. Man könnteSartre zitieren und Hans und Angela Schneiders Denken so ausdrücken:

Brillen, Tabakwaren und Sartre.

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„Das Tragen der Verantwortung für das Sein beinhaltet zugleich die Ver-antwortung für das Sein des Anderen“. Wie gesagt: Man könnte... wennman dadurch nicht gleich eine ganze Lawine weiterer Fragen aufwerfenwürde. Um aber den Konjunktiv zu verlassen und sich nicht auf das Glatt-eis philosophischer Vergleiche zu begeben, sind die Tatsachen der per-

sönlichen Beratung, der Auswahl und des Wohlfühlfaktors in der sichtbarviel entscheidender. Eins ist aber sicher: Wenn Auggie Wren, der Tabak-warenbesitzer aus Brooklyn, eine Brille bräuchte, würde er mit Lou Reedzusammen in der sichtbar bei einer guten Zigarre über Sartre, Existentia-lismus und dem Bezug zu Brillen philosophieren.

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Ein etwas persönlicherer Zug durch die Vergangenheit der erfolgreichenStuttgarter HipHop-Posse „Massive Töne“

CRUISEN

by Stefan Strauß

Photography for 910 by Jürgen Altmann

Assistenz: Tom Mennemann | Katrin Gruber

Styling: Julia Kessel Make up: Stefanie Trenz c/o spirit

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Als wir uns zum Gespräch über die Massiven Töne verabredeten, ging es zu-nächst eine Weile ratlos hin und her, schließlich schlug Schowi das Locandavor. „Damit sind meine Jungs auch down“, meinte er.

Jean Christoph – „Schowi“ und Joao – „Ju“ kommen allein, Alex – „DJFünfter Ton“ muss renovieren! Das Locanda, ein kleines italienisches Lokal,ist für viele Stuttgarter MCs und DJs eine Institution. „Damit sind meine Jungsauch down!“ Dieser Satz geistert mir seither durch den Kopf. Ein Klassikerunter den HipHop Termini! Und dennoch fällt er nur noch selten. HipHop warin den USA eine Minderheitenmusik. So war es anfangs auch in Deutschland,„Es war das Ding der Ausländer“, erklärt Schowi, „denn HipHop ist universell,das kann jeder machen und man tat und tut etwas Gemeinsames über kultu-relle und geistige Unterschiede hinweg“. Seit Mitte der 90er ist deutscher HipHop sehr populär. Die große HipHopWelle ist seither wie ein Tsunami über das Land geschwappt, hat vieles nachoben gespült und nun die große Krise hinterlassen – behaupten viele! Vorallem die Pop-Medien, trittbrettfahrende Nutznießer und eine kränkelndeMusikindustrie.“Das stimmt einfach nicht“, so Schowi, „es gibt keine Krise,nur der Hype ist vorbei!“ Es ist etwas ruhiger geworden um den deutschenHipHop. Und dennoch kommen regelmäßig gute oder gar herausragendeProduktionen auf den Markt. Meist von den üblichen Verdächtigen. Ebenjenen, die schon sehr früh dabei waren und seit jeher Wert auf Eigenstän-digkeit und Qualität legten.Früh dabei waren die Massiven Töne sowieso! Aber sie hatten anfangsschwer zu kämpfen: Als Stuttgarter mussten sie gegen das Pop-Image an-kämpfen, das der Erfolg der Fanta 4 in den Köpfen der anderen deutschenMCs, DJs und Fans hervorrief, da musste um jeden Funken Anerkennungdoppelt gekämpft werden. Aber es war Ju, Alex, Schowi und Wasi sehrernst! Ihr erstes Album, „Kopfnicker“, ist anerkanntermaßen ein Meilensteindes deutschen HipHop und ist bis heute rund 40.000 Mal verkauft worden.Ohne Major-Deal wohlgemerkt! Alles Homegrown! „1995, mit der ersten deutschen Welle, wollten uns alle großen deutschenMajors signen – als Fanta-Klon! Da zogen wir nicht mit“, erläutert Schowiden Alleingang und ergänzt ironisch: „In der Zeit haben wir jede MengeRestaurants in Stuttgart kennen gelernt!“ Heute sind sie bei EastWest,mit denen der Kontakt von Anfang an offen, freundschaftlich und fair war.Für die meisten Plattenfirmen zählt damals wie heute der schnelle Erfolg.

