„… und alle spielen mit!“

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HAUPTBEITRÄGE Zusammenfassung: Im Beitrag erzählt Helmut Haselbacher über seine vielfältigen Erfah- rungen aus der soziodramatischen Arbeit mit Großgruppen. Er unterscheidet drei Formen von Großgruppensoziodrama: 0 real betroffene soziale Gruppierungen (zum Beispiel GewerkschaftsvertreterInnen) inszenie- ren auf der soziodramatischen Bühne ihren aktuellen Konflikt 0 künstlich gebildete Gruppen inszenieren ein gewähltes Thema (zum Beispiel am Psychodra- ma-Symposion zum Thema Abhängigkeiten) 0 die Betrachtung der gesamten Menschheit als gesamtsoziodramatische Inszenierung Schlüsselwörter: Psychodrama · Soziodrama · Großgruppe · Rolle · Abhängigkeit · Gesellschaft · Politik “…and everybody join the game” – Helmut Haselbacher about socialdrama with big groups Abstract: In his paper Helmut Haselbacher talks about his experiences drawn from his socio- dramatic work with big groups. He differentiates three types of sociodrama with big groups. 0 social groups who are actually affected (for example representatives of unions) act out their current conflicts on the sociodramatic stage 0 artificially formed groups present a deliberately chosen topic (e.g. the topic addiction was used at the Psychodrama Symposium) 0 in this category the complete humankind is seen as a sociodramatic staging Keywords: Psychodrama · Sociodrama · Big group · Role · Addiction · Society · Politics Z Psychodrama Soziometr (2009) 8:201–211 DOI 10.1007/s11620-009-0056-7 „… und alle spielen mit!“ Helmut Haselbacher im Gespräch über Großgruppensoziodrama Helmut Haselbacher · Sabine Spitzer-Prochazka Online publiziert: 21.08.2009 © VS-Verlag 2009 H. Haselbacher Pichlergasse 5/5, 1090 Wien, Österreich E-Mail: [email protected] S. Spitzer-Prochazka () Schwaigergasse 35/21, 1210 Wien, Österreich E-Mail: [email protected]

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Hauptbeiträge

Zusammenfassung:  im  beitrag  erzählt  Helmut  Haselbacher  über  seine  vielfältigen  erfah-rungen  aus  der  soziodramatischen arbeit  mit  großgruppen.  er  unterscheidet  drei  Formen  von großgruppensoziodrama:0   real betroffene soziale gruppierungen (zum beispiel gewerkschaftsvertreterinnen)  inszenie-

ren auf der soziodramatischen Bühne ihren aktuellen Konflikt0   künstlich gebildete gruppen inszenieren ein gewähltes thema (zum beispiel am psychodra-

ma-Symposion zum thema abhängigkeiten)0   die betrachtung der gesamten Menschheit als gesamtsoziodramatische inszenierung

Schlüsselwörter:  psychodrama · Soziodrama · großgruppe · rolle · abhängigkeit · gesellschaft · politik

“…and everybody join the game” – Helmut Haselbacher about socialdrama with big groups

Abstract:  in  his  paper  Helmut  Haselbacher  talks  about  his  experiences  drawn  from  his  socio-dramatic work with big groups. He differentiates three types of sociodrama with big groups.0   social groups who are actually affected (for example representatives of unions) act out their 

current conflicts on the sociodramatic stage0 artificially formed groups present a deliberately chosen topic (e.g. the topic addiction was

used at the psychodrama Symposium)0   in this category the complete humankind is seen as a sociodramatic staging

Keywords:  psychodrama · Sociodrama · big group · role · addiction · Society · politics

Z psychodrama Soziometr (2009) 8:201–211DOi 10.1007/s11620-009-0056-7

„… und alle spielen mit!“Helmut Haselbacher im Gespräch über Großgruppensoziodrama

