27. februar 2010 modernes leben … leben mannheimer 3 morgen samstag 27. februar 2010...

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MODERNES LEBEN 3 MANNHEIMER MORGEN Samstag 27. FEBRUAR 2010 HOTEL - GESCHICHTEN Der Gast als Künstler Wer im Stuttgarter Performance Hotel etwas vorführt, darf umsonst übernachten. VON JOACHIM RÜECK Kulinarisch fand neben den Ki- chererbsen auch eine Grillparty den Weg in die Dokumentation des Ko- reaners. Lesungen, Musik und Tanz gibt es immer wieder im Perfor- mance Hotel. Programmpunkte wa- ren unter anderem DJ Dritter Arm und die Tentakeln, Heavy Metal zum Schlafen und ein Live-Schmink-Tu- torial. Doch nicht etwa dröhnende Bässe, sondern eine andere Aktion rief die Polizei auf den Plan: „Das Ka- pital“ lesen bis zum Umfallen. Ne- ben Marx-Rezitatoren aus der Nach- barschaft kamen auch Beamte, die sich überzeugten, dass keine kom- munistischen Umtriebe im Gange waren. Und wie lange wurde gele- sen? Byung Chul Kim weiß es nicht: „Ich bin irgendwann ins Bett gegan- gen.“ Der Student an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart ist der einzige Dauerbewohner des Perfor- mance Hotels. Mit seinem über- sichtlichen Besitz lebt er unter dem Dach. Im Garten hat er eine Film- leinwand und eine Badewanne auf- gestellt, in der er es sich sogar im Winter gemütlich macht. Vor dem Auszug im Sommer ist ihm nicht bange: „Es wird wieder einen Platz geben, wo ich meine Kunst machen kann.“ Performance mit System Nachdem die Kichererbsen-Kunst verspeist ist, liest der Zeit-Journalist aus seinem entstehenden Buch über den Schneider von Ulm. Das kommt der traditionellen Vorstellung einer Darbietung recht nahe. Doch der Kunstbegriff ist in dem Hotel prag- matischer. Es gab schon die Perfor- mance „Zimmermädchen“, also Putzen. Wer jedoch nichts vorführen – oder putzen – will, der zahlt zehn Euro für eine Nacht auf der Matratze, mit Bettwäsche 15 Euro. So willkürlich die Vorführungen klingen mögen – hinter allem steckt System: Das „S_A_R Archiv für urba- ne Verhaltens- und Interaktionsfor- men“, ein Teil des Projekts, arbeitet an einer Mind Map, in der die einzel- nen Darbietungen vom Lächel- Wettkampf bis zur Performancebe- ratung „in einen komplexen Ge- samtzusammenhang gestellt“ wer- den. Und welche Auftritte sind By- ung Chul Kim als besondere Höhe- punkte im Gedächtnis geblieben? „Jede Performance“, sagt er, „war sehr eindrücklich.“ Höflichkeit ge- hört eben zum Wesen eines Hoteldi- rektors. Auch in der Kunstszene. zählt Dozentin Susanne Jakob, die das gemeinsame Projekt der Kunst- hochschulen beider Städte zu „per- formativen und aktivistischen Prak- tiken“ betreut. Byung Chul Kim hat- te die Hotel-Idee. Susanne Jakob ist begeistert vom Praxisbezug und der öffentlichen Zugänglichkeit: „Bei ei- ner Galerie wäre die Schwelle hö- her.“ Die Kunst solle schließlich da hin, wo die Menschen sind. Inzwi- schen habe die Herberge fast täglich Gäste. Die bis Ende Juli befristete Ak- tion sei „eine skurrile Komponente, die neugierig macht“ – sogar inter- national: Medien in den USA haben ebenso Berichte veröffentlicht wie die Arab News. Als Janina Hedtke sich dem Verar- beiten von Kichererbsen widmet, beobachten sie – neben unserer Zei- tung – die Wochenzeitung „Die Zeit“ und eine Stuttgarter Schülerzeitung. In der Küche, deren Art man aus zahllosen Studenten-Wohngemein- schaften kennt, beschreibt die Per- formerin die Flüchtigkeit von Aro- men, philosophiert über das Wesen des Chili: „Ich weiß nicht, ob ich mit ihm befreundet sein möchte.