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Für Schowi eine der Ursachen für die großen Probleme der deutschen Plat-tenindustrie: „Der deutsche Markt ist ein Single Markt. Alben werden zwarherausgebracht und damit wird eigentlich auch das Geld verdient, aber dieIndustrie im Land geht lieber einen risikoarmen Weg – erst eine Single,wenn die erfolgreich war, schnell eine hinterher schieben, dann das Album.“Ju nickt: „Hier werden Künstler nicht in Ruhe aufgebaut, um langfristig mitIhnen erfolgreich zu sein.“ Für die beiden ist dieses Problem ein hausge-machtes. Singles und Sampler brächten die schnelle Mark, aber keine län-gere Bindung. Hinzu kommen geändertes Freizeitverhalten und die Art undWeise der Präsentation: „Die Kids geben heute mehr Geld für Handies undPC-Spiele aus, weniger für Musik“, erläutert Schowi.Kennengelernt haben sich die Jungs förmlich auf der Straße: Ju und Schowisind im selben Stadtviertel aufgewachsen und gemeinsam zur Schule gegan-gen. Alex lernten sie über einen Sprayer kennen, der in ihr Viertel zog undder ihnen zunächst einmal vernünftiges Taggen, also Graffiti sprayen, bei-brachte. Wasi kannten sie von den Parties, die es seinerzeit in der TanzschuleHaag auf der Königstraße gab. Dort hingen die unterschiedlichen Stadtteil-Posses ab. „Da durfte niemand rein, der älter als 18 war, man musste sogareinen Ausweis zeigen, wenn Zweifel aufkamen. Das hat zu der kuriosenSituation geführt, dass Leute ihre Ausweise gefälscht haben, um sich jün-ger zu machen,“ erläutert Schowi. Aufgelegt hat dort seinerzeit Thomilla,heute die eine Hälfte der Turntablerocker. Im Musicland – damals DJ Friction’sHomebase kam Wasi schließlich auf sie zu und man begann gemeinsamzu Texten und Musik im Studio von Adone, einem gemeinsamen Freund,zu machen. Den ersten Auftritt gab es schließlich bei der Abschlussfeier vonJu’s Schule. Über die Namensfindung finden Ju und Schowi keine Einigkeit:„Dass war im Auto vor Wasi`s Bude“, Ju unterbricht ihn: „Nö, das war imStudio!“ So geht es eine Weile hin und her. Alex, der vielleicht für Aufklärungsorgen könnte, tapeziert lieber! Über „Agressive“ landeten sie letztendlich beiMassive Töne. Davor nannten sich Ju und Schowi jeweils JC Joy und JC Jam.Die hatten sie von ihren Initialen abgeleitet: Jóao Caiola und Jean Cristoph.Heute wird vornehmlich auf Autofahrten getextet. Sie hatten irgendwannkeine Ruhe mehr im Studio, dort hingen ständig zu viele Leute ab. Mittler-weile werden die Texte auf Cruises durch Europa geschrieben. Da werdenBesuche abgestattet, Kontakte zur schweizerischen und französischen Szenegepflegt und auch mal das ein oder andere Kulturdenkmal begutachtet.

Keine schlechte Methode, um einen Top-5-Hit mit „Cruisen“ zu landen!

