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10. Vorlesung: Diagnostik Sozialer Welten und Systeme Meine Damen und Herren! Ich komme nun zur Diagnostik sozialer Welten. Ich werde zunächst auf die Begriffe "soziale Welten" und "soziale Systeme" eingehen, dann auf die Ziele und Methoden der Diagnostik sozialer Welten und dann thematisch im Überblick vier Bereiche behandeln: Diagnostik von Gruppenprozessen, Familiendiagnostik, Organisationsdiagnostik und Diagnostik in Wohn- viertel, Stadtteil, Region, also sozialräumliche Diagnostik. Gliederung 1 Soziale Welten – soziale Systeme 1.1 Interaktionistisches Konzept 1.2 Systemtheorie 2 Ziele und Methoden 2.1 Ziele sozialökologischer Diagnostik 2.2 Methoden sozialökologischer Diagnostik 3 Diagnostik in Kleingruppen 3.1 Gruppendynamik und Soziogramm 3.2 Themenzentrierte Interaktion 3.3 Gruppeninterviews und Fokusgruppen 4 Organisationsdiagnostik 4.1 Moderationsmethoden 4.2 Problemanalyse 5.3 Organisationskulturen 5 Wohnviertel, Stadtteil, Region 5.1 Gesunde Städte und Lokale Agenda 21 5.2 Der Setting-Ansatz 5.3 Umweltbezogene Bedürfnisse 5.4 Zukunftswerkstatt Problemanalyse in der Kritikphase 5.5 Planungszelle Beispiel: Ergebnisse Planungszelle Wrangelkiez 5.6 Aktionsforschung 6 Fragen und Anregungen für die Diskussion Literatur 1 Soziale Welten – soziale Systeme Ökologische und soziale Aspekte sind natürlich bei jeder Form der Diagnostik wichtig, da wir es in der Diagnostik nicht mit autonomen Individuen zu tun haben, sondern immer von Men- schen in Lebenssituationen ausgehen müssen. Diagnostik sozialer Welten oder wie dieses Thema auch heißen könnte, wenn man den Um- weltaspekt stärker betonen will, "sozialökologische Diagnostik", meint aber im engeren Sinne

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Page 1: 10. Vorlesung: Diagnostik Sozialer Welten und Systeme

10. Vorlesung:

Diagnostik Sozialer Welten und Systeme

Meine Damen und Herren!

Ich komme nun zur Diagnostik sozialer Welten. Ich werde zunächst auf die Begriffe "sozialeWelten" und "soziale Systeme" eingehen, dann auf die Ziele und Methoden der Diagnostiksozialer Welten und dann thematisch im Überblick vier Bereiche behandeln: Diagnostik vonGruppenprozessen, Familiendiagnostik, Organisationsdiagnostik und Diagnostik in Wohn-viertel, Stadtteil, Region, also sozialräumliche Diagnostik.

Gliederung1 Soziale Welten – soziale Systeme

1.1 Interaktionistisches Konzept1.2 Systemtheorie

2 Ziele und Methoden2.1 Ziele sozialökologischer Diagnostik2.2 Methoden sozialökologischer Diagnostik

3 Diagnostik in Kleingruppen3.1 Gruppendynamik und Soziogramm3.2 Themenzentrierte Interaktion3.3 Gruppeninterviews und Fokusgruppen

4 Organisationsdiagnostik4.1 Moderationsmethoden4.2 Problemanalyse5.3 Organisationskulturen

5 Wohnviertel, Stadtteil, Region5.1 Gesunde Städte und Lokale Agenda 215.2 Der Setting-Ansatz5.3 Umweltbezogene Bedürfnisse5.4 Zukunftswerkstatt

Problemanalyse in der Kritikphase5.5 Planungszelle

Beispiel: Ergebnisse Planungszelle Wrangelkiez5.6 Aktionsforschung

6 Fragen und Anregungen für die DiskussionLiteratur

1 Soziale Welten – soziale Systeme

Ökologische und soziale Aspekte sind natürlich bei jeder Form der Diagnostik wichtig, da wires in der Diagnostik nicht mit autonomen Individuen zu tun haben, sondern immer von Men-schen in Lebenssituationen ausgehen müssen.Diagnostik sozialer Welten oder wie dieses Thema auch heißen könnte, wenn man den Um-weltaspekt stärker betonen will, "sozialökologische Diagnostik", meint aber im engeren Sinne

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etwas anderes. Bei der Diagnostik in der Praxis und Forschung haben wir bisher von einzel-nen Individuen gesprochen, wobei es um deren Weltsicht, psychische Probleme und psychi-sche Störungen usw. ging. Bei der Diagnostik sozialer Welten geht es nicht um den Einzel-nen, sondern es geht um soziale Gruppen, um Gruppenklima, Interaktionsstile, Umweltbedin-gungen usw. Natürlich ist es wichtig, auch hier zwischen Diagnostik für praktische Zwecke –etwa wenn es um das Arbeitsklima oder die Konflikte in einem Arbeitsteam und um Verbes-serungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz geht – und Diagnostik im Forschungszusammenhangzu unterscheiden. Hier gilt für die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Praxis undForschung das auch bei der Individualdiagnostik Gesagte.

1.1 Interaktionistisches Konzept

Stichworte Soziale Welten und Arenen• Anschluss an Alltagskonzept ("Welt des ...")• Gemeinsame Ziele, Tätigkeiten, Sichtweisen• Grundtendenz des steten Wandels• Unscharfe und wechselnde Grenzen• "Ausgehandelte" Ordnung und Stabilität• Entstehen und Vergehen von Subwelten• Arenen durch Konflikte innerhalb und zwischen sozialen Welten

Ich möchte zunächst auf die Begriffe soziale Welten und Arenen eingehen. Die Begriffestammen von Anselm Strauss, mit dem wir uns im Zusammenhang mit der Methodik derGrounded Theory noch ausführlicher beschäftigen werden. Strauss schließt mit dem Konzeptder sozialen Welt und der Arena an Alltagskonzepte an: Wir sprechen von der Welt desSports, der Welt des Schlagers und so weiter. Soziale Welten sieht Strauss in seiner Sozial-psychologie oder Soziologie als kleinste Einheiten, als Bausteine oder Moleküle gesellschaft-lichen Zusammenlebens an. Sie sind definiert durch gemeinsame Ziele, durch gemeinsameTätigkeiten, durch einen Fokus an Tätigkeiten und durch gemeinsame Sichtweisen. Das Kon-zept der sozialen Welt betont im Gegensatz zu Konzepten wie Organisationen, Gruppen usw.die Tendenz des steten Wandels. Soziale Welten unterteilen sich stetig neu in unterschiedlicheSubwelten, wir sprechen von Cliquenbildung oder Gruppierungen usw.

Die Grenzen zwischen unterschiedlichen sozialen Welten sind unscharf und unterliegen ei-nem steten Wechsel. Für das Innenleben einer sozialen Welt besteht eine Ordnung, die immerwieder durch Aushandlungen hergestellt werden muss. Die Stabilität wird durch Aushand-lungsprozesse erreicht, im Gegensatz zur Fluktuation und zum Wandel. Der Wandel ist dasNormale, die Ordnung ist das Besondere, wir haben es ständig mit einem Entstehen und Ver-gehen von Subwelten zu tun. Unterschiedliche Welten bilden Arenen, d.h. Schauplätze, indenen Konflikte ausgetragen werden, in denen sich gestritten wird, in denen sich verschiedenesoziale Welten artikulieren, sich abgrenzen, unter Umständen auch eine soziale Welt in meh-rere Subwelten zerfällt.

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Abb.: Soziale Welten/Arena Modell (Clarke 1991)

Es ist nützlich, sich anhand dieser grafischen Darstellung klar zu machen, wie soziale Welten(Kreise) sich von Organisationen (Kästen) unterscheiden, wie sie sich überschneiden können.Die Kästen sind hier Organisationen, etwa die Universität. In der Universität oder am Institutfür Psychologie gibt es verschiedene soziale Welten (Kreise): die der Studenten, die der Leh-renden und natürlich Subwelten, unterschiedliche Fächer, unterschiedliche Interessengruppen,die gemeinsame Ziele und gemeinsame Tätigkeiten haben, die gemeinsame Sichtweisen tei-len.Stellen Sie sich die sozialen Welten am Beispiel der Psychotherapiearena vor. Psychotherapieist ein weites Feld, eine Arena, in der Konflikte ausgetragen werden. Innerhalb dieser Arenasind zu unterscheiden:Die Welt der ärztlichen Psychotherapeuten, der psychologischen Psychotherapeuten, dieWelten der Therapierichtungen, Welten spiritueller alternativer Therapeuten, die Welt derPsychotherapieforscher, der Gesundheitsökonomen, der Psychiater.So können Sie sich eine psychotherapeutische Station vorstellen, der Kasten dort oben, indieser Station finden Sie Mitglieder verschiedener Welten, Therapeuten unterschiedlicherOrientierung, Pflegepersonal. Sie sehen, dass die Grenzen der Welten und Subwelten und dieder Organisationen nicht übereinstimmen. Zwischen den einzelnen Welten und Organisatio-nen gibt es Aushandlungsprozesse, Konflikte werden ausgetragen, Regeln werden vereinbart,sie wandeln sich. Gerade für unser modernes Leben ist dieses Konzept der sich ständig än-dernden sozialen Welten und Subwelten ein sehr geeignetes Analyseinstrument, da es nicht anstarre Grenzen gebunden ist wie Abteilungen, Organisationen, Teamzugehörigkeiten.

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1.2 Systemtheorie

Stichworte Systemtheorie• Formale Theorie (Kybernetik)• System als Wirkungsgefüge aus "Menge von Elementen + ihre Relationen"• Systemgrenzen• Offene und geschlossene Systeme• Systemdynamik• Selbstorganisation und Selbstreferenz• System und Beobachter (strukturelle Koppelung)• Soziale Systeme• System oder Lebenswelt?