Helmut Haselbacher · Sabine Spitzer-Prochazka

Online publiziert: 21.08.2009© VS-Verlag 2009

H. Haselbacherpichlergasse 5/5, 1090 Wien, Österreiche-Mail: [email protected]

S. Spitzer-prochazka ()Schwaigergasse 35/21, 1210 Wien, Österreiche-Mail: [email protected]

202 H. Haselbacher und S. Spitzer-prochazka

Jedes Jahr am ersten Maiwochenende findet in Spital am Phyrn (Österreich) ein Psycho-drama-Symposion statt, heuer bereits zum 27. Mal. Nach den Fachvorträgen und Work-shops der ersten beiden tage gibt es am Sonntag immer ein Soziodrama zum jeweiligen Symposionsthema. Das diesjährige thema lautete „abhängigkeiten“, und so konnte man im großen Veranstaltungssaal gruppierungen von 120 psychodramatikerinnen beobach-ten, die in den von ihnen gewählten rollen als alkoholikerinnen und deren eltern, Wein-bauern und anarchistinnen, Wissenschaftler und Kinder mehr oder weniger vehement ihre position  im Spiel zwischen momentaner und erwünschter Lage vertraten. es ging laut zu dabei, spielfreudig, manches Mal beinahe chaotisch – und dennoch immer struk-turiert und regelkonform und das lag in erster Linie an jenem Mann, der Soziodramen wie dieses mit viel Überblick leitet, gekonnt regie führt, virtuos dirigiert: Helmut Hasel-bacher,  langjährig  erfahrener  psychodramatiker  und  Soziodramatiker.  Wer  etwas  über großgruppensoziodrama erfahren möchte,  ist bei  ihm an der  richtigen adresse: neben umfangreichem Fachwissen und viel praktischer Leitungserfahrung beeindruckt Helmut Haselbacher mit seiner begeisterung und Überzeugung für die Methode psychodrama, mit der er arbeitet, von der er erzählt – und die er lebt. Das interview fand im Mai 2009 in seiner einladenden und gemütlichen praxis  im 9. Wiener gemeindebezirk statt. Wir hätten noch  stundenlang weiterreden können, viel gab es  zu erzählen, viel  zuzuhören, nachzufragen… Die wichtigsten passagen habe ich im Folgenden zusammengefasst:

1  Jede/r hat eine Rolle

Soziodrama beschäftigt sich mit der interaktion von gruppen. Wie Moreno gesagt hat, mit der beziehung von gruppen untereinander und kollektiven ideologien. Hier steht nicht das individuum im Zentrum der inszenierung, sondern das Zusammenspiel der gruppen. Und es geht um Gruppenkonflikte – nicht um Konflikte innerhalb einer Gruppe, sondern Konflikte von Gruppen untereinander, die alle das selbe Thema haben.

Das kleinste Soziodrama, das es gibt ist, wenn eine Sechser-gruppe in zwei Dreier-Untergruppen zerfällt, die dann konflikthaft miteinander interagieren. Das Individuum tritt dabei etwas zurück, was da interagiert sind die beiden Dreiergruppen. ab drei per-sonen gilt es als gruppe, ab etwa 20 personen treten meiner ansicht nach großgruppen-phänomene auf.

Die  größtmögliche  Menschen-Menge,  die  soziodramatisch  zu  inszenieren  wäre,  ist die gesamte Menschheit, also fast 7 Milliarden Menschen! Die idee und praxis der uno ist soziodramtisches Handlungsgeschehen par excellence, nach der idee „alle Menschen machen mit“! ein grundsatz von Moreno ist „jede/r hat eine rolle“ – auch wenn es die rolle des/der isolierten ist, jede gruppe wirkt und wirkt mit – wie zum beispiel in der gesellschaft auch die gruppe der Sandler1 mitwirkt. um die gesellschaft zu inszenieren, wäre ein riesenstadion nötig, man müsste darauf achten, dass alle österreichischen grup-pierungen vertreten sind – das ist soziodramatisches geschehen des alltags.

203„… und alle spielen mit!“

2  Politik ist Soziodrama pur

generell sind alle politischen phänomene soziodramatische phänomene – wie im Wahl-kampf: fünf bis sechs parteien treten an, die parteiführer agieren zwar individuell, aber eigentlich geht es um das interagieren von gruppierungen. politik  ist Soziodrama pur, jede/r politikerin sollte eine ausbildung im Soziodrama haben… Moreno war mit seinen ideen ein hochpolitischer Mensch – er wollte  sich zum beispiel mit Stalin  treffen. er ist  nicht politiker  geworden,  sondern,  passend  zu  seinem  Quellberuf  des arztes,  eben psychotherapeut.

eine gesellschaft ist ohne großgruppensoziodrama nicht funktionsfähig. Soziodrama-tisch gesehen wird aus den gestaltungsprozessen der Sozietäten eine gesellschaft, wenn es den verschiedensten gruppierungen gelingt, sich in untergruppen zu formieren und dann in diesen gruppen miteinander in interaktion zu treten.