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Streife vorbeifährt. Doch Graffiti in Stuttgart bedeutet auch schweigendeÄsthetik, die sich nicht durch ihre Größe definiert. Besonders neuartigsind die Werke von Sturm. Er versucht das klassische schriftorientierteGraffiti durch einen Ansatz zu ergänzen, der zuweilen über den zweidimen-sionalen Rahmen hinausgeht. Seine Bilder gehen eine angenehme Symbiosemit dem Untergrund ein, auf dem sie abgebildet sind. Es gibt noch vieleweitere Crews und Künstler, die hier erwähnt werden müssen. Leider

geht es auf Grund des Platzes natürlich nicht. Alle haben jedoch eines ge-mein. Die krasse Verfolgung durch die Stuttgarter Polizei. Und damit seieine weitere sehr typische Stuttgarter Eigenschaft erwähnt, denn in kaumeiner anderen deutschen Großstadt ist das Polizeiaufgebot ähnlich hochwie in der Baden-Württembergischen Landeshauptstadt. Die Verfolgungvon Graffiti ist hier an einem Höhepunkt angekommen. Die hohe Polizei-dichte lässt kaum Platz für Aktionen, was aus Sicht der Behörden, Senioren

WRITER: AI CREW _ LOCATION: S-BAHN (UFAPALAST)

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und Unternehmern positiv, aus Sicht der Jugendkultur jedoch negativ ist.Denn Alternativen werden zwar angedacht, aber nicht geboten. DieserWiderspruch zwischen „Kunst ja, Vandalismus nein“ und dem Mangel anlegalen Plätzen spricht klare Worte: Graffiti als unkontrollierbare Kunst-form soll klein gehalten werden. Stuttgart hat Angst vor Querdenkern,Künstlern und kritischen Köpfen, die es wagen, ihrem Protest Ausdruckzu verleihen. Egal, ob mit Dose oder Mikrofon. Graffiti in Stuttgart, das

ist immer auch Schock-Therapie für lahmende Geister. Die Menschen inNew York, Paris, Berlin oder Rio sind daran gewöhnt. Dort gehören diebunten Zeichnungen und Kritzeleien bereits zum Stadtbild. Sie prägendie kulturelle Perspektive auf die Stadt und verkörpern selbst bestimmteWerte und Lebensstile. Denn schon immer war die Wand das Forum der-jenigen, die nicht nach ihrer Meinung gefragt werden. Und darum wärenmehr legale Wände in Stuttgart ein guter Anfang.

WRITER: URAN (AI /HWS CREW)

LOCATION: S-BAHN (UFAPALAST)

WRITER: UNBEKANNT

LOCATION: HALL OF FAME

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WRITER: STURM _ LOCATION: HALL OF FAME

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Nein, Stuttgarts Philosophie ist eine andere. Da passen Farben nicht ins

Konzept. Runde, mitunter auch anarchisch anmutende Formen schon gar

nicht. Wie also sollte Graffiti in Stuttgart ein geeignetes Forum finden?

Zugegeben, es gibt sogenannte Hall of Fames. Da wäre die Mini-Unter-

führung unter der Theodor-Heuss-Straße, der kleine Schlossplatz – nein,

das war einmal – und seit kurzem die Hall of Fame unter der König-Karl-

Brücke in Bad Cannstatt. Das war’s.

Graffiti in Stuttgart, das ist die inoffizielle Kunst-Initiative zur eigenhändigen

Verschönerung der Stadt. Denn Stuttgart ist bekanntlich nicht Tirana und

Wolfgang Schuster nicht Edi Rama, der seit dem er Oberbürgermeister der

Balkanstadt ist, versucht, der albanischen Hauptstadt mit farbenfrohen

Hausfassaden ein neues, positives Antlitz zu verpassen.

