0-96-29 was eint und was trennt juden und christen...schalom ben-chorin, der die bubersche aussage...

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Frankfurt am Main 8. Juli 1996 www.epd.de Nr. 29 Was eint uns was trennt Juden und Christen? Beiträge eines orthodoxen Juden aus Jerusalem und eines polischen Weihbischofs, von Katholiken und Protestanten aus Deutschland und den USA zu einer Tagung in Görlitz. Impressum Herausgeber und Verlag: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) gGmbH Anschrift: Emil-von-Behring-Str. 3, 60439 Frankfurt am Main. Briefe bitte an Postfach 50 05 50, 60394 Frankfurt Geschäftsführer: Jörg Bollmann epd-Zentralredaktion: Chefredakteur: Dr. Thomas Schiller Ressort epd-Dokumentation: Verantwortlicher Redakteur Peter Bosse-Brekenfeld Tel.: (069) 58 098 –135 Fax: (069) 58 098 –294 E-Mail: [email protected] Der Informationsdienst epd-Dokumentation dient der persönlichen Unterrichtung. Nachdruck nur mit Erlaubnis und unter Quellenangabe. Druck: druckhaus köthen

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  • Frankfurt am Main 8. Juli 1996 www.epd.de Nr. 29

    Was eint uns was trenntJuden und Christen?Beiträge eines orthodoxen Juden aus Jerusalem und eines polischenWeihbischofs, von Katholiken und Protestanten aus Deutschland und denUSA zu einer Tagung in Görlitz.

    Impressum

    Herausgeber und Verlag:Gemeinschaftswerk derEvangelischen Publizistik (GEP)gGmbHAnschrift: Emil-von-Behring-Str. 3,60439 Frankfurt am Main.Briefe bitte an Postfach 50 05 50,60394 Frankfurt

    Geschäftsführer:Jörg Bollmannepd-Zentralredaktion:Chefredakteur: Dr. Thomas Schiller

    Ressort epd-Dokumentation:Verantwortlicher RedakteurPeter Bosse-BrekenfeldTel.: (069) 58 098 –135Fax: (069) 58 098 –294E-Mail: [email protected]

    Der Informationsdienstepd-Dokumentation dient derpersönlichen Unterrichtung.Nachdruck nur mit Erlaubnis undunter Quellenangabe.

    Druck: druckhaus köthen

  • 2 29/1996 epd-Dokumentation

    Was eint und was trennt Juden und Christen? Ausgewählte Texte einer Tagung, die dasEv. Bildungswerk J. A. Comenius in Görlitz gemeinsam mit der Buber-Rosenzweig-Stiftung und der Gesellschaft für Christl.-Jüd. Zusammenarbeit in Görlitz vom 8. bis zum10. März 1996 veranstaltet.

    Juden und Christen

    - Rudolf W. Sirsch, Görlitz: Zum Thema der Tagung 1

    - Tagungsprogramm, Auszüge 2

    - Zu den Referenten 36

    - Prof. Joseph Walk, Jerusalem: „Friedenshoffnung und Friedensarbeit“ 3

    - Ansgar Koschel, Bad Nauheim: „Praxis eint – Glaube trennt?“ 11

    - Bischof Klaus Wollenweber, Görlitz: Gedanken zum Tagungsthema 15

    - Prof. Joseph Walk, Jerusalem: „Das gesetzestreue Judentum“ 17

    - Weihbischof Stanislaw Gadecki, Gnesen: „Kirche und Judentum im Dialog in Polen –Schwierigkeiten, gelungene Schritte und Aufgaben“ 25

    - Prof. Franklin H. Littell, Philadelphia: „Erinnerung und Versöhnung –Christlich-jüdischer Dialog in den USA“ 31

    - A. Koschel: „Adolf von Harnack – Leo Baeck“, ein fiktiver Dialog 34

    (Bei den hier vorgelegten Texten handelt es sich zum Teil um Übersetzungen und nicht von den Autoren selbst korri-gierte Tonbandnachschriften. Anm. d. Red.)

  • epd-Dokumentation 29/1996 3

    Rudolf W. Sirsch, Görlitz:

    „Was eint und was trennt Juden und Christen?“Zum Thema der Tagung, Jauernick-Buschbach bei Görlitz, 8. März 1996

    „Wie sonderbar hat Gott gehandelt,als er die Juden erwählte.Noch sonderbarer aber handeln jene,die sich einen jüdischen Gott erwählt haben,aber die Juden verachten.“

    In dieser kleinen Reflexion von Ronald Knox sindviele Wahrheiten verborgen über die Kirche unddas jüdische Volk. Eine Reflexion, die die Verbun-denheit, wie die der Verachtung der letzten 2000Jahre wiederspiegelt. Zugleich geht es hier um dieschwierigste, weil von schier unüberwindlichenVorurteilen und Mißverständnissen belastete Fragezwischen Juden und Christen.

    Und doch ist die christliche Kirche und die christ-liche Theologie mit dem jüdischen Volk und demJudentum verbunden. Das Christentum ist ausdem Judentum hervorgegangen. Sein Meister undHerr wurde von einer jüdischen Mutter geboren,besuchte eine jüdische Schule, feierte jüdischeFeste und umgab sich mit jüdischen Jüngern.Mehr als einmal hat Jesus aus Nazareth seineBedenken gegen eine zu intime Vermengung mitder nicht-jüdischen Welt zum Ausdruck gebracht.Jesus ist als Jude geboren und als Jude gestorben.

    Martin Buber, hat vor diesem Hintergrund in sei-ner Schrift „Zwei Glaubensweisen“ Jesus als sei-nen „großen Bruder“ bezeichnet, dessen Botschafturjüdisch gewesen sei, sowie dessen SchülerSchalom Ben-Chorin, der die Bubersche Aussagewie folgt verdeutlicht hat: „Jesus ist für mich derewige Bruder, nicht nur der Menschenbruder,sondern mein jüdischer Bruder. Ich spüre seinebrüderliche Hand, die mich faßt, damit ich ihmnachfolge... . Sein Glaube, sein bedingungsloserGlaube, das schlechthinnige Vertrauen auf Gott,den Vater, die Bereitschaft, sich ganz unter denWillen Gottes zu demütigen, das ist die Haltung,die uns in Jesus vorgelebt wird und die uns - Ju-den und Christen - verbinden kann.“

    Zugleich wird von Ben-Chorin der Gegensatz her-ausgearbeitet: „Es ist nicht die Hand des Messias,diese mit den Wundmalen gezeichnete Hand, esist bestimmt keine göttliche, sondern einemenschliche Hand, in deren Linien das tiefste Leideingegraben ist ... . Der Glaube Jesu einigt uns,aber der Glaube an Jesus trennt uns.“

    Die Gegensätze entzündeten sich vor diesem Hin-tergrund besonders an Fragen wie: ob Jesus derMessias sei; wie die Heilige Schrift auszulegen sei;

    was unter „Volk Gottes zu verstehen sei; in wel-cher Weise die Glaubensaussagen entfaltet werdenmüßten. Die sich widersprechenden Antwortendarauf und der jeweils damit verbundene Wahr-heitsanspruch stehen heute zwischen Juden undChristen.

    Bestärkt durch neue biblische Einsichten und dieErkenntnis christlicher Mitverantwortung undSchuld an der Shoa wurde von den Kirchen, dem2. Vatikanischen Konzil, Bischofskonferenzen undvielen evangelischen Synoden das mit Juden Ver-bindende und Gemeinsame in den vergangenenJahren entdeckt und formuliert wie zum Beispiel:„Als Jude gehört Jesus ganz ins Judentum seinerZeit und ist von daher zu verstehen“ oder „Judenund Christen sind in ihrem Glauben und Handelnbestimmt durch die Wechselbeziehung zwischenGerechtigkeit und Liebe“ bis zur Aussage: „JesusChristus hat von seiner jüdischen Herkunft her einreiches geistliches Erbe aus der religiösen Über-lieferung seines Volkes in die christliche Völker-welt mit eingebracht... Als Erstes ist auf die heiligeSchrift Israels, von den Christen „Altes Testament“genannt, hinzuweisen.“

    Wir stehen heute vor der Frage, ob und inwieferndie bestehenden Gemeinsamkeiten trotz wesentli-cher Differenzen zum Ansatz einer Verständigungwerden können.

    Vor diesem Hintergrund wünsche ich sehr, daßwir während dieser Tagung Zeit und Raum anbie-ten für intensive Gespräche und das gemeinsameSuchen nach Antworten, die bestehenden Gemein-samkeiten trotz wesentlicher Differenzen zumAnsatz, einer Verständigung werden können.

    Folgende Worte mögen uns für diese Tagung be-gleiten, die Leo Baeck bereits vor über 40 Jahrenbeschrieben und gefordert hat: „Judentum undChristentum sollen einander Ermahnung undWarnung sein: das Christentum das Gewissen desJudentums und das Judentum das Gewissen desChristentums. Diese gemeinsame Basis, diese ge-meinsame Möglichkeit, diese gemeinsame Aufga-be, zu deren Erkenntnis sie geführt werden, wirdfür sie ein Ruf sein, aufeinander zuzugehen. Unddann werden die beiden imstande sein, zusammenihren Platz einzunehmen, nicht widereinander,sondern Seite an Seite vor dem Forum des All-mächtigen, dem Richtstuhl, vor dem Juden undChristen gleichermaßen sich jeden Tag geladenwissen.“ •

  • 4 29/1996 epd-Dokumentation

    Tagungsprogramm, Auszug

    Was eint und wastrenntJuden und Christen?Tagung vom 8. bis zum 10. März 1996

    Veranstalter:- Evang. Bildungswerk Johann Amos Comeniuse.V., Görlitz- Buber-Rosenzweig-Stiftung- Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammen-arbeit in Görlitz e.V.

    Ort:- Evang. Bildungswerk, Tagungstätte Kreuzberg-baude in Jauernick-Buschbach bei Görlitz

    Leitung:- Dr. Ansgar Koschel, Generalsekretär, Bad Nau-heim- Rudolf W. Sirsch, M.A., Studienleiter, Görlitz

    Freitag, 8. März 1996

    16:00 Eröffnung der Tagung Rudolf W. Sirsch16:15 Friedenshoffnung und Friedensarbeit Prof. Dr. Joseph Walk, Jerusalem17:00 Diskussion17:30 Praxis eint - Glaube trennt? Dr. Ansgar Koschel, Bad Nauheim18:15 Diskussion20:00 Grußworte u. Gedanken zum Tagungs-thema Bischof Klaus Wollenweber, Görlitz

    Samstag, 9. März 1996

    08:40 Jüdische Morgenfeier09:30 Messianische Hoffnung Prof. Dr. Eveline Goodman-Thau, Halle /Saale10:15 Diskussion11:00 Das gesetzestreue Judentum Prof. Dr. Joseph Walk, Jerusalem11:45 Diskussion15:00 Kirche und Judentum im Dialog -Schwierig- keiten, gelungene Schritte und Aufgaben Weihbischof Stanislaw Gadecki, Gnesen15:45 Diskussion16.15 Erinnerung und Versöhnung - Christlich-Jüdischer Dialog in den USA Prof. Dr. Franklin Littell, Philadelphia17:00 Diskussion

    Sonntag, 10. März 1996

    08:40 Ökumenische Andacht09:30 Adolf von Harnack und Leo Baeck im Gespräch / ein fiktiver Dialog Dr. Ansgar Koschel11:00 Abschlußgespräch

  • epd-Dokumentation 29/1996 5

    Prof. Dr. Joseph Walk, Jerusalem:

    „Friedenshoffnung und Friedensarbeit“

    Jauernick-Buschbach bei Görlitz, 8. März 1996 (Tagung „Was eint und was trennt Juden und Christen?“)

    Was der Gedanke „Frieden“ im Judentum bedeu-tet möchte ich nur kurz andeuten. Der Name Got-tes bedeutet bei uns „Frieden“, so die jüdischeÜberlieferung. Der Priestersegen, der auch ihnenbekannt und in die Kirche eingegangen ist, endetmit dem Wort „Frieden“, da der Frieden alles insich enthält und ohne Frieden eigentlich keineGüter der Welt Sinn haben.

    Der Messias wird „der Friedensfürst“ genannt. DerFriede als solcher, der ewige Friede ist das Ideal,von dem Jesaja predigt.

    Das ist die einzige Pflicht, von der es heißt, manmüßte ihr nachjagen, d.h. jede Pflicht kann manan sich herankommen lassen, wenn die Gelegen-heit dazu gegeben ist, aber das ist die Pflicht, dieman suchen muß, alles versuchen muß, um zu ihrzu gelangen.

    Aber: Was ist der Frieden in unseren Augen?

    Ich möchte hier betonen, daß ich, als Israeli, Siebitte, unsere Situation nicht auf europäische Ver-hältnisse zu übertragen. Ich will einen sehrscharfen Satz sagen, im Zusammenhang mit dem,was Frieden oder Pazifismus in Israel bedeutet.Nach jüdischer Auffassung ist die Welt nach zweiPrinzipien geschaffen worden; das ist wichtig, weiles etwas typisch jüdisches ist:

    Nach dem Prinzip der Gerechtigkeit und demPrinzip der Barmherzigkeit. Denn wäre die Welt,so sagt der Talmud, nur geschaffen worden nachdem Prinzip der Gerechtigkeit, sie könnte vor Gottnicht bestehen. Aber wäre sie nur nach dem Prin-zip des Erbarmens erschaffen, dann würde einerden anderen bei lebendigem Leibe zerfleischen.Die Welt muß eine ausgeglichene Welt sein. Wirdürfen z.B. nicht immer nur nachgeben. Es ist diePflicht eines Menschen, sobald es notwendig ist,zur Selbstwehr zu greifen.