Zum  beispiel  die  bildungspolitik,  Dauerbrenner  in  der  öffentlichen  Diskussion,  ist klassisches  soziodramatisches  Handeln  –  man  müsste  alle  beteiligten  (Schülerinnen, Lehrerinnen, politische gremien, Schulwarte,…) in der Stadthalle2 versammeln und dort auf der Soziodramabühne ein Schulmodell inszenieren lassen. in der inszenierung würde dann  jede gruppierung  ihre Vertreterinnen  auf  die bühne  schicken,  zum Ver-Handeln – davon würde ich mir wirklich konstruktive ergebnisse versprechen.

Leider wird zuwenig soziodramatisch gearbeitet, es gibt kaum Soziodramatikerinnen unter uns.

3  Wenn aus einem „Haufen“ eine Gruppe wird

Das  erste  Mal  Soziodrama  live  eingesetzt  habe  ich  bei  einer  gewerkschaftsschulung gemeinsam mit Susanne Schulze. Die gewerkschafterinnen hatten eine reihe von prob-lemen, typische Gewerkschaftsthemen wie Firmen- und Lohnkonflikte. Die erste Frage in der Vorbereitung war, welche gruppen bei dieser gewerkschaftsarbeit am geschehen beteiligt  sind:  personalvertreterinnen,  Firmenleitung,  Mitarbeiterinnen,  Kolleginnen,.. ein  echter  „Haufen“!  Der  unterschied  zwischen  einer  Menge  von  Menschen,  einem „Haufen“ und einer gruppe besteht in der Fähigkeit von gruppenmitgliedern, miteinan-der zielorientiert zu interagieren. im Stadium des interagierens bilden sie eine gruppe, dann zerfällt die gruppe wieder zu einem „Haufen“. Der Sinn von großgruppensozio-drama besteht unter anderem darin, mit einem großen „Haufen“ von Menschen gruppen zu bilden und diesen prozess zu begleiten.

es  ist  kein  Zufall,  dass  der  ursprung  meines  soziodramatischen  Handelns  bei  der gewerkschftsarbeit war – denn gewerkschaftsarbeit besteht darin, aus einem „Haufen“ arbeitnehmerinnen eine arbeitsfähige gruppe zu machen, die Mitarbeiterinnen zu befä-higen, als gruppe mit anderen gruppen zu handeln.

Zur  großgruppenarbeit  überhaupt  bin  ich  gekommen,  nachdem  ich alpbach3  ken-nen gelernt habe – das ist gruppendynamik pur, und als Soziodramatiker sage ich, es ist Soziodrama pur. Da gab es ein Mal am tag großgruppensitzungen, klassisch gruppen-dynamisch. Die Leitung hat aus der ecke heraus beobachtet, wie interaktionen in gang gesetzt werden. ganz anders als im psychodrama, das von vornherein handlungsorien-

204 H. Haselbacher und S. Spitzer-prochazka

tiert  ist. Das was  ich  in alpbach gelernt habe,  ist das beobachten – grundstein  in der gruppendynamik  ist  ja „still  sein und beobachten“. Nicht nur was  in der untergruppe und in der großgruppe passiert, sondern in ganz alpbach, als großgruppensoziodrama. beim „agieren“ in der gruppendynamischen großgruppe ist das Verhalten der beteilig-ten sehr vorsichtig und mit viel Widerstand, weil kein konkretes thema vorgegeben ist und es keinen regisseur gibt, nur die Selbstverantwortung und weil die rollen total dif-fus sind. im psychodrama hingegen sind gerade rollenwahl und rolleneinkleidung sehr wichtig – das ist der unterschied zwischen psychodrama/Soziodrama-großgruppen und gruppendynamik-großgruppen.

4  Inszenierte Abhängigkeiten

Dem  großgruppensoziodrama  beim  heurigen  psychodrama-Symposion  in  Spital  am phyrn gab ich – passend zum Symposionsthema- den titel „Soziodrama der abhängig-keiten“. Zum Symposion waren etwa 120 Leute gekommen, psychotherapeutinnen, mit wenigen ausnahmen sämtlich psychodramatikerinnen. als zweite Leiterin hatte ich Lisa tomaschek-Habrina gewählt, neben ihrer Leitungserfahrung auch, weil sie im rahmen des Symposions in einem Märchenseminar die Mutter von rapunzel gespielt hat – die ja bekanntlich schwer Salat-süchtig war und sich mit abhängigkeit bestens auskennt.