“ By- ung Chul Kim filmt Janina beim Öff- nen der Kichererbsendose, während er mit dem Foto in der anderen Hand den schöpferischen Akt auch in ru- henden Bildern dokumentiert. „Ich bin selbst Performer. Ich will lernen für meine Kunst“, sagt der 36-Jähri- ge. Er unterbricht nur, als die Koch- Performerin fragt: „Gibt es irgendwo ein glattes Messer?“ D er Hoteldirektor ist gerade nicht da. Der wurde zum Ölholen geschickt. Denn heute kocht der Gast. Nicht nur das unter- scheidet das Performance Hotel von herkömmlichen Beherbergungsbe- trieben. Kochen ist hier nicht nur schnödes Zubereiten, sondern in erster Linie Kunst. Das Motto heißt: Darbietung statt Rechnung. Wer in dem eigenwilligen Etablis- sement im Stuttgarter Osten irgend- etwas vorführt, muss für die Über- nachtung nichts zahlen. Er ist dafür Teil eines Kunstprojekts. Der Be- reich in der baden-württembergi- schen Landeshauptstadt, durch die Uhlandshöhe vom Zentrum abge- trennt, hat eine Tradition als Arbei- terviertel. Aus den alles andere als schicken Fassaden der Gablenber- ger Hauptstraße sticht das bunte Ge- bäude heraus. Die Fassade wurde mit Landkarten und Kalenderblät- tern tapeziert. Das ehemalige Win- zerhaus ist in städtischem Besitz. Jahrelang stand es leer, bis der Be- zirksbeirat das Gebäude Studenten zur Verfügung stellte, die es herge- richtet haben. Für Hoteldirektor Byung Chul Kim ist das Haus nun „ein Platz, an dem jeder Kunst werden kann“. An diesem Abend will Janina Hedtke Kunst werden. Sie ist kürzlich aus Heidelberg nach Stuttgart gezogen und logiert mit ihrer Freundin Isa- bell Brehl im Performance Hotel. Sie wollte es sich „einfach mal anse- hen“, sagt sie, bevor sie ihre Koch- Vorführung startet. Untergebracht sind beiden jungen Frauen in Raum 307, einem von zwei Hotelzimmern. Im anderen, das einmal die Nummer 156 hatte und jetzt Zimmer 253 ist, ein ähnliches Bild: eine Liege, drei Matratzen auf dem Holzboden, Licht spenden zwei Neonröhren, an der Wand hängt unter anderem ein Kinski-Plakat. Das Bad ist rosa geka- chelt und hat einen Fernseher. Die Möbel sind zusammengesucht oder Geschenke von Nachbarn. Der Stan- dard in den meisten Jugendherber- gen ist im Vergleich luxuriös. Doch es geht nicht darum, der Prinzessin auf der Erbse eine geneh- me Lagerstatt zu bieten. Geplant war die Behausung als Stuttgarter Basis für Saarbrücker Kunststudenten, er- Das Performance Hotel liegt an der Gablenberger Hauptstraße 22, 70186 Stuttgart. Buchung unter Tel.: 0177/6821271, per E-Mail [email protected] oder im Internet http://performanceho- tel.wordpress.com. Bei Übernahme einer Perfor- mance ist die Übernachtung kos- tenlos. Ohne Darbietung kostet die Über- nachtung im Schlafsack drei Euro, auf der Liege 10 Euro und auf der Matratze mit Bettwäsche 15 Euro. Wellness-Angebote, also das Nut- zen der Badewanne im Garten, bie- tet das Hotel „auf Anfrage“. Das Performance Hotel ist Teil des Projekts „Distrikt Ost“ in Stutt- gart und hat noch bis Ende Juli 2010 geöffnet. jor Infos und Adresse Für Direktor Byung Chul Kim ist das Performance Hotel „ein Platz, an dem jeder Kunst werden kann“. Mit dem Schneiden von Chilis und Zwiebeln gelingt dies auch Janina Hedtke. BILDER: RÜECK Gesundheit als Marke die BriefMarkenedition Von MorGenpost und aok Infos, Verkaufsstellen und Briefkästen für MORGENPOST Briefmarken finden Sie unter www.morgenpost-briefservice.de, Tel: 0180/1 521 521 (zum Ortstarif) | Fax: 0621/3922183 |Morgenpost Briefservice GmbH | Dudenstr. 12–26 | 68167 Mannheim deutschlandweit GünstiGer Mit