Ein anderer zentraler Begriff, den Sie im Zusammenhang mit der Diagnostik größerer sozialerEinheiten häufig hören und der häufig angewendet wird, ist der Begriff des sozialen Systems.Die Systemtheorie stammt aus der Kybernetik, Norbert Wiener gilt als Entdecker oder Grün-dungsvater der Kybernetik. Zunächst ist es wichtig, sich klar zu machen, wie Systeme defi-niert sind. Systeme sind Wirkungsgefüge, sie bestehen aus einer Menge von Elementen plusden Beziehungen zwischen den Elementen. Ein Familiensystem besteht aus den Familienmit-gliedern als Elementen und den Beziehungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern.Darüber hinaus lassen sich innerhalb des Gesamtsystems der Familie oder innerhalb einerOrganisation Subsysteme unterscheiden.Zunächst ein paar Besonderheiten der Systemtheorie, die bei der durchaus umstrittenen undproblematischen Anwendung dieser formalen mathematischen Theorie auf soziale Zusam-menhänge wichtig sind. Die Grenzen eines Systems liegen nicht von vornherein fest, sondernsind vom Betrachter abhängig – denken Sie an das System der Familie, an ein Familiensys-tem. Es ist eine Frage der Betrachtung, ob Sie die Kernfamilie betrachten, die erweiterte Fa-milie, oder ob sie auch die Relationen, die einzelne Familienmitglieder zu Freunden, Be-kannten, Schule, Arbeitsplatz haben, mit zum System rechnen. Es sind also willkürlicheGrenzen, die vom Standpunkt des Beobachters und seiner Betrachtung abhängen.Wichtig ist weiterhin die Unterscheidung zwischen offenen und geschlossenen Systemen;offene Systeme sind in Bezug auf ihre Umgebung, auf das umgebende System bzw. die Um-welt im Austausch befindlich, geschlossene Systeme weisen diesen Austausch nicht auf. Esist natürlich auch eine Frage der Betrachtung, welche Art von Austausch ich im Auge habe –entsprechend erscheint ein System als offen oder geschlossen. Der menschliche Organismusbeispielsweise ist auf einen Austausch mit der Umwelt angewiesen, schon aus Gründen derEnergieerhaltung, der Aufrechterhaltung des Systemgleichgewichts innerhalb des Systems.Für manche Fragestellungen ist es aber durchaus sinnvoll, den Organismus als in sich ge-schlossenes System zu betrachten, die Grenzen sind auch hier fließend.

Studentin: "Eine Frage zu den Grenzen: gibt es ein denkbares soziales System, das geschlos-sen ist?"

Soziale Systeme sind teilweise operativ geschlossen. Sie kennen geschlossene Zirkel, Siekennen Familien, die nach außen mehr oder weniger abgeschottet sind. Es gibt sicher keinevöllig geschlossenen sozialen Systeme, aber Sie können soziale Systeme durchaus als mehroder weniger geschlossen betrachten. Soziale Systeme neigen unter Umständen dazu, Gren-zen nach außen aufzubauen, das ist eine grundlegende Tendenz sozialer Systeme – denken Sie

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an die Tendenz zur Ausgrenzung von Fremden.Wichtig ist, die Dynamik von Systemen zu beachten. Systeme ändern sich in einer schwer zudurchschauenden, schwer verstehbaren Weise, die einzelnen Elemente können sich ändernund die Beziehungen können sich ändern. Es wird von Systemen sehr oft ein Gleichgewichtangestrebt, eine Art von Homöostase, aber das kostet Arbeit und Energie, es geht um denAufwand, ein Systemgleichgewicht aufrecht zu erhalten.Soziale Systeme besitzen die Eigenschaft der Selbstorganisation und sie sind selbstreferen-ziell oder selbstreflexiv. Sie verändern sich oder sie stabilisieren sich darüber, dass sie ihreneigenen Zustand reflektieren und kontrollieren können.Wichtig ist der Unterschied zwischen System und Beobachter: hier spricht man von einerstrukturellen Koppelung. Der Beobachter reproduziert die Struktur des Systems, indem er sichan das System ankoppelt.Soziale Systeme sind im strengen Sinne nicht mit dem mathematischen Theorien der Sys-temtheorie zu behandeln, obwohl das wird immer wieder versucht wird. Besonders wichtig istin dem Zusammenhang die Arbeit des Soziologen Niklas Luhmann, der mit seinem Klassiker"Soziale Systeme" einen großen Einfluss auf die Entwicklung in der Soziologie genommenhat, aber auch auf die Familientherapie. Luhmann betrachtet soziale Systeme als selbstrefe-renzielle, operativ geschlossene Systeme. Sie sind durch Kommunikation miteinander ver-bunden, nicht durch Handeln, also in der Systemtheorie von Luhmann löst sich das handelndeIndividuum auf, es gibt lediglich die strukturelle Koppelung und die Kommunikation. Diesoziale Wirklichkeit betrachtet Luhmann als eine universale theoretische Konstruktion, auseiner Vielfalt von miteinander sozial integrierten Systemen. Luhmanns Systemtheorie ist reinfunktionalistisch, die soziale Wirklichkeit wird auf rationale Aspekte reduziert. Das zur Kritikdieses Ansatzes.

Stichworte soziale Systeme• Kleingruppen

Ad-hoc-Gruppen, Arbeits-, Interessen-, Lerngruppen• Partnerschafts- und Familiensysteme

Paarbeziehung, Kern-, erweiterte Familie, Wohngemeinschaften• Institutionen/Organisationen

Profit-/Non-Profit-Organisationen, Verwaltungen, Parteien, Parlament, Regierung• Kooperations-Systeme

Kooperative Projekte, Netze, Arenen• Sozialräumliche Systeme

Nachbarschaft, Wohnviertel, Kommune, Region• "Große Systeme"

Länder, Staatenbünde, Weltgemeinschaft

Hier eine Übersicht über soziale Systeme:Kleingruppen: Ad-hoc-Gruppen, Arbeits-, Interessen-, Lerngruppen; Partnerschafts- und Fa-miliensysteme kann man natürlich auch als Kleingruppen, von größerer Stabilität auffassen,Paarbeziehungen, die Kern-, die erweiterte Familie, Wohngemeinschaften, andere Formen derLebensgemeinschaft.Dann, ganz wichtig, Institutionen und Organisationen: Wirtschaftsunternehmen, Non-Profit-Organisationen, Verwaltungen, Parteien, Parlament, Regierung, die Universität. In diesenInstitutionen leben wir immer mehr und sie gewinnen einen immer größeren Einfluss überunser Leben.Dann Kooperationssysteme: kooperative Projekte, Gemeinschaftsprojekte, Netze, Arenen, indenen mehrere Organisationen und Gruppierungen zusammen arbeiten.

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Schließlich sozialräumliche Systeme: Nachbarschaften, Wohnviertel, Kommune, Region.Große Systeme: Länder, Staaten, Staatenbünde, die Weltgemeinschaft.

2 Ziele und Methoden

2.1 Ziele sozialökologischer Diagnostik

Stichworte Ziele sozialökologischer Diagnostik• Kooperations- und Konfliktberatung in Gruppen• Therapeutische Interventionen in Gruppen• Organisationsentwicklung – Qualitätsmanagement• Change Management• Implementation und Evaluation sozialer Reformen• Technikfolgenabschätzung – Technikentwicklung• Gestaltung von Settings und Lebenswelten• Konfliktmediation• Politikberatung

Nun komme ich zu den praktischen Zielen der sozialökologischen Diagnostik. Da geht eszunächst um Kooperations- und Konfliktberatung in unterschiedlichen Gruppen, ein weitesFeld für sowohl Arbeits- und Organisationspsychologen wie auch klinische Psychologen:Beratung von Gruppen unterschiedlicher Art – wie ist die Kooperation zu verbessern, dieKreativität, die Leistungsfähigkeit zu verbessern oder auch wie sind Konflikte zu lösen, zubewältigen, wie ist das Arbeitsklima zu verbessern.Dann therapeutische Interventionen, vor allem in der Familientherapie.Organisationsentwicklung, Qualitätsmanagement in der Arbeits- und Organisationspsycholo-gie.Ein ganz wichtiges Thema heutzutage ist die Begleitung von Strukturwandel, Reformen,Sparmaßnahmen. Denken Sie etwa an die Verwaltungsreform in Berlin, mit dem Zusammen-legen der Bezirke werden viele Ämter, viele Arbeitsplätze überflüssig, neue Arbeitsplätzewerden geschaffen, neue Tätigkeitsfelder sind notwendig. Das ganze wird auf Neudeutschunter Change Management zusammengefasst.Ein wichtiger Punkt ist auch die Implementation, d.h. Einführung und die Evaluation sozialerReformen in ganz unterschiedlichen Bereichen, denken Sie an Gesundheitsförderprogrammeund ähnliches.Ein wichtiges Thema ist auch die Technikfolgenabschätzung, Technikentwicklung, geradeauch für die Technische Universität, die Bewertung neuer Technologien, denken Sie an dasInternet und die Auswirkungen auf alle Lebensbereiche.Ein weiterer Punkt ist die Gestaltung von Lebensräumen, Lebenswelten, von Settings wieman sagt, wie sind Arbeitsplätze, Organisationen, Arbeitsabläufe, das Psychologiestudium zugestalten, damit die jeweiligen Ziele besser, effizienter erreicht werden können.Ein großer Bereich ist die Konfliktmediation: Konflikte zwischen Gruppen, zwischen Institu-tionen, zwischen Parteien, zwischen ethnischen Gruppen usw., bis hin zu politischen Kon-flikten.Ein weiteres Anwendungsfeld ist die Politikberatung: Grundlagen für politische Entscheidun-gen, etwa für Reformen. Das sind nur einige der Ziele der sozialökologischen Diagnostik oderder Diagnostik sozialer Welten und Umwelten.

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Diese Themen kommen im Psychologiestudium viel zu kurz, hier sind wichtige künftige Ar-beitsfelder für Psychologen zu sehen, die in Zukunft sehr viel stärker berücksichtigt werdenmüssen. Ich kann hier zu diesem Thema nur einen Überblick und einige Anregungen geben,als Impuls für künftige Vertiefungen, die Sie entsprechend Ihren Interessen vornehmen.