    Auf der einen Seite gehört das Verbot des Tötenseines Menschen zu den drei Todsünden um de-retwillen wir unser Leben lassen müßen: Götzen-dienst, Unzucht, Blutvergießen eines Unschuldi-gen. Sobald ich also in eine solche Situation gera-te, und bei uns sind leider schon Menschen in einesolche Situation geraten, und ich überzeugt bin,daß der Betreffende nicht zu töten ist, dann darfich es nicht tun, auch dann nicht, wenn ich meineigenes Leben aufs Spiel setzte.

    Wenn, auf der anderen Seite, jemand kommt, ummich zu töten, habe ich die Verpflichtung ihmentgegenzutreten und mein Leben zu retten, denn:Mein Blut ist nicht röter als das seine, aber auchdas seine ist nicht röter als das meine. Wir Men-schen sind alle gleich geschaffen worden und je-der hat Anspruch und Recht auf das Leben.

    Darum hat Martin Buber, einer der Vorkämpferder jüdisch-arabischen Verständigung, an einerStelle gesagt : „Wir sind keine Pazifisten“.

    Es gibt eine interessante Diskussion in dieser Fra-ge. Gandhi hatte die vollkommen verfehlte Idee,weil er die Verhältnisse in Deutschland nicht be-urteilen konnte und nicht wußte, daß wenn manNazis gegenübersteht, man es nicht mit den Eng-ländern zu tun hat, uns geraten, passiven Wider-stand zu leisten. Buber hat ihm damals geantwor-tet und versucht zu zeigen, was es im Jahre 1938in Deutschland bedeutet hätte, wenn wir uns aufdie Straße gelegt hätten.

    In dieser Hinsicht sind wir keine Pazifisten. Bubersagt: „Es gilt, in der Wirklichkeit, in der wir leben,die Demarkationslinie, die Grenzlinie zu finden,zwischen dem notwendig Bösen, das wir tun müs-sen, um am Leben zu bleiben, und dem möglichstGuten, damit unser Leben lebenswert sei.“

    Auf der einen Seite sind wir verpflichtet, das Bösezu tun, um am Leben zu bleiben, auf der anderenSeite, das möglichst Gute tun, damit dieses Lebenlebenswert sei.

    Buber hat einmal davon gesprochen, daß die Mit-tel den Zweck entheiligen können auch das soll-ten wir uns immer wieder vor Augen halten.

    Zusammenfassend der Frieden gilt als das, wasalles aufwiegt. Immer wieder wird gesagt, daßohne Frieden alle Güter dieser Welt keinen Werthaben und das der Friede das Endziel sein muß,auf das wir hinstreben. Aber, und jetzt kommt dassehr scharfe Wort: Wir in Israel können es unsnicht leisten, Pazifisten zu sein, auch wenn wir eswollten. „Pazifismus in Israel ist moralisches Para-sitentum“. Ich weiß, das ist eine sehr scharfe For-mulierung. Ich bin nicht dafür, die wenigen kon-sequenten Pazifisten, die es bei uns gibt, einzu-sperren. Ich bin dafür, daß man ihnen erlaubtZivildienst zu leisten, solange ihre Zahl klein ist.Aber sie können es sich leisten Pazifisten zu sein,weil sie wissen, daß meine Söhne und meine En-kel bereit sind zum Militär zu gehen.

  • 6 29/1996 epd-Dokumentation

    Würden alle so denken wie sie, dann gibt es unsmorgen nicht mehr. Es handelt sich also um einerealistische Sicht des Friedens und nicht um einIdeal, das irgendwo in der Luft schwebt.

    Die Grundeinstellung, die ich versucht habe inBezug auf die Gleichheit der Menschen aufzuzei-gen, bedeutet vor allem, und das kommt immerwieder zum Ausdruck in der täglichen Situationeines Kampfzustandes, daß alle Menschen gleichgeschaffen sind.

    Mein verehrter Lehrer Ernst Simon, Schüler vonBuber, hat einmal auf eine talmudische Stelle hin-gewiesen. Es gibt bei uns in der Praxis keine To-desstrafe, weil kein Indizienbeweis bei uns exis-tiert und schon zu talmudischen Zeit ist die To-desstrafe praktisch abgeschafft worden. Wennman bei einem solchen Prozeß die Zeugen ver-nimmt, ruft man sie einzeln ins Zimmer und zeigtihnen warnend, was es bedeutet das Leben einesMenschen unter Umständen zu beenden. Dabeiwird u.a. gesagt: „Wisse, deswegen ist der Menschals einzelner geschaffen worden, damit nicht einerzum anderen sage, dein Vater ist größer als dermeine.“ Ernst Simon sagte: „Das ist die MagnaCarta der israelischen Demokratie.“

    Dieser Grundgedanke ist, daß alle Menschengleich sind und wir alle vom selben Adam, vomselben Urmenschen abstammen. Dieser Gedankebeinhaltet auch, daß wenn wir einen Menschentöten, wir ja eigentlich nicht nur ihn töten. Jetztwerde ich etwas hebräisch zitieren. In dem be-kannten Anruf Gottes an Kain nach dem erstenBrudermord steht wörtlich übersetzt (es ist eigent-lich unmöglich ins Deutsche zu übersetzen): „DieStimme deiner Blute, der Blute deines Bruders ...“. Hier wird im Plural gesprochen, weil man injedem Menschen in der Potenz nicht nur ihn tötet,sondern mit ihm auch alle kommenden Ge-schlechter. Wieder die Warnung, daß ein Men-schenleben nicht nur für sich zu begreifen ist,sondern als der Grundstock einer späteren Gene-ration.

    Ich möchte eine dritte Stelle aus der Bibel zitieren,um die prinzipielle Einstellung zu zeigen, die dasJudentum hat. Bei der Begegnung zwischen Jakobund Esau steht eine doppelte Bezeichnung: „Erfürchtete sich und es tat ihm weh“. Warum diesesDoppelte? Wir verstehen, er fürchtete sich vorEsau. Unser großer Bibelerklärer Raschi sagte,nach dem Talmud: „Er fürchtete sich davor, getö-tet zu werden. Es tat ihm weh, töten zu müssen“.

    Das ist schwer in die Tat umzusetzen, aber dassollte das Gefühl jedes Soldaten sein, wenn er inden Kampf ziehen muß, wenn es keine andereMöglichkeit gibt.

    Ich zitiere einen meiner Enkel, der im Libanon-krieg gefragt wurde, was er empfinde, wenn er auf

    ein Haus schießt, in dem Zivilbevölkerung lebt. Erantwortete: „Sie wissen gar nicht, wie schwer mirdas fällt, aber was soll ich tun, wenn sich die PLOdarin verschanzt?“

    Dieses Gefühl, diese Furcht einerseits sein Lebenzu verlieren und andererseits die Vorstellung, daßman dem anderen u.U. das Leben nimmt, solltejeden Soldaten begleiten, wenn er gezwungen ist,in den Krieg zu ziehen.

    Das sind alles schöne Worte. Die Frage ist, inwie-weit das zu verwirklichen ist. Inwieweit haben wirJuden das Recht gehabt zu verlangen, daß uns dieanderen milde behandeln, nur weil wir immer dieMinderheit waren?

    In einem Dialog, der in Wirklichkeit ein Monologist, legt ein jüdischer Philosoph im Mittelalterseinem Gesprächspartner folgenden Vorwurf inden Mund: „Ihr Juden habt es leicht. Ihr seid ü-berall die Schwachen, ihr seid überall die Unter-worfenen. Kein Wunder, daß ihr nach Freiheit,nach Gerechtigkeit und nach Brüderlichkeitschreit. Wir wollen euch einmal sehen, wenn ihrdie Starken seid.“ Da antwortet der Jude seinemnichtjüdischen Gesprächspartner und eigentlichantwortet er sich selbst: „Hier hast du eine schwa-che Stelle gefunden.“ D.h., erst in dem Augen-blick, in dem wir die Starken sind, wo es um dieVerwirklichung von Idealen geht, nicht um schöneWorte, nicht um Predigten, erst dann wird sichherausstellen, ob wir bereit sind, das, was wir vonanderen verlangen, an uns selbst zu erfüllen.

    Nun habe ich von Frieden und Friedenshoffnunggesprochen, von dem, was uns immer begleitetund was immer unsere Gebete und unseren Sinnbestimmt. Jetzt komme ich zu der Frage: „Inwie-weit kann sich diese Friedenshoffnung verwirkli-chen?“ Ich gehe davon aus, daß das jüdisch-palästinensische Problem, früher nannte man esdas jüdisch-arabische Problem, eigentlich ver-drängt wurde. Die Zionisten haben geglaubt, ha-ben glauben wollen, „ein Volk ohne Land kommtin ein Land ohne Volk“. Das war eine sehr schöneFormel - wenn sie nur wahr gewesen wäre. Aberin diesem Land lebten Menschen, viel mehr, alsheute verbreitet wird.

    Im Brockhaus steht, daß es im Jahr 1900 in Paläs-tina 600 000 Einwohner gab, davon waren 10%Juden. Schon 1907 hat ein „eingeborener“ Judeeine kleine Schrift veröffentlicht mit dem Namen„Die verborgene Frage“ oder „Die zurückge-drängte Frage“, und er meinte damit das arabischeProblem. Man hatte eigentlich nicht den Mut, sichdem Problem zu stellen.

    Ich möchte ihnen zeigen, warum es so schwierigwar und so schwierig ist, bis auf den heutigenTag, anhand eines persönlichen Erlebnisses. Ichbin ein in Deutschland geborener Jude, der in

  • epd-Dokumentation 29/1996 7

    einem zionistischen Haus aufgewachsen ist. Wennich gefragt werde, warum ich Zionist bin, dannsage ich: „Ich bin als Zionist geboren, unter demBild von Theodor Herzl.“ Der deutsche Zionismuswar sicher auch unter dem Einfluß des WeimarerDeutschlands sehr humanistisch, so humanistisch,daß man die wahre Problematik nicht erkannt hat.

    1936 kam ich mit meiner Frau nach Israel, wirhatten gerade geheiratet. Wir hatten eine ganzvernünftige Idee, wir wollten von Jerusalem ausmit der Eisenbahn fahren, so wie wir es ausDeutschland gewohnt waren. In der Eisenbahnsaß ich neben einem Araber, der mich Neuein-wanderer bat, ihm ein Messer zu leihen, damit erseine Apfelsine schälen konnte. Unbedenklich gabich ihm mein Messer. Daraufhin fauchte mich einim Lande geborener Jude an: “Bist du verrücktgeworden, er ist doch bereit, dir das Messer imnächsten Augenblick in den Rücken zu stechen.“Heute würde ich einem Araber natürlich keinMesser geben, aber er hätte es auch nicht nötig.Das war meine erste Begegnung mit dem Araber-problem und mit der Sichtweise aus den Augeneines „Eingeborenen“, der mehr Erfahrung hatteals ich. Trotzdem versuche ich bis heute, mir mei-ne Grundeinstellung nicht rauben zu lassen.

    Drei Jahre später, also 1939, nach den sogenann-ten „Ereignissen“ - in Wirklichkeit waren es Unru-hen, die Araber versuchten die damals verhält-nismäßig große jüdische Einwanderung irgendwiezu stoppen - ist ein mir sehr nahestehenderFreund durch einen schrecklichen Unglücksfall,der nichts mit dem Araberproblem zu tun hatte,umgekommen. Dieser Freund war wirklich Pazi-fist. Er ist mit einem Stock auf die Wache gegan-gen, was im Dorf ein Lächeln hervorgerufen hat,weil es wenig Sinn hatte. Wir haben ihm ein Heftgewidmet. Ich habe damals folgende Szene ge-schildert: Ich fahre aus unserem Dorf nach Haifa.Der Autobus ist abgenetzt, gegen Kugeln gesichert.Nun fahren wir in Haifa ein und ich sehe die ver-zerrten Gesichter der arabischen Bevölkerung. Derletzte Satz dieser Skizze ist: „Und ich vergaß, daßauch sie mich so sahen.“

    Ich wollte ihnen damit einerseits zeigen, daß dieProblematik nicht verborgen blieb. Wir warenerschrocken, gerade wir, die wir aus Deutschlandkamen und geglaubt hatten, in ein sicheres Landzu kommen. Drei Monate später brachen die Un-ruhen aus.

    Im Grunde genommen habe ich immer versucht,mir vorzuhalten: So, wie du sie siehst, so sehensie dich auch. Die zionistische Organisation hatdas Problem in seiner ganzen Schwere vielleichtnicht erkannt oder verdrängt. Aber wir habenvieles getan, um zu einer friedlichen Lösung zukommen.