Wenn  das  thema,  wie  hier,  vorgegeben  ist,  werden  die  gruppen  künstlich  gebil-det, es geht daher  in der Vorbereitung darum zu überlegen, welche gruppierungen am thema beteiligt sind: produzentinnen, Konsumentinnen, Mütter und Väter, abhängige, Co-abhängige, therapeutinnen, Klientinnen… 18 gruppierungen standen zur Wahl, 12 wurden schließlich gewählt. generell reichen meiner erfahrung nach 5–7 gruppen, um eine Differenzierung zu erreichen.

Abb. 1:  psychodrama-Symposion Spital am phyrn, Mai 2009Quelle: geiger, M.

      

      

      

      

      

      

      

      

      

      

      

      

      

      

205„… und alle spielen mit!“

beim inszenierten Soziodrama ist der erste teil immer ein soziometrisches geschehen: wer wählt welche rolle? Dieser Vorspann ist auch individuell hochinteressant – wer für sich zu diesem thema welche rolle wählt, das ist sozusagen eine Manschkerei4 zwischen psycho- und Soziodrama.

bei diesen 120 personen war die größte gruppe jene der Süchtigen, gespalten in alko-holikerinnen und Nicht-alkoholikerinnen. Die therapeutinnenrolle wurde kein einziges Mal gewählt, auch nicht die der polizistinnen; aber es gab 7 Wissenschaftlerinnen, einen einzigen produzenten (ein Weinbauer mit günstigem Wein), einige anarchistinnen. Die abhängigen haben  sich  so  inszeniert,  dass  sie  völlig  abhängig von  sich  selber waren, nicht  frei,  in  der  Situation  spontan  handeln  zu  können.  Die anarchistinnen  hatten  ein klares programm, die waren gegen alles.

Nach der rollenwahl folgen drei teile: teil 1 stellt klassisch nach Moreno die Frage: „Was ist die Lage?“ Wie schaut es derzeit aus, also eine art Selbstinszenierung der grup-pen mit deren positionen und interessen – das kann als Hearing oder auch szenisch ange-legt werden.

Für  teil  1  muss,  wenn  alle  gruppen  gebildet  sind,  festgelegt  werden,  wer  für  die gruppe spricht, (ver)handelt, es muss Vertreterinnen geben. Die Wahl dieser Vertreter-innen einer untergruppe ist ein Sub-Soziodrama – interessant ist, wer da geschickt wird. Die aufgabe der untergruppen ist es, zu nominieren, zu wählen und dann zu besprechen, wie die Vertretung erfolgen soll, was die Vertreterinnen in der inszenierung repräsentie-ren sollen. Das dauert zumindest eine Stunde. in der Szene beobachten sie dann, ob die Vertreterinnen auch vertreten, was vorher  in der gruppe ausgemacht worden war, das ich wichtig! Denn der 1. Schritt ist tatsächlich ein kollektiver eindruck aller gleichzeitig Anwesenden zur Lage: wer hat welche Interessen, was sind die Konflikte?

Danach gehen alle wieder in ihre gruppen zurück und es wird in einem zweiten Schritt festgelegt, in welche richtung es gehen soll. es soll ein kreativ-konstruktiver Weg gefun-den werden. es ist zu überlegen, was das individuelle und was das kollektive interesse an 

Abb. 2:  psychodrama-Symposion Spital am phyrn, Mai 2009Quelle: geiger, M.

                                          

206 H. Haselbacher und S. Spitzer-prochazka

einer Weiterentwicklung ist. Nach der neuerlichen gruppenarbeit im zweiten teil können andere Delegierte entsandt werden – denn die, die recht goschert5 das eigene interesse vertreten, sind vielleicht nicht so praktisch, wenn es ums gruppeninteresse geht. Nun gibt es wieder ein Hearing, Vorschläge, ein palaver6  in richtung rollenveränderung – und immer gruppenbezogen! es geht nicht, wie im psychodrama, um die Frage „wie muss ich mich verändern“, sondern: wie muss die gruppe anders handeln, damit dann, gesamt gesehen, herauskommen kann, was sich ändern soll.