Text by: Nuno Miguel Sobral Alves

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Dabei sieht die Stadt illegale Graffiti als eines der größten zu bekämpfendenProbleme an, die laut Monica Wüllner, Geschäftsführerin der CDU-Gemein-deratsfraktion, jährlich 120.000 Euro an Kosten verursachen. „Mit diesemGeld könnten, beispielsweise im sozialen Bereich, einige zusätzliche Stellengeschaffen werden, oder aber man könnte es angesichts der schlechtenWirtschaftslage einsparen“, so Wüllner. Immerhin sieht sie ein, dass „esvielen Jugendlichen ein Bedürfnis ist, ihre Kreativität durch Graffiti-Kunstzu entfalten.“ Und darum unterstütze die Stadt auch die Bereitstellungöffentlicher Flächen. Was bei einer einzigen ernstzunehmenden Fläche in BadCannstatt in den Ohren aktiver Sprüher wie blanker Hohn klingen muss.

Eines wird jedoch bei der Diskussion um öffentliche Flächen häufig über-sehen. Dass Graffiti in seiner ganzen Bandbreite nicht durch wenige legaleFlächen kanalisiert werden kann, denn Graffiti ist nicht nur die Kunst desWAS, sondern auch die des WO und des WIE. Bestimmte Wände bedeutenbestimmte Öffentlichkeiten und letztendlich geht es dem „Writer“ auch da-rum, in welchem räumlichen Kontext sein „Piece“ zu sehen ist und welcheHerausforderungen er beim „Bomben“ auf sich genommen hat. Für viele istdas „Tag“ an einem öffentlichen Gebäude gleichzeitig ein Faustschlag insGesicht des Staates, der nicht mehr in Graffiti sehen will als eine bloße Ge-setzesübertretung, als Schmiererei und Beschädigung von Privateigentum.

WRITER: SUMA _ LOCATION: UFAPALAST

German Fat

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German Outlines

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NY Fats

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NY Thins

The original thincap.Fits on almostany can.

Rusto Fats

To get a very widespray. Fits onalmost any can.

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Somit erscheint Graffiti – vor allem in Stuttgart – als Protest gegen denUnwillen, Protest überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Ein erstaunliches Bei-spiel hierfür ist die Stuttgarter C2G-Crew (Close2God). Überall in der Stadtsind die schwarz-weiß-silbernen Wide-Bombings zu sehen. Über ihren künst-lerischen Wert kann man sich streiten, über ihr Ziel, Aufmerksamkeit zu er-regen und, wenn möglich, eine Botschaft in die Öffentlichkeit zu tragen,jedoch nicht, wie man zum Beispiel an dem mit „Widerstand“ versehenenC2G-Tag sehen kann. Am augenscheinlichsten bei C2G scheint jedoch dasRisiko zu sein, dass sie beim Sprühen eingehen. Einige Bombings sind anStellen, an denen man es für unmöglich hält, dass nicht alle 10 Minuten eine

WRITER: C2G _ LOCATION: STUTTGART OST

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50ER

ZerschredderteDM-Scheine als Grillanzünder, Taschen aus Gummi-

booten, aber auch Stelton Kaffeekannen und Ingo Maurer Leuchtenfinden sich kombiniert mit einer großen Auswahl an Tonträgern in einer unspek-

takulären Lage im Gerberviertel wieder. Pünktlich zum Designers Saturday im Oktoberfeiert der Zusammenschluß von Pauls Musique und Unternehmen Form ihr ein-

jähriges Bestehen. Das Konzept der Symbiose zwischen elektronischer Musik und Wohnaccessoires nebstMoebeln ist in Stuttgart einzigartig. Die formale Trennung ist aufgehoben und es ist nicht klar, wo Form anfängt

und Musik aufhört. Einzig an den zwei getrennten Kassen wird eine Differenzierung erkennbar. Den Betreibern des„Musique Form Kollektivs“, Alex Seifried für Unternehmen Form und Tobi Ettle für Pauls Musique war diese Verschmelzung

bewusst. Durch die Zusammenlegung der nach wie vor unabhängigen Labels zu einem gemeinsamen Laden ist diese ganz eigeneAtmosphäre entstanden. Sag aber niemals „chillig“ oder „Lounge“, bekrätigen die Betreiber mit einem Schmunzeln. Der ursprüngliche