    Ich möchte die Losung der Woche der Brüderlich-keit erwähnen, die mir unglücklich gewählt er-scheint, weil sie in einer ganz anderen Situation,unter ganz anderen Voraussetzungen gesagt wor-den ist. Ich pflege im allgemeinen zu sagen, wennich von dem Palästinenserproblem spreche: Wennman schon nicht miteinander leben kann, dannsollte man wenigstens nicht gegeneinander leben,sondern nebeneinander und ich finde, daß dasschon sehr viel ist. Ich war nie Anhänger einesbinationalen Staates, obwohl ich die Menschengeschätzt habe, die diese Idee vertraten.

    Leider hat die Geschichte meinem Pessimismusrecht gegeben, nicht nur in Palästina, auch inEuropa. Es genügt, wenn man nebeneinander inFrieden leben kann.

    Nun gab es Vorschläge zu diesem Nebeneinander.Es gab 1937 einen Vorschlag, als die Engländerselbst eingesehen hatten, daß es zu einem Mitein-ander nicht kommen kann, obwohl von unsererSeite eine Bereitschaft dazu vorhanden war. Derzionistische Kongress hat schweren Herzens be-schlossen - denn die Grenzen waren sehr zu unse-ren Ungunsten gezogen - dem Plan zuzustimmen,angesichts der drohenden Wolken, die sich damalsüber Europa zusammenzogen. Die Araber habenden Vorschlag abgelehnt. 1946 versuchte dieanglo-amerikanische Kommission einen Teilungs-plan vorzulegen, der wiederum ungünstig für unswar. Wir nahmen ihn an, angesichts der Katastro-phe, die geschehen war, angesichts der vielenFlüchtlinge und Deportierten, die gerettet waren.Die Araber lehnten den Vorschlag ab.

    1947 beschließt die UNO in einer einmaligen his-torischen Situation - Amerika und Rußlandstimmten zu - einen Judenstaat zu errichten, wie-derum mit sehr ungünstigen Grenzen.

    Es war trotzdem überwältigend. Wir gesetzes-treuen Juden kennen kein impulsives, spontanesBeten. Nicht jeder hatte die Geduld bis um zweiUhr nachts am Radio zu sitzen. Als Freudenschüs-se vom naheliegenden Berg ertönten, liefen alle,ohne daß es verabredet war, in die Synagoge undsprachen zusammen ein Gebet, ohne daß es je-mand veranlaßt hatte. Wir sprachen das Lobgebet,das an Feiertagen gesprochen wird. Das war daseinzige Mal in meinem Leben, daß ich so etwaserlebt habe. Es war für uns wirklich etwas Über-wältigendes. Den Segensspruch, den wir im allge-meinen sagen, wenn ein sehr freudiges Ereigniseintritt, habe ich gesagt, als ich zum ersten Maldie israelische Flagge auf meiner Holzbarackeaufgezogen habe. Das sind Momente, die mannicht vergißt.

    Und wir wußten, daß die arabischen Staaten allesdaran setzen würden, die Existenz eines jüdischenStaates zu verhindern.

  • 8 29/1996 epd-Dokumentation

    Sie kennen alle die Bewegung „Peace now“ - Frie-den jetzt. Sie wissen vielleicht, daß es eine Gegen-bewegung gibt unter den sehr gläubigen Juden,die sagt: „Messias jetzt“. Ich bin gegen jedes„jetzt“. Wir Juden sind ein Volk des langen A-tems. Wir können und dürfen nichts überstürzen.Auch ein Friede kann nicht überstürzt werden, ermuß, wie Buber sagt, ein „fleißiger Kompromiß“sein und nicht ein „fauler Kompromiß“. Einen„fleißigen Kompromiß“ muß man ausarbeiten, damuß alles überlegt werden, da muß alles in Rech-nung gebracht werden. Aber auch nicht „Messiasjetzt“, der Messias kommt nicht ohne unser Mit-tun.

    Eine jüdische Legende erzählt, daß einer unserergroßen Gesetzeslehrer ausgeht, um den Messiaszu suchen. Er findet ihn vor den Toren Roms.Rom ist das Abendland, Rom ist die Kirche. Erbindet seine Wunden auf und zu. Da fragt ihn derRabbi: „Wann kommst du?“ Er bekommt die über-raschende Antwort: „Heute“. Auf die erstaunteFrage des Rabbi: „Heute?“ antwortet der Messiasmit dem Psalmwort: „Heute, wenn ihr auf meineStimme hört.“ Also es hängt von uns ab. EineGesellschaft, die sich nicht verändert, ein Volk,das sich nicht verändert, eine Menschheit, die sichnicht verändert, zu der kommt er nicht. Das hatnatürlich gewisse Verpflichtungen, große Ver-pflichtungen für uns. Das muß man auch in Rech-nung bringen, wenn man den anderen sieht. EinVolk ist bereit zu verzeihen, wenn man seine Inte-ressen verletzt. Ein Volk ist nicht bereit zu verzei-hen, wenn man seine Ehre verletzt.

    Ein Beispiel aus der deutschen Geschichte. DieInflation und der Versailler Vertrag hatten einegroße wirtschaftliche Bedeutung, aber der „Korri-dor“ war auch daran schuld, daß Deutschland sichso entwickelt hat, wie es sich entwickelt hat. Auchhier weiß ich nicht, ob die Siegerstaaten vernünf-tig genug waren, auf die Ehre des anderen zuachten.

    Es gibt durchaus Stellen in der Bibel selbst, ausdenen wir lernen können. Wir sprachen geradevon dem „Nebeneinander“ und „Miteinander“.Unsere Bewegung hat einmal in einer bestimmtenSituation gerade auf diese Stelle hingewiesen.Abraham und Lot, sie konnen miteinander in Frie-den leben, aber ihre Hirten nicht. Was tut Abra-ham? Er sagt: „Trennen wir uns doch.“ Und er istso großzügig, daß er Lot sogar die Wahl läßt. Eskam zu einer Versammlung, die unter diesemMotto stand. Oder ein anderes Beispiel aus derBibel. Die Urmutter der Araber, des Islam, ist Ha-gar. Aus meiner Schulerfahrung im Dorf kann ichIhnen erzählen, wann ich gewußt habe, daß mei-ne Erziehung einen gewissen Erfolg hatte. DieKinder konnten hebräisch, es war also kein Prob-lem im zweiten oder dritten Schuljahr die Bibel,im Urtext zu lesen. Wir kommen an eine be-stimmte Stelle, und man muß es ja veranschauli-

    chen. Es war die Zeit, in der es noch keineWaschmaschinen gab, sondern im Trog gewa-schen wurde. Ich sagte: „Ihr wißt doch, wieschwer das ist, wenn die Mutter im Trog Wäschewäscht. Stellt euch vor, die Hagar war dochschwanger. Sarah sagte zu ihr: Komm her, nimmden Trog und trag ihn herüber.“ Da ist ein Mäd-chen aufgesprungen und hat gesagt: „Da hat sieaber Unrecht getan.“ Da war ich froh, und ichhabe ihr sagen können, daß einer unserer Bibel-erklärer sagt: „ ... und hier hat unsere UrmutterSarah eine große Sünde begangen.“ Hagar wareine Ägypterin, und dasselbe Wort, das sich hierbefindet, „sie unterdrückte sie“, findet sich auchspäter bei der Unterdrückung der Kinder Israelwieder.

    Es gibt über die Generationen hinweg sicherlichkeine Buchhaltung. Aber wie in der Tiefenspy-chologie gibt es etwas, das weiterwirkt in der Ge-schichte, und das schöne war, daß ich dem klei-nen Mädchen sagen konnte: „Du stehst nicht al-lein da.“ Auch einer unserer Bibelerklärer sagt:„Sarah hat hier gefehlt.“

    Kürzlich habe ich, zu meiner großen Freude einehochinteressante Erklärung gefunden, warum dieBindung Isaaks sich anschließt an das Kapitel mitIsmael. Einer unserer modernen Bibelerklärer sagt:„Abraham sollte einmal empfinden, was es be-deutet, mit dem Sohn ausgesetzt zu sein.“ Er hatdoch Hagar mit dem Sohn in die Wüste geschickt,was Sarah ihm geraten hatte, und der Sohn wäredabei beinahe umgekommen.

    Das ist eine sehr eigenwillige Erklärung, aber ge-rade, weil sie jetzt gesagt wurde, in dieser Situati-on, das hat mich gefreut. Es hat mir Mut gemacht,weil ich leider häufig mit Rabbinern in Konfliktgerate.

    Ich bin in Deutschland aufgewachsen und habeeine Erziehung genossen, die sich der Umwelt-kultur gestellt hat. Wir „Jerkes“, wir deutschenJuden in Israel, denken als Humanisten.

    Vor etwa zwanzig Jahren hat ein jüdischer Jour-nalist sich als arabischer Student verstellt. Erwollte einen Versuch unternehmen und ist in dasViertel gegangen, in dem die Professoren wohn-ten, die Intellektuellen, die alle der linken Parteiangehörten. Der Journalist suchte eine Wohnung.In dem Moment, als herauskam, daß er arabischerStudent war, wurde ihm die Wohnung verweigert.Dann ist er auf den Gemüsemarkt gegangen, aufdem sie jeden Tag von orientalischen Juden hörenkönnen, daß man jedem Araber den Hals durch-schneiden müßte. Dort hat er sofort eine Woh-nung gefunden.

    Das sollte uns zu denken geben. Vielleicht habenauch diejenigen Recht, die sagen, daß wir europäi-schen Juden vielleicht die Mentalität der Araber

  • epd-Dokumentation 29/1996 9

    zuwenig verstehen. Wir haben immer geglaubt,daß die marokkanischen Juden vielleicht eineBrücke herstellen könnten. Ich erzähle das mitAbsicht, weil ich nicht den Eindruck erweckenwill, daß wir nicht überprüfen, was wir von an-dern verlangen und von uns selbst verlangen müs-sen.

    Nun komme ich auf unsere Gruppe zu sprechen,eine kleine Gruppe, eine Minderheitsgruppe. Ichhabe immer „das Glück gehabt“, in der Minder-heit, mit oder ohne Anführungsstriche, zu sein.Ein deutsch-jüdischer Denker hat einmal gesagt:„Die Minderheit hat einen Vorteil, sie muß den-ken.“ Das ist anscheinend eine psychologischeWahrheit, insofern sind wir eine Gruppe von den-kenden Menschen.

    Das soll Sie wieder zurückbringen zu dem, wasich mir unter richtigem Frieden vorstelle. Im Na-men Bubers ist das ein „fleißiger Kompromiß“.Stärke, denn die Sicherheit Israels muß gewähr-leistet sein, aber Schalom als das Ziel, das wir injeder Situation im Auge behalten müssen undversuchen müssen daraufhinzustreben.

    Wir waren biologisch und soziologisch zunächsteine kleine Gruppe aus Deutschland stammenderJuden, von Juden, die aus demokratischen euro-päischen Ländern kamen oder aus Amerika. Esgab sehr, sehr wenige eingeborene Israelis. Ichkann Ihnen klarmachen, warum das so war. In derBar-Han-Universität, wo ich vor zwanzig Jahrenunterrichtet habe, saß ich im Dozentenzimmer.Neben mir saß ein junger Israeli und er sagte: „Ichgehöre zu Euch.“ Etwas erstaunt fragte ich zurück:„Wieso denn?“ Er sagte: „Ganz einfach, ich warfünf Jahre in Amerika, mein Horizont hat sicherweitert.“ Das war nicht ironisch gemeint. Es isteine Tatsache, die man verstehen kann, daß Men-schen, die einen weiteren Horizont, die demokra-tische Erfahrungen haben und die Geschichte ge-lernt haben, sensibler sind. So war unsere Gruppeim wesentlichen beschränkt auf Erziehung, aufden Versuch der Aufklärung und auf den nichtgeglückten Versuch Rabbiner zu gewinnen, diebereit sind, sich auf unsere Seite zu stellen. Daswar 1975.

    So entstand ein kleines Gegengewicht gegen jeneSiedler, die in einen messianischen Rausch ge-kommen waren. Man verglich das etwa mit derTatsache, daß Gott das Herz des Pharao verhärtethatte, so daß er nicht anders handeln konnte.Ebenso scheint es, daß Gott das Herz Husseinsverhärtet hatte. Wir haben ihn am Tag desKriegsausbruches davor gewarnt, in den Krieg zuziehen, und er hat diese Warnung in den Windgeschlagen. So fallen ganz unerwartet die West-Bank und Ost-Jerusalem in unsere Hände, wasursprünglich gar nicht vorgesehen war. Also, soargumentiert man dann weiter, ist es Gottes Willegewesen. Gott hat uns das heilige Land in die

    Hände gespielt. Wenn das Gottes Wille war, dür-fen wir uns nicht dagegen auflehnen und nichteinen Zentimeter von dem heiligen Land zurück-geben. Das war die Problematik, vor der wir stan-den. Ist das Gottes Wille?