ging es im zweiten Schritt um den rollenwechsel der gruppen, so ist der dritte Schritt, wie beim psychodrama, die Zukunftsinszenierung – es kann eine probeinszenierung („so könnte es gehen!“) sein, um zu sehen, wie es den gruppen dann geht. bei Veränderungen ist es ganz normal, sich zuerst anschauen zu wollen, wie das aussieht!

beim anschließenden Feedback und Sharing ist es wichtig, immer darauf hinzuweisen, dass es aus der rolle des gruppenmitglieds heraus erfolgen soll – das ist eine der schwie-rigsten Leitungsaufgaben! am Symposion waren beinahe lauter psychodramatikerinnen, die das Feedback vorwiegend aus der individuellen rolle heraus kennen. ich mache also immer dezent darauf aufmerksam und frage nach: wie sieht es aus der gruppenrolle her-aus aus!?

Da es bei der bildung der gruppenidentität immer um die interaktion in der gruppe geht, ist es so wichtig, dass die Mitspielerinnen in ihren gruppenrollen (sozialen rollen) bleiben. am besten ist das den Junkies gelungen, und den anarchisten, die sind in der gruppe geblieben. Sehr authentisch war der Weinbauer, das war interessant – er hat als einzelner gespielt, aber hätte es Konkurrenz gegeben, mehrere produzentinnen – wären die dann zu einer gruppe geworden? auch den eltern ist es gut möglich gewesen, in der gruppenrolle  zu  bleiben,  aber  die  Kinder,  die  pubertierenden,  bei  denen  war  es  nicht so leicht. Denn was dann passiert ist: alle sind regrediert.., aber das macht nichts, denn das  ist die Lage, nur: das muss man wissen! als Leiter habe  ich also  lauter Süchtige, abhängige, regressionswillige – sollte das verändert werden? Mit dieser gruppe hätte ich dreieinhalb tage arbeiten müssen, um zum Ziel („was muss verändert werden?“) zu kommen. abhängig sein heißt regressiv sein, jemand anders ist verantwortlich und das ist angenehm – aber eben nicht optimal.

5  Brennende Themen

beim Symposion war das thema „abhängigkeiten“ vom Veranstalter vorgegeben, sonst wäre es fast unmöglich gewesen, 120 personen an einem Vormittag zur kollektiven the-menwahl und zum interagieren zu bringen.

als thema für eine inszenierung auf einer bühne eignet sich alles, was in der gesell-schaft thema ist – die Menschen müssen es nur formulieren, wie im psychodrama, ist die Frage: was ist das thema? im psychodrama ist relevant, was das thema des prota-gonisten, der protagonistin ist. im Soziodrama analog dazu: welche ist die protagonis-tische gruppe, welche die antagonistische und was sind die anderen teilnehmerinnen. Die themenwahl ist ähnlich schwierig wie im psychodrama; außer: der anlass zu einer soziodramatischen inszenierung ist, dass es bereits ein thema gibt, eines, das unter den 

                                          

207„… und alle spielen mit!“

Nägeln brennt. Das ist dann ein thema, das gesellschaftlich oder für eine Firma relevant ist, bei dem alle, wenn sie Mut haben, mitspielen können.

Es gibt weiters die Themenfindung über die soziometrische Wahl, wobei aber nicht gesagt  ist,  dass  das  wirklich  das  gruppenthema  ist.  beim  Soziodrama  kann  es  schon sein, dass es neben dem Hauptthema noch ein unterthema gibt – zum beispiel in einer Firma, wo das Nebenthema plötzlich zum Hauptthema wird. beim vorgegebenen thema, wenn wie beim Symposion die Veranstaltungsleitung ein thema auswählt und wenn viele interessierte Leute dazu kommen – dann überlege ich nicht lange, sondern nehme dieses thema! in der gruppendynamik läuft das anders, da müsste noch einmal geschaut wer-den, was jetzt das thema ist.

Minimalvoraussetzung um Soziodrama machen zu können ist die annahme, dass alle, die kommen, am thema interessiert sind.