2.2 Methoden sozialökologischer Diagnostik

Stichworte Methoden sozialökologischer Diagnostik• Pragmatisches Vorgehen

- Dokumenten- und Medienanalyse- Befragung- Teilnehmende Beobachtung/Feldforschung

• Interaktionsanalyse• Gruppendynamische Ansätze• Familiendiagnostische Ansätze• Analyse sozialer Repräsentationen• Bedürfnis- und Ressourcen-Ansatz• Akteurs- und Konfliktanalyse• Arbeitsplatzanalyse• Behavior-Settings-Ansatz• Sozialepidemiologie und Berichterstattung• Policy-Analyse• Szenario-Technik• Selbstuntersuchungs-Ansätze

- Moderationsmethoden- Zukunftswerkstatt- Planungszelle und Bürgergutachten- Aktionsforschung

3 Diagnostik in Kleingruppen

Stichworte Diagnostik in Kleingruppen• Kleingruppenforschung und Gruppendynamik• Art und Zielsetzung von Gruppen• Phasen der Gruppenentwicklung• Rollen in der Gruppe• Konflikte• Prozessanalyse• Gruppe als Methode:

- Gruppeninterview- Themenzentrierte Interaktion- Arbeitsgruppen zur Problemanalyse- Rollenspiel, Simulation- Gestaltende Methoden

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3.1 Gruppendynamik und Soziogramm

Kleingruppenforschung und Gruppendynamik gehen im wesentlichen zurück auf die Arbeitendes ungarischen Psychotherapeuten Jacob Moreno (1892-1974) im therapeutischen Bereichund des deutsch-amerikanischen Sozialpsychologen Kurt Lewin (1890-1947) in der Organi-sationspsychologie. Moreno begründete das Psychodrama und Soziodrama als diagnostisch-therapeutische Gruppenmethoden, in denen durch Rollenspiele problematische Alltagsszenennachgespielt werden, um dadurch ein besseres Verständnis für die soziale Interaktion zu errei-chen.Das von Moreno entwickelte Soziogramm ist eine quantitativ-qualitative Methode zur Dia-gnostik von Beliebtheits- und Einflussstrukturen in Kleingruppen: Jedes Gruppenmitgliedwird gefragt, mit wem es am liebsten für eine bestimmte Tätigkeit oder Aufgabe zusammen-wirken möchte (z.B. eine Reise machen). Für die quantitative Diagnostik können u.a. dieWahlhäufigkeiten ausgewertet werden, die auf jedes Gruppenmitglied entfallen. Zur qualitati-ven Methode lässt sich das Soziogramm erweitern, wenn jedem Gruppenmitglied Gelegenheitgegeben wird, seine Wahl zu erläutern.

Soziogramme (s. Abb.) und andere Methoden der Gruppenuntersuchung haben ergeben, dassin den verschiedensten Spontan- und Arbeitsgruppen immer wieder folgende typische Rollen-verteilung anzutreffen ist:• In den meisten Gruppen übernimmt ein Mitglied ziemlich bald die "Führerrolle" (Alpha-

Position). Der Träger der "Alpha-Position" hat ein besonderes Gewicht bei Fragen der Ko-ordination und vertritt die Gruppe nach außen. Die Art der Interaktion zwischen dem "Füh-rer" und den restlichen Gruppenmitgliedern macht den Unterschied zwischen "autoritären"und "demokratischen" Gruppen aus. Zur Beschreibung dieser Rollenbeziehungen eignetsich der "Repressionsgrad".

• Für besondere Aufgaben und Funktionen bilden sich häufig "Spezialisten-Rollen" aus(Beta-Rolle).

• Die Mehrzahl der Mitglieder größerer Gruppen spielt eine "Mitläufer-Rolle" (Gamma-Rolle), vor deren Hintergrund sich die profilierteren Rollen erst entwickeln können (in derGesellschaft entspricht ihr die vielberufene "schweigende Mehrheit").

• In "neurotischen" Gruppen werden einzelne Gruppenmitglieder in die Rolle des "Prügel-knaben" oder "Sündenbocks" gedrängt (Omega-Rolle). Der Träger der Omega-Rolle för-dert den Gruppenzusammenhalt häufig dadurch, dass er den anderen Gruppenmitgliedernals Zielscheibe dient, auf ihn werden die eigenen unbewältigten Konflikte und Aggressio-nen "übertragen". (In der Gesellschaft fällt diese Rolle häufig rassischen, religiösen oderpolitischen Minderheiten zu.)

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Abb.: Soziogramm: A hat die Führerrolle. E aber muss mit der Gefahr der Omega-Rolle rechnen(Legewie & Ehlers 1992)

Lewin verstand unter Gruppendynamik zunächst die sozialpsychologische Erforschung vonKleingruppenprozessen, z.B. in Bezug auf Rollendifferenzierung und den Führungsstil inGruppen. Doch bei der Anwendung auf praktische Probleme, z.B. in Industriebetrieben, imBildungsbereich und im Gemeinwesen, zeigte sich schon bald, dass das Erfahren gruppendy-namischer Prozesse ein bisher nicht ausgeschöpftes Lernpotenzial für die Gruppe als Ganzesund für den einzelnen darstellt. So entstand 1946/47 die Laboratoriumsmethode der Grup-pendynamik: Eine Gruppe von ca. 6 bis 20 Teilnehmern macht während einer mehrtägigen"Klausurtagung" unter Anleitung eines gruppendynamisch erfahrenen Leiters (es können auchmehrere sein) charakteristische Gruppenerfahrungen. Das Bewusstmachen der im Alltagmeist unbemerkt ablaufenden Gruppenprozesse führt bei den Teilnehmern zu einem Wachs-tum der Persönlichkeit und zu mehr Kompetenz in der Gruppe ("Lernen durch Tun"). Ent-sprechende Veränderungen, z.B. differenziertere Selbstwahrnehmung und besseres Einfüh-lungsvermögen, Zunahme der Rollenflexibilität und ein gesteigertes Verantwortungsgefühlsowie die Abnahme rassistischer Vorurteile bei den Teilnehmern gemischter Gruppen, konn-ten auch empirisch nachgewiesen werden.Die Methoden der Gruppendynamik sind ebenso vielfältig wie ihre Anwendungsfelder. Nachder Zielsetzung unterscheiden sich Selbsterfahrungs- von problem- und aufgabenorientiertenGruppen. In Selbsterfahrungsgruppen hält sich der Trainer (Leiter, Moderator) weitgehendzurück, um der Gruppe die Chance zu geben, sich ihres Zusammenwachsens, ihrer Rollendif-ferenzierung, ihrer Spannungen und Konflikte bewusst zu werden. Seine Aufgabe besteht vorallem darin, einen angstfreien Rahmen zu schaffen, der ein "Experimentieren" mit neuen Er-fahrungen ermöglicht, und die ablaufenden Prozesse zu reflektieren.Im Laufe der Zeit wurde eine Fülle von gruppendynamischen Übungen (z.B. Rollen-, Ent-scheidungs-, Feedback-Spiele) entwickelt, die sowohl in aufgaben- als auch in selbsterfah-rungsorientierten Gruppen eingesetzt werden können, um bestimmte Gruppenphänomeneprägnanter erfahrbar und damit auch diagnostizierbar zu machen. Nonverbale Übungen bietendabei den Vorteil, auch Bereiche außerhalb der sprachlich-intellektuellen Ebene zugänglichzu machen.

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3.2 Themenzentrierte Interaktion

Abb.: TZI-Dreieck

Die Psychoanalytikerin Ruth Cohn ("Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interakti-on", 1975) hat ein Konzept für die Gruppenarbeit entwickelt, das den Faktoren Selbsterfah-rung und Aufgabenorientierung gleichermaßen Rechnung trägt, die Themenzentrierte Inter-aktion (TZI). Unter dem Eindruck ihrer Verfolgung aus rassischen Gründen während der Na-zizeit, die sie zur Emigration in die USA zwang, setzte sie sich das Ziel, ihre Erfahrungen mitder Psychoanalyse und der Humanistischen Psychotherapie für ein lebendiges Lernen vonMitmenschlichkeit und Toleranz auch in nicht-therapeutischen Gruppen fruchtbar zu machen.Themenzentrierte Interaktion ist zugleich eine Haltung und eine Methode der Gruppenarbeit.Ruth Cohn geht aus vom Menschen als psycho-biologische Einheit, von der gleichzeitigenAutonomie und Interdependenz (Verbundenheit) des Menschen mit seinen Mitmenschen undmit dem Universum und von der Ehrfurcht gegenüber allem Lebendigen. In der Gruppenar-beit schlagen sich diese "Axiome" nieder in der Suche nach einer Balance zwischen den Be-dürfnissen des einzelnen (Ich), dem Gruppengeschehen (Wir) und der Aufgabe (Thema). We-sentlich ist aber auch die Beachtung des Umfeldes (Globe) der Gruppe und ihrer Mitglieder(s. Abb.).Lebendiges Lernen, kreatives Arbeiten und Problemlösen sind davon abhängig, dass es derGruppe und ihrem Leiter immer wieder gelingt, diese dynamische Balance herzustellen. DieBedürfnisse der Teilnehmer dürfen ebenso wenig von den "Sachzwängen" einer Arbeitsgrup-pe überfahren werden wie die Aufgabe durch zu viel Selbsterfahrung oder Gruppendynamikaus dem Blick geraten darf. TZI gibt eine Struktur vor, die vom Leiter vermittelt wird, fürderen Realisierung aber auch jedes Gruppenmitglied Verantwortung übernehmen muss. Einewichtige Rolle spielt bei der Strukturvorgabe das Thema, das sorgfältig gewählt sein will,damit es die Gruppenmitglieder bei ihren Bedürfnissen "abholt". Die angestrebte Balancezwischen Thema, Gruppengeschehen und persönlichen Bedürfnissen wird gefördert durcheine Reihe von Orientierungsregeln für die Gesprächsführung (s. Kasten). Der Leiter hat dieAufgabe, diese Regeln in der Gruppenarbeit so zu vermitteln, dass die Teilnehmer sie zuneh-mend in die eigene Verantwortung übernehmen, d.h. dass sie sich selber nicht nur leiten las-sen, sondern dass sie auch selbst leiten. Die wichtigsten Regeln ("Sei dein eigener Leiter" und"Störungen haben Vorrang") beziehen sich unmittelbar auf diese Eigenverantwortung, diejedes Gruppenmitglied trägt bzw. die es lernen sollte zu übernehmen.

Thema

Ich WirGlobe

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TZI-Regeln für Gruppengespräche• Sei dein eigener Leiter, deine eigene Leiterin: Übernimm die Verantwortung für dich selbst

und für das, was du sagst und tust in der Gruppe – unter Berücksichtigung der Balancezwischen Ich, Gruppe, Thema und Randbedingungen.

• Störungen haben Vorrang: Unterbrich das Gespräch, wenn du nicht mehr folgen kannst.• Vertritt dich selbst in deinen Aussagen, geh von deinen persönlichen Erfahrungen aus.• Sei authentisch und selektiv, d.h., mach dir bewusst, was du fühlst und denkst, und wähle

aus, was du davon mitteilen möchtest.• Wenn du Fragen stellst, sage, warum du fragst.• Halte dich bei anderen mit Interpretationen zurück, sprich statt dessen von deinen Reaktio-

nen auf die anderen.• Gespräche mit dem Nachbarn ("Seitengespräche") sollen in die Gruppe eingebracht wer-

den.• Immer nur einer, nicht zu lange reden, zum Thema sprechen!

3.3 Gruppeninterviews und Fokusgruppen

Stichworte Gruppeninterviews• Zielsetzungen• Gruppenzusammensetzung• Vorgabe des thematischen Rahmens

(auf persönlichen Bezug achten!)• Vorstellungsrunde• Diskussionsregeln (z.B. TZI-Regeln)• Diskussionsanreiz zum Einstieg• Nachfragen und Rückführungen zum Thema• Unterschiedliche Positionen herausarbeiten• Evaluationsrunde (Was hat's gebracht?)