    Dann kam 1982, der Libanonkrieg. Zum erstenMal sahen sich junge Menschen, die „Gusch Emu-nim“ angehörten, im Krieg, sahen ihre Kameradenfallen. Sie fragten sich: „Was haben wir eigentlichin einem fremden Land zu suchen?“ So entstandeine Parallelgruppe, die nannte sich „MetivotShalom“ - „Pfade des Friedens“. Interessanterwei-se fürchteten sie sich davor, mit uns zusammen-zuarbeiten, da wir einen sehr radikalen Anstrichbekommen hatten, jedoch nicht durch unsereSchuld. Sie hofften in die Kreise von Jeschiwot(Talmudhochschulen) einzudringen, besondersauch in die der Talmud-Hochschullehrer. Nachkurzer Zeit haben sie eingesehen, daß das zweck-los war, bzw. wenig versprach. Auf der einenSeite waren wir Älteren, sie die mehr Aktivismushatten, und so haben wir uns auf der anderenSeite vereinigt. Wir sind heute praktisch eine Or-ganisation, im Land bekannt unter dem NamenNatwod Shalom und außerhalb Israels unter demNamen Oz ve Shalom. Auf diese Weise ändertesich auch die Taktik, denn junge Menschen sindeher als ältere dazu bereit zu demonstrieren undMahnwachen zu stellen. Diese jungen Menschenwaren dazu bereit. Als palästinensische Schulengeschlossen wurden, stellten sie sich vor demHaus des Ministerpräsidenten auf mit einemSchild, auf dem stand: „Das Volk des Buchesschließt das ‘Haus des Buches’ (= Schulen).“Oder aber als der Faschist Kahane, den ich nichtals Nazi bezeichnen möchte und der dann späterermordet wurde, gewählt worden war und seinenSiegeszug durch die Altstadt antrat, bei dem er dieAraber aufforderte, ihre Häuser zu räumen, sindsie ihm nachgegangen und haben Flugblätter inArabisch, Englich und Hebräisch verteilt, auf de-nen stand: „Wir denken nicht so, wir sind an-ders“. Das war nicht ganz ungefährlich. Genausogefährlich war es, als in einem Dorf in der Nähevon Jerusalem Häuser zerstört wurden, wie wirmeinten zu Unrecht, dort hinzugehen an einemSabbath, was für einen Juden nicht so leicht ist, ineiner fremden Umgebung, um ihre Solidarität zumAusdruck zu bringen. Als vor vielen Jahren einsehr bekannter Rabbiner, den ich nicht ganz frei-sprechen kann von einer Haltung, aus der herausein Mord entstehen könnte, in den obersten rabbi-nischen Rat gewählt werden sollte, haben diesejungen Menschen vor dem Oberrabbinat mit Erfolgdemonstriert.

    Während des Libanonkrieges haben wir zusam-men vor dem Oberrabbinat eine Demonstrationveranstaltet, zusätzlich zu der großen Demonstra-tion in Tel Aviv, anläßlich der Massaker in Sabaund Shatila. Ich möchte hier die Tatsache festhal-ten: in Saba und Shatila haben nicht Juden ge-

  • 10 29/1996 epd-Dokumentation

    mordet, sondern libanesische Christen, aber unterunserer Oberhoheit, und die Waffen hatten wirgeliefert, wenn auch nicht zu diesem Zweck. Esgibt im Judentum eine indirekte Verantwortung,die steht im fünften Buch Moses, wo erzählt wird,wenn man einen Erschlagenen findet und mannicht weiß, wer ihn erschlagen hat, dann gehendie Ältesten der am nächsten liegenden Städtehinaus, um zu sagen: „Unsere Augen haben nichtgesehen, unsere Hände haben das Blut nicht ver-gossen. Würde man auf den Gedanken kommen,die Ältesten hätten getötet? Nein. Sie wollen sa-gen: „Wir haben es nicht gesehen, sonst hättenwir diesen Getöteten nicht hinausgeschickt ohnepolizeiliche Wache. Wir haben das Blut nicht ver-gossen. Er war vielleicht hungrig, er war vielleichtdurstig. Wir haben ihn gehen lassen, er wollte seinLeben retten und hat sein Leben dabei verloren,weil er einfach nicht anders konnte, als sich seinLeben irgendwie zu sichern.“ D.h. indirekte Ver-antwortung besteht, und wir haben das, als religi-öse Gruppe, bewußt zum Ausdruck gebracht.

    Es gibt manchmal indirekte Möglichkeiten zu wir-ken, ich komme jetzt noch einmal auf das Erziehe-rische zurück. Auch erwachsene Menschen kannman in eine Situation bringen, in der sie plötzlichzum Nachdenken gezwungen sind. Ich habe vor-hin gesagt, daß ich auch Kahana nicht mit denNazis vergleiche. Kahana hat die Absicht gehabt,gewisse Gesetze durchzubringen, die sehr unlieb-sam an die Nürnberger Gesetze erinnern. Abernicht darüberhinaus, jeder Vergleich mit demeinmaligen Geschehen der Shoa ist wirklich abso-lut verfehlt. Nun habe ich vor vielen Jahren Gele-genheit gehabt im Rahmen eines Kurses über ver-gleichende Erziehungswissenschaft, mich mit demThema „Nationalcharakter und Erziehung“ zubefassen wenn es überhaupt so etwas gibt. Es gibtdarüber ein sehr bezeichnendes Buch eines deut-schen Psychologen, 1915 geschrieben, indem erdie Deutschen mit den Engländern und den Fran-zosen vergleicht, aufgrund der Nationalhymne.

    Nun habe ich folgenden Test angestellt, was dieStudenten nicht wissen konnten: Ich lese euchjetzt zehn Eigenschaften vor, polar gegeneinandergesetzt: seßhaft - nomadenhaft, aufrichtig - ver-schlagen, offen in den Kampf gehend - von hintenangreifend, u.s.w. Dann habe ich gefragt, auf wendiese Eigenschaften zutreffen. Nun hatte ich inden Kursen fast immer arabische Studenten. AlleAnwesenden schwiegen verlegen, bis dann einerschließlich sagte: „Also, das sind wir, und das sinddie Araber. Das liegt doch auf der Hand.“ Daraufbat jemand, ich solle die Quelle angeben. Daraufsagte ich: „Doßers, Die Judenfrage im Geschichts-unterricht, Leipzig, 1936. Alles, was ihr jetzt unszugeschrieben habt, das bezieht sich dort auf diearische Rasse, und alles, was ihr den Arabern indie Schuhe geschoben habt, das gilt für uns. Jetztseid mal etwas vorsichtiger mit Nationalcharak-

    ter.“ Dieser Test hat mehr bewirkt, als wenn icheine lange Predigt gehalten hätte.

    Nun zurück zu unserer verhältnismäßig kleinenGruppe. Wir treten in der Politik ein für „Landgegen Frieden“. Auch hier gibt es wieder zweiRabbiner, die zwei unterschiedliche Anschauun-gen vertreten, den sog. aschkenasischen Rabbiner,also den westlichen, der nicht mehr am Leben ist,und einen orientalischen, der noch weiter aktivist. Dieser zweite Rabbiner hat uns erzählt, als eruns empfangen hat, daß der militante Kollege ihnfragte: „Wie können sie nur bereit sein, Land ge-gen Frieden einzutauschen. Wir beten doch jedenTag: „Gott erbarmt sich seines Landes.“ Worauf-hin er die schlagfertige Antwort bekam: Direktdahinter steht auch: „Gott erbarmt sich seinerGeschöpfe.“ Die Frage ist: Was geht vor? In dieserHinsicht sind wir schweren Herzens prinzipiellbereit, Land zurückzugeben, wenn dadurch Men-schenleben gerettet werden können. Das Prinzipist nicht so leicht zu verstehen. Das jüdische Reli-gionsgesetz erfaßt nicht nur den Menschen in derSynagoge, in der Familie, sondern es ist ein Ge-setz, das das ganze Leben erfüllt und auch dasLeben der Gemeinschaft gestalten will. Daherkommt es, daß Rabbiner Stellung nehmen zuprinzipiellen Fragen der Politik, was u.U. schwereFolgen haben kann.

    Wir haben sehr strenge Sabbathgesetze. Wir dür-fen nichts Neues schaffen. Das hat nichts mit derSchwere der Arbeit zu tun. Wir sollen genauso wieGott, der von der Schöpfung geruht hat, jedeschöpferische Arbeit unterlassen. Die Rabbinerhaben festgelegt, daß Lebensgefahr den Sabbathverdrängt. Das ist ein Prinzip, d.h., wenn jemandin Lebensgefahr ist oder erkrankt ist, dann sindwir verpflichtet dem Sabbath zu entsagen, z.B.auch zu fahren, um jemanden zum Arzt zu brin-gen. Aber wer entscheidet nun, ob diese Situationeingetreten ist? Die Rabbiner haben festgelegt, daßdie Entscheidung beim Arzt oder bei dem Krankenliegt und nicht beim Rabbiner. Ganz ähnlich ar-gumentieren wir, die Rabbiner können bestimmteGrundsätze festlegen, aber die Frage, ob eine Situ-ation politisch eintritt, in der ein Verzicht Men-schenleben retten kann, unsere Sicherheit garan-tieren kann mehr als ein nochmaliger Krieg, Gottbehüte, das entscheiden nicht Rabbiner, das müs-sen Staatsmänner und Politiker entscheiden oderStrategen. Das entscheiden nicht Rabbiner und daüberschreiten sie manchmal ihre Grenzen. Auchdagegen kämpfen wir, mehr oder weniger erfolg-reich.

    Unsere Arbeit hat in den letzten eineinhalb Jahreneinen großen Aufschwung erfahren, weil wireinen neuen Sekretär haben, der durch seine Per-sönlichkeit weit größere Wirkungsmöglichkeitenhat als andere. Es ist tragisch, daß er vor einein-halb Jahren einen seiner Söhne verloren hat, dervon Terroristen ermordet wurde. Dieser Sohn war

  • epd-Dokumentation 29/1996 11

    in seiner Klasse immer in der Minderheit. Er hatteden Mut, gegen alle anderen aufzutreten und fürden Frieden einzutreten, und der Vater hat gesagt:„Das ist das Vermächtnis meines Sohnes“. Er hatsein Geschäft niedergelegt und sich uns für zweiJahre zur Verfügung gestellt. Ich weiß, daß erMöglichkeiten hat, die wir nicht hatten, weil dieMenschen ihm zuhören, sogar in den Siedlungenvon „Gusch Emmunim“, weil man einem solchenMenschen anders gegenübertritt. Das weiß er sel-ber auch. Es ist ihm gelungen, dreißig Familien,die auch Opfer des Terrors waren, in einer Gruppezusammenzuschließen, nicht nur religiöse. Das istetwas so überwältigendes, daß unsere Arbeit reinzahlenmäßig aber auch qualitativ einen großenAufschwung erlebt hat. Er hat in Zusammenarbeitmit Politikern und Militär Friedenspläne entwi-ckelt, nach denen der größte Teil der Siedlungenim jüdischen Teil bleibt, der Bevölkerung dieserSiedlungen zu uns kommt, wobei wir sehr wenigLand in Anspruch nehmen, um das Land nichtden anderen wegzunehmen.

    Eine Frage bewegt uns alle und sollte meines Er-achtens an das Ende der Friedensverhandlungen

    treten und nicht an den Anfang: Jerusalem. Eswird jetzt immer wieder darüber gesprochen. Zu-nächst eine Tatsache: In der Bibel ist Jerusalem656 mal erwähnt, im Koran einmal. Bei denChristen habe ich immer den Eindruck, es handelesich mehr um das himmlische Jerusalem, nicht sosehr um das irdische. Und doch glaube ich, daßhier eine Lösung gefunden werden kann, wennder gute Wille besteht, die Einheit der Stadt zuwahren und doch jede Seite zu ihrem Recht kom-men zu lassen.

    Im allgemeinen wird erklärt: Jerusalem, Stadt desFriedens. Das Wort „Jeru“ klingt an im Hebräi-schen an „Israe“ „er wird gesehen werden“, näm-lich Gott auf dem Berge Moria, dem Tempelberg.Das ist die jüdische Komponente. Das Wort „Sa-lem“ erinnert an „Metusalem“, den König vonSalem. Er ist Monotheist, aber kein Jude, also dienichtjüdische Komponente. Wir legen Gott in denMund: „Nenne ich die Stadt nur „Jeru“, wird Me-tusalem Einwand erheben, nenne ich sie nur „Sa-lem“, dann wird Abraham sich gegen mich auf-lehnen, darum nenne ich sie „Jerusalem“. •

  • 12 29/1996 epd-Dokumentation

    Dr. Ansgar Koschel, Bad Nauheim:

    „Praxis eint - Glaube trennt?“Jauernick-Buschbach bei Görlitz, 8. März 1996 (Tagung „Was eint und was trennt Juden und Christen?“)

    1. Zwei Beispiele als Einführung in das Problem

    Als der Dialog zwischen Christen in eine Sackgas-se geriet - jeder konnte den Part des anderenspielen und doch kam keiner weiter -, da rief manzu gemeinsamen (praktischen) Schritten für denFrieden auf. Und in der Tat: In der Praxis - rech-nen wir die Politik dazu - konnte z.B. der Vatikanmit dem Initiator der KSZE, Leonid Breschnewund der Sowjetunion, einige langfristig sehr wirk-same Schritte tun. Und keiner kann sagen, dieVertreter des Vatikan und der Sowjetunion seieneines Glaubens gewesen.