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MODERNES LEBEN 3MANNHEIMER

MORGENSamstag27. FEBRUAR 2010

HOTEL-GESCHICHTEN

Der Gast als KünstlerWer im Stuttgarter Performance Hotel etwas vorführt,darf umsonst übernachten. VON JOACHIM RÜECK

Kulinarisch fand neben den Ki-chererbsen auch eine Grillparty denWeg in die Dokumentation des Ko-reaners. Lesungen, Musik und Tanzgibt es immer wieder im Perfor-mance Hotel. Programmpunkte wa-ren unter anderem DJ Dritter Armund die Tentakeln, Heavy Metal zumSchlafen und ein Live-Schmink-Tu-torial. Doch nicht etwa dröhnendeBässe, sondern eine andere Aktionrief die Polizei auf den Plan: „Das Ka-pital“ lesen bis zum Umfallen. Ne-ben Marx-Rezitatoren aus der Nach-barschaft kamen auch Beamte, diesich überzeugten, dass keine kom-munistischen Umtriebe im Gangewaren. Und wie lange wurde gele-sen? Byung Chul Kim weiß es nicht:„Ich bin irgendwann ins Bett gegan-gen.“

Der Student an der Akademie derBildenden Künste in Stuttgart ist dereinzige Dauerbewohner des Perfor-mance Hotels. Mit seinem über-sichtlichen Besitz lebt er unter demDach. Im Garten hat er eine Film-leinwand und eine Badewanne auf-gestellt, in der er es sich sogar imWinter gemütlich macht. Vor demAuszug im Sommer ist ihm nichtbange: „Es wird wieder einen Platzgeben, wo ich meine Kunst machenkann.“

Performance mit SystemNachdem die Kichererbsen-Kunstverspeist ist, liest der Zeit-Journalistaus seinem entstehenden Buch überden Schneider von Ulm. Das kommtder traditionellen Vorstellung einerDarbietung recht nahe. Doch derKunstbegriff ist in dem Hotel prag-matischer. Es gab schon die Perfor-mance „Zimmermädchen“, alsoPutzen. Wer jedoch nichts vorführen– oder putzen – will, der zahlt zehnEuro für eine Nacht auf der Matratze,mit Bettwäsche 15 Euro.

So willkürlich die Vorführungenklingen mögen – hinter allem stecktSystem: Das „S_A_R Archiv für urba-ne Verhaltens- und Interaktionsfor-men“, ein Teil des Projekts, arbeitetan einer Mind Map, in der die einzel-nen Darbietungen vom Lächel-Wettkampf bis zur Performancebe-ratung „in einen komplexen Ge-samtzusammenhang gestellt“ wer-den. Und welche Auftritte sind By-ung Chul Kim als besondere Höhe-punkte im Gedächtnis geblieben?„Jede Performance“, sagt er, „warsehr eindrücklich.“ Höflichkeit ge-hört eben zum Wesen eines Hoteldi-rektors. Auch in der Kunstszene.

zählt Dozentin Susanne Jakob, diedas gemeinsame Projekt der Kunst-hochschulen beider Städte zu „per-formativen und aktivistischen Prak-tiken“ betreut. Byung Chul Kim hat-te die Hotel-Idee. Susanne Jakob istbegeistert vom Praxisbezug und deröffentlichen Zugänglichkeit: „Bei ei-ner Galerie wäre die Schwelle hö-her.“ Die Kunst solle schließlich dahin, wo die Menschen sind. Inzwi-schen habe die Herberge fast täglichGäste. Die bis Ende Juli befristete Ak-tion sei „eine skurrile Komponente,die neugierig macht“ – sogar inter-national: Medien in den USA habenebenso Berichte veröffentlicht wiedie Arab News.