Gruppeninterviews werden gelegentlich als zeitsparender Ersatz für Einzelinterviews durch-geführt. Dagegen ist einzuwenden, dass sich aufgrund gesprächs- und gruppendynamischerEinflussfaktoren Einzelinterviews von Interviews in der Gruppe systematisch unterscheiden.Während Einzelinterviews indiziert sind, wenn die persönliche Biografie und Weltsicht desInterviewten erforscht werden soll, werden Gruppeninterviews in erster Linie eingesetzt, umGruppenmeinungen, die Entstehung gemeinsamer oder auch unterschiedlicher Sichtweisen inder Gruppendiskussion zu diagnostizieren (die Gruppe als Thema) oder um die Möglichkeitenvon Arbeitsgruppen zur Analyse von Problemsituationen und Lösungswegen zu nutzen (dieGruppe als Methode).

In der Meinungsforschung, aber auch in der Sozial-, Umwelt- und Gemeindepsychologie wirdhäufig mit so genannten Fokusgruppen gearbeitet. Fokusgruppen sind Kleingruppen von 4-6Personen, deren Mitglieder gezielt ausgewählt werden, um mit ihnen ein gemeinsames Themazu diskutieren.Die Bremer Arbeitsgruppe um Thomas Leithäuser und Birgit Volmerg hat für solche Fokus-gruppen eine an der TZI angelehnte Gesprächsführung vorgeschlagen (Leithäuser & Volmerg1988). Das in den Mittelpunkt der Fokusgruppe gestellte Thema sollte einen erlebnismäßigenBezug zu den Teilnehmern aufweisen. Der Moderator führt das Thema ein und erläutert dieTZI-Regeln (s.o.).

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Eine besonders interessante Erweiterung von Leithäuser & Volmerg (1988) ist die Selbstaus-wertung mit Hilfe einer einfachen Strichzeichnung am Ende der Gruppendiskussion. DieGruppenmitglieder werden aufgefordert, in der Mitte eines Posters den wichtigsten Gesichts-punkt der Diskussion zeichnerisch darzustellen und weitere wichtige Aspekte um diesen Mit-telpunkt herum zu gruppieren. Die bildliche Darstellung wird durch eine sprachliche Erläute-rung des Dargestellten ergänzt. Der folgende Kasten enthält das Ergebnis der Diskussion ei-ner Fokusgruppe von Fließbandarbeiterinnen zu ihren Arbeitsbedingungen.

Im Mittelpunkt des Bildes ist ein Angsthase zu sehen. In ihm sind die vielfältigen, in derDiskussion geäußerten Ängste und Hinderungsgründe verkörpert, die einen die Situation, sowie sie ist – obwohl man sie sich anders wünscht – ertragen lassen. Da ist zunächst einmaldie Angst, außerhalb der Sieben-Minuten-Pausen auf die Toilette zu gehen (Tür mit Herzrechts neben dem Hasen). Wenn man am Band arbeitet, keine Ablösung da ist und die Ar-beit einem davonläuft (rechts oben), traut man sich nicht aufzustehen. Sofort wäre derMeister da, mit Peitsche und Fußtritten (linke und obere Bildseite) und würde einen zur Ar-beit anhalten. Wie an die Kette gelegt fühlen sich die Teilnehmerinnen, unfrei und gelähmtvon ihrer Angst. Was ließe sich dagegen tun? Die einzelne ist ohnmächtig, wenn mehr Ei-nigkeit untereinander da wäre, gäbe es schon Möglichkeiten. Doch diese Einigkeit (linksunten vier Strichmänner und eine Strichfrau, die unverbunden nebeneinander stehen) gibt es– aus vielerlei Gründen nicht –. Und auch der Betriebsrat scheint sich um die Probleme derArbeiterinnen kaum zu kümmern. Da werden zwar viele Sitzungen gehalten (obere linkeBildseite) und Kaffee getrunken, doch die Kollegen werden im Unklaren gelassen: niemandweiß und sagt etwas. Arbeitszeit (Uhr) und Prämienlohn (Geldscheine) wären z.B. etwas,wo was geändert werden könnte. Die Prämie ist zu niedrig und macht unzufrieden, weil mannicht für andere, die sich einen faulen Tag machen, mitarbeiten will. Zu Hause bleiben undnicht arbeiten gehen (links unten) wäre aber auch nicht das Wahre, selbst wenn man es sichfinanziell leisten könnte. Auch hier käme man sich bald eingesperrt und von der Welt abge-schnitten vor.

Abb.: Gruppeninterview mit Fließbandarbeiterinnen (Leithäuser & Volmerg 1988)

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4 Organisationsdiagnostik

Stichworte Organisationsdiagnostik• Formelle und informelle Strukturen• Die Organisationskultur• Diagnostik in der Organisationsentwicklung

- Rolle und Auftrag des Beraters- Messwerte und Befragungen- Partizipative Ansätze- Diagnostik als Wissensmanagement

• Qualitätsmanagement• Lernende Organisationen, Change-Management• Kooperative Projekte

Ich nehme an, dass Sie von Organisationsdiagnostik ausführlich in der Arbeits- und Organisa-tionspsychologie hören.Ich geben Ihnen hier nur eine kurze Zusammenfassung, wobei es mir um qualitative Aspektegeht. Zunächst die Unterscheidung zwischen formellen und informellen Strukturen in Organi-sationen: Sie wissen, dass es auf der einen Seite die offizielle Hierarchie und das Organi-gramm gibt und auf der andern Seite die informellen Gruppen und Strukturen, die oft vonwesentlich größerer Bedeutung sind.Ein wichtiger Begriff, der eigentlich aus der Ethnologie oder Ethnografie stammt und jetzt aufOrganisationen angewendet wird, ist die Organisationskultur, ein Begriff, der geradezu he-rausfordert qualitative Methoden einzusetzen.Bei der Diagnostik in der Organisationsentwicklung ist es auf der einen Seite zentral, ebensowie in der Familientherapie, dass die Rolle des Beraters und der Auftrag geklärt wird: Wererteilt den Auftrag, worin besteht der Auftrag? In der Arbeits- und Organisationspsychologiewird viel mit Messwerten und Befragungen gearbeitet, aber darüber hinaus sind besonderspartizipative Ansätze wichtig, Ansätze, in denen die Mitarbeiter des Betriebs in den diagnosti-schen Prozess als Experten einbezogen werden. Auf diese Ansätze werde ich im weitereneingehen.Eine neue Konzeption, vielleicht nur ein neues Schlagwort, ist das Wissensmanagement inOrganisationen. Diagnostik der Institution wird als Aspekt des Wissensmanagements aufge-fasst. In diesem Zusammenhang stehen auch neuere Entwicklungen in der Organisations- undManagementtheorie, speziell das Qualitätsmanagement. Ich werde auf den Qualitätsbegriff inder nächsten Vorlesung ausführlicher eingehen. Auch das Konzept der lernenden Organisati-on gehört hierher: Eine Diagnose der eigenen Strukturen erlaubt der Organisation sich zu ver-ändern, eine lernende Organisation zu werden. Als Aufgabe für Organisationsberater ergibtsich das Change-Management, wie man Neudeutsch sagt, also die Begleitung von Verände-rungen. Wir sind in großen Prozessen der gesellschaftlichen Umstrukturierung, wo Organisa-tionen häufig ihre Ziele ändern und Reformen einführen müssen, sowohl Sparmaßnahmen, alsauch Qualitätsverbesserungen.Ein weiteres wichtiges Ziel in modernen Organisationen ist es, die Kooperation zwischenAbteilungen, zwischen unterschiedlichen Organisationen zu verbessern. Kooperation in undzwischen Projekten wird zur Aufgabe für die Diagnostik.

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4.1 Moderationsmethoden

Stichworte Moderation von Arbeitsgruppen• Zielsetzung:

- Förderung der Zusammenarbeit in Kleingruppen (ca. 5-25 Personen)• Aufgaben der Moderation:

- Atmosphäre schaffen- Arbeitsprozess strukturieren- Zeitmanagement- Konfliktbewältigung

• Techniken:- Visualisieren (Karten, Poster, "Szenarios")- Arbeitshilfen geben- Wechsel Plenum/Kleingruppen- Gruppendynamik beachten

• Typischer Verlauf:- Einstieg- Problemdefinition/Problemanalyse- Maßnahmen zusammen stellen- Arbeitsplan

Zunächst möchte ich auf eine sehr einfache Methode der Organisationsdiagnostik eingehen,eine partizipative Methode: die Diagnostik von organisationsinternen Problemen mit Hilfe derModerationsmethode. Diese Methode läuft häufig unter dem Firmennamen Metaplan. DieFirma Metaplan versucht, für sich eine Art Alleinvertretungsanspruch für diese Methode zureklamieren, doch die Methode wurde aus dem Geist der Studentenbewegung nach '68 entwi-ckelt, um Arbeitsgruppen im Sozial- und Bildungsbereich arbeitsfähiger zu machen.

Bei der Moderation von Arbeitsgruppen geht es um die Förderung der Zusammenarbeit inKleingruppen von etwa 5 bis 25 Personen. Moderation hat zum einen die Aufgabe, eine guteAtmosphäre für die kreative Arbeit zu schaffen, den Arbeitsprozess zu strukturieren, wobeidas Zeitmanagement besonders wichtig ist, und auch zur Konfliktbewältigung beizutragen.Dabei wird ausgiebig Gebrauch gemacht von Techniken zur Visualisierung des Gruppenpro-zesses, es werden Arbeitshilfen gegeben. Wichtig ist weiterhin der Wechsel von Plenum undKleingruppenarbeit und die Beachtung der Gruppendynamik.

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4.2 Problemanalyse

Abb.: Frageformulierungen für die Problembearbeitung

Ich betrachte hier die Moderationsmethode als diagnostische Methode, wobei es vor allem umdie Problemdefinition und Problemanalyse geht, z.B. bei Konflikten und strukturellenSchwierigkeiten am Arbeitsplatz.Hier einige Möglichkeiten der Frageformulierung für die Problembearbeitung: Es wird kon-kret ein Problem in den Vordergrund gestellt und dann werden durch Moderationskarten, diemit Stichworten versehen werden, Einzelaspekte zu dem jeweiligen Problem in der Gruppegesammelt. Anschließend geht es um Fragen nach den Ursachen des Problems und schließlichum Fragen nach Lösungen. Hier können sogenannte Problemlandkarten mit Hilfe der Mind-Mapping-Technik angelegt werden.

Die Moderationsmethode ist sehr einleuchtend und einfach anzuwenden. Nach meinen Erfah-rungen bietet etwa ein Tages-Workshop in einer Organisation, an dem alle Mitarbeiter betei-ligt sind, bei entsprechender Größe der Organisation, eine hervorragende Möglichkeit, sehrschnell die aktuellen Probleme und Konflikte zu erkunden.