6  Friedensverhandlungen

Bei Veranstaltungen wie dem Symposion geht es nicht um Konfliktbearbeitung, sondern es handelt sich um Soziodrama mit einer personengruppe, die ein klares, vorgegebenes thema hat, zu dem sie ihre rolle im Spiel wählen. Zum unterschied dazu im „echten“ Soziodrama, wo der anlass gestörte interaktionen zwischen gruppierungen sind und jede/r schon seine soziale rolle hat, können nur jene gruppen auf der bühne inszenieren, die wirklich da sind. Also alle, die im Raum sind, betroffen sind und den Konflikt anschauen wollen, „als ob“, damit sie sich „in echt“ nicht schaden. in weiterer Folge geht es darum, einen Weg zu finden, den Konflikt zu lösen, es gilt, wie im Psychodrama, einen kreativen Weg zu finden – wobei: kreativ allein genügt nicht, denn neue Waffen zu erfinden ist auch kreativ, aber es geht um neue kreative und konstruktive Wege! Leicht fallen den Stärkeren Wege ein, wie man gewinnt oder sich durchsetzt, das  ist noch keine gelungene sozio-dramatische inszenierung. Das Ziel einer soziodramatischen inszenierung ist es, kreativ-konstruktive Wege zu finden, von den unmittelbar Beteiligten, neue Wege und destruktive möglichst zu vermeiden, keine Handlungen setzen, die anderen schaden. Das ist fast die Quadratur des Kreises – es ist ja schon schwierig genug, wenn man zu zweit streitet. Das Hauptthema im Soziodrama sind Friedensverhandlungen auf allen ebenen, zum beispiel 

Abb. 3:  psychodrama-Symposion Spital am phyrn, Mai 2009Quelle: geiger, M.

                                          

208 H. Haselbacher und S. Spitzer-prochazka

wieder in der Schulpolitik – es ist extrem schwierig, Wege zu finden, neue Wege, die zumindest einzelnen gruppen nicht schaden, also neutral sind. Die idee ist, einen Weg zu finden, der für alle Gruppen optimal ist und das ist ein sehr hoher Anspruch!

ein weiterer aspekt ist die Selbsterfahrung – also warum wird das ganze inszeniert? ein Wunsch kann sein, sich in der interaktion mit anderen Menschen besser kennen zu lernen. und es ist auch so, wenn man jemanden über Selbst- und Fremdwahrnehmung genau analysiert, dann ist das Soziodrama ja eine wahre Fundgrube! Wer wählt welche gruppenrolle, was passiert mit ihm/ihr im Kontext der gruppe und vieles mehr.

7  In der Rolle, aus der Rolle

Das Schwierigste beim Leiten ist, immer wieder darauf aufmerksam machen zu müssen, dass es um die interaktion von gruppen geht; beim einkleiden geht es darum, die Leute in ihre gruppen, ihre gruppenrollen hinein zu bringen. Hier wird Morenos rollenbegriff schön  deutlich,  nämlich  insofern,  als  jede  rolle  immer  einen  individuellen  und  einen sozialen anteil hat. im psychodrama wird vor allem der individuelle anteil bearbeitet – nicht so im Soziodrama, da gibt es keine/n protagonistin, nur eben wieder die gruppen.

Wenn es ein Soziodrama zu einem aktuellen Konflikt ist, dann ist der Gewerkschafts-vertreter auch in der inszenierung der gewerkschaftsvertreter oder eben der unternehmer der unternehmer – da entfällt die rolleneinkleidung. aber wenn es ein themenzentriertes Soziodrama ist, wo zuerst nur das thema allgemein da ist, kommt dem einkleiden in die gruppenrolle und dass die Leute in den rollen bleiben große bedeutung zu.

Dass Spielerinnen aus der rolle fallen, gibt es seltener, manchmal passiert, dass sie nicht  in die rolle hinein kommen.  in dem Fall  schaue  ich zuerst, wie die anderen  im gesamtgeschehen darauf reagieren. Jede Handlung ist erlaubt, sofern sie „als-ob“ ist und niemand  zu  Schaden  kommt  –  was  ja  auch  die  grundsätzliche tendenz,  der  Kern  der Methode ist. ich würde also nur dann intervenieren, wenn Schaden droht.