Ansatz von Unternehmen Form war eine Plattform für Produkte zu schaffen, die sehr gut gestaltet sind, aber trotzdem bezahlbar bleiben.Diese Idee funktionierte aber nur bedingt, da der Anspruch des Klientels sehr hoch war. So wurde das Portfolio durch Newcomer mit niedrigen

Stückzahlen ergänzt und mit Designklassikern abgerundet. „Wichtig ist, dass wir relativ unbekannte Produkte aus etablierten Linien vorstellenund junge Produktdesigner die ansonsten nicht in der Stadt zu finden sind.“ Nicht jung oder klassisch sind die Kriterien, um von ihm aufgenommen

zu werden, sondern die Formgebung der Produkte und die Exquisität. Nachdem erste Anfragen zur räumlichen Gestaltung aufkamen, entwickelteAlex Seifried eine eigene Möbelkollektion. „Der Wunsch eines Kun-

den war, sein Haus aus den 50er Jahren dem Stil entsprechendeinzurichten. Da ich aber Schwierigkeiten hatte, solche Möbelzu finden, die diesen Geist widerspiegeln, ohne lediglichein Replikat der Zeit zu sein und den heutigen Zeitgeist auf-nehmen, war es die logische Konsequenz eine eigene Liniezu entwerfen.“ Die Kollektion „ U N T E R N E H M E N -F O R M M O D U L S Y S T E M E “ bezieht ihre Propor-tionen, völlig untypisch für die 50er jahre, aus dem MicrosoftProgramm Excel. Der Excel Freak erkannte eines Nachts, dass diekleinste Einheit des Tabellenkalkulationsprogrammes, die Zelle, eine harmonische Proportion hat und sich für ein Sideboard ideal anbieten würde.Trotz dieses Einflusses, zitiert Seifried die Formen- und Materialsprache der 50er Jahre. „Die Zeit war extrem spannend. Es ging los mit organi-

schen Formen und Kunststoff, aber war noch nicht so extrem wie in den 60er- und 70er Jahren. Diese Umbruchphase basierte aber noch aufder Formensprache vergangener Tage, deswegen glaube ich, dass dieser Stil das Denken heute gut widerspiegelt. Doch meine Kollektion

ist ein Produkt aus heutiger Zeit, was Verarbeitungsqualität und Farbpalette angeht.“

D e r P l a t t e n l a d e n a m k l e i n e n S c h l o s s p l a t z , in direkter Nähe zum namentlich ähnlich klingendemGastronomiekonzept, war mitverantwortlich für die Belebung des von den Stadtvätern in Ungnade gefallenen Platzes.

P a u l s M u s i q u e i s t m e h r f a c h a l s e i n e r d e r b e s t e n P l a t t e n l ä d e nE u r o p a s a u s g e z e i c h n e t w o r d e n . So ist es nicht weiter verwunderlich, daß diese

Lokalität gern besucht wurde. In den Pre-Abriss-Zeiten wurde Pauls Musique noch von Tobi Ettle undMischa Harrer betrieben. Mittlerweile wird Pauls Musique alleine von Tobi Ettle im Gerber-

viertel geleitet. „Unsere Standleitung zu Pauls Boutique war schon von Vorteil“schwärmt Ettle, „die lümmelnde Robbenkolonie hörte den Sound und

konnte ihn gleich kaufen. Aber die jetzige Geschichtemit „Musique Form Kollektiv“

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Excel Tabellen und Robbenkolonien.

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Geplant sind im Musique Form Kollektiv die Entwicklung eines Hi-Fi Möbelsystems, jenseits von herkömmlichen Boxen. Wie man sich so etwas vorstellen kann, ist zwar

den Betreibern noch unklar, aber die Kombination aus Musik und Möbel soll stärker manifestiert werden. Zudem soll es eine stärkere Ausrichtung im Gastronomiebereich

geben, um die Wohnzimmeratmosphäre zu verstärken, sprich „Musique Form Kollektiv“ soll „chilliger“ und „loungiger“ werden. Auch wenn man dies nicht sagen darf.