    Die weltweite Ökumene weiß sich eins im Glau-ben an Jesus als dem Christus. Doch wie sehr eintdas? Ich denke dabei nicht erstrangig an die vielenGlaubensunterschiede und somit auch nicht an dievielen Definitionen, mit denen die frühkirchlichenKonzilien Orthodoxie herausgeschält haben; ichdenke vielmehr erstrangig an die Praxis:

    Ein Glaube hinderte nicht daran,

    - daß es im „3. Reich“ Deutsche Christen und dieBekennende Kirche gab, Franz Jägerstetter undMax Josef Metzger einerseits und die ErzbischöfeGröber (Freiburg) und Berning (Osnabrück) an-dererseits;

    - daß es das Moskauer Patriarchat und die Rus-sisch-Orthodoxe Exilkirche gibt,

    - daß es in Deutschland Anfang der 80er Jahreunter Christen ein „Nein ohne jedes Ja“, ein„Nein gegen Geist, Logik und Praxis der Ab-schreckung“ gab - und zugleich Tolerierung, jaLegitimierung von Atomwaffen durch Kirchen-vertreter,

    - daß es die Serbisch-Orth. Kirche und in Kroatiendie Röm.-katholische Kirche gibt, die eher zumKrieg gegeneinander motivierten, als daß siemäßigend wirken.

    Ein Glaube eint nur begrenzt!?

    Ist es dann ein Glaube, wenn die Praxis wider-sprüchlich ist?

    2. Was eint - was trennt? Ein Problem zwischen Juden und Christen

    Christentum und Judentum sind zwei Religionen,doch nicht in einem solchen Verhältnis zueinanderwie etwa Christentum oder Judentum zu Hindu-ismus oder zu Religionen indigener Völker. Siestehen in einem engeren Verhältnis zueinanderund haben Gemeinsamkeiten in den Glaubensin-halten:

    - im Glauben an Gott, den Schöpfer Himmels undder Erde,

    - im Glauben an die Ebenbildlichkeit eines jedenMenschen, des „ADAM“,

    - im Glauben an eine Vollendung der Schöpfung,z.T. verbunden mit messianischer Hoffnung unddem Glauben an die Auferstehung als Erweis derTreue Gottes,

    - im Glauben an die Verantwortung eines jedenMenschen vor Gott und voreinander.

    Gerechtigkeit, Erbarmen, Liebe/Nächstenliebe sindgemeinsame Grundlagen für ein ethisches Handelnaus dem Glauben.

    Ja, ich könnte wohl noch mehr nennen, sehe aber,daß gemeinsame Bezeichnungen, Worte undGlaubensinhalte bei näherem Hinsehen mehrtrennen als einen, ja sogar explosiv, zerstörendwirken können. Ich nenne Worte wie Volk Gottes,Messias, Sohn Gottes, Erwählung, Erlösung, Ver-söhnung.

    Christen wie Juden bedeuten diese Worte viel.Christen wissen oft nicht, was sie Juden bedeuten,und gebrauchen sie deshalb leicht verletzend.

    Sollen wir deshalb darüber lieber schweigen,wenn wir als Juden und Christen zusammenkom-men oder zusammenarbeiten wollen? Ist es besser,nicht über Gemeinsamkeiten des Glaubens mitein-ander zu reden, statt dessen miteinander zu ar-beiten?

    3. Jüdische Einwände gegen den Dialog

    Juden werden sagen - und sie sagen es - : Eureganze christliche Lehre hat euch nicht daran ge-hindert, Juden auszumerzen, sie zu verfolgen, zuermorden, weggeschaut oder sogar mitgewirkt zuhaben bei der Schoa!

  • epd-Dokumentation 29/1996 13

    Oder sie fragen auch grundsätzlicher: Sind dieVerhältnisse durch bzw. seit Jesus messianischgeworden?

    Was sollen wir mit Euch über Christentum und„gemeinsame Wurzeln“ reden? Ändert euch imHandeln! Kehrt um! Dann können wir vielleichtanders zu euch stehen. Dabei erwarten wir garnicht, daß ihr Juden werdet. Wir wissen selbst,daß für Nichtjuden die Befolgung der „Noah-chitischen Gebote“ (1. Mos. 9,1-6) genug ist.

    4. Einende Praxis

    In der Tat: Juden haben mit Christen angepackt,Deutschland aus den Trümmern des Nationalsozi-alismus herauszuziehen. In anderen westeuropäi-schen Ländern haben sie sich ebenfalls - dort z.B.schon im Blick auf das bevorstehende Ende desnationalsozialistischen Deutschland - zusammen-getan, eine neue demokratische Ordnung in ihrenLändern, ja in ganz Europa aufbauen zu helfenund Not zu beseitigen. Sie einte der Wille, zu ei-ner menschenwürdigen Welt durch die eigenePraxis beizutragen.

    Solche Praxis gibt es auch anderswo heute.

    Ich erinnere an Neve Shalom in Israel, denschwierigen Versuch, als Juden, Christen undMuslime, als Israelis, Araber/Paläsinenser undEuropäer miteinander ein Gemeinwesen zu ges-talten und zu erhalten.

    Ich erinnere an das andere Modell Nes Ammim,einen christlichen Kibbuz, der sich als Brücke undBegegnungsmöglichkeit zwischen Juden - westlichder Siedlung - und Arabern / Palästinensern -östlich der Siedlung - versteht.

    Ich denke an La Benevolenja in Sarajewo, woJuden mit Nichtjuden medizinische und sozialeHilfe geben für alle Notleidenden.

    Ich erinnere christlicherseits an Persönlichkeitenwie Adolf Freudenberg und Gertrud Luckner, diedurch ihre Praxis in der Zeit der JudenvernichtungJuden Flucht und Überleben ermöglichten.

    Ich erinnere auch an Dompropst Bernhard Lich-tenberg (Berlin), der öffentlich in der Hed-wigskathedrale für die Juden betete, während vorden Toren deren Vernichtung vorbereitet wurde.Denn auch Beten ist ja ein Tun!

    5. Gemeinsame Praxis provoziert Dialog

    Solche Taten bringen näher, einen vielleicht sogareinzelne Menschen oder größere Kreise von

    Christen und Juden, obwohl beide wissen, daßgroße Glaubensunterschiede existieren. Würdensie über den Glauben miteinander reden? Würdesie das trennen?

    Ich glaube: Nein (sie nicht!)

    Woraus ich handle, warum ich auch zu leidvollenKonsequenzen bereit bin, drängt das nicht nachErklärung, nach Gespräch?

    Vielleicht nur anfanghaft - nicht als Disputationüber Christologie, Ekklesiologie oder Trinitätsleh-re, sondern um der Hoffnung des Glaubens, die inuns lebt, Ausdruck zu verleihen.

    Juden fragen Christen, die sie fragen können, bzw.die sich fragen lassen und die vertrauenswürdigsind, nach den wunden Punkten des christlichenGlaubens, die zwei Jahrtausende hindurch Spal-tung, Elend und Tod für sie brachte. Sie wollenwissen, wo sie mit Christen und Kirchen heute„dran“ sind. Selbst wenn sie wenig Hoffnung ha-ben! Aber was sich im Christentum tut, ist ihnenzumeist nicht gleichgültig.

    Und entstehen bei Christen nicht auch Fragen anJuden, mit denen sie zusammenarbeiten?

    Ich denke an

    - Fragen nach der Zusammengehörigkeit der Judenzueinander. Sie scheinen oft so einig und sinddoch so zerstritten; sie sind doch so zerstrittenund man vermutet eine hintergründige Einigkeit,

    - Fragen nach ihren Erwartungen auf Ziele derZusammenarbeit. Treffen sich die Erwartungenvon Juden und Christen, die zusammenarbeiten,oder gehen sie aneinander vorbei bzw. ausein-ander? Ist bei unterschiedlicher Erwartung ge-meinsame Praxis möglich?

    - Fragen nach dem Verhältnis der Juden mit denenChristen zusammenarbeiten, nach dem Staat Is-rael und seiner Politik.

    6. Gefahren für partnerschaftliches Miteinander

    Es gibt auch Christen und Nichtchristen, die Judenwerden möchten und deshalb die Zusammenarbeitsuchen oder durch Zusammenarbeit zur Konversi-on zum Judentum gelangen. Es gibt Christen undNichtjuden, die ihre eigene oder ihre familiäreVergangenheit durch eine Konversion zu bereini-gen versuchen. Dies erleichtert Zusammenarbeitzumeist nicht, da ihnen Skepsis entgegenschlägt.Sie entwurzeln sich eher, als daß sie eine neueHeimat finden.

    Dialog und praktische Zusammenarbeit eint eher

  • 14 29/1996 epd-Dokumentation

    - wenn Juden Juden und Christen Christen blei-ben,

    - wenn sie die andere / den anderen als Personschätzen lernen; verstehen und wertschätzen istangesagt!

    Dialog und praktische Zusammenarbeit trennt,

    - wenn der Eindruck oder gar der Effekt entsteht,Differenzen, Identität und Profile würden nivel-liert. Das kann sogar Gegeneffekte provozieren,wie: „Wir können nicht gemeinsam miteinanderbeten. Wir haben nicht einen Gott....“.

    Wo etwa - im Gegensatz zur Nivellierung - missi-onarische Tendenzen sichtbar werden, zerstörendiese ein partnerschaftliches Miteinander.

    7. Wahrung von Nähe und Distanz fördert das Miteinander

    Juden und Christen sind sich so nah und so fern,daß sie in Gespräch und Praxis das andere imanderen und das eigene in ihm schätzen bzw.auch fürchten lernen (können). Das trifft beider-seits für unterschiedliche Konfessionen, Kongre-gationen und Richtungen in unterschiedlicherWeise zu.

    Die Erfahrung von Nähe und Distanz durch Dialogwie durch Praxis fördert meines Erachtens dasbipolare Verhältnis als Mit- statt Nebeneinanderoder gar Durch-einander.

    Damit will ich schließen, wissend, daß an dieserStelle Erfahrungsaustausch, die Praxis von Ge-spräch und gemeinsamer Aktion weiterführenkann. •

  • epd-Dokumentation 29/1996 15

    Bischof Klaus Wollenweber, Görlitz:

    „Was eint und was trennt Juden und Christen?“Grußworte und Gedanken zum Tagungsthema, Jauernick-Buschbach bei Görlitz, 8. März 1996

    Sehr geehrte Damen und Herren,

    in meiner Funktion und in meinem Amt als Bi-schof der Evangelischen Kirche der schlesischenOberlausitz begrüße ich Sie ganz herzlich zu IhrerTagung mit dem Thema: “Was eint und wastrennt Juden und Christen?“ hier in der Kreuz-bergbaude.

    Diese Landeskirche im Dreiländereck ist im Ostendurch die deutsch-polnischen Grenzflüsse Neißeund Oder gekennzeichnet; im Westen grenzt unse-re Kirche an die Ev.-luth. Kirche Sachsens und imNorden an die Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg.Unsere zweitkleinste Landeskirche in der Ev. Kir-che in Deutschland umfaßt das deutsche Restge-biet der ehemaligen preußischen Provinz Schlesienmit dem Sitz des Generalsuperintendenten bis1945 in Breslau. Erst 1946/47 ist Görlitz zum Sitzder Kirchenleitung und später Bischofssitz gewor-den.

    Was mich betrifft, so habe ich die beiden Vorträgeheute Nachmittag hier in der Kreuzbergbaude mitgroßem Interesse gehört, da mir aus meiner kirch-lichen Biographie heraus die Thematik vertraut ist.Ich stamme ursprünglich aus der Ev. Kirche imRheinland, war dort bis 1988 Pfarrer und Landes-synodaler und habe 1980 an dem wegweisendenBeschluß der Rheinischen Landessynode mitge-wirkt. Damals haben wir etwas in Gang gebracht,was einen solchen Bewußtseinsbildungsprozeßbewirkte, daß nun im Januar dieses Jahres dieRheinische Landessynode mit großer Mehrheiteinen Grundartikel ihrer Ordnung dahingehenderweitern konnte, daß am Schluß des erstenGrundartikels folgendes ergänzt wurde:

    „Sie bezeugt die Treue Gottes, der an der Er-wählung seines Volkes Israel festhält. Mit Israelhofft sie auf einen neuen Himmel und eine neueErde.“

    Das ist ein höchst beachtenswertes Ereignis. Ichwünsche mir, daß dieser Vorgang Modellcharakterauch für andere EKU-Landeskirchen (wie z.B.unsere) und hoffentlich auch für EKD-Kirchen hat,zumindest eine klare Signalwirkung. Der Gedan-kenprozeß selber ist jedenfalls nicht mehr zurück-zuschrauben. Zur Erneuerung des Verhältnissesvon Christen und Juden ist das jedenfalls gut so.

    Nach dieser inhaltlich-biographisch gefärbten Vor-bemerkung möchte ich wunschgemäß ein paarGedanken zur Thematik bringen:

    1.) Die Losung aus der Sammlung der HerrnhuterBrüdergemeinde für den heutigen Tag steht in derhebräischen Bibel, im Psalm 118 Vers 25:

    „Oh Herr, hilf! Oh Herr, laß wohlgelingen!“

    Die gemeinsame, intensive Verwendung des Psal-ters eint uns; wir lernen heute noch, mit den Be-tern der Psalmen, den einen Herrn und Gott,Schöpfers Himmels und der Erden, anzurufen, unsihm in vielen Lebenssituationen wieder oder zumersten Mal neu zuzuwenden, ihm zu vertrauenund auch ihm klagend gegenüberzutreten. DieVielfalt des persönlichen und gemeinschaftlichenLebens ist im Psalter aufgenommen, und hat vieleJuden und Christen durchs ganze Leben mit denHöhen und Tiefen bis zum Tod begleitet.