bei einem großen Soziodrama auf dem Land vor einigen Jahren hat es einen Wickel7 mit einem bauern gegeben, weil die Spielerinnen über seine Wiese gelaufen sind. Der hat das Theater überhaupt nicht verstanden, es kam „in echt“ zu einem massiven Konflikt, er ist sogar jemandem mit der Sense nachgelaufen… erst von der tochter hat er sich dann beruhigen lassen, sie hat es geschafft, dass dann diese untergruppe bei dem bauern in der Küche gesessen ist. Wie immer im Soziodrama ging es dabei klassisch um Friedensver-handlungen. Das beispiel stammt von meinem ersten großgruppensoziodrama, da habe ich das Handlungsfeld, die bühne also, so weit gesteckt, dass ich gar nicht alles überbli-cken konnte. Da habe ich erst aus dem rollenfeedback heraus erfahren, was alles passiert ist. Das Feedback ist dabei extrem wichtig, dauert noch einmal eine volle Stunde – weil da viele Sachen herauskommen, die man sonst gar nicht bemerkt hätte.

Wenn der Handlungsspielraum nicht vollständig einsehbar ist, ist es vielleicht günsti-ger, nicht alle spielen zu lassen, sondern nur die Delegierten aus den gruppen. eine rolle müssen sich aber alle suchen.

209„… und alle spielen mit!“

8  Regie-Führung

ein Soziodrama allein zu inszenieren ist schwierig, weil man auf alles schauen muss; ab 14, 15 teilnehmerinnen ist es auf jeden Fall sinnvoll, zu zweit zu leiten, bei einem großen Soziodrama braucht man schon 4–6 Leute, um das geschehen im auge zu behalten, um zu überblicken, was sich da überhaupt abspielt. Im Soziodrama spreche ich begrifflich nicht von Co-Leitung, es ist mehr ein gemeinsames Leiten. Das schwierige bei vier oder fünf Leiterinnen  ist die Frage, wer die Hauptregie über hat. Man muss sich auch sehr gut abreden, damit alle am selben Strang ziehen – sonst kommt noch eine zusätzliche Dynamik hinzu.

als regisseur bin ich dafür zuständig, das thema zu inszenieren – ich habe die Verant-wortung, indem ich das thema der großgruppe auf die bühne transferiere. aufgabe des regisseurs ist zu schauen, dass wirklich inszeniert wird, worum es allen gruppierungen geht. und um die Frage der Weiterentwicklung – wobei es immer wieder gruppen gibt, die sagen, „es passt schon so, kann alles bleiben“. Das  ist gut und wichtig, dass diese gruppe das in der inszenierung auch sagen kann. am Symposions-beispiel: die Süchti-gen, dass die es sagen können, ohne dass gleich die polizei einschreitet.

Weitere  regie-aufgabe  ist  zu  schauen,  dass  die  inszenierung  einigermaßen  an  die echtheit herankommt. Dazu ist es wichtig zu sehen, ob die Spielerinnen in ihren rollen sind.

Was man als Leiterin können muss? Man muss gut beobachten können, muss nicht nur die themenführende gruppe, sondern alles im auge haben. es ist szenisches Verstehen pur: beim Vorbereiten die Szene im Kopf haben – beim geschehen die Szene beobachten – bis zu einem gewissem grad das thema, die richtung eines Handelns schon vorinsze-niert haben – und trotzdem dann Stegreif spielen!

Das Zeitmanagement ist  in der arbeit mit großgruppen natürlich ein problem, weil wenn man alle geplanten Szenen durchbringen möchte, muss man unter umständen stark beschneiden. Dabei geht es um die ergiebigkeit, es kann passieren, dass ein großteil der Leute in der Zuschauerinnenrolle bleibt. im idealfall passiert das nicht, auch am Sympo-sion war das nicht der Fall, da haben alle mitgemacht.

9  Sozius und Sozii

Das Faszinierende ist, dass es also möglich ist, auch viele Menschen, größere „Haufen“ – denn die großgruppe werden sie ja erst, wenn das Soziodrama gelingt – zu einem Spiel zu bringen, wenn man selber weiß, was man will – mit einer großen portion regiefreude. Das Stegreifspiel ist also nicht nur für fünf oder sechs personen möglich, sondern auch mit mehr als hundert – und alle spielen mit! und es gelingt auf der bühne, weil sich das Leben  insgesamt  und  weltweit  „in  echt“  so  realisiert  und  so  gelingt.  gemeinhin  wird angenommen, dass alles kontrolliert werden muss, dass sich die Leute nur dann einiger-maßen vernünftig verhalten, wenn alles unter Kontrolle  ist – aber das stimmt so nicht ganz. Weil: beträchtliche anteile unseres gemeinsamen Lebens in der gesellschaft sind Stegreif pur! und so sind auch die anwesenden Leute in der Lage, etwas gemeinsam zu machen, und das mit minimaler anleitung.