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5.3 Organisationskulturen

Stichworte Organisationskulturen• Initiationsrituale, Handlungs- und Deutungsmuster, Leitbilder, Narrationen, Rituale,

Symbole, Weltsicht, Selbstdarstellung• Typische Profit-Kulturen:

- Alles oder Nichts (z.B. Werbebranche)- Brot und Spiele (z.B. McDonalds)- Projektkulturen (z.B. Baugewerbe)- Prozesskulturen (z.B. Versicherungen)- Innovationsbranchen (z.B. Multimediabranche)- Freiberufler-Kulturen (z.B. Anwälte, Künstler)

• Typische "Non-Profit"-Kulturen:- Kirchliche Wohlfahrtskultur- Alte Ehrenamtlichen-Kultur- Bürokratische Verwaltungskultur- Medizinische Kultur (bes. Krankenhäuser)- Psychokultur ("linkes Psychosyndrom")- Schul- und Universitätskulturen- Alternativprojekt-Kultur

• Kultur-Diagnostik:Qualitative, insbesondere ethnografische und -psychoanalytische Methoden

Ein Punkt, den ich hier nachtragen möchte, bezieht sich auf die Organisationskulturen. DieMethode der Wahl, um eine Organisationskultur kennenzulernen, ist die ethnografische Me-thode der Feldforschung.Hier interessieren u.a. die Initiationsrituale, d.h. wie jemand in eine Institution hereinkommtund wie er befördert wird, die Handlungs- und Deutungsmuster in der Organisation, welcheoffen beschriebenen Leitbilder sich in der Selbstdarstellung der Organisation finden und e-ventuell mit den heimlichen Leitbildern kontrastieren, die tatsächlich hinter dem Handeln derOrganisation stecken und schließlich die Geschichten, die es in jeder Organisation über be-sondere Ereignisse gibt. Meistens gibt es eine Geschichte über die Gründung der Organisationund über den Gründungsvater oder die Gründergeneration.Letzten Endes geht es um die Weltsicht der Organisation, ihre Eliten und ihre unterschiedli-chen Gruppierungen. Natürlich ist es nicht nur eine Weltsicht, natürlich hat eine Organisation,eine große Organisation nicht nur eine Kultur, sondern es gibt unterschiedliche Subkulturen injeder Organisation oder auch unterschiedliche soziale Welten und Subwelten.Ich habe eine Liste von typischen Kulturen zusammengestellt aus dem sehr empfehlenswertenBuch von Astrid Schreyögg über Coaching (1996). Brot und Spiele (Werbebranche) • Spaß-kulturen (McDonalds) • Projektkulturen (Baugewerbe und Architekten) • Prozesskulturen(Versicherungen), wo es sehr auf Genauigkeit, Exaktheit, exakte Dokumentation ankommt •Innovationsbranchen, denken Sie an Multimedia und e-commerce. Ich nehme als Beispieletwa die Firma Pixelpark: es arbeiten nur junge Leute dort, man duzt sich bis zum Chef, undes geht alles sehr locker zu, aber gleichzeitig besteht eine extreme Art der Selbstausbeutung,bis weit in die Nacht wird gearbeitet, es gibt Fitnessgeräte am Arbeitsplatz, große Büros, dieman ganz improvisiert zusammenstellt, je nach Bedarf des jeweiligen Teams. Eine völlig an-dere Arbeitskultur als in traditionellen Betrieben.• Freiberufler-Kulturen, die sich dann auch wieder unterscheiden, die Künstler, die Bohemeoder Anwälte, Ärzte • unterschiedliche "Non-Profit"-Kulturen: die kirchliche Wohlfahrtskul-

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tur oder bürokratische Verwaltungskulturen im Sozialamt • Medizinische Kulturen, Kranken-häuser, mit der entsprechenden Hierarchie und den in der Medizin üblichen Ritualen.Schließlich ist uns allen sicher bestens die Psychokultur vertraut (das "linke Pschosyndrom"),mit Selbsterfahrung, mit starkem Ich-Bezug und dem manchmal wirklich grausigen Klima derSelbstzerfleischung unter dem Motto "Wir wollen alles verstehen". Jede hierarchisch-organisierte Bank hat oft ein besseres Klima als manche Projekte in der Psychoszene undauch in der alternativen Projektkultur, wobei es große Überschneidungen gibt • Schul- und dieUniversitätskulturen, das erleben Sie am eigenen Leib.Diese Kulturen sind wichtige Aspekte in der Organisationsdiagnostik, die qualitative Metho-den erfordern, die kaum mit quantitativen Methoden, zumindest nicht mit quantitativen Me-thoden allein erfassbar sind.Damit möchte ich den ganz kurzen Abstecher in die Arbeits- und Organisationsdiagnostikabschließen.

Studentin: "Ich habe eine Frage zu Metaplan. Ist das einfach dieses Arbeiten mit Karten, be-zeichnet das Metaplan?"

Nein, nicht nur. Metaplan ist eine Firma und ein eingetragenes Warenzeichen. Die FirmaMetaplan bietet Kurse für die Moderation von Arbeitsgruppen mit der sogenannten Meta-plantechnik an. Dazu gehören nicht nur die Karten, sondern das Gesamtkonzept einer zielori-entierten Moderation von Arbeitsgruppen, also auch die Beachtung der Gruppendynamik.Was die Gruppendynamik angeht, fußt die Metaplantechnik oder die Moderationsmethodeweitgehend auf der Themenzentrierten Interaktion (TZI). Für jede Art von zielorientierten,aufgabenorientierten Arbeitsgruppen ist die Balance zwischen den persönlichen Bedürfnissender Teilnehmer, dem Gruppenprozess, der Aufgabe oder Thema und den Randbedingungenbedeutsam. Metaplan ist also nicht mit diesen Kärtchen gleichzusetzen, aber sie bilden dabeiein wichtiges Element.

5 Wohnviertel, Stadtteil, Region

Stichworte Wohnviertel, Stadtteil, Region• Gesunde Städte und Lokale Agenda 21• Der Setting-Ansatz• Umweltbezogene Bedürfnisse und Ressourcen• Partizipative Ansätze

- Zukunftswerkstatt und- Planungszelle- Aktionsforschung

Ich komme jetzt zur sozialräumlichen Diagnostik: Hier geht es um Wohnviertel, Stadtteile,Regionen. Dieser ganze Bereich wird sowohl in der Umweltpsychologie thematisiert, als auchin der Gemeindepsychologie und das sind, wenn man das Psychologiestudium als Ganzessieht, Randgebiete oder eher exotische Fächer.

5.1 Gesunde Städte und Lokale Agenda 21

In den letzten 20 Jahren wurden von den Vereinten Nationen (UN) zwei eng miteinander zu-sammenhängende konkrete Utopien für die Gestaltung unserer sozialökologischen Lebensbe-

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dingungen entwickelt:Das Leitbild der Weltgesundheitsorganisation (WHO) "Nachhaltige Gesundheit für Alle",verbunden mit der Gestaltung gesundheitsförderlicher Lebenswelten, Städte und Regionen(Charta von Ottawa 1986).Das Leitbild der Konferenz von Rio "Nachhaltige Entwicklung" (sustainable development),d.h. einer wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Entwicklung, die langfristig die Le-bensqualität für alle Menschen und die Lebensgrundlagen künftiger Generationen erhält. Bei-de Leitbilder sind in einem langwierigen Prozess internationaler Konsensfindung unter Betei-ligung Regierungs- sowie Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) entwickelt worden. BeideLeitbilder messen einer ressortübergreifenden Gesamtpolitik und der Stärkung von Bürger-beteiligung auf allen Ebenen eine zentrale Bedeutung bei. Beide Leitbilder setzen schließlichauf kommunaler Ebene an, d.h. dort, wo die Menschen leben und arbeiten und aktiv ihre Le-bensbedingungen mitgestalten können. Durch die Programme "Gesunde Städte" und "LokaleAgenda 21" (dem sich inzwischen mehr als 1.500 Gemeinden in der Bundesrepublik ange-schlossen haben) werden diese Leitbilder seit mehr als einem Jahrzehnt in aller Welt erfolg-reich erprobt, so dass inzwischen ein gesicherter Wissensfundus zur Umsetzung vorliegt.

Ich denke, dass die Anwendungsmöglichkeiten und auch die Aufgaben für entsprechend aus-gebildete Psychologen in diesem Bereich unendlich groß sind. Es geht dabei um Fragen dersozialräumlichen Gestaltung unserer Lebensräume in Bezug auf den Erhalt der Gesundheit,um Kontexte sozialen Zusammenlebens, um Konflikte in Nachbarschaften und Wohnvierteln,es geht um rechte Gewalt, um Randgruppenarbeit, Empowerment, d.h. die Aktivierung dereigenen Stärken von Menschen, die sozial benachteiligt sind, es geht um neuere Ansätze desQuartiers- und Regionalmanagement, mit dessen Hilfe Wohnquartiere oder Regionen, die ineine soziale Abwärtsspirale geraten sind, aktiviert werden und ihre Eigenkräfte entwickelnkönnen. Sie wissen vielleicht, dass es ein Programm des Berliner Senats zum Quartiersmana-gements in insgesamt 15 sogenannten Problemvierteln gibt.

Alle diese gesellschaftlichen Bereiche erfordern neben ökonomischen, ökologischen undstädtebaulichen Aspekten auch die Berücksichtigung psychologischer Aspekte und damitauch Konzepte zur psychologischen Problemdiagnostik in der Gestaltung von Architektur,von Wohnvierteln usw.Selbstverständlich ist in diesem Bereich ein multidisziplinäres Arbeiten angesagt: Architek-ten, Stadtplaner, Kommunalpolitiker, Sicherheitskräfte, Polizei, Sozialarbeiter und Psycholo-gen sollten gemeinsam mit den Bewohnern Konzepte zur umfassenden Verbesserung erar-beiten und umsetzen.

Es geht unter psychologischer Perspektive um die umweltbezogenen Bedürfnisse und Res-sourcen, die eine sozialräumliche Einheit besitzt. Unterschiedliche Befragungsmethoden wer-den angesetzt, es gibt verschiedene Methoden der Setting- und Nutzungsanalyse, unter ande-rem etwa fotografische Methoden – ein Platz, eine Straße wird in regelmäßigen Abständenfotografiert, so dass im Zeitrafferbild die Nutzungsstrukturen sichtbar werden. Die größteBedeutung haben hier, ebenso wie in der Arbeits- und Organisationspsychologie, partizipati-ven Ansätze, denn es geht ja immer darum, nicht für Menschen in einer Organisation oder ineinem Wohnviertel, sondern mit diesen gemeinsam die Probleme zu analysieren und Lösun-gen zu suchen. Eine solche partizipative Planung wird in unterschiedlichen Bürgerforen er-reicht. Ich werden hier auf die Zukunftswerkstatt, die Planungszelle und auf die Aktionsfor-schung als partizipative Methoden der Problemanalyse und partizipativen Planung eingehen.