    Der Text, der Wortlaut, eint uns, aber die Übertra-gung, die Auslegung und Bezugnahme, die je neueAktualisierung, trennt uns. Zur hebräischen Bibelkommen für Christen die Evangelien, die Briefeund die Johannesapokalypse als Bekenntnis-grundlage hinzu. Wir Christen lesen die hebräi-sche Bibel von unserem Vorverständnis her auchmit der christlichen Brille, was keinesfalls iden-tisch sein muß mit der sogenannten christologi-schen Interpretation alttestamentlicher Texte.

    Mich würde es reizen, dazu mehr Ausführungenzu machen, aber ich soll mich auf Gedanken be-schränken. „Oh Herr, hilf, oh Herr, laß wohlgelin-gen!“, damit wir lernen, biblische Texte nicht mitScheuklappen behaftet zu lesen, sondern in derWeite der Tradition jüdischer und christlicherAusleger zu verstehen. Wir stehen nänlich alle ineiner uns vereinenden Tradition biblischer Schrift-auslegung.

    2.) Was eint und was trennt uns? Ich denke, ichmuß hier auch unsere deutsche Geschichte nen-nen. Die Thematik des gestrigen Vortrages anläß-lich der Festveranstaltung „85 Jahre SynagogeGörlitz“ beleuchtet schlaglichtart die spannungs-reiche Situation: „denken und gedenken“.

    Der vergangene Sonntag trägt bei den Christen denNamen „Reminiszere“ nach dem Psalmwort: „Ge-denke, Herr, an deine Barmherzigkeit“ und dervorgeschlagene Predigttext handelte von Abraham,dem Vorbild und Urbild des glaubenden Men-schen, der aus seiner Heimat auszog und demWorte Gottes folgend in ein neues Land unterwegswar. Hinsichtlich der Erinnerung und des Geden-kens ist doch entscheidend: ich kann meine Bio-graphie nicht auslöschen, ich lebe sie und steheweiterhin mittendrin; ich kann sie weder verges-sen, noch möchte ich unterschiedlich davon er-

  • 16 29/1996 epd-Dokumentation

    zählen. Keinesfalls kann ich einen Schlußstrichunter meine eigene Geschichte ziehen, allenfallsdarf ich neu anfangen, als Geschöpf aus der Ver-gebung Gottes heraus einen neuen Lebensab-schnitt in Gang zu setzen. Wir Christen inDeutschland haben die Schuld mitzutragen, dieDeutsche an Juden getan haben. Das gescheheneTatzeugnis, das Erinnern, das Gedenken trenntuns, aber das Denken darüber eint uns. Wir Jün-geren haben die Chance des Lernens aus demNach-denken über Geschehenes. Die RheinischeKirche hat auf ihre Weise versucht, diese Chancezu nutzen. Es gibt viele Weisen, das Denken zufördern und zu einer vereinten Sache zu machen.„Oh Herr, hilf, oh Herr, laß wohlgelingen!“.

    3.) Der kommende Sonntag hat für Christen denNamen „Okuli“ auch nach Psalm 25 „Meine Au-gen sehen stets auf den Herrn“. In der Thematikdieser Tagung geht es entscheidend um die Blick-richtung. Was sehen meine Augen? Nur den klei-nen Bereich vor meinen eigenen Füßen, um dennächsten Schritt möglichst sicher und unbehelligtzu tun? Oder sehen meine Augen auch den Hori-zont, das Ziel, den Herrn des Lebens und des To-des? In unserer Hoffnung auf die Ankunft desMessias trennt uns der jüdische und christlicheGlaube, aber auf dem Weg dorthin eint uns vieles.Das ist doch der Kern der rheinischen Aussagevom Januar dieses Jahres: wir bezeugen auf unse-rem Weg des Glaubens die Treue Gottes, der ander Erwählung seines Volkes Israel festhält.

    Auf diesen Weg richten wir gemeinsam unserAugenmerk. Das eint Christen und Juden. Dassetzt in Bewegung, das läßt den Blick nicht in derVergangenheit stehenbleiben, sondern eröffnetgemeinsame Perspektiven für den Dialog. Daswischt nichts einfach weg, kehrt auch nichts unter

    den Teppisch, sondern nimmt Unterschiede wahrund sucht einzelne, kleine gemeinsame Schritte,die uns der Herrlichkeit des neuen Himmels undder neuen Erde näherbringen.

    Nochmals kann ich nur sagen: „Oh Herr, hilf, ohHerr, laß wohlergehen!“ So möchte ich Ihnenallen einen guten Verlauf dieser Tagung, gutegemeinsame Gedanken und neue Perspektivenwünschen, indem ich Ihnen zum Schluß eine jüdi-sche Erzählung weitergebe:

    „Es war einmal ein Abt, der sich Sorgen machteüber die wenig inspirierende Atmosphäre in sei-nem Kloster. Die Mönche waren nicht mehr eifrigim Gebet und geneusowenig bei der Arbeit. End-lich suchte der Abt Rat bei einem Rabbi, dessenWeisheit bekannt war. Die Reise dauerte drei Ta-ge. Als der Abt den Rabbi gefunden hatte, fragte erihn, was er machen sollte, um den Zustand inseinem Kloster zu verbessern. Der Rabbi zog sichzurück und meditierte. Stunden später trat er wie-der nach draußen, wo der Abt wartete und sagteihm: „Geh zurück zu deinem Kloster und sei froh,denn ich habe gemerkt, daß der Messias in deinemKloster Einzug genommen hat.“

    Der Abt trat die Rückreise an, verwundert überdas, was er gehört hatte. Nach drei Tagen kam erwieder zu Hause an. Er rief seine Mönche zusam-men und sagte: „Ich habe vernommen, daß derMessias unter uns ist.“ Von diesem Moment anblühten Arbeitseifer, gottesdienstliches Leben unddie Liebe untereinander im Kloster auf, so wie sienoch nie geblüht hatten. Denn jeder sah in demanderen den Messias.“

    Vielen Dank für Ihr aufmerksames Zuhören. •

  • epd-Dokumentation 29/1996 17

    Prof. Dr. Joseph Walk, Jerusalem:

    „Das gesetzestreue Judentum“Jauernick-Buschbach bei Görlitz, 9. März 1996 (Tagung „Was eint und was trennt Juden und Christen?“)

    Das Wort „orthodox“ liebe ich nicht, weil es„Rechtgläubigkeit“ bedeutet. Wir haben im Ju-dentum im Grunde keine Dogmen, und der Begriff„orthodox“ ist aus der nichtjüdischen Welt herein-getragen worden, nachdem eine Auseinanderset-zung innerhalb des Judentums und mit der Um-welt in Gang kam.

    Ich kann aber auch nicht einfach sagen, und jetztkommt der zweite zu verbessernde Irrtum, „religi-öses Judentum“, denn es gibt natürlich religiöseJuden, die liberal sind, die das Religionsgesetznicht als verpflichtend ansehen, und ich sprecheihnen sicher nicht das Recht ab, daß sie „religio“,Verbindung zu Gott, haben. Es tut mir leid, daß ineinem Interview mit mir anläßlich der der Verlei-hung der Buber-Rosenzweig-Medaille sich folgen-der Irrtum befindet: Es stimmt, daß ich, als ichgefragt wurde und meine Zustimmung gab, mirüberlegte, wer hat eigentlich bisher diese Medaillebekommen? Das waren alles nicht gesetzestreueJuden, aber nicht, wie dort steht „religiöse“. Dashätte ich nie gesagt, das wäre auch sinnlos, denndas Gespräch zwischen uns hat zur Vorausset-zung, daß man an Gott glaubt. Es tut mir leid, daßdieser Fehler unterlaufen ist. Es ist ein entstellen-der Satz.

    Aber nun zu dem Begriff „gesetzestreues Juden-tum“. Vergessen Sie bitte den Begriff „das Jochdes Gesetzes“. Für uns ist das kein Joch. DieseÜberschrift „gesetzestreues Judentum“ soll an-deuten oder eindeutig festlegen, was schon Men-delssohn gesagt hat: „Der Glaube macht dich zumMenschen.“ Das ist das Gemeinsame. „Das Gesetzmacht dich zum Juden“, d.h., das Gesetz ist das,was uns von den anderen Religionen und denanderen Völkern unterscheidet. Es ist interessant,daß wir im Neuhebräischen, also in unserer Um-gangssprache, wenn wir von einem religiösenMenschen sprechen, ein Wort gebrauchen, das inder sog. Ester-Rolle vorkommt. Der Judenhassersagt: „Sie haben andere Gesetze“. Dieses Wort„Gesetz“ wird heute in Israel benutzt, wenn manjemanden als einen religiösen, im Sinne von tora-treuen Juden. kennzeichnen will.

    Gesetz ist das Leitwort des Judentums. Ein Rabbi-ner des vorigen Jahrhunderts hat gesagt: „Gesetzund nicht der Glaube“, ist das Stichwort des Ju-dentums. Drücken wir es in den Worten von LeoBaeck aus, der zwar ein liberaler Jude war, aber inseiner Lebensführung weitgehend konservativ,wenn auch nicht gerade orthodox: „Im Judentum

    soll die Religion nicht nur erlebt sondern gelebtwerden“. Das Entscheidende bleibt doch, unsererMeinung nach, das Tun. Der vorhin erwähnteRabbiner, Samson Raphael Hirsch aus Frankfurtam Main, der Gründer der Neo-Orthodoxie, sagteeinmal: „Da wir keine Dogmen haben, ist der jüdi-sche Kalender unser Kathechismus.“ Ich möchtedas an zwei Beispielen klarmachen.

    • Nehmen wir das Pessachfest. Sie kennen es allevom Abendmahl her, auch die Feier, die bei unstraditionell stattfindet. Die Familie sitzt um denTisch herum. Man erzählt vom Auszug aus Ägyp-ten und im zweiten Teil, nachdem man gegessenhat und es etwas leichter hergeht, singt man einLied. Dieses Lied hat einen Refrain und der lautet:„Es war um Mitternacht“. Das bedeutet nicht, eswar Punkt zwölf, sondern Mitternacht als Symbolder Finsternis und der Bedrängung. Angefangenvom Auszug aus Ägypten, rückblickend auf denSieg Abrahams über die vier Könige, später besiegtGideon die Midianiter, Deborah besiegt Sisra undschließlich der Fall Babylons um Mitternacht, d.h.an diesem Tag verdichtet sich für den Juden derGedanke, daß Gott uns errettet aus der Finsternis.Der Jude, der Pessach bewußt in seiner Familieerlebt, identifiziert sich mit einem Glaubensgrund-satz.

    • Das zweite Beispiel, gleichsam entgegengesetzt:Etwa im August begehen wir einen Fastentag alsTrauer um die Zerstörung des Tempels und denVerlust der nationalen Selbstständigkeit. Judensitzen trauernd am Boden, das ist die jüdische Artzu trauern. Sie können es heute noch an derWestmauer finden. Nicht nur religiöse Juden,auch nichtreligiöse Juden praktizieren das, es hateinen nationalen Charakter. Da sagen unsere Wei-sen bereits im Talmud, daß an diesem Tag fünfDinge geschahen. Das erste Ereignis: An diesemTag kehrten die zwölf Kundschafter zurück undsagten „das Land ist zwar schön, aber die Bewoh-ner sind so stark“, und sie legten gleichsam bereitsden Kern zum Untergang des jüdischen Staates,denn ein Volk, das bereits vor dem Eintritt in dasLand die Hände hebt und sagt „sie sind zu stark“sagt damit: Wir werden nicht durchhalten. So istan diesem Tag, da das ganze Volk vor Verzweif-lung weint, der erste und der zweite Tempel zer-stört worden. Die letzte Festung gegen die Römer,Betar, ist an diesem Tag gefallen und - das wissendie wenigsten - an diesem Tag ist der Erste Welt-krieg ausgebrochen, nach jüdischem Kalender.Das hat zwar die jüdischen Gemeinden in Osteu-

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    ropa noch nicht das Leben gekostet, hatte aberwirtschaftlich schwierige Folgen, die nicht abzu-sehen waren. Wir haben in unserer Generation,und hier haben wir wieder dieses geschichtlicheBewußtsein, zu den sog. Klageliedern, die wir andiesem Tage sagen, eine besondere Elegie hinzu-gefügt, zum Andenken an die sechs Millionen. Dasfand zwar nicht am selben Tag statt, aber hierverdichtet sich die Trauer, der Gedanke, daß wiruns versündigen können und daß wir dafür leidenmüssen. Allerdings klingt auch dieser Tag aus inder Hoffnung, daß der Messias gerade an diesemTag kommen wird. Hier sieht man noch ein typi-sches Merkmal der jüdischen Religion bzw. unse-res Gebetes. Unser Gebet ist im allgemeinen nichtspontan. Unser Gebet ist ein Kollektivgebet. Wirsprechen immer von „wir“, auch am Versöh-nungstag nehmen wir die Sünden aller auf uns,jeder für den anderen. Aber vor allem ist es eingeschichtliches Beten oder, wie ein Rabbiner ge-sagt hat, „die Juden beten Geschichte“. Leo Baecksagt: „Die Lehre des Judentums ist eine Geschich-te“. Es ist die Verbindung, die man auch anhandder beiden Beispiele sehen kann, der Überblick,gleichsam der Rückblick auf die Geschichte, deruns zusammenhält und uns gleichzeitig die Lehredes Judentums vermittelt.