210 H. Haselbacher und S. Spitzer-prochazka

es ist vergleichbar mit einer Musikaufführung: gustav Mahler im Wiener Musikver-ein, ein Chor mit über hundert Leuten auf der bühne, sie agieren genau nach Noten und ihrem Dirigenten – faszinierend! Dass hundert Leute ein Konzert geben können, dass so eine interaktion gelingt, das ist eine potenz und ein erlebnis. und als Stegreif-Fan meine ich, ganz nach Moreno, das geht – wenn ausreichend gründlich überlegt– auch mit ganz minimalen Hinweisen und interventionen: der rahmen muss klar sein, meine rolle, das thema und dass alle beteiligten aus ihrer rolle heraus Verantwortung für die bearbeitung des themas haben. Vergleichbar auch noch mit einer Jazz-Session, das sind zwar kleinere gruppierungen, aber das bewusstsein, etwas gemeinsam zu kreieren, ist da. und Sozio-drama ist soziales Handeln kreieren. Die rolle des Dirigenten ist eine spezielle insze-nierung, er ist gebunden an die Noten vom Mahler, im Stegreifspiel sind die Handelnden auch die autoren, wie beim Jazz – da gibt’s noch keine Noten, sondern das derzeitige Handeln ist das Vorwort für den text des weiteren Handelns; roman schreiben geht so ähnlich, da habe ich dann das Konservierte – beim Stegreifspiel habe ich das nicht – der Wert ist, dass es gelingt, es bleiben zwar Spuren im gedächtnis, es kann aufgenommen werden, aber der hohe Wert liegt im gelingen des augenblicks.

Morenos Menschenbild ist, dass der Mensch ein Sozius ist. und wenn man der Über-zeugung  ist, dass es so  ist, muss man eigentlich permanent Soziodrama machen, denn nur im Soziodrama wird sichtbar, wie sehr es stimmt, dass ich nicht nur individuum bin, sondern eben auch ein Sozius. Das kann man im Detail im psychodrama zwar auch sicht-bar machen, zum beispiel über das Soziale atom, aber wer wissen will, wie gut er/sie als Sozius ist, muss Soziodrama machen.

Mir  persönlich  gefällt  das,  ich  bin  ein  trainierter  Sozius  und  mir  macht  es  Spaß, gemeinsam mit anderen zu sein. Wenn es stimmt, dass die Menschen mehrheitlich Sozii sind, dann sind sie es auch zu hundertzwanzigst! Denn ein echter Sozius ist es nicht nur zu zweit, verhält sich nicht nur sozial in der Zweier-beziehung oder zu dritt oder zu fünft, sondern versteht sich auch als einer von 6,7 Milliarden Menschen. Denn noch einmal: Das ist die gesamtsoziodramatische inszenierung, 6,7 Milliarden Menschen inszenieren Leben. Die Hauptrolle, der Hauptgesichtspunkt aber dabei ist: Die rolle des individuums als Sozius  in seinen sozialen rollen  ist das entscheidende – und die  inszenierung des gemeinsamen Lebens als großgruppe.

Anmerkungen

  1  Sandler – Obdachloser  2  Wiener Stadthalle – größte Veranstaltungshalle Österreichs  3  alpbacher trainingsseminare – periodische Veranstaltung der Fachsektion gruppendynamik/ 

Öagg   4  Manschkerei – (Ver)Mischung  5  goschert – vorlaut  6  palaver – beratung, auseinandersetzung, geschwätz  7  Wickel – Streit, Kontroverse, Zwist

211„… und alle spielen mit!“

Helmut  Haselbacher,  Mag.theol,  Jg.  1938,  psychodramatiker, psychotherapeut, Supervisor, Lehrender. 1090 Wien, pichlergasse 5/5. e-Mail: [email protected]: geiger, M.

Sabine  Spitzer-Prochazka,  MSc,  Jg.  1968,  psychodrama-psy-chotherapeutin, Diplomsozialarbeiterin,  in  freier praxis  in Wien-Floridsdorf und in einer beratungsstelle für arbeitslose Menschen mit  Suchterfahrung.  1210 Wien,  Schwaigergasse  35/21.  e-Mail: [email protected]: Weissensteiner, b.