Der Ansatz des Quartiers- und Regionalmanagement wurde schon erwähnt. Besonders konse-quent werden diese Instrumente in Holland angewendet: Einzelne Gemeinden nutzen routi-

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nemäßig ein Indikatorsystem der Sozialberichterstattung als diagnostisches Frühwarnsystem,welche Gebiete von sozialem Abstieg bedroht sind – um dann Investitionen und Reformmaß-nahmen in diese Gebiete lenken. Auch in Berlin können Sie erste Schritte in diese Richtungerleben. So wurde vor kurzem ein Programm aufgelegt zur Verschönerung von öffentlichenPlätzen hier in Berlin, nicht wie früher üblich in Zehlendorf, sondern es sollten Plätze in sozi-alen Brennpunkten neu gestaltet werden.

5.2 Der Setting-Ansatz

In der Architektur und Stadtplanung findet sich eine lange Tradition von Erfahrungswissen,aber auch von theoretischen Ansätzen zur Gestaltung einer gesundheitsförderlichen Umwelt.Durch die Entstehung einer eigenständigen Umwelt- bzw. Ökopsychologie werden diese An-sätze zunehmend auch mit sozialwissenschaftlichen Theorien und Methoden verbunden.

Das sozialökologische Konzept entsprechend der Ottawa-Charta von 1986 der Weltgesund-heitsorganisation (WHO) geht von einem sozialräumlichen Ansatz der Gesundheitsförderung,dem sogenannten Setting-Ansatz aus (healthy cities, gesundheitsförderliche Betriebe, Kran-kenhäuser, Schulen etc.). Ziel des Setting-Ansatzes ist es, unterstützende Umwelten (suppor-tive environments) so zu gestalten, dass sie zur Gesundheitsförderung beitragen.Angesichts des vielfach benutzten, aber nur vage definierten Setting-Begriffs der WHO ist esnützlich, auf seine ursprüngliche theoretische Ausformulierung durch Roger Barker, einen derBegründer der Ökologischen Psychologie, und auf die lange Forschungstradition des Behavi-or-Setting-Ansatzes zurückzugreifen (Übersicht s. Kaminski 1986).Behavior-Settings als grundlegende Untersuchungseinheiten der ökologischen Psychologie(nach Barker vergleichbar mit den Zellen in der Biologie) wurden z.B. in einer Gemeindestu-die als "psychologische Habitats" von Kindern untersucht. Behavior-Settings stellen nachBarker (1968) Miniatur-Sozialsysteme (miniature social systems) dar, in denen personenu-nabhängige Verhaltensmuster untrennbar mit zeitlichen, dinglichen und sozialräumlichenKontextbedingungen verbunden sind. Er postuliert eine funktionale Einheit zwischen denkonstanten Verhaltensmustern und dem zeitlich-örtlich-sozialen Milieu eines Behavior-Settings, bestehend aus Ort und Zeit, materiellen Objekten, Teilnehmern, Akteuren und derenwiederkehrenden Verhaltensmustern.

Beispiel für ein Behavior-Setting"Ein in irgend einem Ort stattfindendes Skatturnier wäre – im Sinne von Barker – ein 'Beha-vior Setting', oder das Jahresfest einer bestimmten Grundschule, aber auch das Alltagsgesche-hen an einem bestimmten Zeitungskiosk, oder eine Protestkundgebung gegen das Schließeneines bestimmten Industriebetriebs. – Gemeinsam ist allen Beispielen – denen hundert anderehinzugefügt werden könnten –, dass sich 'Alltagsgeschehen' jeweils innerhalb eines bestimm-ten räumlich-materiellen 'Milieus', und zwar im Prinzip öffentlich, abspielt, zudem innerhalbausgrenzbarer Zeiträume. In jedem dieser Behavior-Settings herrschen bestimmte charakte-ristische Verhaltensmuster vor, die von den Teilnehmern gleichsam wie nach einem Pro-gramm erfüllt werden, wobei es weitgehend gleichgültig ist, welche Individuen im einzelnendie auf das jeweilige Milieu abgestimmten Verhaltensmuster produzieren." (Kaminski 1986,S. 10)

In frühen Arbeiten der Barker-Schule wurde zunächst ein aufwendiges methodisches Inventarentwickelt, um Behavior-Settings zu identifizieren, voneinander abzugrenzen und bezüglichverschiedener Attribute zu beschreiben (behavior setting survey). Später wurden Behavior-Settings als homöostatische Systeme beschrieben, deren "quasi-stationäres Gleichgewicht"

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durch zielbezogene, programmbezogene und stabilitätsbezogene Regulationsprozesse erreichtwird. (Barker 1968)Das Behavior Setting Survey besteht aus folgenden Schritten:Zunächst wird die räumliche Einheit oder das Habitat bestimmt, auf das sich die Setting-Analyse beziehen soll, z.B. Stadt, Stadtteil, Krankenhaus, Schule. (Die Settings der Gesund-heitsförderprogramme sind in dieser Terminologie Habitats bzw. Metasettings, die sich auseiner jeweils zu ermittelnden Vielzahl von Behavior-Settings zusammensetzen.) Anschlie-ßend werden die im Habitat vorkommenden Behavior-Settings durch "sensible Beobach-tungsmethoden" ermittelt. Das geschieht durch Dokumentation aller Synomorphe aus kon-stanten Verhaltensmustern und zeitlich-räumlich-sozialen Milieus, Testen auf Überschnei-dungen und Zusammenfassung gleichartiger Synomorphe. Ein iterativer Analyseprozess sollzu einer erschöpfenden, nicht redundanten Liste aller Behavior-Settings des untersuchten Ha-bitats führen.Schließlich werden die einzelnen Behavior-Settings bezüglich ihrer Auftretenshäufigkeit,Dauer, Art, Anzahl und Rollen der beteiligten Personen und Art der auftretenden Verhaltens-muster beschrieben, wobei die jeweilige Fragestellung von Bedeutung ist. Die methodischenAnweisungen und der Aufwand der ursprünglichen Setting-Analyse sind so umfangreich,dass eine Reihe von Vereinfachungsvorschlägen gemacht wurde, die sich einerseits auf eineVorauswahl bekannter Settings beziehen und zum anderen die große Anzahl von Beschrei-bungsdimensionen auf neun faktorenanalytisch ermittelte Dimensionen reduzieren.Ausgedehnte vergleichende Behavior-Setting-Analysen liegen vor allem für eine amerikani-sche und eine englische Kleinstadt vor, wobei auch Veränderungen bei einer Erhebungswie-derholung nach ca. zehn Jahren erfasst wurden. Es konnte u.a. nachgewiesen werden, dass dieVielfalt der Settings im genannten Zeitraum mehr als doppelt so stark zugenommen hatte wiedie Bevölkerung. Das Ergebnis wurde als Zuwachs an urbaner Lebensqualität im Sinne vonmehr Wahlmöglichkeiten für die Bewohner interpretiert. Darüber hinaus liegen Analysen vonWohngebieten, öffentlich geförderten Wohnprojekten, Kasernen, einer Rehabilitationsklinikund Dienstleistungsbetrieben wie Supermärkten, Einkaufsläden, Arzt- und Rechtsanwaltpra-xen vor.

Zur Bewertung des Ansatzes für psychosoziale Zielsetzungen muss zunächst berücksichtigtwerden, dass die Arbeiten der Barker-Schule vordringlich der ökologisch-psychologischenGrundlagenforschung dienten. Die zentrale Frage nach unterschiedlichen Unterstützungsqua-litäten einzelner Settings wird in diesem Zusammenhang nicht gestellt. Die bisherigen Versu-che, aus den Untersuchungen eine Behavior-Setting-Methode zur verbesserten Umweltges-taltung zu entwickeln, sind wenig überzeugend.

Von Interesse sind hier unterschiedliche Weiterentwicklungen des Behavior-Setting-Ansatzes.So wendet Rapoport (1986) den Grundgedanken des Konzepts auf die Gestaltung des öffent-lichen Raums an, ohne den theoretischen Gesamtrahmen und die aufwendigen Methoden zuübernehmen. Wichtig ist die Verbindung zwischen sozialräumlichem Milieu und überdauern-den Verhaltensmustern bei wechselnden Akteuren, wobei unterschiedliche Setting-Systemeeinander wechselseitig beeinflussen. Als wichtige Beurteilungskriterien betrachtet Rapoportdie Unterstützungsfunktion (supportiveness) eines Settings für die vorgesehene Nutzung undseine von kulturellen Regeln und Normen abhängige Angemessenheit (appropriateness) füreben diese Nutzung. Eine gestaltungsrelevante Setting-Analyse mit der Zielsetzung einer un-terstützenden Umwelt (supportive environment) sollte Antwort auf die folgenden Fragen ge-ben: "Welche Charakteristiken welcher Settings beeinflussen das Verhalten welcher Perso-nengruppen in welcher Weise unter welchen Bedingungen und warum?" (Rapoport 1986, S.166). Der Autor demonstriert seinen Ansatz anhand einer Untersuchung zum Nachbarschafts-Nahraum in seiner Unterstützungsfunktion für unterschiedliche Typen von Fußgänger-

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Aktivitäten.

5.3 Umweltbezogene Bedürfnisse

Abb.: Nutzungsbereiche der Umwelt und Nutzungsbedürfnisse des Menschen(Maderthaner 1995)

Ich möchte zunächst eingehen auf Bedürfnisse, die Menschen an ihre Umwelt stellen, dieNutzungsbedürfnisse, die jeder von uns in unterschiedlichem Ausmaß an seine Wohnumwelthat, an die eigene Wohnung, an den Kiez, an die Nachbarschaft: Bedürfnisse nach Privatheit,der Regeneration, Sicherheit, (ältere Menschen in vielen Berliner Bezirken trauen sich kaumnach Anbruch der Dunkelheit auf die Straße, was eine wesentliche Beeinträchtigung für ihrWohlbefinden, ihre Gesundheit darstellt), Funktionalität der Umwelt, Ordnung, Möglichkei-ten zur Kommunikation, Partizipation (dass ich Möglichkeiten habe, mich an der Gestaltungzu beteiligen, führt zur Identifikation mit der eigenen Nachbarschaft), ästhetische Anforde-rungen und Anregungswert für Kreativsein, für kreatives Arbeiten.Das sind die wichtigsten Nutzungsbedürfnisse, deren Befriedigung in der unmittelbaren Um-welt dazu beiträgt, dass wir uns in einer gesunden Weise entfalten können, oder wenn sienicht oder zu wenig erfüllt sind, dass wir uns beeinträchtigt fühlen und krank werden, unddass die Menschen aus einem Viertel wegziehen.Für die sozialräumliche Diagnostik ist die Kenntnis dieser Bedürfnisse wichtig, weil sie unsKriterien liefert, nach denen die Lebensqualität von Wohnvierteln beurteilt werden kann:Welche Ressourcen liefert die Umwelt zur Befriedigung der genannten Bedürfnisse?Die folgende Tabelle enthält Einzelaspekte einer gesundheitsförderlichen Umwelt und mögli-chen Konsequenzen bei Nichtbefriedigung der Umweltbedürfnisse.