    Ich habe bereits betont, daß das Tun das Ent-scheidende ist. Nun werden Sie sich vielleicht mitRecht fragen: Um all das zu wissen, um an jedemTag daran zu erinnern, was dieser Tag bedeutet,muß man doch viel gelernt haben. Das Lernen hatim Judentum eine ganz entscheidende Rolle. Siekönnen auch heute noch in Israel, zwischen Ves-per und Abendgebet, in irgendeine Synagoge ge-hen, und nicht unbedingt der Rabbiner, sondernein Laie (denn das Judentum ist eine Laienreligi-on) lernt mit Handwerkern, mit Kaufleuten, nichtmit übermäßig vorbereiteten, gebildeten Men-schen. Entweder lernen sie den Wochenabschnittoder, was schwieriger ist, den Talmud. Wenn eseinfacher ist, dann sagen sie Psalmen. Es wirdgelernt, denn ohne das Lernen kann man das Ju-dentum und sich selbst nicht verstehen. Aber dasLernen hat auch eine Gefahr, darum betonen un-sere Weisen immer wieder, daß Lernen nur einenSinn hat, wenn es zur Tat führt. Dafür möchte ichjetzt ein Beispiel bringen, es ist eine Erzählung ausOsteuropa, wo es üblich war, daß die Menschennicht nur am Tag sondern auch nachts in den„Jeschiwot“, den Talmudhochschulen, durchge-lernt haben.

    Da sitzt also im obersten Stübchen der Großvater,Leiter dieser Jeschiwa, dieser Talmudhochschule,und lernt. Eine Etage unter ihm sitzt der Sohn,ebenfalls bereits Gelehrter, und lernt auch. Nocheine Etage tiefer liegt der kleine Säugling, der Sohnbzw. Enkel, und der fängt zu weinen an. Der Va-ter ist so vertieft in sein Lernen, daß er das Wei-nen nicht hört. Der Großvater hört das Weinen,geht hinunter, wiegt den Kleinen in den Schlaf

    und geht wieder zurück. Am nächsten Tag läßt erseinen Sohn kommen und sagt: Mein lieber Sohn,ein Mensch der lernt und nicht mehr das Weineneines kleinen Kindes hört, dessen Lernen hat kei-nen Wert.“

    Es gibt noch eine zweite Erzählung, die ungefährin die gleiche Richtung geht.

    Es ist für einen Juden, besonders in der Diaspora,sehr schwer, das Gebet zu verstehen. Er kannnicht genügend hebräisch und er kann sich nichtgenügend konzentrieren. Da kommen einmal dreieinfache Kaufleute, die auch nicht viel Zeit zumBeten haben, zu ihrem Rabbi und sagen: Rabbi, esfällt uns so ungeheuer schwer, uns beim Beten zukonzentrieren; wir müssen immer ans Geschäftdenken. Daraufhin sieht der Rabbi sie durchdrin-gend an und sagt: Das wäre gar nicht so schlimm,es wäre aber mindestens so wichtig, beim Ge-schäft auch ans Gebet zu denken.

    Lessing hat einmal gesagt: Was nützt das rechteGlauben, wenn man nicht das Rechte tut? Das Tunbleibt das Entscheidende. So hat denn auch einBuch des Mittelalters, mit dem Titel „Das Buch derErziehung“ einen psychologischen Grundsatz fest-gelegt, der ganz modern klingt. Es gibt in Amerikaeine Schule, die denselben Weg einschlägt. Wört-lich aus dem Hebräischen übersetzt heißt es: „DieHerzen gehen den Taten nach“, d.h.: Warte nichtbis du ein guter Mensch bist, tue zunächst einmaldas Gute und verlasse dich darauf, daß das guteTun dich auch zu einem guten Menschen machenwird. Denn das, was du tust, hat selbst ohne dieIntention, etwas Gutes zu tun, schon seinen Wert.Kant hätte dem nicht zugestimmt.

    Der Talmud liebt es, die Dinge manchmal auf dieSpitze zu treiben. Einer unserer größten Religi-onslehrer, Gesetzeslehrer, Rabbi Akiwa, hat ein-mal gesagt: Wenn ein Mensch auf der Straße gehtund er verliert unabsichtlich eine Münze, und einArmer hebt sie auf und kauft dafür sein täglichBrot, so hat er damit eine gute Tat erfüllt. DasEntscheidende bleibt also das Tun, das Ergebnisder Tat. Woher wissen wir, was „das Gute tun“heißt? Woher wissen wir überhaupt, was von unsverlangt wird? Gott kann man nicht erkennen. Wirkönnen nur seine Eigenschaften erkennen. DieEigenschaften Gottes erkennen wir, um zu versu-chen, Gott nachzuahmen. Das ist ein Gedanke,den es im Christentum auch gibt. Der Talmudsagt: „So, wie Er barmherzig ist, sei du barmher-zig, so wie Er gnädig ist, sei du gnädig, wie Erverzeiht, verzeihe du auch.“

    Ein ganz entscheidendes Kapitel, das den Wegzeigt, den der Mensch zu gehen hat, ist das 19.Kapitel im dritten Buch Mose: „Ihr sollt heilig sein,denn ich, der Ewige, euer Gott, bin heilig.“ Ichmöchte zwei Beispiele zu diesem Kapitel bringen,eines aus meiner Schulpraxis und das Zweite aus

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    dem Talmud. In diesem Kapitel befindet sich jenerSatz, der bei uns am Autobus zu lesen ist: „Dusollst vor einem greisen Haupte dich erheben.“Den Kindern im zweiten oder dritten Schuljahrhabe ich das folgendermaßen erklärt: Du sitzt imAutobus, ein alter Mann steigt ein, da schaust duplötzlich interessiert zum Fenster hinaus. Du hastihn also nicht gesehen. Wenn du ihn nicht gese-hen hast, brauchst du nicht aufzustehen. Ja, meinLieber, dich kannst du betrügen, den Alten kannstdu auch betrügen, aber Gott kannst du nichtbetrügen. Darum steht hinter diesem Satz: „Dusollst Erfurcht haben vor mir, weil ich der Ewigebin, dein Gott.“

    Das zweite ist ein talmudisches Beispiel. StellenSie sich bitte vor, daß ich hier ein Feld besitze.Auf dieser Seite liegt das Feld vom Nachbarn A,und auf der anderen Seite liegt das Feld vonNachbar B. Jetzt kommt A zu mir und sagt: Hörmal zu, ich habe gehört, daß Nachbar B sein Feldverkaufen will. Ich kenne das Feld nicht, weil dudazwischenliegst. Kannst du mir vielleicht Aus-kunft geben? Ich hatte keine Ahnung von demAngebot und antworte: „Das Feld ist einen Dreckwert, wenn du Glück hast kannst du gerade sovielherausholen, wie du hineinsteckst. Ich kann dirnur dringend abraten.“ Am nächsten Tag gehe ichschnell hin und kaufe das Feld. In diesem Fallsagen unsere Weisen, daß wir damit das Wortübertreten haben: „Vor einen Blinden keinen Steinlegen.“ Das steht in demselben Kapitel. Was hatdas noch zu tun mit dem Verkauf eines Feldes? Essoll gesagt werden: Jemanden wie einen Blindenzu Fall bringen, bedeutet nicht nur, jemandemkörperlich zu schaden, sondern es bedeutet auch,jemanden übers Ohr hauen, es bedeutet, hinterlis-tig vorgehen, und so haben es unsere Weisen aus-gelegt. Sie haben also dieses biblische Gebot aufunser tägliches Leben erweitert, und dort stehtebenfalls wie oben: Du sollst dich fürchten vorGott usw.

    Man erzählt, daß einmal ein Rabbi von einer Stadtzur anderen fährt und an einem herrlichen Gartenvorbeikommt. Die goldgelben Äpfel blinken, derKutscher springt ab, streckt die Hand aus und willeinen Apfel pflücken. Der Rabbi schreit: „Mansieht!“ Der Kutscher springt zurück auf den Bockund und will weiterfahren. Er sieht sich um undsieht niemanden. Vorwurfsvoll sagt er zu seinemRabbi: Es ist doch keiner da, der mich sieht. DerRabbi sagt: „Man sieht!“ Dieses „man sieht!“sollte uns begleiten und jeder von uns, egal wel-cher Religion er angehört, weiß, wie schwer das inder Praxis ist.

    Es wird sich, mit Recht, eine andere Frage erhe-ben. In der Bibel steht, wie allgemein sehr kurzund lapidar ausgedrückt: Du sollst einen Blindennicht zu Fall bringen, einem Tauben nicht fluchen.Wo ist hier noch der Zusammenhang zwischendiesem Satz und dem von den Schriftgelehrten

    später gegebenen Grundsatz: Man soll jemandennicht schädigen, du sollst niemanden übers Ohrhauen? Nun muß ich etwas vorausschicken. WirJuden haben keine abgeschlossene Religionsphilo-sophie. Wir reden in Parabeln. Jesus war Jude, erhat auch in Parabeln gesprochen. Was ich jetzterzählen werde, sind zwei Parabeln.

    Als Moses auf den Berg steigt, um die Lehre vonGott zu empfangen, findet er Gott dort sitzen. Erschreibt eigenhändig die Lehre. Auch heute nochwird bei uns die Lehre mit einem Federkiel ge-schrieben und nicht gedruckt. Moses sieht, daßGott kleine Häkchen an jedem Buchstaben an-bringt. Er fragt Gott: „Wozu hast du das nötig? Dukannst mir die Lehre auch ohne diese Häkchengeben.“ Gott sagt: „Ja, in ferner Zeit wird einmalein Gelehrter aufstehen, Rabbi Akiwa, und derwird an jedes Häkchen ein Gesetz anhängen. Fürden bereite ich das vor.“ Darauf sagt Moses:„Wenn der Mann so groß ist, warum gibst dudann die Lehre nicht durch ihn?“ Gott sagt:„Schweig, so habe ich es beschlossen.“ Mosesbittet Gott, er möchte einmal diesen Mann sehen.Gott führt ihn hinaus in die Welt, die später ein-mal sein wird, viele hundert Jahre später. Mosessetzt sich bescheiden hin und hört zu, wie RabbiAkiwa mit seinen Schülern lernt, und er verstehtkein Wort. Da wird ihm etwas mulmig zumute,bis endlich einer der Schüler sich an den Rabbiwendet und fragt: „Rabbi, woher hast du das?“Der Rabbi antwortet: „Das ist doch die überlieferteLehre von Moses.“ Moses atmet auf. Ich werde dieGeschichte in meiner Generation zu Ende führen.Es gehört nicht zu unserer Erzählung, wie wir siebenötigen. Moses sagt, als er zu Gott zurück-kommt: „Du hast mir eine Lehre gezeigt. Zeige mirseinen Lohn.“ Da wird ihm gezeigt, wie dieserRabbi Akiwa bei lebendigem Leibe verbranntwird. Da ruft Moses aus: „Das ist die Lehre unddas ihr Lohn?“ Gott antwortet: „Schweig, so habeich es beschlossen.“ Ich brauche nicht zu erklären,was für unsere Generation diese Fortsetzung be-deutet. Aber gehen wir nun zurück zu dem, wasuns wichtig ist an dieser Erzählung. Diese Erzäh-lung, wenn ich es mit eigenen Worten sage, be-deutet doch eigentlich, daß genauso, wie wir anden Früchten und Blüten häufig nicht mehr denKern erkennen können, der einmal in die Erdegesenkt wurde, so können wir manchmal nurschwer den Zusammenhang zwischen der schrift-lichen und der mündlichen Lehre finden, aber daseine wäre nicht möglich ohne das andere. Das isteine Diskussion, die sich fortsetzt bis in unsereZeit, ein Lernen, ein Forschen, eine Auslegung, dienie ihr Ende finden wird. Aber sie muß im Rah-men dieser Kette bleiben.

    Jetzt kann man fragen: Es kann also jeder hinge-hen und nach Gutdünken die Lehre auslegen, aberauch darauf gibt ein Midrasch eine Antwort. Wirsind im Lehrhaus. Im allgemeinen wurden imLehrhaus Probleme anhand eines bestehenden

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    Falles besprochen. Stellen wir uns vor, daß hierein Gerät ist. Da sitzen die Gelehrten um denTisch herum und da gibt es einen Starrkopf, denRabbi Elieser, und der sagt: „Dieses Gerät istrein.“ Eine Frage, die heute keine Bedeutung hat.Es ist eine kultische Frage, ob es für den Tempelrein ist. Alle anderen sagen: „Nein, dieses Gerät istunrein.“ Aber dieser Rabbi gibt nicht nach.