Als Janina Hedtke sich dem Verar-beiten von Kichererbsen widmet,beobachten sie – neben unserer Zei-tung – die Wochenzeitung „Die Zeit“und eine Stuttgarter Schülerzeitung.In der Küche, deren Art man auszahllosen Studenten-Wohngemein-schaften kennt, beschreibt die Per-formerin die Flüchtigkeit von Aro-men, philosophiert über das Wesendes Chili: „Ich weiß nicht, ob ich mitihm befreundet sein möchte.“ By-ung Chul Kim filmt Janina beim Öff-nen der Kichererbsendose, währender mit dem Foto in der anderen Handden schöpferischen Akt auch in ru-henden Bildern dokumentiert. „Ichbin selbst Performer. Ich will lernenfür meine Kunst“, sagt der 36-Jähri-ge. Er unterbricht nur, als die Koch-Performerin fragt: „Gibt es irgendwoein glattes Messer?“

Der Hoteldirektor istgerade nicht da. Derwurde zum Ölholengeschickt. Denn heute

kocht der Gast. Nicht nur das unter-scheidet das Performance Hotel vonherkömmlichen Beherbergungsbe-trieben. Kochen ist hier nicht nurschnödes Zubereiten, sondern inerster Linie Kunst. Das Motto heißt:Darbietung statt Rechnung.

Wer in dem eigenwilligen Etablis-sement im Stuttgarter Osten irgend-etwas vorführt, muss für die Über-nachtung nichts zahlen. Er ist dafürTeil eines Kunstprojekts. Der Be-reich in der baden-württembergi-schen Landeshauptstadt, durch dieUhlandshöhe vom Zentrum abge-trennt, hat eine Tradition als Arbei-terviertel. Aus den alles andere alsschicken Fassaden der Gablenber-ger Hauptstraße sticht das bunte Ge-bäude heraus. Die Fassade wurdemit Landkarten und Kalenderblät-tern tapeziert. Das ehemalige Win-zerhaus ist in städtischem Besitz.Jahrelang stand es leer, bis der Be-zirksbeirat das Gebäude Studentenzur Verfügung stellte, die es herge-richtet haben.

Für Hoteldirektor Byung ChulKim ist das Haus nun „ein Platz, andem jeder Kunst werden kann“. Andiesem Abend will Janina HedtkeKunst werden. Sie ist kürzlich ausHeidelberg nach Stuttgart gezogenund logiert mit ihrer Freundin Isa-bell Brehl im Performance Hotel. Siewollte es sich „einfach mal anse-hen“, sagt sie, bevor sie ihre Koch-

Vorführung startet. Untergebrachtsind beiden jungen Frauen in Raum307, einem von zwei Hotelzimmern.Im anderen, das einmal die Nummer156 hatte und jetzt Zimmer 253 ist,ein ähnliches Bild: eine Liege, dreiMatratzen auf dem Holzboden,Licht spenden zwei Neonröhren, ander Wand hängt unter anderem einKinski-Plakat. Das Bad ist rosa geka-chelt und hat einen Fernseher. DieMöbel sind zusammengesucht oderGeschenke von Nachbarn. Der Stan-dard in den meisten Jugendherber-gen ist im Vergleich luxuriös.

Doch es geht nicht darum, derPrinzessin auf der Erbse eine geneh-me Lagerstatt zu bieten. Geplant wardie Behausung als Stuttgarter Basisfür Saarbrücker Kunststudenten, er-

Das Performance Hotel liegt ander Gablenberger Hauptstraße 22,70186 Stuttgart. Buchung unterTel.: 0177/6821271, per [email protected] oder imInternet http://performanceho-tel.wordpress.com.

Bei Übernahme einer Perfor-mance ist die Übernachtung kos-tenlos.

Ohne Darbietung kostet die Über-nachtung im Schlafsack drei Euro,auf der Liege 10 Euro und auf derMatratze mit Bettwäsche 15 Euro.Wellness-Angebote, also das Nut-zen der Badewanne im Garten, bie-tet das Hotel „auf Anfrage“.

Das Performance Hotel ist Teil desProjekts „Distrikt Ost“ in Stutt-gart und hat noch bis Ende Juli2010 geöffnet. jor

Infos und Adresse

Für Direktor Byung Chul Kim ist das Performance Hotel „ein Platz, an dem jeder Kunst werden kann“. Mit dem Schneiden von Chilisund Zwiebeln gelingt dies auch Janina Hedtke. BILDER: RÜECK

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