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Bedürfnisse Einzelaspekte Mögliche Konsequenzen derNichtbefriedigung

1. Regeneration Besonnung, Tageslicht, Belüftung, Lärm-schutz, Räume für körperliche Aktivität,Spiel- und Sportanlagen, keine Emissi-ons- und Geruchsbelästigung, sozialeBelästigungen

Physische und psychische Er-schöpfung, Krankheitsanfäl-ligkeit, Schlafstörungen, Mig-räne, Bluthochdruck, Hal-tungsschäden, Reizbarkeit,Stress, Depression, Kommu-nikationsverweigerung

2. Privatheit

3. Sicherheit

Wahrung der Intimsphäre, Schutz vorEinsehbarkeit und Mithören, Sicherheitvon Wegen, geringe Gefahr von Einbrü-chen und Überfällen

Ärger, Stress, Angst, Aggres-sion, Depression, SozialerRückzug (z.B. "TV-Vielse-her"), Streitigkeiten mit Mit-bewohnern, geringe Ortsver-bundenheit

4. Funktionalität

5. Ordnung

Raumbedarf, Praktikabilität, Bequem-lichkeit, Orientierung im Siedlungsgebiet

Ärger, Freizeitverlust, finan-zieller Mehraufwand, geringeOrtsverbundenheit, Desorien-tierung, Wohn- und Leben-sunzufriedenheit

6. Kommunikation

7. Aneignung

8. Partizipation

Gespräche, Nachbarschaftshilfe, Mitbe-stimmung, Mitverantwortung, Mitarbeitin Wohnhaus- und Siedlungsgremien,Treffpunkte, Gemeinschaftsräume

Soziale Vorurteile und Kon-flikte, geringe Wohnzufrie-denheit, Trend zu Zweitwohn-sitzen (Wochenendhäuser,Schrebergärten), Wochen-endmobilität, Vandalismus,Cliquenbildungen, Segregati-on

9. Ästhetik

10. Kreativität

Gebäude- und Fassadengestaltung, Stra-ßenensembles, Siedlungscharakter, Grün-und Freiflächenanordnung

Geringe Ortsverbundenheitund Wohnzufriedenheit, ne-gative Gestimmtheit, subjek-tiver Prestigeverlust, Abwan-derung, Vandalismus, Delin-quenz

Abb.: Lebensraumbezogene Bedürfnisse, deren konkrete Manifestationsaspekte und möglicheKonsequenzen einer Bedürfnisfrustration (nach Maderthaner & Spielhofer 1992)

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5.4 Zukunftswerkstatt

Abb.: Phasen der Zukunftswerkstatt (mit Doppelspirale)

Als erste partizipative Methode möchte ich Ihnen die von dem Zukunftsforscher Robert Jungkentwickelte Zukunftswerkstatt vorstellen. Die Zukunftswerkstatt wird eingesetzt, um Kreati-vitätspotentiale einer Gruppe zu aktivieren, etwa im Zusammenhang mit Veränderungspro-jekten in der Nachbarschaft oder im Wohnviertel.Die Zukunftswerkstatt wird gewöhnlich von zwei Moderatoren vorbereitet. Es ist wichtig, eingut formuliertes und stimulierendes Thema zu wählen, das die Menschen anspricht und aucheine entsprechende Beteiligung nach sich zieht. In der eigentlichen Zukunftswerkstatt, dieüber einen Tag oder mehrere Tage läuft, gibt es zunächst eine Kritikphase, die unter diagnos-tischen Gesichtspunkten besonders wichtig ist. In der Kritikphase werden etwa zu den Le-bensbedingungen im Kiez Kritikpunkte gesammelt und ausgearbeitet. In der Phantasiephasesollen – möglichst frei von Zwängen und Selbstzensur – utopische Visionen und utopischePläne entwickelt werden. In der Verwirklichungsphase wird dann versucht, aus diesen utopi-schen Plänen einen realistischen umsetzbaren Plan zu entwickeln.

Problemanalyse in der Kritikphase

Kritikphase ("Wo kämen wir hin, wenn es so weiterginge?")Regel:• Keine Grundsatzdiskussionen• Stichpunkte sammeln• Alle kommen zu Wort• Persönlichen Erfahrungen und konkreter Kritik den Vorrang gebenFragen:• Was sind die negativen Erfahrungen und Ängste der TeilnehmerInnen?• Welche Konsequenzen werden bei der derzeitigen Entwicklung vermutet/befürchtet?Vorgehen:• Kritikpunkte ungeordnet sammeln und visualisieren• Kritikpunkte zu Themen zusammenstellen• Prioritäten für die Bearbeitung einzelner Kritikthemen setzen (z.B. Punktevergabe)• In Kleingruppen die ausgewählten Kritikthemen bearbeiten und visualisieren (Wandzei-

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tungen)

Die ausgearbeiteten Kritikpunkte positiv umformulieren ("Was möchte ich, wenn ich dasvermeiden will?")

In der Zukunftswerkstatt sollen keine Grundsatzdiskussionen stattfinden. Alle sollen zu Wortkommen, persönliche Erfahrungen und konkrete Kritik haben Vorrang. Eingesetzt wird dieModerationsmethode unter Einschluss von Visualisierungstechniken. Typische Fragen: Wassind die negativen Erfahrungen und Ängste der Teilnehmer? Welche Konsequenzen werdenbei der gegenwärtigen Entwicklung befürchtet? Die Kritikpunkte werden zunächst ungeordnetgesammelt und visualisiert nach Art eines Brainstormings. Dann geht es darum, in diese Viel-falt der Kritikpunkte eine Ordnung zu bringen, indem sie zu Themenblöcken zusammenge-stellt werden. Die Themenblöcke können dann durch Punktvergabe priorisiert werden, was istbesonders wichtig, weil eine Zukunftswerkstatt von etwa 15 bis 20 Teilnehmern maximalzwei bis drei Themen bearbeiten kann. In Kleingruppen werden für die wichtigsten Themen-blöcke genauere Analysen über Zusammenhänge und Ursachen der Probleme erstellt undSzenarien entworfen. Den Namen hat die Zukunftswerkstatt zwar von der Phantasiephase undVerwirklichungsphase, aber die Kritikphase ist ein hervorragendes Mittel, sehr schnell in ei-nem sozialräumlichen Kontext die wesentlichen Missstände und Probleme herauszufindenund zu analysieren.

5.5 Planungszelle

Stichworte PlanungszelleIm Auftrag der Verwaltung erarbeiten Bürger Lösungen für gesellschaftlich relevanteProbleme:• Zufallsauswahl von 20-25 Personen (Melderegister)• Freistellung und Vergütung ("Ehrenamt")• Dauer pro Planungszelle ca. 1 Woche• Klar umrissene, lösbare Aufgabenstellung• Beratung durch Experten und Interessenvertreter (kontroverse Informationen!)• Einsatz von Moderationsmethoden• Wechsel zwischen moderiertem Plenum und selbstorganisierten Kleingruppen• Rotation der Kleingruppen-Zusammensetzung (5 Personen)• Zusammenfassung der Ergebnisse als Bürgergutachten

(Dienel 1997)

Eine ganz andere Methode ist die Planungszelle. Sie arbeitet ebenfalls auf der Basis der Mo-derationsmethode. Für die Planungszelle werden Bürger per Zufall ausgewählt und erhaltendie Aufgabe, als Bürgergutachter einen Lösungsvorschlag für ein gesellschaftliches Problemzu erarbeiten. Die Planungszelle wurde von Dienel in den achtziger Jahren entwickelt (Dienel1997).Aus dem Melderegister werden 20 bis 25 Personen für eine Planungszelle ausgewählt, diedann entsprechend für die Teilnahme motiviert werden müssen. Das wird erreicht, indem dieLeute von ihrer üblichen Arbeit freigestellt werden und eine Vergütung für ihre Gutachtertä-tigkeit erhalten. Dieser Aspekt ist sehr wichtig für die Motivation, auch dafür, wie ernst dieseAufgabe von dem Auftraggeber, von der Verwaltung genommen wird. Eine Planungszelledauert etwa vier bis fünf Tage. Wichtig ist die klar umrissene und lösbare Aufgabenstellung.Die Mitglieder der Planungszelle erhalten eine Beratung durch Experten und Interessenver-treter. Die unterschiedlichen Positionen von Interessenvertretern müssen klar gegenüberge-

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stellt werden, denn eine wichtige Aufgabe der Planungszelle besteht darin, bei Kontroversenkonsensfähige Vorschläge zu machen. Die Arbeit erfolgt im Wechsel zwischen einem mode-rierten Plenum und Kleingruppen von jeweils 5 Teilnehmern. Hier arbeiten die Teilnehmerohne Moderator selbständig, wobei auch Techniken der Visualisierung eingesetzt werden,damit die Ergebnisse dann ins Plenum getragen werden können.Die Bürger sind Experten für ihre Lebenssituation und entscheiden die Prioritäten, was zuerstangegriffen werden soll, was ihnen am wichtigsten ist. Denn man kann immer ideale Pläneaufstellen, die oft nicht finanzierbar sind. Die Ergebnisse der Planungszelle werden nach de-ren Abschluss in einem Bürgergutachten zusammengefasst.