    Er sagt: „Wenn ich recht habe, wird jetzt der Jo-hannesbrotbaum sich entwurzeln.“ Das geschieht.Darauf Rabbi Josua unerschütterlich: „Auf Wun-der geben wir nichts.“ Darauf sagt Rabbi Elieser:„Wenn ich recht habe, wird jetzt der Wasserlaufvor dem Lehrhaus rückwärts fließen.“ Auch dasgeschieht. Daraufhin sagt Rabbi Josua: „Auf Wun-der geben wir nichts.“ Rabbi Elieser: „Wenn ichrecht habe, werden sich jetzt die Wände des Lehr-hauses über uns beugen.“ Auch das geschieht. Daspringt Rabbi Josua auf, brüllt die Wände an:„Wenn Gelehrte miteinander diskutieren, was gehteuch das an?“ Da sagt der Midrasch humorvoll:Aus Ehrerbietung gegenüber Rabbi Elieser habensie sich nicht mehr aufgerichtet. Aus Ehrerbietunggegenüber Rabbi Josua haben sie sich nicht wei-tergesenkt. So stehen sie noch heute da. Nun aberspielt Rabbi Elieser seinen letzten Trumpf aus:„Wenn ich recht habe, wird jetzt eine göttlicheStimme ertönen und die soll entscheiden.“ Manhörte eine Stimme vom Himmel: „Was wollt ihrvon meinem Sohn Elieser, die Entscheidung richtetsich nach ihm.“ Anders formuliert: Objektiv hat errecht. Da wendet sich Rabbi Josua nach oben undsagt: „Du hast im fünften Buch Mose geschrieben,die Lehre sei nicht im Himmel, sie sei uns Men-schen gegeben, damit wir sie mit unseremmenschlichen Verstand klären, erforschen. Imzweiten Buch Mose hast du eine Regel festgelegt,wir hätten uns nach der Wahrheit zu richten; so,jetzt wird abgestimmt und damit ist der Fall erle-digt.“ Einige Tage später, so erzählt der Midraschweiter, trifft Rabbi Nathan, einer der Teilnehmer,den Propheten Elias, der noch ab und zu denMenschen erscheinen soll, und fragt ihn: „Sagmal, was hat Gott in dieser Stunde getan? Ist esnicht eine Frechheit, so mit Gott zu sprechen?“Elias antwortet: „Gott hat gelächelt und gesagt:Meine eigenen Kinder haben mich besiegt.“

    Das ist eine typisch jüdische Geschichte. Ichfürchte immer, daß das für nicht-jüdische Ohrenblasphemisch klingt, aber wir sprechen so mitGott, wir fühlen uns ihm so nah. Wir haben soviel für Gott gelitten, daß wir glauben, so mit ihmsprechen zu dürfen.

    Nun möchte ich anhand von drei Beispielen kon-kretisieren, was Mendelssohn sagt: Das Gesetzmacht dich zum Juden. Vieles trennt uns so ent-scheidend in der Lebensführung, z.B. unser ge-trenntes Essen, wie unsere Gesetzesreligion esverlangt. Die drei Beispiele sind:

    - Sabbath,

    - Speisegesetze,

    - Sexualvorschriften.

    1. Der Sabbath

    Sie wissen, daß wir am Sabbath sehr, sehr schwie-rige Vorschriften haben. Das hat nichts mit kör-perlicher Arbeit zu tun. Es gibt darüber viele fal-sche Vorstellungen. Man kann beispielsweise nichtverstehen, warum ein gesetzestreuer Jude keinenBrief schreibt und keine Elektrizität entzündet -aber Kohlen dürfte ich theoretisch am Sabbathschleppen, weil es keine schöpferische Arbeit ist.Der Gedanke ist: Gott hat von der Schöpfung ge-ruht, gleichsam ihn nachahmend sollen auch wirvon der Schöpfung ruhen. Das bedeutet, daß das,was meine alltägliche Beschäftigung ist, am Sab-bath aufhört. Ein Beispiel aus meiner Schulpraxis:Ich habe aus diesem Prinzip niemals meinenSchülern eine Prüfung für den Sonntag auferlegt.Nicht einmal in Bibelkunde, obwohl es eine wohl-gefällige Tat ist, in der Bibel zu lernen - aber ebennicht für eine Prüfung, denn das ist eine alltägli-che Beschäftigung.

    Nun möchte ich einen guten Freund zitieren, erhat mein Buch herausgegeben, Professor Sauer.Wir haben uns durch meine Forschungsarbeitkennengelernt. Ich war aus praktischen Gründeneinige Male am Sabbath bei ihm in einem kleinenDorf in der Nähe von Stuttgart. Ich mußte ihmerklären, was ich darf, und was ich nicht darf. Amersten Sabbath war ihm das merkwürdig. Daszweite Mal war es ihm immer noch fremd, aberschon verständlicher und nach dem dritten Sab-bath sagte er, ein gläubiger Protestant: „WissenSie, Dr. Walk, wenn ich meinen Sonntag mit ih-rem Sabbath vergleiche: ich habe mir Arbeit ausdem Archiv mitgebracht, Privatbriefe muß man jaauch schreiben, der Garten will ja auch gejätetwerden.“ Einmal wollte er mit mir über Doku-mente sprechen, die noch liegengeblieben waren.Ich sagte: „Tut mir leid, das ist meine alltäglicheBeschäftigung.“ Daraufhin sagte er: „Zu einersolchen Abgeschlossenheit kann man nur kom-men, wenn man einen Zaun um die Lehre baut.“So steht es auch im Talmud. Wir haben so vieleVorschriften, die es einem eben nicht ermöglichen,den Samstag zu begehen wie einen Wochentag.Aber selbstkritisch füge ich hinzu, was ein deut-scher Rabbiner einmal gesagt hat: Ein Zaun istnoch kein Garten. Man kann auch erstarren, mankann auch stehenbleiben bei den einschränkendenGesetzen. Jedoch der Grundgedanke bleibt. Siehätten dem ärmsten Trödler in Osteuropa am Sab-bath ein Geschäft anbieten können, das ihn er-nährt hätte für eine ganze Woche, er hätte es nichtgemacht. Um es wiederum ein wenig zu erleich-tern, hier eine Anektdote über Rothschild. DerGründer des Hauses, Amschel Rothschild, war eingesetzestreuer Jude. Als solcher hat er am Sabbath

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    die Bank geschlossen. Wenn nun ein Brief kommt,der amtlichen Charakter hat oder ein Telegrammöffnet man es nicht. Es kommt ein Telegramm,Rothschild legt es beiseite. Nach einer Stundekommt wieder ein Telegramm, er legt es beiseite.Es kommen noch viele Telegramme, es häuft sichbis zum Abend. Am Abend zum Sabbathausgangnimmt Rothschild das unterste Telegramm hervor.Es ist die Anfrage eines deutschen Fürsten, diesollen ja manchmal verschuldet gewesen sein. Erbittet um eine Anleihe zu 5%. Da keine Antwortkommt, bietet er 10%. Es kommt keine Antwort,der Fürst bietet 15%, 20% usw., bis 40%. Aberzur Ehre von Rothschild sei gesagt, daß er sich andas talmudische Gesetz gehalten hat, man dürfeeinem Käufer nicht mehr abnehmen, als man ur-sprünglich vorgehabt hatte. Und er ist trotzdem,oder gerade deswegen, reich geworden.

    Der Sabbath hat also die Bedeutung, den Men-schen dazu zu erziehen, daß er einen der stärks-ten Triebe, den Erwerbstrieb, im Zaum hält.

    2. Die Speisevorschriften

    Wir dürfen z.B. bestimmte Tiere nicht essen, dasbekannteste Beispiel ist das Schwein. Die Tiere,die wir essen, müssen auf eine bestimmte Artgeschächtet sein, eine Methode, die übrigens sehrhuman ist. Wir dürfen nicht fleischig und milchigzusammen essen. Wir müssen einen Segensspruchvor und nach dem Essen sprechen. Wir könnenuns nicht auf das Essen stürzen wie ein Tier. Wirmüssen einen Moment nachdenken und überle-gen, was ist dir erlaubt, und was ist dir nicht er-laubt. Bekanntlich ist ja schon der erste Menschdaran gescheitert. Hier sollen wir wieder lernen,den Essenstrieb, der ja ein Grundtrieb ist, imZaum zu halten.

    3. Sexualvorschriften

    Dafür kann ich ihnen nur ein Beispiel geben. Somüssen wir uns während der Menstruation undeine Woche danach vom Eheleben zurückhalten.Psychologen haben herausgefunden, daß das demEheleben guttut. Lassen wir Psychologie beiseite.Jedenfalls ist es so, daß diese Vorschriften denSinn haben, auch den Sexualtrieb in den Grenzenzu halten. Wiederum hat uns der Talmud in einerkleinen Erzählung nahegebracht, daß es sich nurdarum handelt, ihn in Grenzen zu halten, undnicht darum, ihn abzutöten. Wir haben ja keinMönchtum. Da wird also erzählt, daß eines Tagesdie Weisen zu Gott kommen und sagen: WeißtDu, mit dem Trieb des Götzendienstes sind wirfertig geworden, das zieht nicht mehr, aber mitdem Sexualtrieb können wir nicht fertig werden,

    das kann im Grunde genommen keiner. Kannst duihn nicht einen Tag einsperren? Und Gott erfülltihre Bitte. Wissen Sie, was das Ergebnis war? Amnächsten Tag gab es auf der ganzen Welt kein Eimehr. Da haben sie schnell gebeten den Sexual-trieb wieder frei zu lassen, denn ohne ihn gibt eskeine Fortpflanzung, kein Leben und keineMenschheit.

    Wenn wir zusammenfassen, ist es das, was einerunserer großen Dichter und Gelehrten im Mittel-alter sagt: Wir sollen lernen Herr unserer Triebezu werden, damit nicht die Triebe uns beherr-schen.

    Gesetz, immer wieder Vorschriften. Kann dasnicht u.U. dem Glauben, der Gesinnung abträglichsein? Besteht nicht ein Wiederspruch zwischendieser strikten Erfüllung von Geboten und einerwirklichen Frömmigkeit? Dafür möchte ich dreiBeispiele bringen:1. Ein Beispiel aus der chassidischen Glaubens-welt,2. eines aus dem deutschen Judentum und3. ein sehr trauriges Beispiel aus der Shoa in Ost-europa

    Das erste Beispiel

    Wir müssen zwei Begriffe klären. Chassidismusbedeutet eine sehr verinnerlichte Frömmigkeit. Diehat manchmal leider auch zu Auswüchsen führt,wenn man z.B. den Rabbi zu sehr verehrt. Auf deranderen Seite gab es die Gegner, die sich auch sogenannt haben „Misnagdim“. Ein Chassid ist einAngehöriger des Chassidismus, meist in Polenvertreten. Die Misnagdim waren in Litauen ver-treten und man nannte sie jiddisch „Litwag“. Wirdeutschen Juden waren mehrheitlich in dieserHinsicht eher zum litauischen Judentum geneigt,weil wir sehr rationalistisch eingestellt waren.

    Einmal kommt ein Litwag in eine Gemeinde, dienur aus Chassiden besteht. Das kommt vor. Eskommen die hohen Feiertage, die Vorzeit, dieBußgebete, noch vor dem Neujahrsfest, noch weitvor dem Versöhnungstag. Es ist in Osteuropa üb-lich gewesen, daß um drei Uhr früh schon derSynagogendiener durch die Straßen geht und ruft:Juden, auf zum Gebet. Dann versammelt sich dieganze Gemeinde. Der Litwag geht auch. Er siehtsich um, die Gemeinde ist voll versammelt, und esfällt ihm auf, daß der Rabbi nicht da ist.

    Da fragt er seinen Nachbarn: Sag mal, wo ist euerRabbi? Er bekommt die Antwort: Psst, wenn allebeten, steigt die Seele des Rabbi zu Gott auf undbittet eine Fürbitte. Der Litwag sagt: Ach, solcheDummheiten! Wer glaubt denn an solche Am-menmärchen? Der Chassid bleibt dabei und derLitwag, das sind Starrköpfe, sagt er wird der Sache

  • 22 29/1996 epd-Dokumentation

    auf den Grund gehen. Eines Tages schleicht er sichin das Haus des Rabbi und legt sich unter das Bett.Nachher hat er zugegeben, daß es ihm doch einbißchen unheimlich gewesen war. Er wartet ab,was da geschehen wird. Nachts (man hört schondie Stimme des Synagogendieners, der ruft: Judenauf zum Gebet) sieht er, daß der Rabbi aufstehtund in die Küche geht; er zieht die Kleider einesrussischen Bauern an, nimmt Stricke und eine Axt.Der Litwag denkt schon, daß der Rabbi vielleichtam Tag ein Heiliger ist und in der Nacht ein Mör-der. Der Rabbi wartet, bis das ganze Städtchen inder Synagoge versammelt ist, geht aus dem Hausund der Litwag folgt ihm wie ein Schatten. DerRabbi schleicht sich an den Häusern entlang, gehtin den Wald und fällt Holz, bündelt es mit denStricken. Nachdem er glaubt, genug zu haben,geht er zurück und der Litwag, wie ein Schatten,hinter ihm her. Das Städtchen ist leer, und derRabbi geht bis zum allerletzten Gäßchen, wo dieÄrmsten der Armen wohnen. Er kommt an einHäuschen und klopft. Von innen hört man dieStimme einer kranken Frau: Wer ist da? Der Rabbiantwortet auf russisch: Ich, Wassil. - Was willstdu, Wassil? - Ich habe Holz zu verkaufen. - Ichhab kein Geld, um Holz zu kaufen. - Dumme Jü-din, du hast einen großen Gott. Ich bin bereit dirzu stunden und du verläßt dich nicht auf deinenGott! - Aber es ist niemand da, der anzündet. - Na,das laß mich mal machen. Der Rabbi geht hinun-ter, und als er