Beispiel: Ergebnisse Planungszelle Wrangelkiez

Rang Stärken Prozent Rang Schwächen Prozent

Planungszelle 1 Planungszelle 11 "Gute Atmosphäre" im Kiez 50% 1 Problemgruppen 23%2 Freizeit/Erholungsmöglichkeiten 22% 2 Kriminalität 19%3 Zentrale Lage 17% 3 Arbeit/Schulsituation 13%4 Gute Einkaufsmöglichkeiten 8% 4 Verkehr/Lärm 11%

5 Mieten/Wohnverhältnisse 10%

Planungszelle 2 Planungszelle 21 Lebendigkeit im Kiez/

Multi-Kulti-Potential 16%1 Mangelnde Kontakte 9%

2 Grünanlagen 9% 2 Verkehrslärm/-belastung 8%3 Gute Verkehrsanbindung 6% 3 Dreck auf den Straßen u. im Park 6%3 Lange Öffnungszeiten der Geschäfte/

Gute Einkaufsmöglichkeiten 6%3 Mangelnde kulturelle Möglichkeiten 6%

4 Gute Nachbarschaft 5%

Planungszelle 3 Planungszelle 31 Kulturelle Vielfalt 22% 1 Schule/Ausbildungssituation 23%

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2 Gute Nachbarschaft 21% 2 Soziales Elend/Arbeit 21%

3 "Flair" 15% 3 Müll und Dreck 20%4 Vielfältige Freizeit- und

Erholungsmöglichkeiten 14%4 Alkohol 9%

5 Gute Einkaufsmöglichkeiten 8% 4 Lärm/Verkehr 9%

Zu den Ergebnissen der Planungszelle (Tabelle):

Student: "Sind diese Prozentangaben jetzt die Priorisierung oder was ist das?"

Nein, das ist die Anzahl der Nennungen.

Student: "Also da wurde gesagt, wer ist dafür, dass das ...?"

Wer hält diesen Stichpunkt für wichtig, die Punkte, die dann gezählt wurden, wer hält das fürbesonders wichtig.

Student: "Wer hat die Stichpunkte denn aufgestellt? Wurden sie zuerst aufgestellt und danndarüber abgestimmt?"

Studentin: "Jeder hat immer zehn Punkte bekommen und die durfte er dann auf die Stich-punkte, die er für besonders wichtig hielt, kleben."

Student: "Aber die Themen waren vorgegeben?"

Nein, das Thema war in diesem Fall Stärken und Schwächen des Kiezes, und die einzelnenPunkte haben die Teilnehmer zunächst gesammelt, anschließend bekamen sie die Punkte undkonnten gewichten.

5.6 Aktionsforschung

Stichworte Aktionsforschung• Problemstellung aus der Praxis• Voraussetzung: Initiativgruppe von Betroffenen• Forscher/in in Beraterrolle• Forschungsziel: Verbesserung der Situation• Veränderung wird als sozialer Prozess aufgefasst• Forscher nimmt aktiv am Gruppenprozess teil• Initiativgruppe: Zielbestimmung, Datensammlung, Planen, Umsetzen, Bewerten von

Maßnahmen• Anwendungen: Organisationsentwicklung, Gemeinwesenprojekte

Die Aktionsforschung wurde von Kurt Lewin nach dem Zweiten Weltkrieg 1947 in den USAzur Umsetzung sozialer Reformen entwickelt. Aktionsforschung und Gruppendynamik hän-gen eng zusammen, Lewin versteht Aktionsforschung als Alternative zur Grundlagenfor-schung. Er schreibt: "Für die soziale Praxis erforderliche Forschung lässt sich am besten alsForschung im Dienst sozialer Unternehmungen oder sozialer Techniken kennzeichnen. Sie isteine Art Tatforschung (action research), eine vergleichende Erforschung der Bedingungenund Wirkungen verschiedener Formen des sozialen Handelns und eine zu sozialem Handeln

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führende Forschung."Das Besondere der Aktionsforschung gegenüber traditioneller experimenteller Forschung: dieFragestellung stammt nicht aus wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse, sondern typischer-weise aus der Praxis, sie geht aus von Praxisproblemen. Eine wesentliche Voraussetzung isteine Initiativgruppe von Betroffenen – die Betroffenen übernehmen selber teilweise die Rollevon Forschern. Aktionsforschung ist also eine Methode der Selbstevaluation (ebenso wie dieZukunftswerkstatt oder die Moderationsmethode), allerdings ein sehr viel umfassenderes undflexibleres Konzept, in dessen Rahmen ganz unterschiedliche Methoden zum Einsatz kom-men können. Der Forscher befindet sich in der Aktionsforschung in einer Beraterrolle, Ex-perten für das jeweilige Problemfeld sind die Betroffenen, besonders die Initiativgruppe. DerForscher oder das Forscherteam übernimmt dabei die Rolle eines methodischen Beraters fürdie Umsetzung der Forschung. Das Forschungsziel ist konkret die Verbesserung einer sozia-len Situation, die Beseitigung eines Missstandes etwa in einer Nachbarschaft, einer Gemeindeoder auch in einem Betrieb.Die angestrebte Veränderung der Situation wird als sozialer Prozess aufgefasst, der vom For-scher beratend begleitet wird, wobei der Forscher aktiv am Gruppenprozess teilnimmt. DieRollentrennung zwischen Forscher und Beforschten wird tendenziell aufgehoben. Das istzugleich ein problematischer Punkt innerhalb der Aktionsforschung, weil der Forscher seineDistanz verliert, er wird selber Partei. Damit sind unter Umständen massive Konflikte ver-bunden, die häufig die Erarbeitung oder Umsetzung von Reformen begleiten.

Die Initiativgruppe ist verantwortlich für die Zielbestimmung der Forschung, für die Daten-sammlung, für Planung, Umsetzung und Bewertung von Maßnahmen. In der angewandtenForschung kann man nicht auf der einen Seite strikt von der traditionellen experimentellenForschung sprechen, wie sie im Labor unter streng kontrollierten Bedingungen durchgeführtwird, und auf der anderen Seite vom Idealtyp der Aktionsforschung, wo sich der Forscher nurnoch in einer Beraterrolle findet, während die gesamte Durchführung der Forschung von Be-troffenen übernommen wird. In der Realität gibt es da fließende Übergänge von einer eherklassischen experimentellen Forschung, in der die Beforschten weitgehend im Unklaren ge-lassen werden über die Zielsetzung, über die Ergebnisse. Daneben gibt es viele Möglichkeitenin Projekten der angewandten Sozialforschung, in der Organisationsentwicklung und in Ge-meinwesenuntersuchungen, schrittweise Rückmeldung über die Forschung zu geben, die For-schungsziele mit den Betroffenen zu diskutieren, einzelne Erhebungen von Betroffenendurchführen zu lassen bis hin zu reinen Aktionsforschungsprojekten.In unserer Abteilung wurden in den letzten Jahren verschiedene Projekte durchgeführt, unteranderem eine Untersuchung über das Engagement von Bürgerinitiativen für eine gesundheits-orientierte oder ökologische Stadtentwicklung. In einer anderen Untersuchung ging es um dieKooperation unterschiedlicher Einrichtungen, Initiativen, Behörden, Planungsbüros und Bür-gergruppen bei der Umsetzung von Projekten zur Gesundheitsförderung. In allen diesen Pro-jekten war es einfach notwendig, Aktionsforschungselemente einzubeziehen, schon weil wirohne diese Elemente gar keinen Zugang bekommen hätten zu den Ämtern, Initiativgruppenusw.

Die Forscher müssen, um in der angewandten Sozialforschung eine Eintrittskarte ins Feld zubekommen, um das Vertrauen der Beforschten zu gewinnen, denen auch etwas bieten, sieunterstützen bei ihren Aktionen, so dass sich fließende Übergänge zu Aktionsforschungsan-sätzen ergeben. Die Aktionsforschung war sehr im Schwange nach 1968, viele pädagogischeund auch psychologische Projekte sind damals im Gefolge der Studentenbewegung unter demLeitbild der Aktionsforschung durchgeführt worden. Bei Geldgebern und bei Organisationender Forschungsförderung ist diese Methode in den folgenden Jahren ziemlich in Verruf gera-ten, sie wurde identifiziert mit undisziplinierter Arbeit, mit chaotischen Zielen, eine teilweise

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auch berechtigte Kritik, weil oft die Erfahrung fehlte, dieses sehr heikle und gruppendyna-misch komplizierte Instrument zu handhaben.Inzwischen hat sich ein Gesinnungswandel eingestellt, wir haben das bei unserem letzten For-schungsprojekt erlebt. Wir hatten die Aktionsforschungselemente im Antrag eher versteckt,weil wir noch davon ausgegangen waren, das wird abgelehnt. Aber die Gutachter haben dannexplizit gefordert, dass wir den Aktionsforschungsanteil verstärken, was sowieso von Anfangan unsere Intention war. Ich fand vor einiger Zeit bei Internetrecherchen eine Ausschreibungdes Bundesbauministeriums im Rahmen des Programms "Experimentelles Wohnen undStädtebau" (EXWOST), in der ausdrücklich verlangt wurde, dass die Forscher mit den Ge-meinden, in denen Reformmaßnahmen beforscht werden sollten, Qualitätsvereinbarungenabschließen, dass sie ihre Forschungsergebnisse gleichzeitig ein Stück umsetzen, dass be-stimmte Ziele erreicht werden. Da wird also in Ausschreibungen verlangt, dass Elemente derAktionsforschung eingesetzt werden. Das Beispiel zeigt, dass im Rahmen der Begleitfor-schung von sozialen Reformen, der angewandten Sozialforschung und Evaluationsforschungdas Konzept der Aktionsforschung aktueller denn je ist. Hier entsteht ein neues Arbeitsfeldfür Psychologen mit gruppendynamischen Kompetenzen, die in Aktionsforschungsprojektenvon großer Bedeutung sind.

Zusammenfassend möchte ich noch einmal betonen, dass die Gestaltung des Zusammenle-bens in Gruppen, Organisationen und Umwelten eine der Herausforderungen ist, denen sichdie Psychologie der Zukunft in weitaus stärkerem Maße stellen sollte.

6 Fragen und Anregungen für die Diskussion

♦ Diskutieren Sie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Konzepte soziale Welten undsoziale Systeme.

♦ Geben Sie eine Übersicht über Ziele und methodische Ansätze der sozialökologischenDiagnostik.

♦ Erläutern Sie die Methode des Soziogramms und die Rollenverteilung in Gruppen.♦ Wie geht man vor bei der Vorbereitung und Durchführung von Gruppeninterviews in Fo-

kusgruppen?♦ Erläutern Sie den diagnostischen Ansatz in der Strukturellen Familientherapie nach Minu-

chin.♦ Beschreiben Sie die Planung eines Workshops, in dem mit Hilfe der Moderationsmethode

ein Problem der innerbetrieblichen Kooperation analysiert werden soll.♦ Diskutieren Sie den Begriff der Organisationskultur anhand von Beispielen.♦ Erläutern Sie den Setting-Ansatz in der Gesundheitsförderung.♦ Welche Bedeutung haben umweltbezogene Bedürfnisse für die Diagnostik der Lebens-

qualität im Wohnviertel?♦ Diskutieren Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede der folgenden methodischen Ansätze

in der sozialökologischen Diagnostik: Zukunftswerkstatt, Planungszelle, Aktionsfor-schung (Indikationen, Vor- und Nachteile der Ansätze?).

Literatur

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